Die Kunst des Dialogs - Jurij Alschitz - E-Book

Die Kunst des Dialogs E-Book

Jurij Alschitz

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Beschreibung

Die Kunst des Dialogs Der Beruf eines Schauspielers ist vor allem ein offenes System der Kommunikation, ein nicht enden wollender Dialog mit der Figur, mit dem Schauspielpartner, dem Regisseur, dem Zuschauer, dem Autor, der Rolle – letztendlich aber ein unaufhörlicher Dialog mit sich selbst. Wenn ein Schauspieler selbst offen ist, dann weiß er auch, wie man andere Menschen öffnet, sie begeistert und sie inspiriert. Das Öffnen eines anderen Systems, eines anderen Blickpunktes, erlaubt allen Schauspielern Neues zu entdecken, die Grenzen eines gewohnten Verständnisses von der Welt und von sich selbst zu überschreiten. Im Theater bedeutet Dialog eigentlich die Kunst, mit anderen gemeinsam etwas schöpferisch zu gestalten. Das erfordert nicht nur Talent, sondern die Meisterschaft eines Künstlers. In diesem Buch vermittelt der Autor Grundlagenwissen der Schauspielkunst. Der Dialog der Worte, des Schweigens, des Kampfes, des Einverständnisses – jeder hat seine eigenen Gesetze. Darüber hinaus nimmt Jurij Alschitz die Leser mit auf Entdeckungsreise zu seinen Recherchen der letzten Jahre. In Laboratorien entwickelte er den Dialog der Sphäre, der Perspektiven zu einem ganz neuen Theaterverständnis öffnet. Ein großer Übungsteil mit 45 Übungen macht dieses Buch zu einer Fundgrube für jeden Schauspieler, Regisseur und Theaterlehrer. Entdecken Sie die Vielfalt und Schönheit des szenischen Dialogs.

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15 Jahre – dieses Buch widme ich allen meinen ­Schülern und Freunden, die mir bei der Gründung und Leitung der European Association for Theatre Culture geholfen haben.

In herzlicher Verbundenheit.

Jurij Alschitz

Die Kunst des Dialogs

aus dem Russischen von Ruth Wyneken

herausgegeben von Christine Schmalor

ars incognita

Berlin 2010

Guten Morgen

Dieses Buch ist in gewissem Sinne ein Dialog. Ein Dialog mit dem Dialog, ein Dialog mit meinen Theaterkollegen und ein Dialog mit mir selbst. Auf jeden Fall habe ich das so empfunden, als ich schrieb. Das Schreiben für mich allein fällt mir schwer. Im Dialog mit einem anderen läuft es besser, freier, denn auf diese Weise bewegt sich das Wissen nicht auf eingefahrenen Gleisen in eine Richtung, sondern es lebt, wird leicht und natürlich. Man kann von einem Thema sprechen, dann zu einem anderen überwechseln, auch das, was man zuvor gedacht oder ausgesprochen hat widerrufen und das sagen, was einem erst jetzt in den Sinn kommt. Gut, wenn man in einem Dialog zu zweit Entdeckungen machen kann. Etwas allein entdecken – wo ist da der Spaß dabei?! Zu zweit macht es irgendwie mehr Freude. Ich möchte Ihnen sagen, dass auch der Dialog selbst nicht allein darsteht. Es gibt viele Dialoge. Sie sind wie das Geäst eines einzigen großen Baumes, einander sehr ähnlich, aber tatsächlich alle verschieden. Und so bin ich, als ich die Dialoge aller möglichen Theaterrichtungen, verschiedener Schulen und Traditionen erforschte, zu dem Schluss gelangt, dass es zwar gemeinsame Wurzeln gibt und einen gemeinsamen Stamm, von dem aus sich die meisten Dialoge entwickelt haben und noch entwickeln, aber nichtsdestotrotz keine einheitliche Methode existiert oder aufgestellte Regeln, wie man einen Dialog baut. Mich persönlich freut das, denn es gibt mir die Freiheit und die Möglichkeit, meine eigene Einteilung von Dialogen in verschiedene Arten zu machen und genau die zu erforschen, die ich am interessantesten finde. Und Freiheit ist in der Forschung am wichtigsten.

Ich möchte in diesem Buch nicht nur über heutige Dialogtypen oder über meine letzten Experimente sprechen. Sie interessieren mich natürlich sehr, aber auch klassische Dialoge der Weltdramaturgie, ihre Hauptprinzipien, Regeln und Konstruktionsmethoden sind auf besondere Weise schön und spannend. Sie haben längst ihre künstlerische Qualität bewiesen, man könnte sagen: sie haben die Achtung aller Zeiten verdient. Man darf sie nicht absägen wie morsche Äste. Sie sind noch lange nicht tot. Schön und gut, manchmal wirken sie schwerfällig und altmodisch, aber glauben Sie mir, es lohnt sich, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und sich ihrem Zauber hinzugeben. Denken Sie mal daran, wie viele unerklärliche Gefühle und Emotionen der Klang einer alten Wanduhr auslöst, den Sie zufällig hören. Als wenn dieselbe Zeit verstreicht, aber irgendwie anders verläuft. Und wenn Sie irgendwann noch einmal die Handkurbel der Nähmaschine Ihrer Großmutter drehen können, so versichere ich, dass Sie ästhetischen Genuss verspüren werden. Genauso ist es auch mit altmodischen Dialogen. Versuchen Sie mal, einen Dialog aus einem alten Stück nach den Regeln zu spielen, nach dem er geschaffen wurde – Sie werden dabei nicht nur den Autor für sich entdecken, sondern auch eine ganze Epoche. Es wird Ihnen Spaß machen. Natürlich fordert dies nicht wenig Geduld, doch die künstlerische Belohnung folgt auf dem Fuße. Das ist wichtig. Ich bin überzeugt davon, dass alle Arten von so genannten „alten“ klassischen Dialogen sich auch weiterhin entwickeln oder jedenfalls das Auftauchen neuer Formen des Dialogs noch stark beeinflussen werden. Außerdem behaupte ich, dass perspektivisch gesehen, die Entwicklung von Dialogen im heutigen Theater in keinerlei Konflikt mit den alten stehen wird, sondern im Einverständnis mit ihnen oder sogar in einer Verschmelzung beider Formen mündet. Nur der Dialog inmitten einer Vielfalt von anderen Dialogen wird den Theaterdialog der Zukunft bestimmen. Die eigentliche Frage liegt woanders: sind die heutigen Schauspieler bereit, einen solch schwierigen, mehrschichtigen und in mehreren Stilen sich darbietenden Dialog zu spielen? Werden sie leicht von einem Schiller’schen Dialog zu einem von Oscar Wilde wechseln, von Shakespeare zu ­Beckett – und diese schöpferisch verbinden können?

Ich meine, ja. Allerdings nur unter einer Bedingung: wenn sie für sich den Begriff Dialog öffnen. Ich spreche das gleich hier zu Beginn des Buches offen an: ohne ein eigenes Verständnis, was ein Dialog ist, hat es keinen Sinn, seinem schauspielerischen Arsenal die Übungen und verschiedene technische Methoden einzuverleiben. Dabei wird nichts Gutes herauskommen. Prägen Sie sich von Anfang an ein: ein Dialog ist nicht einfach ein Mittel zur Kommunikation auf der Bühne, sondern ein Dialog ist: Theater. Meine eigenen Forschungen in der Theatergeschichte – wenn sie auch nicht allzu tiefgehend sein mögen – zeigen, dass jede Richtung und jede Generation im Theater sich von der anderen durch ein besonderes Verständnis des szenischen Dialogs unterscheidet. Ja, mehr noch: fast alle großen Schauspieler, Regisseure und Dramatiker haben innerhalb der eigenen Generation ihre eigenen, besonderen Konstruktionen, ihr eigenes Verständnis vom Wesentlichen, vom Ziel und Sinn eines Dialogs vorgeschlagen. Das Geheimnis ihres Erfolges bestand darin, dass sie „ihren“ Dialog hörten, den Dialog „ihrer“ Zeit und „ihres“ Theaters. Wenn es den Begriff von „meinem“ Theater gibt, so gibt es auch den Begriff von „meinem“ Dialog. Das ist die wichtigste Entdeckung. Und auf der Basis dieser Entdeckung möchte ich meinen Kollegen, Schauspielern und Regisseuren, die hunderte von Dialogen auf der Bühne ­gespielt haben, sowie denen, die ihren Erfahrungsweg gerade erst begonnen haben, wiederholen: Versuchen Sie nicht, aus diesem Buch irgendwelche fertigen Rezepte zu erhalten oder eine Antwort darauf zu finden, wie man erfolgreich einen Dialog baut. Sie brauchen vor allem anderen keine Antworten, sondern Fragen. Und damit fangen wir am besten an.

Erste Frage:

Was für ein Dialog schwebt Ihnen persönlich vor?

Die Frage ist fundamental wichtig, berührt sie doch neben der strukturellen und sinnhaften Bedeutung einen weiter gefassten Bogen. Sie wirft solche Fragen auf wie: Was ist eigentlich „Ihr“ Theater? Worin besteht Ihre Individualität als Künstler? Und ähnliche wichtige Themen. Diese Fragen braucht man nicht zu fürchten, Sie selbst geben sich ja die Antwort darauf, man darf sich also irren und anschließend korrigieren. Das ist normal. Antworten Sie also einfach auf die Fragen: Wie hören Sie einen Dialog? Wie fühlen Sie ihn? Worin sehen Sie für sich den Sinn? Natürlich können Ihnen viele der Übungen aus dem Kapitel zum Training bei den Antworten helfen. Sie erfahren darin zum Beispiel, wie man einen Dialog mit den Händen klopfen kann oder wie nutzbringend es ist, ihn auf ein Blatt Papier zu malen. Aber ich wiederhole: vor allem ist hier Ihre ganz eigene Empfindung gefragt, das persönliche Gespür und Gehör und der künstlerische „Geschmack“ des Dialogs. Nicht zurückschrecken! Probieren Sie es! Weiter unten stelle ich Ihnen zum Beispiel Gedanken vor zu meinem Bild des Dialogs als Kentaur. Vielleicht mag dies dem einen oder anderen seltsam oder strittig erscheinen, aber mir hilft dieses Bild bei der Arbeit. Wenn ich zur Probe gehe, habe ich stets mein bestimmtes Bild vom Dialog vor Augen, mag es auch verschwommen oder unklar sein. Ich versuche es zu sehen oder zu hören. Sogar im Traum höre ich sein Flüstern und seine Schreie, sehe eng in einer Ecke sitzende oder ohne Ziel herum schlendernde menschliche Paare. Dies ist für heute „mein“ Dialog, und genau das ist für mich wichtig. Doch niemals fixiere ich sein Bild, ich bin frei und kann es verändern, wie ich will.

In einem anderen Kapitel dieses Buches treffen Sie auf eine große Übung, meine Gefühle und Gedanken dazu, mit denen ich selbst nicht immer einverstanden bin und von denen ich bis heute nicht ganz genau weiß, wie ich sie in der Arbeit mit Schauspielern realisieren soll. Aber heute gefallen sie mir, scheinen mir nützlich, und ich teile sie gerne mit Ihnen. Und vielleicht provozieren sie Sie dazu, das Bild Ihres Dialogs hervorzubringen, einen bestimmten Arbeitsweg einzuschlagen. Und das ist, was ich mir wünsche. Im Theater muss man miteinander reden und Ideen austauschen, auch wenn sie noch lange nicht ausgereift sind. Es ist doch ein lebendiger Dialog. Ich denke, man muss ihn nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Theater selbst führen. So ist es viel besser für die Kommunikation untereinander und für neue Erkenntnisse in unserem Beruf. Wenn alle schon alles wissen, gibt es keinen Dialog, und es wird auch keinen geben. Und das Theater wird zum langweiligen, einseitigen Alleswisser. Deshalb hoffe ich, dass ein freier Dialog zwischen uns auf den Seiten dieses Buches Ihnen helfen wird, Ihr Verständnis von einem Dialog zu formulieren. Das brauchen vor allem Sie selbst. Werden Sie nur nicht träge dabei und meinen, Ihr Verständnis von einem Dialog, das Bild davon, werde für immer und ewig geboren. Es wird eine erste Stippvisite sein. Führen Sie den Dialog mit dem Dialog unaufhörlich weiter. Und steigen Sie mutig mit jedem in einen Dialog ein, vom dem Sie meinen, er fördere die Entwicklung Ihres Bildes von einem Dialog.

Zweite Frage:

Was für eine Art Dialog schlägt der Autor vor?

Dazu braucht man ein bestimmtes Wissen von unterschiedlichen Dialogarten. Von einigen haben Sie bereits gehört oder Sie hören in diesem Buch davon, und ich hoffe, das hilft Ihnen ein wenig. Aber im Großen und Ganzen sind Sie auf sich selbst zurückgeworfen, wie ich bereits sagte. Suchen Sie keine fertigen Antworten, sondern stellen Sie sich Fragen: Wie und von welchem Moment oder Wort an beginnt der Dialog bei einem Autor? Wie entwickelt er sich bei ihm? Was verändert sich im Dialog, wo und wann? Wer führt mit wem den Dialog in diesem Teil – und wer hier, im nächsten Teil? Durch welche Entwicklungsstufen läuft der Dialog? Wohin führt der Autor ihn?

Schon auf den ersten Blick sieht man, selbst wenn man noch nicht tief in den Inhalt eingedrungen ist, ob der Dialog aus der Feder eines guten oder schlechten Dramatikers stammt. Beim schlechten finden wir das Schema: Frage - Antwort, Frage - Antwort, Frage - Antwort. Bei einem guten Autor dagegen: Frage - dann ein Text über etwas ganz anderes - und die Antwort erst auf einer anderen Seite. Solch ein Dialog hat Klasse. Wenn er aber schrittweise verläuft, eine Stufe nach der anderen nimmt, dann wird er in einer solch primitiven Komposition wie eine Schnecke daher gekrochen kommen. Man wird jede Änderung, jede Antwort auf Fragen vorhersehen können. Dann ist da kein Raum, kein Raum für Spiel, kein Raum für Gedanken, für Themen. Es ergibt sich kein künstlerisches Schaffen, keine Entdeckungen. So gelangen Sie wohlbehalten, ohne Eile, ans Ende der Gedankenkette oder des Textes, und – Gute Nacht! Wohl zu ruhen! Keinerlei Magie… Nein. Ein Dialog muss nicht nur laufen und rennen, sondern auch mal springen, zwei, drei Stufen auf einmal nehmen, wie ein übermütiger Pennäler. Es ist ähnlich wie beim Schachspiel. Sie erreichen niemals etwas, wenn Sie eine Kombination von nur 2-3 Zügen im Kopf haben, nein, Sie brauchen einen Plan für 10-12 Züge im Voraus. Wenn Sie also auf einen 2-3 zügigen Dialog treffen, dann lehnen Sie diesen besser ab. In der Regel ist es eine Imitation und kein echter Dialog.

Wenn Sie nun herauszufinden versuchen, wie der Autor den Dialog sieht, dann müssen Sie unbedingt berücksichtigen, dass manche Dialoge geschrieben werden, damit die Worte des Textes gespielt werden, andere Dialoge aber sind dazu da, dass die Situation im Vordergrund steht oder dass der Dialog vor allem in den Pausen dazwischen erlebt wird. Versuchen Sie das gleich zu Beginn der Arbeit herauszufinden. Es geht darum, dass dies unterschiedliche Typen von Dialogen sind, und selbstverständlich gelten für jeden unterschiedliche Regeln.

Einige Worte dazu vorweg, später, im Kapitel über den Dialog mit Worten und ohne Worte, wird es noch genauer. In einem Dialog der Worte, das heißt, wenn vor allem die Worte wichtig sind, existiert folgende Regel: die Worte müssen unbedingt in Gefühle, Emotionen, in physisches Leben umgewandelt werden, dann rufen sie jedes Mal beim Schauspieler eine emotionale Entladung hervor und zeigen den Gang und die Richtung des Spiels an. In solchen Dialogen muss der Schauspieler nicht nur logisch analysieren (das bringt wenig), sondern das Analysierte „emotional hören und sehen“.

Wenn jedoch der Dialog auf Pausen aufgebaut ist, dann ist seine Basis das Verhalten und physische Handlungen. Die Worte bilden nur den Hintergrund (davon weiter unten ausführlicher).

Wenn der Dialog auf einer spielerischen Basis steht, wenn also das reine Spiel dominiert, dann muss man das Umfeld bestimmen bzw. die Situation für den Dialog schaffen, das Territorium seiner Existenz herstellen, die Spielregeln und Prinzipien, das Ausgangsereignis der Szene und so weiter, und danach dann eine Komposition vorschlagen, die Bewegung des Textes, die Vektoren der Kommunikation usw.

Wenn Sie die Prinzipien des Autors gefunden haben, dann berücksichtigen Sie diese unbedingt auch bei der Arbeit. Das heißt jedoch nicht, dass Sie zu deren Sklaven werden und alles dogmatisch befolgen sollten. Beachten Sie, dass die Prinzipien in einem guten Dialog oft wechseln können. Ein häufiger Wechsel der Regeln ist das Zeichen für einen guten, modernen Dialog. Und falls es beim Autor keine solchen Wechsel gibt, dann zeigen Sie Mut und nehmen diese selbst vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jedes Mal, wenn Sie die Regeln ändern, der Dialog in jeder Richtung etwas gedreht wird und damit andere Facetten zeigt; davon profitiert er natürlich sehr. Falls Sie sich aber entschließen, nur ein Prinzip im Dialog anzuwenden, dann suchen Sie aufmerksam danach, wo es eine Ausnahme von der Regel gibt oder geben könnte. Wenn etwas „Unrichtiges“ erscheint, wird dieser Fremdkörper zum Leckerbissen Ihres Dialogs.

Beim Bestimmen des Dialogtypus sollte man mit vollem Respekt dem Autor gegenüber vorgehen und seine Vorstellungen vom Dialog einbeziehen. Verhalten Sie sich einer fremden Kreation gegenüber kreativ, einem anderen Künstler gegenüber künstlerisch. Das ist alles, was von Ihnen verlangt wird. Ein Dialog ist stets ein Co-Autorentum. Hören Sie ihm zu bis zum Schluss, und dann suchen Sie frei und gemeinsam die Umsetzung. Dies hilft Ihnen die Antwort auf die dritte Frage zu finden.

Dritte Frage:

Wie kann man Ihre und des Autors Sicht auf den Dialog miteinander vereinen?

Sie haben auf die erste Frage geantwortet – Was für ein Dialog schwebt Ihnen persönlich vor? – und auch auf die zweite – Was für eine Art Dialog schlägt der Autor vor? Vergleichen Sie nun beide Antworten. Stellen Sie sozusagen einen Dialog zwischen diesen beiden unterschiedlichen Auffassungen her, Ihrer und der des Autors. Der Vergleich wird Ihnen Energie liefern. Es ist die Energie der Suche. Das ist schon der erste wichtige Schritt in Richtung einer eigenen Vision vom Dia­log und nach dem optimalen Plan bei der gesamten Arbeit am Bau des Dialogs.

Bei der Beantwortung dieser Frage beginnen Sie ganz unvorsätzlich bereits einen Plan für die gesamte Kreation des Dialogs zu entwerfen. Zum Beispiel hier, in diesem Teil des Dialogs ist die Pause wichtig, da bin ich einer Meinung mit dem Autor. Und hier das Verhalten in der Situation, damit bin ich auch einverstanden. Aber hier, nein, da bin ich es nicht. Hier ist nach meiner Ansicht alles auf Spiel aufgebaut und nicht auf den Worten – und hier kommen wieder die Worte im Dialog zum Zuge. Stellen Sie sich Fragen. Wo bleibt der Dialog stehen? Wo endet er? Worin liegt die Entdeckung des Dialogs? Wo, an welcher Stelle kann der metaphysische Durchbruch erfolgen? Je mehr Fragen Sie haben, desto besser. Während Sie nun Ihre Variante des Dialogs auf diese Weise analysieren und anschließend bauen, werden Sie nicht nur die vielfältige und reiche Form seines szenischen Lebens „hören“ und „sehen“ lernen, sondern auch den verborgenen Reichtum seines Sinns entdecken. Doch dies ist lediglich ein Teil der Arbeit. Die volle Antwort auf die dritte Frage werden Sie erst in Ruhe in der szenischen Praxis erhalten. Nichts übereilen! Ein Dialog braucht Zeit, viel Zeit.

Manchmal scheint mir, als ob Zeit das ist, wovon sich der Dialog ernährt, wodurch er atmet. Wenn Sie die Zeit beschneiden, werden Sie sehen, dass er erstickt. Man muss berücksichtigen, dass ein Dialog eine andere zeitliche Dimension erfordert. Unsere kalendarischen Rahmenbedingungen und Zifferblätter-Systeme sind ihm zu eng. Aber leider verlieren wir heute in unserer Welt die Geduld, einen Dialog über einen langen Zeitraum zu führen. Wir brauchen ein schnelles Resultat, und haben nicht den Glauben an eine Fortsetzung. Wir sind von Tschechows Ungenauigkeit irritiert. Wir haben keine Geduld dafür. Und das sieht man alles auf der Bühne – die Schauspieler nehmen sich keine Zeit, sind nervös, hören einander nicht zu, preschen wie Rennpferde hin zur Ziellinie, zum Sieg. Ich kann Ihnen versichern, dass niemandem ein Dialog auf die Schnelle gelingt. Eine echte Entdeckung oder gar Eröffnung wird nicht stattfinden. Im besten Fall wird man ein gepflegtes Gespräch führen. Aber seien wir uns darüber im Klaren: in einem kurzen Gespräch können wir nur ein vorübergehendes Wissen erlangen. Ein Wissen, das für den Zuschauer bequem und „für heute“ ganz praktisch ist. Aber ist das wirklich die Aufgabe des Theaters? Ich glaube kaum. Ich glaube dagegen, dass man wahres Wissen erst erlangen kann, wenn man mit einem langen, langen, gemeinsamen Weg einverstanden ist. Nur ein Dialog mit einer langen Entwicklungsperspektive kann wirklich etwas Wahres öffnen. Einen Dialog darf man nicht in Hektik, im Lärm, in Eile schaffen. Das ist bereits erprobt.

Sie haben auf die Fragen geantwortet – gehen Sie nun auf die Bühne. Dort werden Ihnen hunderte neuer Fragen begegnen. Nur auf der Bühne, und nur in genauesten Proben mit dem Partner, wird sich Ihnen das Bild Ihres Dialogs ganz eröffnen. Einem Schauspieler oder einem Regisseur allein wird es nie gelingen, einen Dialog zu öffnen, so gut sie sich auch vorbereitet haben mögen. Ein Dialog ist für zwei da und er ist oft auch eine persönliche Sache von zweien. Vertrauen Sie also einander wie auch sich selbst. Sie brauchen Ihren eigenen Dialog. Sonst wird Ihnen nichts gelingen, niemals. So, wie Sie diesen Dialog spielen, und zwar speziell mit diesem einen Partner, werden Sie ihn niemals mit einem anderen spielen, und sei er der wundervollste Schauspieler. Ihren Dialog dürfen Sie mit ihm nicht wiederholen. Überhaupt darf man einen Dialog nicht wiederholen. Er muss stets von Ihnen aufs Neue erschaffen werden. Sein Bild wird von Ihnen + Ihrem Partner erschaffen. Von Ihnen + dem Autor. Von Ihnen + dem Zuschauer. Von Ihnen heute + von Ihnen morgen. Denken Sie daran: Ihr Dialog bedeutet immer Ich + noch jemand.

Man sagt, wenn ein Mensch nach einer Ohnmacht wieder zu sich kommt, sei das erste, was er zu erinnern beginnt, ob noch jemand anderes bei ihm war oder nicht.

2. MEIN LEHRER IST PLATON

Zielsetzung dieses Buches ist nicht die Beschreibung der Geschichte von der Entstehung des Dialogs. Es finden sich sicherlich Leute, die das viel besser tun können als ich. Mir ist vielmehr wichtig, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was man für die Praxis im Theater wissen muss und was man wie und wofür benutzen kann.

Es wäre natürlich korrekt mit der Bibel zu beginnen, da die Bibel selbst schon ein Dialog ist. Es ist die Hoffnung auf Erkenntnis, wenn wir den Stimmen der Propheten lauschen im starken Wunsch, die Stimme Gottes zu hören. Für Juden erlangt man Erkenntnis nur im gleichberechtigten Dialog in einer gleichberechtigten Beziehung und nicht in Unterwerfung. Die jüdische Kultur war sehr verschieden zur griechischen…

Jedenfalls möchte ich im klassischen Griechenland beginnen, wo der Baum des Dialogs zum ersten Mal richtig erblühte. Bei den alten Griechen wurde der „dialogos“ (gr. διάλογος) zunächst als gewöhnlicher Wortaustausch zwischen zwei Personen verstanden. Die Griechen fanden Gefallen an diesen paarweisen Gesprächen und bemerkten die besondere Qualität, auf diese Weise neues Wissen zu erreichen. Dies war ein riesiger Schritt in Richtung Verständnis von der Natur des Dialogs und zog einen ersten Trennstrich zwischen einem Dialog und einem gewöhnlichen Gespräch. Die Welt zu zweit zu erkennen erwies sich als interessanter und produktiver als jeder für sich allein. Dialoge wurden derart populär, dass sie speziell zur Unterhaltung für die Bürger veranstaltet wurden und zwar in Form von Wort-Turnieren. Dabei erfreuten sie sich nicht weniger Beliebtheit als die berühmten Theatervorstellungen. Ich bin davon überzeugt, dass auch heute ein gut gemachter Dialog stets eine Garantie für Erfolg beim Zuschauer sein wird. Nun also, dieses Interesse und dieser Erfolg bewegten die alten Philosophen und Schriftsteller, sich dem Dialog als besondere Form der Entwicklung von philosophischen und anderen bedeutenden Themen zuzuwenden. So ist uns Platons Lehre aus seinen Dialogen bekannt. Ich bemerke bei dieser Gelegenheit gleich: wenn Sie ein Profi des Dialogs werden wollen, so wird es Ihnen kaum ohne das Studium von Platons Arbeiten gelingen. Ein Schauspieler ohne Basiswissen in Philosophie kann praktisch keine gute und tiefgehende Analyse des Dialogs leisten. Vor allem finden Sie aber in seinen Arbeiten die Hauptprinzipien für den Bau aller Arten von Dia­logen, von der Antike bis in unsere Zeit. Es ist eine herrliche praktische Stütze. Darum schieben Sie es nicht auf die lange Bank, lesen Sie Platon jetzt.

Ich versuche nun in kurzen Beispielen und Schlüssen, Sie nicht nur davon zu überzeugen, wie heutig und aktuell sein Verständnis von Dialogen ist, sondern Ihnen auch ihre Hauptgesetze nahe zu bringen. Schauen Sie zunächst einmal, wie schön und einfach Platon und seine Schüler das Wesen eines Dialogs bestimmen. Für sie ist der Dialog ein Kosmos. Nicht das Schema „du hast gesagt – ich habe gesagt“, sondern ein Kosmos. Keine Fläche, keine Linie, sondern die Unendlichkeit – „ähnlich dem, wie im Dialog die Reden verschiedener Personen erklingen im Einklang mit dem, was jedem gebührt, so gibt es auch im Kosmos höhere Naturen und niedrigere… und die Seele, die sich im Kosmos aufhält, vereint sich mal mit dem einen, mal mit dem anderen. (…) So gibt es auch in einem Dia­log fragende und antwortenden Figuren, und unsere Seele, die gleichsam zwischen ihnen Richter ist, neigt sich mal der einen, mal der anderen zu. 5“