Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie - Wolfgang Ullrich - E-Book

Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie E-Book

Wolfgang Ullrich

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Beschreibung

Muss Kunst heute politisch, fair und klimaneutral sein? Was unterscheidet sie noch von Mode und Design? Kritisch und zugleich kulturoptimistisch: Wolfgang Ullrichs umfassende Analyse eines Paradigmenwechsels, dessen Konsequenzen weit über die Kunst hinausreichen. Das in der Moderne im Westen vorherrschende Ideal autonomer Kunst ist am Ende. Unterscheidungen zwischen Kunst und Kommerz lösen sich ebenso auf wie fest umrissene Werkgrenzen und Rollenklischees: Jeff Koons entwirft Taschen für Louis Vuitton, Künstler-Labels produzieren »Art Toys«, kollaborative Projekte setzen auf die Mitwirkung vieler, und Protestgruppen fordern mehr soziale Verantwortung der Kunstwelt. Mit wacher Zeitgenossenschaft führt Wolfgang Ullrich einzelne Phänomene wie beispielsweise Make-up-Fotos auf Instagram, die utopische Malerei von Kerry James Marshall und Takashi Murakamis Sneaker zusammen und entfaltet so das Panorama einer neuen Kunst, die sich mit Aktivismus und Konsum verbündet: einer Kunst, die Kräfte möglichst vieler Disziplinen in sich bündelt, damit aber anderen und mehr Kriterien als früher zu genügen hat.

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Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie erschien im Frühjahr 2022 als Band 90 in der Reihe KLEINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK.

KLEINEKULTURWISSENSCHAFTLICHEBIBLIOTHEK

wurde 1988 in Referenz an Aby Warburg gegründet.

E-Book-Ausgabe 2022

© 2022 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung nach einem Konzept von GROOTHUIS Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4340 2

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 5190 2

www.wagenbach.de

Wenn ich auf die heutige Kunstwelt blicke, kommt es mir so vor, als hätte ich einen Filmriss gehabt und ein paar Jahre verpasst. Auf einmal wirken die Ideen und Ansprüche autonomer Kunst, die die gesamte westliche Moderne prägten, die oft maßlos und radikal, oft aber auch befreiend waren, fremd und wie aus der Vergangenheit. Anderes ist an ihre Stelle getreten. Also versuche ich, mich in dieser neuen Welt zurechtzufinden.

Exposition Fünf Paar Schuhe und Abschied von eineinhalb anderen

Wer sich mit zeitgenössischer Kunst befasst, hat es nicht mehr nur mit Gemälden, Fotografien, Installationen und Performances zu tun. Vielmehr können mittlerweile genauso Möbel, Make-up, Protestkundgebungen oder Handtaschen Spielarten von Kunst sein. Es ließe sich sogar sagen, dass Kunst heute dann besonders geschätzt wird, wenn sie zugleich etwas anderes ist. Die großen Gegensätze der Klassischen Moderne haben hingegen an Bedeutung verloren: Zwischen freier und angewandter Kunst, zwischen high und low oder auch zwischen Kunstwerken und Konsumprodukten wird kaum noch getrennt.

Auch Sneakers können Kunst sein und dennoch genauso als Mode verkauft werden. Sie haben dann den Charakter von Skulpturen und erfüllen zugleich die alltäglichen Voraussetzungen funktionaler Laufschuhe. Oder sie sind, zusätzlich zu ihrem Status als exklusive Sammelstücke, mit einem politischen Statement verbunden. Oder sie sind Konzeptkunst und ebenso ein klimaneutrales High-Tech-Produkt. Sie genügen also jeweils den Kriterien mehrerer Bereiche. Zugespitzt formuliert: Nur weil sie nicht bloß Kunst sind, sind sie überhaupt Kunst. Wie unterschiedlich das aussehen kann, sei an fünf Beispielen veranschaulicht.

Beispiel 1: Im August 2019 berichtete Takashi Murakami, Japans global bekanntester Künstler, auf seinem Instagram-Account davon, wie »erfüllend« es für ihn war, erstmals in seiner Laufbahn Sneakers zu entwerfen. Zwar war er schon wiederholt von großen Marken eingeladen worden, ein Muster oder eine Verpackung für ein Paar vorzuschlagen, doch nachdem er 2016 beim Besuch der ComplexCon, einem Festival zu Phänomenen der Popkultur, von Fans – sogenannten sneakerheads – bejubelt worden sei, habe er das als Aufforderung empfunden, selbst initiativ zu werden.1 Allerdings habe er zuerst noch eine »Distanz zwischen der Sneakers-Kultur und sich selbst« gespürt. Umso wichtiger sei es ihm gewesen, deren Regeln wirklich zu erfassen, und daher habe er sich voll und ganz auf seine eigene »Sneaker-Reise« eingelassen.2

Zu den Regeln der Sneakers-Kultur gehört es, jeden Schuh in Traditionen und Genealogien wahrzunehmen. Seine Qualität bezieht ein Entwurf nicht daraus, originell zu sein und ein Modell zu präsentieren, das man so noch nie gesehen hat; dafür wächst der Nimbus gewissermaßen mit dem Stammbaum, mit dem man die Sneakers ausstattet, indem man auf berühmte Vorbilder sowie Zeichen und Gestaltungselemente anderer Bereiche zurückgreift.

Das hat Murakami verstanden. So bezieht sich das Design seiner Sneakers auf die Kampfroboterfiguren der populären japanischen Anime-Fernsehserie Mobile Suit Gundam (1979). Die olivgrünen Sneakers haben daher die Anmutung militärischer Ausrüstung, die Seitentaschen (die sich sogar auf bis zu vier pro Schuh erweitern lassen) erinnern darüber hinaus an Fahrradtaschen oder Anglerwesten – und damit sogar an Joseph Beuys. Als Partner für die aufgrund unterschiedlicher Materialien aufwändige Produktion wählte Murakami das Label Porter des auf Taschen spezialisierten Unternehmens Yoshida, und der Verpackungskarton ist eine Hommage an SF3D, eine von Ko Yokoyama entworfene Spielfigur der neunziger Jahre. [Abb. 1a–c] Nach eigener Aussage wollte Murakami die Sneakers auf diese Weise mit dem »Otaku-Geschmack«, also mit einer konsumistisch orientierten Fan-Kultur Japans, verknüpfen.3 Das Design enthält aber auch typische Elemente seiner eigenen künstlerischen Motivwelt, etwa in die Sohlen geprägte lachende Blumengesichter. Damit sind die Sneakers zugleich als Artefakte des Künstler-Labels »Murakami« identifizierbar, das mehr als viele andere mit der Kapitalisierung des Kunstbetriebs, mit dem Glamour eines in Rekorde und Superlative verliebten Marktes assoziiert wird.

Ein Sneakerhead aus Texas schrieb begeistert, Design und Gedanken hinter Murakamis Entwurf seien nahe an den Traditionen, aus denen er selbst Inspiration beziehe, und im Kunstmagazin artnet wurden die Schuhe und das Verpackungsdesign als »vielschichtiger Liebesbrief an die japanische Fan-Kultur der 1980er Jahre« gewürdigt.4 Dasselbe Objekt, das original rund 600 US-Dollar kostete, fand also in der Sneakers-Szene ebenso Anerkennung wie in der Kunstwelt.

1a–c Takashi Murakami: TZ BS-06s

Beispiel 2: Seit November 2020 bietet das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) in seinem Shop Sneakers an, die zusammen mit der Künstlerin Faith Ringgold entwickelt und in Kooperation mit der Marke Vans produziert wurden. [Abb. 2] Mit den Schuhen wird die Würdigung einer lange höchstens in Fachkreisen beachteten Künstlerin fortgesetzt, die bereits bei der Neueröffnung des Museums im Oktober 2019 prominent in Erscheinung treten konnte. So platzierte man ihr Gemälde Die (1967) neben Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1907), einem Hauptwerk der Sammlung, das besonders gut das Weltbild eines weißen Mannes aus der Zeit der Avantgarden repräsentiert. Diese Hängung sollte ein Akt der Wiedergutmachung sein, da Ringgold, selbst Afro-Amerikanerin, sich sowohl in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung engagiert als auch für mehr Gleichberechtigung von Frauen gekämpft hat. Als Aktivistin protestierte sie in den siebziger Jahren gegen die viel zu einseitigen Sammlungen in Museen wie dem MoMA, und als Künstlerin hatte sie sich bereits 1991 innerhalb einer Serie von Quilt-Arbeiten – unter dem Titel The French Collection – kritisch mit Picassos Gemälde befasst.

Das Design der Sneakers nimmt Bezug auf Ringgolds 1995 publiziertes Buch Seven Passages to a Flight, in dem sie in handkolorierten Radierungen und kurzen Texten einige ihrer Diskriminierungserfahrungen als Schwarze Frau festhält. Ein Muster verschiedenfarbiger Dreiecke in unterschiedlichen Anordnungen, das auf jeder Buchseite den Rahmen bildet, kehrt nun auf dem Schaft der Sneakers wieder. Und auf die Seitenflächen der Sohle ist ein Satz aus Ringgolds Buch – in ihrer Handschrift – gedruckt, der ihre doppelte Benachteiligung prägnant zum Ausdruck bringt: »My mother said I’d have to work twice as hard to go half as far«.

2 Faith Ringgold X MoMA X Vans

Dass die Künstlerin es mit diesem Satz auf ein Produkt von zwei global berühmten Marken geschafft hat, mag aber auch als ein Beleg dafür gelten, dass ein Mehr an Einsatz und Engagement am Ende doch anerkannt wird. Wer Ringgold-Sneakers kauft, empfindet dann vielleicht Freude über die Lebensleistung der Künstlerin und kann sich zugleich zu ihrem Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft bekennen. Schließlich mag mit dem Besitz der Schuhe sogar die Hoffnung verknüpft sein, bei sich selbst neue Kräfte freizusetzen. Sie werden zum Ansporn, fungieren gar als Talisman oder als Werkzeuge des Empowerment.

War Ringgolds Buch mit einer auf 45 Exemplare limitierten Auflage noch ein exklusives Stück Kunst, werden die Sneakers entsprechend der Nachfrage produziert und zum Preis von rund 100 US-Dollar verkauft. Wer nun unkt, der Weg vom Buch zu den Schuhen sei ein Niedergang von der Hochkultur zu bloßem Merchandising, sollte bedenken, dass Ringgolds Bücher als Preziosen in ein paar Sammlungen verschwanden und kaum Resonanz fanden. Ihre Schuhe hingegen können denen, die sie besitzen, immer wieder Anlass zur Identifikation und damit zu starken Gefühlen bieten, vor allem aber tragen sie die Haltung der Künstlerin buchstäblich in eine breitere Öffentlichkeit. Das Buch war nur Kunst und dadurch ziemlich machtlos, während die Sneakers, gerade weil sie mehr als nur Kunst sind, einen festen Platz im Leben der Menschen einnehmen, eine starke Präsenz entwickeln können. Dass man mit den Schuhen in Bewegung sein kann, sie sich aber auch zeigen sowie auf Bildern in den Sozialen Medien posten lassen, verleiht ihnen zudem den Charakter einer aktivistischen Grundausrüstung.

Allerdings wird gerade die politische Glaubwürdigkeit der Sneakers dadurch geschwächt, dass die Auswahl der Kooperationspartner nicht so sorgfältig abgestimmt zu sein scheint wie im Fall Murakamis. Denn die Marke Vans ist vor allem mit der Skater-Szene assoziiert, der aber lange ausschließlich Weiße angehörten und die Schwarzen zum Teil sogar offensiv den Zugang verwehrte. Dass nun gerade Vans den Kampf einer Schwarzen für mehr Gleichberechtigung unterstützen soll, ließe sich zwar als umso größerer Triumph für Ringgold ansehen, zugleich weckt es aber den Verdacht, es könnte sich um ein Marketing-Manöver der Schuhmarke handeln, die so ihr fragwürdiges Image aufpolieren will und vom Museum gar noch darin unterstützt wird.

Beispiel 3: Kooperationen zwischen großen Marken wecken generell Misstrauen. Design und Vermarktung sind so professionell, die erzählte Geschichte ist meist so sehr auf ein »Happy End« hin ausgerichtet, dass für Dissonantes kaum Raum bleibt. Viele wollen Optimismus verkaufen, fortschrittlich und cool sein, in eine von den ästhetischen Standards von Instagram und Netflix geprägte Bildwelt passen. Und solange sie sich an der Nachfrage orientieren, wollen sie auch nicht zu stark provozieren, nicht zu viel auf einmal infrage stellen. Dabei fungieren tradierte Ordnungen und Grenzziehungen immer auch als mehr oder minder sichtbare Machtinstrumente, die Hierarchien etablieren und so nicht zuletzt der Ungleichbehandlung von Menschen Vorschub leisten. Wer von einer freieren Welt träumt, will daher vermutlich nicht nur die Grenze zwischen »hoher« Kunst und »niedrigeren« Bereichen überwinden, sondern genauso gegen die Trennung zwischen Klassen, zwischen den Geschlechtern oder zwischen Ethnien protestieren.

Aus einem solchen generellen Misstrauen gegenüber Grenzen und Normen können ebenfalls Schuhe entstehen. Sie sind dann das Gegenteil einer konfektionierten Ware, die vorgegebenen Kategorien folgt und auf Massenproduktion angelegt ist. Es gibt sie aber auch nicht in limitierten Auflagen, würden durch Exklusivität doch nur erneut Grenzen gezogen. Vielmehr sind die Schuhe dann gar nicht zum Kauf erhältlich, sondern werden von denjenigen, denen sie gehören, selbst hergestellt.

So geschieht es etwa bei online live übertragenen Workshop-Performances einer 2018 in São Paulo von den Multimedia-Künstlern Boni Gattai und Brendy Xavier gegründeten Gruppe mit dem Namen Estileras.5 Sie besteht aus Mitgliedern der in Brasilien von rechtspopulistischen und religiösen Kreisen stark angefeindeten LGBTQ+-Community, die in mehreren Projekten daran arbeiten, den üblichen Begriff von Mode zu dekonstruieren und die Codes zu verwirren, mit denen ein Kleidungsstück einem bestimmten Geschlecht oder Milieu zugeordnet werden kann. Im Fall der Performances benutzen sie aussortierte Stücke, zerschneiden also Sneakers, Halb- und Stöckelschuhe verschiedener Hersteller und entwickeln daraus neue Paare aus vielen Einzelteilen, was mit einem Namen wie »Alles auf einmal« (»tudo de uma vez«) noch bekräftigt wird. [Abb. 3]

3 »Monsterschuhe« von Estileras

Die demonstrative Individualisierung – nicht einmal linker und rechter Schuh passen zusammen – unterläuft jedwede Form der Normierung oder Zuschreibung. Damit die Schuhe aber nicht selbst wieder nachgeahmt und so zum Ursprung neuer Codes und Normen werden, achten die Do It Yourself-Aktivist:innen darauf, sie demonstrativ dilettantisch und ungelenk anzulegen.

Dass die Performances unter dem Titel »Calçado de Monstro« – »Monsterschuhe« – stattfinden, parodiert zudem den seit einigen Jahren beliebten Modetrend der »Ugly Sneakers«. So entwerfen Luxusmarken wie Prada und Balenciaga monströs klobige Modelle, die man sich gleich doppelt leisten können muss: wegen ihres hohen Preises sowie wegen ihrer mangelnden Funktionalität. Wer sie kauft, will also Reichtum und Coolness zur Schau stellen, wohingegen die ungewöhnliche und bizarre Form eines Schuhs von Estileras im Gegenteil signalisieren soll, dass »Menschen, die von den herrschenden Schönheitsidealen und Geschlechterrollen abweichen, eine Skulptur für ihre Füße schaffen, die den exklusiven Parametern des Marktes widerspricht«.6

Zwar mag das Recycling alter Schuhe auch aus ökologischen Gründen naheliegen, doch ist es Estileras wichtiger, die statussymbolischen Faktoren des Konsums zunichtezumachen und für die Auffassung zu werben, »dass Kleidung lediglich Stoff ist – und nicht für ein bestimmtes Geschlecht oder eine sexuelle oder politische Orientierung zu stehen braucht«.7 Je mehr Menschen Schuhe und Kleidungsstücke aus vorhandenem Material anfertigen und je mehr Normen sie dabei ignorieren, desto eher könnten, so die Verheißung der Aktivist:innen, neue Freiheiten jenseits von Modediktaten entstehen – desto eher werde eine plurale und offene Gesellschaft denkbar.

Beispiel 4: 2020 engagierte das dänische Unternehmen Surface Project, das Sneakers und Sandalen aus recycelten Materialien (vor allem aus Plastikmüll aus dem Meer) anbietet, den Graffiti-Künstler André Saraiva.8 Er sollte jeweils hundert Paare limitierte Sneakers mit eigenen Motiven entwerfen. Saraiva gehört seit den achtziger Jahren zu den bekanntesten Graffiti-Künstlern Frankreichs; ab den neunziger Jahren taggte er seinen Namen nicht mit Buchstaben, sondern mit einer Figur – Mr. A –, die sich durch drahtig-lange Beine und zwei markante Augen auszeichnet: eines in Form eines »X«, das andere als Kreis mit einem Punkt darin. Diese beiden Augen verselbständigten sich und erlangten Logo-Qualität, was Saraiva schon längst nicht mehr nur für Graffiti nutzt. Vielmehr malt er Bilder und entwirft Schilder, widmet sich für Auftragsarbeiten fast jeder beliebigen Oberfläche oder verziert als Kooperationspartner diverser Firmen Smartphonehüllen, Skateboards oder Bälle mit seinen Markenzeichen. Die Sneakers für Surface Project passen also in sein gängiges Geschäftsmodell. [Abb. 4]

4 Surface Project X André Saraiva

Für das Unternehmen verheißt die Kooperation mit einem Graffiti-Künstler wie André Saraiva, als humorvoll und frech wahrgenommen zu werden, während Produkte, bei denen jedes Element nach Kriterien von Nachhaltigkeit optimiert ist, sonst schnell langweilig-korrekt und etwas streberhaft wirken. Dass es die Sneakers nur als »Limited Edition« gibt, erinnert an Praktiken der Kunst, kann aber auch die Endlichkeit von Rohstoffen symbolisieren. Ferner verschafft man denjenigen, die ein Paar erwerben, das schmeichelhafte Gefühl, ihr stolzes gutes Gewissen nicht mit allzu vielen teilen zu müssen. Zudem suggeriert die Begrenzung mitsamt Nummerierung der Sneakers, sie eigneten sich als Sammelobjekte, würden im Unterschied zu normalen Produkten vielleicht sogar im Wert steigen. Wenn die Schuhe deshalb jedoch gar nicht getragen, sondern fabrikneu bewahrt werden, besitzen sie fast nur statussymbolische Funktion. Statt den Ressourcenverbrauch zu senken, wächst mit ihnen die Anzahl überflüssiger Dinge bloß noch weiter.

Abgesehen von solchen Widersprüchen lassen sich die Sneakers von Surface Project aber als beispielhaft für eine neue Idee des perfekten Produkts interpretieren. Reichte es für Schuhe lange, dass sie bequem oder elegant waren oder man gut mit ihnen laufen konnte, und sollte Kunst ausdrücklich nur Kunst sein, so steigen die Ansprüche inzwischen immer weiter. In der Wohlstandskultur wurden Schuhe, Kunstwerke und vieles andere zuerst zu Designobjekten oder Luxusprodukten veredelt, und mittlerweile verknüpfen sich damit aufgrund eines geschärften Krisenbewusstseins auch noch ökologische oder gesellschaftspolitische Anliegen. Und das lässt sich immer noch weiterdrehen: bis hin zu einem Artefakt, das seine Eigenschaften einem umfassenden Verantwortungsdesign verdankt. Es präsentiert sich hochreflektiert und eingebunden in unterschiedliche Diskurse, ist vollgepackt mit positiven Features. Ob es in seinem Ursprung ein Gebrauchsobjekt oder ein Stück Kunst war, spielt dann keine Rolle mehr.

Beispiel 5: Ein ambitioniertes Artefakt kann auch Teil eines größeren Projekts sein. Dann taucht es zusammen mit anderen Elementen auf, die seine Deutung lenken und stimulieren. Statt sich darauf zu verlassen, dass ein Paar Sneakers für sich allein genügend Codes versammelt, um eine anspruchsvolle Aussage zu vermitteln oder vielfältige Reaktionen auszulösen, integriert man es also in ein umfangreicheres Programm. So brachte der US-amerikanische Schwarze Country-Sänger und Rapper Lil Nas X im März 2021 zusammen mit der Künstlergruppe MSCHF Sneakers auf den Markt, begleitet von einem neuen Musikvideo. Während ein Video es erlaubt, ein Thema vielschichtig zu erzählen, verleihen Sneakers als materielle Objekte etwas sonst bloß Fiktionalem eine Beglaubigung und sorgen so für eine Verbindung zur realen Welt.

Das Musikvideo zu dem Song Montero (Call Me by Your Name) führt in Computerspielästhetik und schneller Fahrt durch irreale Landschaften, und was zuerst idyllisch-sinnlich zu sein scheint, entpuppt sich schon bald, angelehnt an die christliche Ikonografie, als Reise vom Garten Eden ins Reich des Teufels.9 Weder die Schlange noch Figuren mit Hörnern fehlen, ein Pentagramm taucht genauso auf wie Feuer, und in einigen Szenen sieht man den Sänger mit Höllenbewohnern, die ihn quälen. Gegen Ende des Videos rast Lil Nas X an einer Pole-Dance-Stange in die Hölle hinab und vollführt einen Lapdance im Schoß des Satans, dem er schließlich das Genick bricht, um selbst zum Teufel zu werden. [Abb. 5a] Dabei singt Lil Nas X über die Ängste und Repressionen, die mit dem Ausleben seiner Homosexualität verbunden sind, die in einer weißen, heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft nach wie vor oft als etwas teuflisch Böses diskriminiert und dämonisiert wird. Auf diese Weise greift das Video ein Vorurteil offensiv auf, um es möglichst drastisch sichtbar zu machen.

5a Lil Nas X: Montero (Call me by your name) (2021) [Videostill]

Doch voll ausgespielt wird das Thema erst durch die Sneakers mit dem Namen Satan Shoes. [Abb. 5b] Dass sie auf 666 Exemplare limitiert und für 1 018 US-Dollar verkauft wurden, was auf Kapitel 10,18 des Lukasevangeliums gemünzt ist, wo vom Satan die Rede ist (der Verweis auf die Bibelstelle findet sich auch auf den Schuhen selbst), lässt sich noch als Gag abtun. Etwas aufregender ist schon, dass in der Luftpolsterung der Sohle jedes Schuhs ein Tropfen Blut enthalten sein soll. Das betont den Charakter der Sneakers als etwas »Echtes«, erinnert aber auch an die Praxis, in jeden Altar der katholischen Kirche die Reliquie eines Heiligen einzulassen. Mag diese Parodie eines christlichen Brauchs frivol oder sogar blasphemisch anmuten, so wird mit den Satan Shoes aber noch ein anderes Vorbild ins Gegenteil verkehrt. 2019 hatte MSCHF nämlich bereits eine Sonderedition des Nike-Klassikers Air Max 97 mit dem Namen Jesus Shoes entwickelt, in deren Luftpolsterung man Wasser aus dem Jordan füllte. Bis hin zu den Details der Verpackung und der Website wurden die Satan Shoes nun an den Jesus Shoes orientiert.10 Allerdings unterließ man es, sich von Nike die Übernahme des Air Max 97 sowie des Markenlogos genehmigen zu lassen. Dieses gezielt illegale Vorgehen sollte den Sneakers ganz real eine aggressiv-böse Dimension verleihen und sie bei Sammler:innen umso begehrter machen. Dass Nike auch sofort vor Gericht zog, machte die Sache erst recht zum Skandal und sorgte für die erhoffte virale Verbreitung des Falls.

5b Lil Nas X und MSCHF

Aber auch jenseits dessen hatten Lil Nas X und MSCHF auf Debatten in den Sozialen Medien spekuliert. Tatsächlich lösten die Satan Shoes (viel mehr als das Video) vor allem bei konservativen Christen und in rechten Milieus einen Proteststurm aus. So kritisierte Kristi Noem, Gouverneurin von South Dakota und Trump-Anhängerin, in einem Tweet, »viel exklusiver« als das vermeintlich exklusive Paar Schuhe sei die »von Gott geschenkte unsterbliche Seele« (»more exclusive [is the] God-given eternal soul«). Gegenwärtig aber kämpfe das Land um seine Seele (»We are in a fight for the soul of our nation«), und dieser Kampf müsse unbedingt gewonnen werden (»We have to win«).11 Im Zuge des bevorstehenden Showdowns zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel blies Noem also zum Angriff gegen die Sneakers und Lil Nas X. Dieser reagierte mit eigenen Tweets und heizte die Debatte weiter an, indem er Postings followerstarker Accounts, etwa von Candace Owens, verhöhnte, die die rechte, gegen die Demokratische Partei gerichtete Schwarzenbewegung Blexit gründete und die Satan Shoes als große Dummheit der Schwarzen bezeichnete (»How stupid can we be?«).12

Aggressive, homophobe Angriffe etwa auch von Pastoren und fanatische Verurteilungen (»Satanist«, »Perverser«), die oft ihrerseits hundert- und tausendfach kommentiert und von neuen Hetzparolen begleitet wurden, bewiesen, wie berechtigt es war, dass Lil Nas X seine Perspektive aus mehrfacher Minderheitenposition zum Thema gemacht hatte.13 Dank der Verbindung von Musikvideo, Sneakers und Interaktionen in den Sozialen Medien schuf er für eine breitere Öffentlichkeit ein prägnant-heftiges Bild der Beleidigungen, denen er und seinesgleichen täglich ausgesetzt sind. Und warum sollte nicht gerade das Kunst sein – Kunst, die aber nicht darauf angewiesen ist, so etikettiert zu werden, weil sie zugleich Aktivismus und Modedesign ist?

Auch in der Geschichte der Kunst tauchten immer wieder Schuhe auf, dann allerdings als Motiv eines Werks, etwa eines Gemäldes. So malte Vincent van Gogh 1886 mehrere Bilder, die nichts anderes als jeweils ein Paar Schuhe zeigen. Vermutlich gehörten sie dem Künstler selbst, sind also als indirekte Selbstporträts zu verstehen. Eines dieser Bilder erlangte vermehrt Aufmerksamkeit, nachdem ihm in einem der bekanntesten Texte der Kunstphilosophie der Moderne eine Schlüsselrolle zugekommen war: Martin Heidegger entwickelte in seinem 1936 verfassten (erst 1950 veröffentlichten) Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes sein Verständnis von Kunst gerade an van Goghs Gemälde von Schuhen. [Abb. 6] Allerdings interpretierte der Philosoph sie als Arbeitsschuhe einer Bäuerin und glaubte in jedem Detail die bäuerliche Lebenswelt wiederzuerkennen.14 Daraus, dass die Schuhe auf dem in Brauntönen gehaltenen Gemälde klumpig-schwer erscheinen, schloss er auf »die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers«, und mit »der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen« assoziierte er die »Mühsal der Arbeitsschritte«. Im Weiteren stellte er sich ausgehend von den Schuhen sogar verschiedene Jahreszeiten und Lebensphasen einer bäuerlichen Existenz vor.15 »Je einfacher und wesentlicher« in van Goghs Werk »nur das Schuhzeug« zur Geltung gelange, desto »unmittelbarer und einnehmender« werde damit »alles Seiende seiender«.16

6 Vincent van Gogh: Schuhe (1886)

Kunst erklärt Heidegger also zu einem Wirklichkeitsbooster. Sie sorgt für Sinn und Fülle, gibt den Dingen ein Gesicht, bietet Orientierung und Verbindlichkeit. Durch ein Kunstwerk sei aber auch ein Ausnahmezustand möglich, es werde »alles anders […] als sonst«.17 Werke unterscheidet Heidegger vor allem von alltäglichen Dingen, also gerade von so etwas wie Schuhen – für ihn bloßes »Zeug«, dessen Bestimmung darin bestehe, »in der Dienlichkeit aufzugehen« und störungsfrei zu funktionieren.18 Zeug besitzt für ihn eine »langweilig aufdringliche Gewöhnlichkeit«, es führe sogar zu einer »Verödung« der Weltbezüge. Sosehr ihm das Zeug »abgenutzt und verbraucht« erscheint, so pathetisch verkündet Heidegger im Gegenzug, dass durch ein Kunstwerk »das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen« werde.19

Klingt in solchen Formulierungen der Geist der auf Umsturz und intensives Leben getrimmten Avantgarden an, so spitzt Heidegger den Gegensatz von Kunstwerk und Zeug mit dem Beispiel von van Goghs Schuh-Gemälde noch weiter zu. Da Zeug in seiner Alltäglichkeit nicht eigens auffällt, braucht es nämlich ein Kunstwerk, damit sein Wesen erfahrbar wird. Was ein Paar Schuhe auszeichnet, lässt sich aus ihnen selbst gerade nicht erschließen; nur ein Kunstwerk – ein Gedicht oder Gemälde – kann den Charakter von Schuhen als Zeug vermitteln, und vielleicht wirkt es sogar so stark, dass die Bedeutung von Schuhen neu zur Geltung gelangt und so etwas wie Heimat lebendig wird: »Erst durch das Werk und nur im Werk [kommt] das Zeugsein des Zeuges eigens zu seinem Vorschein.«20

Um solchermaßen Evidenz stiften zu können, braucht Kunst aber ein Gegenüber: Menschen, die sich auf sie einlassen. Nur wer van Goghs Gemälde in Ruhe betrachtet, wird die Lebenswelt spüren, die sich in den gemalten Schuhen verkörpert. Nach Heidegger kann das Werk erst »seiend werden«, wenn es Menschen gibt, die »mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen«.21 Sich selbst zurückhalten, offen sein für das, was im Werk passiert, sich Zeit nehmen – diese Rezeptionsbedingungen müssen erfüllt sein, damit die Kunst ihre Wirkung entfalten kann. Als Gegenstand der Wissenschaft, als Marktereignis oder als bloßer »Kunstgenuß« hingegen werde ein Werk um seine mögliche Geltung gebracht; ausdrücklich warnte Heidegger vor dem »Kunstbetrieb«.22

Wie selbstverständlich derartige Auffassungen lange Zeit waren, lässt sich daran erkennen, dass man sie bei politisch-weltanschaulichen Gegenspielern Heideggers, etwa bei Theodor W. Adorno, in sehr ähnlicher Formulierung antrifft. Wer Kunstwerke »genießt, ist ein Banause«, heißt es in seiner Ästhetischen Theorie (1970), und Adorno begründete dies damit, dass es dann nur um eine gefällige »Einverleibung« der Kunst gehe, während »umgekehrt […] der Betrachter in der Sache [zu] verschw[inden]« habe. Nur dann könne ihre »Wahrheit […] aufg[ehen]«.23 Adorno formulierte es zum Teil noch harscher und verlangte sogar »die Selbstnegation des Betrachtenden«. Wichtig sei allein, »ob man ein Werk dadurch versteht, daß man seiner eigenen Disziplin sich unterwirft«.24 Nur wer es in seiner Autonomie, seiner Eigenlogik ernst nimmt, ja anerkennt, dass es eine eigenständige, vor allem aber eine höhere Ordnung konstituiert, kann ihm gerecht werden – und dadurch die eigene Begrenztheit, die Heteronomie des eigenen Lebens transzendieren.

Noch schärfer und polemischer als Heidegger grenzt Adorno das autonome Kunstwerk von anderen Artefakten ab, wobei er weniger unauffällig dienendes Zeug als vielmehr Waren und Erzeugnisse von Kulturindustrie und Popkultur im Blick hat. Sie sind für ihn von vornherein korrumpiert, weil man sie nur »als Leinwand für allerhand psychologische Projektionen benutzt« und ganz pragmatisch darauf reduziert, dass man »etwas [davon] ›habe‹«. Dafür verwendet Adorno auch den Begriff »Konsumentenkunst«. Diese diene lediglich der »ungebrochenen Selbsterhaltung«, einer schmeichelhaften Selbstbestätigung, und statt sich durch die Macht des autonomen Kunstwerks zumindest momentweise aus einem entfremdeten Leben zu befreien, verfange man sich noch stärker darin, ausgeliefert an kapitalistisch-konsumistische Affekte und Zwänge.25

Ein unzureichendes Rezeptionsverhalten sowie rein nachfrageorientierte Artefakte führen also dazu, dass die Erfahrung autonomer Kunst auch für Adorno eine Ausnahme darstellt; Autonomie ist ihm zufolge immer bedroht, muss immer eigens verteidigt und reflektiert werden. In der Kunst seiner Zeit findet sich eine ähnliche Haltung, gerade in der Auseinandersetzung mit der auf Verführung angelegten Konsumästhetik. Und man stößt in diesem Zusammenhang wiederum auf Schuhe. So hat Daniel Spoerri 1970/71 einen einzelnen Damenschuh mit bräunlichem Montageschaum gefüllt und ergänzt, die sinnlich-elegante, perfektionierte Form des Konsumprodukts also mit Fäkal-Assoziationen gestört. [Abb. 7] Seine Intervention hat den Charakter einer improvisierten, spontanen Geste, die die Autonomie – die Eigenmächtigkeit – der Kunst demonstrieren soll, und da Spoerri das Schuhobjekt in einen verglasten Holzkasten gestellt hat, ließ er ihn geradezu zu einem Denk- oder Mahnmal werden. Es ist, als habe er Adornos (im selben Jahr erschienene) Ästhetische Theorie gelesen, in der es heißt, Kunst müsse »der Mode widerstehen«, allerdings auch eingeräumt wird, sie ziehe »daraus Kräfte«, dass sie sich auf etwas so Äußerliches und Beliebiges und damit auf Reize einlässt, denen sie sich sonst »versagen muß«.26 Der Gegensatz von erhabener Kunst und flüchtigem Kommerz birgt also immerhin das Potenzial für anspruchsvolle dialektische Beziehungen, in denen nichts so glatt aufgeht wie bei heutigen Artefakten, die Kunst und zugleich Mode, Design, Luxus sein wollen.

7 Daniel Spoerri: Ohne Titel (Schuhobjekt) (1970/71)

Der wohl folgenreichste Unterschied zu den Idealen der westlichen Moderne besteht dabei darin, dass Artefakte wie Sneakers auf Besitz angelegt sind, während Werke autonomer Kunst – wie van Goghs Schuh-Gemälde und Spoerris Schuhobjekt – Formen der Rezeption vorgeben und meist allein durch Betrachtung an Orten wie dem Museum zur Geltung kommen. Die Sneakers lediglich zu betrachten und auszudeuten, ist hingegen unbefriedigend und wohl immer vom Argwohn begleitet, etwas zu verpassen, nicht zu wissen, wie sie ›wirklich‹ sind. Ohne sie erworben zu haben, gehört man außerdem nicht zur Community derer, die über ein Stück derselben Edition oder Marke verfügen, kann also auch nicht darauf hoffen, Teil von etwas Größerem und dadurch gestärkt zu werden.

Durch Besitz und Teilhabe definierte Kunst verspricht denen, die sich für sie verausgaben, mehr als anderen. Dies gilt nicht nur für Sneakers oder aufgrund hoher Preise als Statussymbole gehandelte Artefakte, sondern betrifft ebenso viele andere Spielarten zeitgenössischer nicht-autonomer, ja anwendungsbezogener Kunst, so etwa Projekte kunstaktivistischer Gruppen, an denen man als Demonstrant:in oder in den Sozialen Medien teilnehmen oder die man finanziell unterstützen kann. All diese Formen konsumistisch-aktivistischer Kunst nehmen damit aber auch einen anderen Ort als autonome Kunst ein. So findet der Prozess der Läuterung, Erkenntnis, Sinnstiftung, Emanzipation und Neubestimmung, den man von Letzterer erwartet, außerhalb des eigenen Alltags statt; erst nach der Rezeption kehrt man entsprechend verändert dorthin zurück. Dagegen hat Kunst, die man besitzt und die zugleich etwas anderes – Mode, Luxus, Politik – ist, von vornherein einen Platz im Alltagsleben. Man umgibt sich mit ihr, schmückt sich, betätigt sich, ist stolz oder fühlt sich geschützt. Sie übernimmt repräsentative Funktionen oder eignet sich für Bekenntnisse. Selbst für die zunehmend große Zahl an Menschen, deren Alltag mittlerweile bevorzugt im Internet und in den Sozialen Medien stattfindet, gibt es mittlerweile in Form von Krypto-Kunst Artefakte, die dieselben Funktionen erfüllen. Ihr Ort sind die Speicher und Bildschirme der Rechner, und da bei Krypto-Kunst jeder Kauf und jeder Eigentümerwechsel in einer Blockchain vermerkt und damit Teil der Datei des digitalen Werks wird, spielt das Besitzen sogar eine noch wichtigere Rolle als bei anderen Kunstformen. Wer eine Datei als NFT (Non-Fungible Token) besitzt, schreibt sich in das Werk ein – und das ist, wie der Kunstkritiker Kolja Reichert bemerkt, »für alle Zeiten einsehbar und kann nie wieder verändert werden«.27

Eine Kunst, die Teil des Alltags ist, darf diesen aber nicht sprengen. Im Vergleich zu autonomer Museumskunst, die oft aus riesigen Formaten, raumfüllenden Installationen oder überlebensgroßen Skulpturen besteht, ist postautonome Kunst meist eher klein, aber auch angepasst an die begrenzten Mittel derer, die sie bevorzugt kaufen. Sie wird häuslich, nicht selten sogar possierlich. Was man täglich um sich hat, braucht andere Eigenschaften als etwas, das man nur einmalig oder weit außerhalb der eigenen vier Wände sieht; Freundliches oder Niedliches ist hier eher angesagt als Provokantes, Erhabenes oder Ekliges.

Statt zuerst als intellektuelle oder auch psychische und emotionale Herausforderung neugierig zu machen, wie es typisch für autonome Kunst war, sind postautonome Formen von Kunst also darauf ausgerichtet, das Gefühl eines Habenwollens oder Dabeiseinwollens zu erzeugen. Die für die Moderne typische dialogisch-hierarchische Gegenüber-Beziehung von Kunstwerk und Rezipient:in wird abgelöst von der Erfahrung, dass die Artefakte auf derselben Seite wie diejenigen stehen, denen sie gehören. Und sofern sie Eigenschaften verschiedener Bereiche in sich bündeln oder aus Kooperationen entstehen, verfügen sie über eine Stärke, die schließlich sogar dazu führen kann, dass sie zu magischen Objekten und Talismanen überhöht werden und dass – allgemeiner – eine neue Dingkultur entsteht, in der lange verdrängte Sehnsüchte zur Geltung gelangen: Verhieß in der Moderne ein Bild von Schuhen mehr als diese selbst, ist es mittlerweile umgekehrt.

Der berühmte Satz von Ad Reinhardt »Art is art-as-art and everything else is everything else«, mit dem er 1962 das Reinheits- und Autonomiegebot der Moderne zusammenfasste, ließe sich also geradezu ins Gegenteil wenden und auf »Art is everything else« verkürzen.28Einige suchen auch bereits nach positiv besetzten Begriffen für eine Kunst, die zugleich »Zeug«, Ware, kulturindustrielles Erzeugnis ist. Der Medienwissenschaftler Thomas Hecken spricht etwa von »Avant-Pop« und würdigt dessen »Genremischungen«, aber auch den »Widerwille[n], Kunstwerke auf ihren tiefen, hermeneutisch zu erfassenden Sinn […] hin zu befragen«. Das neue Ideal sei eine »nahtlose Verbindung von Boutique und Galerie, Mode und Malerei, Autonomie und Kommerzialität, freien Formen und Gebrauchsdesign, künstlerischem Anspruch und momentanem Spektakel«.29

Doch trotz gelegentlicher Begriffsprägungen dieser Art hat man bisher nur unzureichend über die Entwicklungen diskutiert, von denen die Kunst in den letzten Jahren erfasst wurde. Dabei ist es aus mehreren Gründen zu bedauern, wenn die Autonomie-Ideale fast sang- und klanglos verschwinden. Denn wenn nicht-autonome Formen von Kunst sich nur durchsetzen, weil es, anders als zu Zeiten Adornos, keinen Widerstand mehr dagegen gibt, erscheinen sie schnell selbstverständlich und drohen sich stromlinienförmig zu entwickeln. Aber es wäre auch kein würdiges Ende autonomer Kunst, aus den sichtbaren Bereichen der Kunstwelt einfach zu verschwinden und nur noch in Nischen – in Ateliers und Off-Spaces – zu existieren. Sie hätte es angesichts ihrer Geschichte und ihrer Errungenschaften verdient, dass über sie gestritten wird, dass man Nachrufe auf sie schreibt oder über Chancen und Vorzüge eines Revivals debattiert.

Aber wird nicht viel gestritten? Werden nicht sogar gerade Autonomie-Ideale weiterhin lautstark verfochten? Widerstand regt sich vor allem, wenn einzelnen Künstler:innen mangelnde Sensibilität für die Erfahrungen von Minderheiten oder zu große Gleichgültigkeit gegenüber Anliegen vorgeworfen wird, die nicht die Kunst selbst betreffen. Wer in postautonomer Überzeugung fordert, in der Kunst solle man sich zugleich an soziale, zivilgesellschaftliche und ökologische Standards halten, wird also empört zum Feind der Kunstfreiheit erklärt; geklagt wird dann über sogenannte »Political Correctness« und »Cancel Culture« – darüber, dass ein Heer von Banausen und Moralisten die Kunst und die gesamte westliche Moderne zugrunde richte.

Wird Autonomie dergestalt zum Kampfbegriff, ist jedoch gerade bei ihren vermeintlichen Verfechtern nicht mehr viel übrig von dem, was in der Moderne damit gemeint und beansprucht war. Man darf sogar mutmaßen, dass dem Autonomie-Begriff heute von denjenigen, die ihn fortwährend beschwören, mehr geschadet wird als von denen, die die Seite postautonomer Kunstformen vertreten. Ist Letzteren die Autonomie-Idee weitgehend egal, weshalb sie sie auch nicht einseitig verdrehen, wird sie von den meisten derer, die sich darauf berufen, auf einen unterkomplexen Freiheitsbegriff verkürzt, bei dem etwa unterschlagen wird, als wie wichtig es in der Moderne angesehen wurde, in der Kunst formale Fragen so grundsätzlich wie möglich – also unabhängig von jeglicher Zwecksetzung – zu verhandeln.

Zu den wenigen Orten, an denen man eine Ahnung davon bekommen kann, was zu einem entwickelten Autonomiebegriff gehört und wie dieser sich von Leitlinien nicht-autonomer Kunst unterscheidet, gehört der Blog artistunderground