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Die autonome Kunst der Moderne setzte auf Differenzerfahrung: das Kunstwerk als das Andere, Außeralltägliche, das verwirrt, aufrüttelt und bestenfalls zu Korrekturen am Entwurf von Selbst und Gesellschaft anregt. Doch in den letzten Jahren haben neue Formen des Umgangs mit Kunst international an Dominanz gewonnen: Viele Betrachter erwarten Verbindendes und Gemeinschaftsbildendes. Sie wünschen sich Bestärkung und Unterstützung, kurz: Identifikation und Empowerment. Immer häufiger verknüpft sich Kunst mit politischen, aktivistischen und auch konsumistischen Anliegen. Wird die Kunst so zum bloßen Energieriegel für den leichten Verzehr zwischendurch – oder doch zur Wegbereiterin einer gerechteren Gesellschaft? Und wer verteidigt noch die Autonomie der Kunst? Wolfgang Ullrich schärft das post-autonome Profil und führt die historisch vielleicht gar nicht so neue Kunst an die Triggerpunkte des gesellschaftlichen Diskurses: Debatten um die Documenta und kulturelle Aneignung, den Protest der Letzten Generation und die Sozialen Medien im Spannungsfeld von Bekenntnisdrang und Polarisierung.
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Seitenzahl: 335
Veröffentlichungsjahr: 2024
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»Du musst Dein Leben ändern« – ist das nicht der Appell, der von einem guten Kunstwerk ausgeht?
Dagegen gilt heute vermehrt: Kunst soll motivieren, Rückendeckung geben und kooperativ sein. Man will sich mit ihr identifizieren können! Aber ist das wirklich neu, oder kehrt die Kunst damit zu alten Traditionen zurück? Und was verrät der Siegeszug von »Identifikation und Empowerment« über die aktuellen gesellschaftlichen Debatten? Wolfgang Ullrichs Antworten zielen direkt ins nervöse Herz der Gegenwart.
»Wolfgang Ullrich will weder Verfalls- noch Fortschrittsgeschichte schreiben, sondern einfach möglichst genau beobachten, was da Neues entsteht.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Wolfgang Ullrich
Identifikation und Empowerment
Kunst für den Ernst des Lebens
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Meinen Eltern
Man hat mich eingeladen, in einem Podcast über einige Thesen aus meinem jüngsten Buch zu sprechen. Ich würde »wohlwollend kritisch« befragt, schrieb man mir, und könne »ohne Zeitdruck« antworten. Daher habe ich die Einladung gerne angenommen.
Ausgangspunkt für dieses Buch mit dem Titel »Identifikation und Empowerment« war die Beobachtung, dass identifikatorische Formen des Umgangs mit Kunst in den letzten Jahren an Dominanz gewonnen haben. Von der Kunst wird mittlerweile genauso wie von der Mode, Popkultur oder Konsumwelt erwartet, dass sie Angebote macht, die dazu geeignet sind, jeweils eigene Erfahrungen und Einstellungen bestätigt zu bekommen. Statt sich von Fremdem oder zumindest Befremdendem herausfordern zu lassen, achtet man, so meine Diagnose, vermehrt auf Verbindendes und auf Ähnlichkeiten; man sucht Solidarisierung, Teilhabe und Communities, wünscht sich Bestärkung und Unterstützung. Und das wird dann als wertvolles, motivierendes Feedback, als Empowerment erlebt.
Das aber bedeutet einen klaren Bruch mit dem Kunstverständnis der westlichen Moderne der letzten rund zweihundert Jahre. Denn gemäß diesem Verständnis sollte Kunst unabhängig und ›das Andere‹ sein und daher idealerweise – etwa durch Provokation, Verrätselung, Kritik – verändernd, gar erschütternd wirken.
Bei Vorträgen und Podiumsdiskussionen erlebe ich, dass dieses Paradigma der Moderne allerdings nach wie vor auf Zustimmung stößt. Von denjenigen, die sich mit identifikatorischen Formen schwertun, wird sogar umso mehr darauf beharrt. Sie finden diese in ihrem affirmativen Charakter entweder zu platt oder zu ideologisch und erblicken darin den Niedergang der Kunst. Von Leuten wie mir, die jenen Bruch mit den Ideen der Moderne nicht klar verurteilen, sondern zu verstehen versuchen, sind sie enttäuscht.
In »Identifikation und Empowerment« reagiere ich auf dieses Missfallen, indem ich die Kunst der Gegenwart in einen größeren historischen Zusammenhang stelle. Ich will zeigen, dass auch vor der Moderne viele Spielarten von Kunst, ja bis heute hoch geschätzte Werke auf Identifikation hin angelegt waren. Sie boten ihrerseits Schutz oder Stärkung, wovon mal Gläubige, mal Adlige, mal Angehörige bürgerlicher Milieus profitierten (auch wenn man das damals natürlich noch nicht ›Empowerment‹ nannte). Vor diesem Hintergrund erscheint die Moderne mit ihrem Autonomie-Ideal als eine historische Ausnahme.
Was aber verrät es über die gesellschaftlichen Verhältnisse, dass identifikatorische Praktiken und insbesondere Strategien des Empowerments aktuell wieder – gerade in der Kunst – großen Stellenwert besitzen? Auch diese Frage gehört zu den Beweggründen, warum ich »Identifikation und Empowerment« geschrieben habe. Die Antworten, die ich gebe, stimmen wohl nicht gerade zuversichtlich, bieten gerade deshalb aber vielleicht Stoff für weitere Diskussionen (wie nicht zuletzt dieser Podcast demonstriert).
Vor allem jedoch erschien es mir lohnend, den beiden titelgebenden Begriffen genauer nachzugehen. Denn sie erlauben es, einige vieldiskutierte Phänomene der Gegenwart – von ›Cancel Culture‹ bis zum Politaktivismus, von Influencern bis zu autofiktionaler Literatur – aus einer anderen Perspektive als sonst wahrzunehmen. Diese Phänomene aus den aufgeregt-tagesaktuellen Debatten herauszulösen und zu fragen, was sie jeweils mit ›Identifikation‹ und ›Empowerment‹ zu tun haben könnten, wirkte zumindest auf mich selbst befreiend.
Die Aufzeichnung des Podcast-Gesprächs wird hier ungekürzt (nur unter Verzicht der An- und Abmoderation) und geringfügig redigiert wiedergegeben. Das Gesagte habe ich mit Anmerkungen versehen, die ergänzende, manchmal auch relativierende oder korrigierende Hinweise geben. Sie finden sich ebenso wie Abbildungen von Beispielen, die im Gespräch erwähnt werden, im hinteren Teil des Buchs.
Ich gebe zu, dass ich über den Titel Ihres Buchs gestolpert bin: zwei etwas sperrige, abstrakte Substantive … Vor allem aber hat mich überrascht, dass Sie in einem gegenwartsdiagnostischen Text gerade den Begriff ›Empowerment‹ in den Mittelpunkt stellen. Das ist doch alles andere als naheliegend, wirkt vielleicht sogar abschreckend.
Vermutlich hat dieser Begriff mich gerade deshalb gereizt. Denn ich mag es, mich in eine Position der Defensive zu bringen: etwas erst erklären zu müssen, das Publikum nicht von vornherein auf meiner Seite zu haben.
Bei mir ist Ihnen das schon mal gelungen. Aber was glauben Sie selbst: Wieso bringt Sie dieser Begriff in die Defensive?
Die einen stört schon, dass – mal wieder – ein englisches Wort verwendet wird. Hätte es denn keinen deutschen Terminus dafür gegeben? Ermächtigung, Ermutigung, Zurüstung?
Andere wittern bei ›Empowerment‹ eine einseitige Parteinahme für aktivistische Strömungen. Bin ich also einer derer, die ›woke‹ sein wollen und die immer nur von Minderheiten und Diskriminierungen sprechen?
Wieder andere argwöhnen hingegen, ich würde vorschnell mit einem Begriff operieren, der aus ganz anderen kulturellen und sozialen Zusammenhängen stammt als ich selbst. Ist es nicht sogar ein problematischer Fall von kultureller Aneignung oder eine Anmaßung, wenn ich so tue, als könnte gerade ich einen Beitrag zur Idee oder Geschichte des Begriffs ›Empowerment‹ leisten?1
Aber damit nicht genug. Genauso gibt es Leute, für die ›Empowerment‹ ein zur Analyse der Gegenwart gänzlich ungeeigneter Begriff ist, da sie darin nur ein Modewort oder eine Marketingvokabel sehen. Steht nicht auf zahllosen Konsumprodukten, sie würden ›empowern‹? Und geht es hier nicht nur um billige Suggestionen, um eine kritiklose Affirmation der Realität, die durch ›Empowerment‹ noch realer werden soll? Oder um eine kommerziell-heruntergekommene Version von Esoterik, mit der irgendwelche geheimnisvollen Kräfte und viel ›positives Denken‹ beschworen werden?
Umso schlimmer ist für dieselben Leute, dass ›Empowerment‹ nicht nur in Supermärkten und Drogerien omnipräsent ist, sondern seit einigen Jahren auch in der Kunstwelt. War denn Kunst nicht immer das Gegenteil von Affirmation und Auf-die-Schultern-Klopfen? Sollte es nicht ihre Aufgabe sein, zu irritieren, zu provozieren, infrage zu stellen, um mit Konventionen und Gewissheiten zu brechen und etwas zu verändern? Eine Kunst, die ›empowert‹, bestätigt indes doch nur diejenigen, für die sie gedacht ist. Sie schmeichelt ihnen, erbringt eine bloße Dienstleistung und macht sich entbehrlich, sobald diese erfüllt ist – so der Vorwurf.2
Aber trotz der unterschiedlichen Vorbehalte, die mit ›Empowerment‹ verbunden sind, verteidigen Sie diesen Begriff. Gilt das auch für die damit verhandelten Phänomene?
Da muss ich einschränken. So gerne ich es als Herausforderung annehme, ›Empowerment‹ gegen laute und allzu pauschal verurteilende Stimmen – und gerne auch Ihnen gegenüber! – zu verteidigen, so wichtig ist es mir, die Grenzen und Probleme der damit verbundenen Konzepte aufzuzeigen. Mich reizt das Thema sogar nur deshalb, weil ich glaube, dass die Rollen der Verteidigung und der Kritik gleichermaßen wichtig sind – und dass das Konzept ›Empowerment‹ beides verdient hat: mehr Anerkennung und mehr Skepsis.
Machen wir es etwas konkreter und werfen einen Blick auf Empowerment in der Kunst. An wen oder was denken Sie da?
Ich beginne mal mit Jeff Koons – und bringe mich damit gleich noch mehr in die Defensive. (lacht) Denn das ist ein Künstler, der stark polarisiert und gerade bei Leuten auf Ablehnung stößt, die dem Begriff ›Empowerment‹ misstrauisch gegenüberstehen und zumal in der Kunst nichts davon wissen wollen. Koons spricht schon lange gerne, regelmäßig – für manche wohl sogar penetrant – davon, er wolle Kunst machen, die möglichst viele Menschen empowert.3 Und für ihn bedeutet das zuerst einmal: Kunst zu machen, die keine Hemmschwellen errichtet, die nicht einschüchtert, die den Menschen nicht das Gefühl gibt, sie wüssten zu wenig oder seien nicht schlau genug, um etwas damit anfangen zu können. Deshalb beziehen sich seine Arbeiten oft auf Motive der Popkultur oder des Unterhaltungsbusiness, wo sich viele ohnehin schon gut auskennen und wo ihr Herz höher schlägt. Diese Motive im Stil von Readymades in die Kunst zu überführen, sie sogar noch zu vergrößern und hinsichtlich ihres Materials zu veredeln, also etwa in Stahl umzusetzen oder aufwändig schnitzen zu lassen, begreift Koons als Signal an das Publikum, dass es nicht umlernen, den eigenen Geschmack nicht hinterfragen, sich nicht ändern müsse. [Abb. 1] Nein, jeder sei schon perfekt, betont er immer wieder, versteht seine Kunst also als großes Affirmationsspektakel. Er appelliert an die Menschen, sich so zu akzeptieren, wie sie sind, aber auch anderen gegenüber tolerant zu sein. Denn negative Bewertungen, so seine Überzeugung, würden depowernd wirken. Bekannt wurde er nicht zuletzt mit Auftritten, bei denen er die Arme ausbreitet, als wolle er alles umarmen, sich mit allem verbinden und zusammenschließen. Generell präsentiert er seine eigene Kunst als zugewandt, als offen für unmittelbare Formen der Annäherung.4 Man soll sie nicht distanziert betrachten, sondern sie mögen, soll sich darin wiederfinden, sich damit identifizieren. Bei Koons zeigt sich also ein enger Zusammenhang von Identifikation und Empowerment.5
Abb. 1 Jeff Koons bekennt sich 2020 auf Twitter zu Empowerment
Koons – der große Verkäufer und Schmeichler … Sind das nicht bloß nette Phrasen? Und genügt das Fehlen von Hemmschwellen schon für Empowerment?
Ich versuche das anhand eines Beispiels zu konkretisieren. Kaum ein anderes Werk hat in den letzten Jahren so große Resonanz gefunden wie Koons’ »Balloon Dog«. Das Motiv dieser Edelstahlskulptur ist ebenfalls eine direkte Übernahme und stammt aus der nach 1945 in den USA beliebt gewordenen Praxis des Ballonmodellierens. Dabei werden auf Jahrmärkten oder bei Kindergeburtstagen aus aufgeblasenen langen Luftballons durch Verdrehen einzelner Teile Figuren geformt. Auf dem Cover eines 1978 erstmals publizierten Buchs mit Anleitungen für verschiedene Ballonfiguren, herausgegeben von Ralph Dewey, einem der Pioniere dieser Technik, ist ein Hund abgebildet, und dessen Design nahm Jeff Koons zur Grundlage seiner Skulptur. [Abb. 2/3]
Abb. 2 Ralph Deweys Prototyp des Balloon Dog auf dem Cover eines Buchs mit Anleitungen zum Ballonmodellieren (1978)
Abb. 3 Jeff Koons: Balloon Dog (Orange), polierter und lackierter Edelstahl, 307 x 363 x 114 cm (1994–2000)
Die insgesamt fünf Exemplare des »Balloon Dog«, jedes in einer anderen Farbe, wurden ab 2000 an prominenten Orten der Kunstwelt gezeigt; 2013 wurde die orangefarbene Variante bei einer Auktion für 58 Millionen US-Dollar versteigert, dies damals der höchste Preis für das Werk eines lebenden Künstlers. Das populäre Motiv, das an schöne Kindheitserlebnisse erinnert, verband sich jetzt also noch mit dem Glamour einer unvorstellbar hohen Summe. Und beides zusammen wirkte empowernd. Zusätzlich dazu, dass Koons etwas aufgriff, mit dem sich viele gerne identifizieren, brauchte es noch die Aufwertung durch den Kunstbetrieb und den Markt, damit die Leute auf die eigene Vorliebe auch stolz sein, ja sich motiviert fühlen können.
Wie gut das gelungen ist, zeigt sich daran, dass das Motiv seither mit unglaublicher Wucht in die Pop- und Massenkultur zurückgekehrt ist. Es taucht dort mittlerweile in zahllosen Variationen auf: gestrickt, gewebt oder gebastelt, als Tattoo oder Cookie, sogar aus Früchten zusammengesteckt – oft also kuschelig und lecker, aber auch professionell produziert als Nippes- oder Geschenkartikel in verschiedenen Größen und Materialien, zum Gag verfremdet, als Spielzeugroboter, T-Shirt-Motiv, Ohrring, Sticker oder Ausstechform für Plätzchen. [Abb. 4a–f]
Abb. 4a-f In den Sozialen Medien von Fans gepostete Varianten des Balloon Dog
Für die einen strahlt »Balloon Dog« offenbar das Kindlich-Unbeschwerte von Spielzeug aus und kann das Leben fröhlicher machen. Für andere fungiert die Hundeskulptur – fast schon wie ein lebender Hund – als eine Art von Haustier, verheißt Wärme und Schutz. Wieder andere sehen darin ein Maskottchen, einen Talisman, also etwas, das ihnen geheime zusätzliche Kräfte verheißt. Das aber sind alles Qualitäten, die unterstützend und rückversichernd wirken und daher empowern können.
Dazu kommt noch, dass man schnell bemerkt, nicht alleine zu sein mit der Sympathie für »Balloon Dog«. Vielmehr kann man sich mit vielen anderen Menschen verbunden fühlen. Dadurch ist man aufgehoben in einer Gemeinschaft, die zwar lose sein mag, aber in der man als einzelne Person nicht verloren ist. Vielmehr stehen alle, die ihre eigenen Spielarten eines »Balloon Dog« entwickeln, in einer Art freundschaftlichem Wettbewerb untereinander. Sie leben aus, womit sie sich identifizieren, ja versuchen, den »Balloon Dog« noch virtuoser, noch lustiger, noch niedlicher, noch überraschender umzusetzen.
Mittlerweile dürfte die »Balloon Dog«-Community sogar so groß sein, dass nicht mehr alle um deren Initiator – also Jeff Koons – wissen, sondern sich damit identifizieren, weil ihnen die Vielfalt an Varianten, die Lebendigkeit der Szene so gut gefällt und sie daran mitwirken wollen. Umso berechtigter scheint es mir daher, Koons zu attestieren, dass er sein Ziel, Menschen durch seine Kunst zu empowern, tatsächlich erreicht hat – und dies gerade in Milieus, die sich sonst oft verunsichert und ausgeschlossen fühlen von dem, was in der Kunstwelt passiert.6
Nun könnte man aber einwenden, dass das bloßer Populismus ist. Und propagiert Koons nicht einfach nur Kitsch?
Diesen Vorwurf gibt es immer wieder. Man sollte jedoch beachten, dass die Vokabel ›Kitsch‹ vor allem der sozialen Distinktion dient: Anderen Kitsch zu unterstellen heißt, sich von ihnen abzugrenzen, sich ästhetisch und oft auch moralisch über sie zu erheben, sie wegen ihres Geschmacks abzuwerten. Aus Sicht von Koons wird dadurch gerade das Gegenteil von Empowerment bewirkt, schlimmstenfalls sogar ein Moment der Beschämung erzeugt. Er hat sich daher immer wieder vom Kitsch-Begriff distanziert, sei es bezogen auf seine eigene Kunst, sei es in anderen Zusammenhängen.7 Man muss dem natürlich nicht folgen, und ich verstehe den Impuls, viele seiner Arbeiten reflexhaft als zu banal, ja mitunter als schmerzhaft belanglos zu empfinden. Aber wer diesem Reflex bei sich selbst etwas genauer nachspürt, dürfte bemerken, dass er der tiefsitzenden Vorstellung entspringt, Kunst dürfe bloß nicht gefällig sein. Man ist irgendwie enttäuscht, wenn Kunst affirmativ ist, erwartet von ihr im Gegenteil Anklage, Verrätselung, Exzess, wünscht sich, verunsichert, gar erschüttert, auf jeden Fall aber verändert zu werden – und spricht von Kitsch, wenn sie all das nicht bietet.
Aber nicht auch völlig zu Recht?
Diese Vorstellung von Kunst sitzt so tief, weil sie im Westen rund zweihundert Jahre lang gepflegt wurde. Und das überraschend einhellig – bei allen noch so großen Unterschieden in der jeweiligen künstlerischen Praxis. Dass man Skandal, Veränderung, wachrüttelnde Unruhe wollte und zum Teil immer noch will, hängt mit der Idee der Autonomie der Kunst zusammen. Also mit der Überzeugung, dass Kunst umso stärker auftreten kann, je unabhängiger, je freier von Rücksichtnahmen auf Dritte und deren Interessen sie ist. Kunst soll dann keinem anderen Zweck, sondern nur sich selbst gehorchen – und entsprechend auch nicht nach von außen kommenden Kriterien beurteilt oder mit Hilfe externer Autoritäten legitimiert werden. Einem Kunstwerk kann man gemäß dieser Logik nur gerecht werden, wenn man sich darauf einlässt und seine Eigengesetzlichkeit ernst nimmt. Je klarer sich in einem Werk Autonomie – eben eine Eigengesetzlichkeit – verwirklicht, desto besser erfährt man es aber als ein markantes Gegenüber, das ganz anders ist als man selbst. Und das ist der entscheidende Punkt! Darum geht es bei autonomer Kunst: eine Differenz, eine Distanz zwischen sich und dem Kunstwerk zu spüren. Denn dann erlebt man sich in einer Beziehung zum Werk, kann sich deshalb aber auch selbst relativieren, gar infrage stellen. Und so entsteht jene Unruhe: Es wird möglich, sich durch die Beschäftigung mit dem Werk selbst zu ändern.
In der westlichen Moderne suchte man also keine Identifikationserlebnisse mit Kunst, sondern wollte im Gegenteil sogar vor den Kopf gestoßen werden, um die Chance zu haben, sich neu zu orientieren?
Ganz genau! Veränderung – seiner selbst oder der Gesellschaft – war der große Anspruch. Danach beurteilte man Kunst. Und je stärker ein Kunstwerk das Gefühl vermittelte, etwas müsse und könne sich ändern, desto besser war es.8
Dabei traute man Kunstwerken so viel zu, weil man sie für vollkommener hielt als sich selbst. Sie waren autonom, sich selbst hingegen erlebte man als unterdrückt, entfremdet, unreif, verdorben, unauthentisch. Vielleicht wollte man genauso klar und rein wie das Werk werden, oder man hat versucht, dessen Stimmung aufzunehmen oder den in ihm manifestierten Blick auf die Welt einzuüben. In jedem Fall ging es um Bildung, um Selbstvervollkommnung. Im Bildungsbürgertum – das deshalb so heißt – strebte man nach fortwährender Weiterentwicklung und Veränderung, und diese konnte in Läuterung oder Heilung bestehen oder auf Erkenntnis, Kritik oder Bewusstseinserweiterung ausgerichtet sein. Hauptsache aber war, dass die Differenzerfahrung gegenüber einem Kunstwerk möglichst stark war. Dann verhieß die Auseinandersetzung damit eine tiefgreifende Veränderung, Bildung im emphatischen Sinn. Die elegantparadoxe Formel autonomer Kunst lautete daher: Je weniger das Werk einem äußeren, heteronomen Zweck unterworfen wird, desto wirkmächtiger – desto bildender – ist es.9
Was für ein merkwürdig asymmetrisches Verhältnis zwischen dem autonomen Werk und der Person, die sich darauf einlässt! Diese ist also immer unterlegen, das Werk hingegen geradezu wie ein absolutistischer Fürst?
Das wäre die negative Lesart, wonach man nie mehr als Untertan des Werks sein kann. Doch statt nur auf diese Asymmetrie zu blicken, sollte man genauso anerkennen, dass die Kunst vor willkürlichen Zugriffen geschützt werden sollte, indem man es zum Tabu erklärte, sie für – bestimmte oder wechselnde – Zwecke einzuspannen. Das hat eine direkte Analogie im humanistischen Menschenbild, dem zufolge der Mensch nicht zum Mittel für irgendwelche Zwecke gemacht werden darf. Wie das menschliche Individuum wollte man das autonome Kunstwerk davor bewahren, gegen andere Werte aufgerechnet zu werden – lediglich etwas Relatives zu sein, das immer zur Disposition gestellt werden kann und so Mehrheiten oder momentanen Stimmungen ausgeliefert ist. Dieses humanistische Paradigma war gerade in Gegenwehr zu absolutistischen Herrschaftsformen entwickelt worden, aber es stimmt, was Sie sagen: Man fasste die Kunst dann ihrerseits als ein Absolutum auf.
Einerseits gewährte man der Kunst also eine Art von Schutzraum – in Ihrem Buch sprechen Sie von einer »Immunitätszone«. Andererseits aber erwartete man, dass sie dank dieser Immunität umso radikaler, entschiedener, reflektierter sein kann – und damit umso mehr zu bewirken vermag.
Ja, und beides gehört unmittelbar zusammen. Ein noch so autonom gedachtes und entwickeltes Werk wird in einem Umfeld, in dem ihm keine Autonomie zugestanden wird, ignoriert oder instrumentalisiert – endet also vielleicht als Propagandamaterial oder bloßes Statussymbol. Und umgekehrt wird der Schutzraum der Autonomie zum Hindernis, wenn mit dem Werk bestimmte Zwecke verfolgt werden. Denn diese werden dann ja – wenn es sich in jener Immunitätszone befindet – ausgeblendet und nicht ernst genommen.10 Ein aktivistisches Motiv wird in einem ›White Cube‹ zu einem zahnlosen Tiger. Nur wenn Autonomie sowohl unter Beweis gestellt als auch anerkannt wird, kommt es zu einer Differenzerfahrung und damit zur Möglichkeit einer Veränderung.
Um nun aber zum ›Empowerment‹ zurückzukommen: Könnte man nicht sagen, dass auch das eine Art von Veränderung bedeutet? Für Koons’ »Balloon Dog« hieße das etwa, dass die Leute, die ihre eigene Variante basteln, mehr Lebensfreude erfahren; sie tanken Selbstvertrauen, erleben sich als Teil einer Gemeinschaft und spüren daher eine Veränderung.
Mir scheint, man würde den Begriff der Veränderung dann zu schwach fassen. Denn in ›Veränderung‹ steckt ja ein Anders-Werden. ›Empowerment‹ aber meint ein Mehr-Werden. Es bedeutet, Rückendeckung zu bekommen, zusätzliche Kräfte zur Verfügung zu haben – um das besser tun zu können, was man ohnehin schon tun wollte, aber nicht, um etwas ganz anderes zu tun. Und damit ist Empowerment in seiner grundsätzlichen Ausrichtung wirklich affirmativ: Etwas bereits Vorhandenes soll gesteigert, ein Potenzial soll entfaltet werden. Es geht um Bestätigung und Bestärkung. Wer sich von Kunst Empowerment erhofft, will von ihr also gerade nicht verändert werden, sucht keine Differenzerfahrung, keinen Dialog mit etwas, das als anders, gar als fremd oder befremdlich erfahren wird – erkennt das Werk aber auch nicht als etwas Autonomes, Zweckfreies an, sondern bezieht es auf die eigenen Interessen und Bedürfnisse.
Das ist nachvollziehbar. Trotzdem frage ich mich, ob man eine kritische Kunst und eine affirmative Kunst wirklich als gleichrangig ansehen kann.
Ich würde dafür plädieren. Gewiss mag es anspruchsvoller erscheinen, von der Kunst Veränderung und nicht nur Affirmation zu erwarten. Die für die westliche Moderne übliche Trennung zwischen Hochkultur und Massenkultur ergab sich gerade unter anderem daraus, dass man es als höherwertig einschätzte, wenn sich jemand auf ein als fremd und unbegreiflich erfahrenes Kunstwerk einließ – bereit war, eine Anstrengung auf sich zu nehmen, an sich zu arbeiten, sich um die eigene Bildung zu bemühen. Dagegen fand man es zu billig, sich in einem Kunstwerk wiederfinden zu wollen, Eigenes unbekümmert darauf zu projizieren. Das Sich-Identifizieren mit einem Werk empfanden zumindest all diejenigen als unstatthafte Kumpanei, die sich in irgendeiner Weise nach Grundsatzkritik oder Erschütterung sehnten.11 Und als besonders anmaßend und dreist wurde es empfunden, wenn jemand sich autonomer Kunst mit identifikatorischem Eifer näherte.
Aber warum sollte die Sehnsucht nach Veränderung mehr wert sein als die Sehnsucht nach Feedback, nach Unterstützung oder mehr Selbstbewusstsein? Es gibt eben Situationen, in denen nichts wichtiger ist als ein wenig Rückendeckung, während man in anderen gerade Verunsicherung, einen Impuls zur Veränderung braucht, um voranzukommen. Warum sollte man das eine gegen das andere ausspielen, warum eine Hierarchisierung vornehmen? Ich kann dieses Bedürfnis nach Über- und Unterordnung nicht nachvollziehen.12 Es mag sein, dass der eine Modus der Beschäftigung mit Kunst anstrengender ist als der andere, man dafür also mehr Ausdauer oder mehr Vorwissen benötigt, aber man lässt sich darauf wohl nur ein, weil man diese Anstrengung als Herausforderung genießt oder weil man sie statussymbolisch überhöhen und sich damit von anderen abgrenzen kann. Dann aber zeugt diese Rezeptionspraxis vor allem auch von einer privilegierten Position, während umgekehrt jemand aus schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen zuerst einmal viele völlig andere alltägliche Herausforderungen zu bestehen hat.
Auch wenn Sie eine Hierarchisierung ablehnen, trennen Sie aber klar zwischen einem autonomen und einem identifikatorischen Kunstverständnis?
Diese Trennung besteht für mich in erster Linie in der Theorie. In ihr lässt sich zwischen diesen beiden zueinander komplementären Formen klar unterscheiden. In der Praxis hingegen ist es komplizierter. So kann man sich etwa mit einem Künstler identifizieren, während man dessen Werke als besonders widerständig und herausfordernd erfährt. Oder man identifiziert sich mit dem Thema eines künstlerischen Projekts, findet dessen ästhetische Gestaltung hingegen befremdlich, fühlt sich davon vielleicht sogar provoziert. Manchmal braucht es auch etwas Zeit, bis man sich mit einem Werk identifizieren kann; man muss es sich erst erarbeiten, während man zu anderen Werken auf den ersten Blick Zugang findet, man aber vielleicht später einen Widerstand spürt. Differenz- und Identifikationserfahrungen können also parallel stattfinden, sie können sich beliebig überlagern. Mit denselben Werken machen manche außerdem ganz andere Erfahrungen als andere, ebenso sind Menschen nicht in jeder Situation gleich disponiert. Das alles spricht für mich ebenfalls gegen eine Hierarchisierung der beiden Formen, zugleich aber halte ich deren generelle Unterscheidung für grundlegend.
Und das bedeutet, dass Sie autonome Kunst und Empowerment nicht zusammenbringen?
Richtig. Dazu passt auch, dass autonome Kunst meiner Wahrnehmung nach an Stellenwert eingebüßt hat, seit vermehrt von Empowerment die Rede ist und explizit danach gesucht wird. Die Vorstellung, Kunst sei am stärksten, wenn sie unabhängig, rein und immun, damit aber zugleich in einer Rand- oder Außenseiterposition ist, wird mittlerweile also oft als wenig plausibel, gar als ideologischer Unsinn angesehen.13 Dafür trifft man heute vermehrt auf die Überzeugung, es würde die Kunst stärken, wenn sie sich mit anderen Bereichen – Mode, Politik, Wissenschaft, Journalismus, Design – verbünde oder wenn sie sich Themen widme, die ohnehin schon große mediale Aufmerksamkeit bekommen – also zum Beispiel Klimawandel, Klassismus oder Geschlechtergerechtigkeit. Denn dann bekomme auch sie mehr Präsenz und mehr Autorität, sei besser vernetzt, Teil vieler Lebenswelten, könne also ihrerseits unterstützend und integrierend wirken. Es fällt leichter, sich mit ihr zu identifizieren, wenn sie kein klares Gegenüber mehr ist und nicht als etwas von einem selbst Getrenntes, etwas einem selbst potenziell Überlegenes erfahren wird.
Aber so, wie Sie das hier beschreiben, heißt das doch, dass man mit der Preisgabe der Autonomie zuerst einmal die Kunst selbst empowern will – sie besser einbettet und mit Bedeutung auflädt. Eigentlich sollte es aber doch darum gehen, dass die Kunst empowernd wirkt.
Sie haben recht, aber das eine lässt sich vom anderen nicht trennen. So wie die Kunst gestärkt wird, wenn in ihr Qualitäten verschiedener Bereiche zusammenfinden, wird umgekehrt eine Person gestärkt, die sich mit einer derart vernetzten und lebensnahen Kunst verbinden kann. Je mehr wechselseitige Verknüpfung stattfindet, desto mehr stärkt es alle Beteiligten – so zumindest die Hoffnung. Das aber macht noch mal deutlich, wie einschneidend sich Rolle und Idee von Kunst ändern, wenn das Autonomie-Ideal aufgegeben und Empowerment zum Ziel erklärt wird: Es geht nicht um irgendeine weitere Erwartung gegenüber der Kunst, sondern um ein grundlegend anderes Verständnis von ihr.14
Das klingt noch sehr abstrakt. Was soll es denn heißen, sich als einzelner Mensch mit einem Kunstwerk zu vernetzen oder zu verbünden?
Das kann so aussehen wie bei Jeff Koons. Wer seinen eigenen »Balloon Dog« bastelt, wird sich vielleicht motiviert fühlen durch die Annäherung an ein Kunstwerk, sich aber auch als angeschlossen erleben an die Community derer, die dieselbe Vorliebe teilen. Zugleich erscheint das Kunstwerk durch jede weitere Variante noch etwas wichtiger, ja »Balloon Dog« funkelt stärker von Jahr zu Jahr, von Adaption zu Adaption. Je mehr Bedeutung die Kunst anderen verleiht, desto mehr Bedeutung bekommt sie ihrerseits. Und deshalb findet Empowerment, wie ich gerade meinte, wechselseitig statt: Ein Kunstwerk gewinnt, sofern es anderen zu mehr Lebendigkeit und Präsenz verhilft, selbst an Relevanz und Autorität.
Aber gilt das auch für andere Beispiele als »Balloon Dog«?
Die von mir angesprochene Wechselseitigkeit kann in anderen Fällen sogar ganz konkret sein. Denken Sie an aktivistische Kunst, bei der von vornherein die Mitwirkung von Dritten vorgesehen ist. Sie erhält umso mehr Gewicht und Bedeutung, je mehr Leute sich daran beteiligen – und kann auf diese umgekehrt umso motivierender und empowernder wirken, da sie sich dann als Teil von etwas Großem, von einer Bewegung erleben.
Auf vollkommen andere Weise kann Verbundenheit und damit ein Gefühl von Stärke entstehen, wenn man Kunst besitzt. Ein Objekt oder Gemälde bereitet einem dann besondere Freude, man empfindet Stolz, genießt gar eine Art von intimer Beziehung zu ihm, die einen stärkt – ganz anders, als das bei Dingen möglich ist, die man nicht selbst besitzt und von denen man daher nicht ohne weiteres erwarten kann, dass sie einem guttun oder etwas geben.
In jedem Fall aber ist die Voraussetzung für eine empowernde Wirkung, dass man Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit spürt – Nähe, Ähnlichkeit, Sympathie, Solidarität, Verbundenheit. Ganz allgemein formuliert: Empowerment verlangt immer Identifikation, Identifikation bedeutet immer Empowerment.
Immer?
Nun, man darf sich natürlich nicht mit etwas Beliebigem identifizieren. Vielmehr sollte man zugleich das Gefühl haben, es handle sich dabei um etwas, das allgemein als wichtig, schön, gelungen, attraktiv gilt. Wie gesagt: Gerade auch weil »Balloon Dog« auf dem Kunstmarkt enorm erfolgreich war, kann es empowernd wirken, Fan davon zu sein. Vielleicht hält man etwas zwar ›an sich‹ für großartig, unabhängig davon, wie andere es einschätzen, und empfindet Stolz, nur weil man sich damit identifiziert. Aber meist dürfte es erheblich helfen, wenn es einen Marker gibt, der zeigt, dass auch andere anerkennen, worin man sich wiederfindet – dass sie einen vielleicht sogar wertschätzen, weil man besonders viel Nähe dazu entwickeln kann.
Natürlich gibt es ebenso Menschen, die viel zweifeln und hadern – und die sich im Gegenteil gerade mit Leuten oder Artefakten identifizieren, denen das Image des Scheiterns anhaftet. Aus eigener Unsicherheit suchen sie die Nähe zu etwas, das diese Unsicherheit bestätigt oder steigert. Das ist sicher nicht im üblichen Sinne empowernd, aber sie fühlen sich dadurch vielleicht weniger allein und empfinden das Sich-Identifizieren-Können daher als wohltuend. Es weitet die engen Grenzen der eigenen Individualität, die sonst so oft nur als Ohnmacht erlebt wird. Und deshalb erleben sie ebenfalls eine Rückversicherung, eine zumindest schwache Form von Empowerment.
Das verstehe ich jetzt besser, habe aber noch ein gewisses Unbehagen damit, wie Sie von Identifikation sprechen. Mal sind es Menschen, mal Dinge oder Kunstwerke, mit denen man sich identifiziert …
Einverstanden, das mag auf den ersten Blick etwas beliebig erscheinen. Aber sosehr man bei Identifikation zuerst nur an ein enges, positives Sich-Beziehen auf einen anderen Menschen denken mag, so oft spricht man doch auch davon, dass sich jemand mit seiner Heimat, seinem Beruf oder einer Erzählung identifiziert. Identifikation ist nicht auf etwas beschränkt, das einem ohnehin schon ähnlich ist, weil es derselben Gattung angehört oder phänotypische Merkmale teilt. Identifikation würde ich also immer dann unterstellen, wenn man sich mit etwas anderem so verbunden fühlt, dass es als zu einem gehörig empfunden wird. Wer sich mit seinem Beruf identifiziert, erkennt sich in diesem selbst wieder, kann und will sich kein Leben ohne ihn vorstellen, fühlt sich davon bestimmt, motiviert, getragen. Wer sich mit einer anderen Person identifiziert, spürt eine Nähe, die dazu disponiert, sich Fähigkeiten oder Verhaltensweisen dieser anderen Person zu eigen zu machen, sie auf sich selbst zu übertragen. Und wer sich mit einem Objekt oder Kunstwerk identifiziert, kann darin vielleicht eigene Eigenschaften repräsentiert finden. In allen Fällen aber erfährt man sich in dem, worin man sich wiedererkennt, gestärkt, gleichsam von außen unterstützt und gehalten – außer es kommt zu einer Überidentifikation, die dazu führt, dass man sich selbst vergisst und letztlich fremdbestimmen lässt.
Und abhängig davon, womit man sich identifiziert, sind andere Einsichten für das eigene Leben zu erwarten?
Identifiziert man sich etwa mit seinem Beruf, ist vorgezeichnet, mit welchem Ethos man bestimmte Aufgaben angeht. Und identifiziert man sich mit einem Verwandten, einer Freundin, einer bedeutenden historischen Persönlichkeit, dann integriert man Elemente von deren Lebensweise in das eigene Handeln und Leben. Identifikation äußert sich jeweils in Formen der Aneignung und Nachahmung, vielleicht auch darin, dass man das, womit man sich identifiziert, noch perfektionieren, noch steigern und überbieten will. Dann würdigt man es, indem man ihm noch mehr Sorgfalt und Ehrgeiz angedeihen lässt. Und erweist sich so zugleich als legitimiert zur Identifikation. Denn dann ist das nicht nur Pose oder Anmaßung. Und besitzt umso mehr empowernde Qualität, ja motiviert zu einem besonderen Engagement. Identifikation führt also dazu, mehr aus sich herauszuholen, stärker, überzeugter aufzutreten, als es sonst möglich wäre. Und das wiederum führt zu mehr Selbstvertrauen, was weitere Verbesserungen ermöglicht. Ein positiver Kreislauf!
Wenn Sie es so beschreiben, kann man das ja nur gut finden. Aber wenn wir wieder zur Kunst zurückkehren, scheint es mir nach wie vor so, als sei das Empowern weniger bedeutsam und in seinen Möglichkeiten ungleich beschränkter als das Verändern – lediglich eine defizitäre Form: Durch autonome Kunst kann ich, so das Versprechen, zu einem besseren Menschen werden, durch empowernde Kunst, mit der ich mich identifiziere, hingegen nur zu einem motivierteren, tatkräftigeren Menschen.
Sie sind hartnäckig! Gut, dann muss ich wohl den Unterschied zwischen den beiden Formen der Kunsterfahrung noch etwas besser veranschaulichen – und komme dazu wieder auf Jeff Koons zurück. Wie gesagt, er bietet den Menschen etwas als Kunst, das sie als Nicht-Kunst längst kennen und mögen. Sie sollen sich damit leicht identifizieren können und darin eine liebevolle Hommage an die Alltagswelt erkennen, sollen Spaß daran haben, sich in der glattpolierten Oberfläche von Stahlskulpturen wie »Balloon Dog« zu spiegeln. Dann schätzen sie diese Kunst, weil sie ihr Leben etwas bedeutsamer erscheinen lässt.
Bis zu Koons – beziehungsweise seit Marcel Duchamp – ging es bei Readymades sowie bei der Nachbildung profaner Objekte hingegen darum, bestehende Vorstellungen von Kunst infrage zu stellen, den Blick auf alltägliche Dinge zu verfremden oder durch den Transfer von Nicht-Kunst in die Kunstwelt zu provozieren und zu verwirren. Readymades waren ein ideales Instrument, um – dem Geist autonomer Kunst entsprechend – Denkprozesse in Gang zu setzen und Veränderungen einzuleiten.
Natürlich kann man auch die Werke von Koons wie traditionelle Readymades betrachten. Und viele Leute aus den Kreisen des klassischen Kunstpublikums, an die sich Readymades bisher ausschließlich richteten, tun genau das; sie lassen sich also davon irritieren, in einer Kunstausstellung auf Kinderspielzeug oder einen Nippes-Artikel zu treffen. Manche nehmen die Herausforderung an, kommen auch mit der Irritation zurecht und finden eine für sich stimmige Deutung, gelangen also etwa zu der Interpretation, Koons wolle die Konsumwelt zynisch-kalt entlarven oder die Tradition von Vanitas-Kunst fortschreiben. Ihr eigener Blick auf die Welt ändert sich dadurch – und sie können die Kunst weiterhin als einen Bereich schätzen, in dem immer wieder etwas reflektiert und verfremdet wird. Anderen hingegen gehen seine Arbeiten zu weit. Sie können nichts damit anfangen. Dass sie in Koons fortan einen Verräter der hehren Kunstwelt sehen, der ihnen als Exempel dafür dient, was in der Kunstwelt angeblich alles falsch läuft, hat aber immerhin die Funktion, dass sie sich zu ihrem eigenen, konservativeren Begriff von Kunst bekennen – diesen bekräftigen – können. Das ist dann gleichsam Empowerment ex negativo – aus Unfähigkeit zur Veränderung. (lacht)
So unterschiedlich die Reaktionen auf eine Arbeit von Koons ausfallen können, so wenig kann ich aber sehen, dass die eine Weise des Umgangs damit wertvoller als die andere sein sollte. Eine derart hierarchisierende Bewertung erscheint mir schon deshalb fragwürdig, weil wir von jeweils unterschiedlichen Milieus sprechen. So haben wir es einmal mit der Kunsterfahrung von Leuten zu tun, die für gewöhnlich kaum mit Kunst zu tun haben, im anderen Fall mit den mitunter auch ziemlich stur eingeübten Reaktionsweisen eines geschulten Kunstpublikums.
Sie sehen in Koons also einen Künstler, dessen Werke geradezu gegensätzlichen Konzepten von Kunst gleichermaßen genügen. Aber wer ihn auf die eine Weise versteht, stört sich offenbar an denjenigen, die ihn auf die andere Weise verstehen?
So kann man das sagen. Werfen die einen ihm Kitsch vor oder sehen ihn als heroischen Fortsetzer der Tradition von Duchamp und Warhol, so können die anderen mit solchen eher akademischen Diskursen über Readymades wenig anfangen. Erst recht finden sie es abgehoben, wenn eine Skulptur wie »Balloon Dog« in der Tradition von Vanitas-Kunst oder gar als religiöses Werk interpretiert wird. Koons nährt solche Deutungen jedoch selbst, denn in seinen zahlreichen Interviews gibt es nicht nur Bekenntnisse zu Empowerment, sondern genauso kunsthistorisch und intellektuell ambitionierten Stoff.15 Vermutlich bekommen viele davon kaum etwas mit, doch zeigt sich daran, wie bewusst Koons dieselben Werke an unterschiedliche Milieus adressiert. Das macht ihn zu einem so interessanten Fall.
Vermutlich kann man sogar jedes Sujet und jede formale Eigenschaft seiner Werke in mindestens zweifacher Hinsicht bewerten – einmal passend zum Kriterienkanon autonomer Kunst, einmal bezogen auf das Ziel ›Empowerment‹.
Man denke etwa an eines seiner Markenzeichen, die perfekte Materialverarbeitung. Für die einen erfüllt sich darin einmal mehr der Anspruch an – autonome – Kunst, vollkommen zu sein: vollkommener als diejenigen, die sie betrachten, gar auf Ewigkeit hin angelegt, auf jeden Fall aber etwas, das sich von anderen Artefakten unterscheidet, sie überragt. Zugleich provoziert Koons die Anhänger:innen der Autonomie damit, schließlich verbinden sie die Überlegenheit der Kunst sonst eher mit konzeptuellen oder formalen Qualitäten, während er eine bloß materielle Spielart von Vollkommenheit bietet. Sie müssen also einmal mehr umdenken, was ihnen jedoch innerhalb des Autonomie-Paradigmas zusagen müsste.
Andererseits erfüllt er mit der Materialperfektion die Erwartungen eines viel breiteren Publikums, das bei moderner Kunst oft einen Mangel an Handwerk und Materialbeherrschung beklagt. Dieselben Leute freut es daher umso mehr, dass Koons Produkte des Massengeschmacks durch materielle Sorgfalt würdigt, also Dingen, die sonst für den schnellen Konsum gemacht sind, Dauerhaftigkeit verleiht. Das wirkt, als wolle er seinen Glauben an die Beständigkeit der ästhetischen Vorlieben derer bekunden, denen sonst nur schlechter Geschmack unterstellt wird. Sie stärkt er, ihnen verhilft er zu mehr Selbstbewusstsein, indem er ihre Dingwelt zu Kunst erhebt, perfektioniert und haltbar macht.
Man könnte jedoch einwenden, dass die Perfektion des Werkprozesses ihrerseits einschüchternd wirken kann – und dann gerade nicht empowert. Sollte Kunst denn nicht lieber unvollkommen sein, damit man sich damit identifizieren, davon bestätigen lassen kann? Damit man das Gefühl bekommt, man könnte sie bestenfalls selbst machen?
Das ist eine berechtigte Frage. Die materielle Perfektion bei Koons kann sicher auch Ehrfurcht erzeugen und davon abhalten, dass man sich selbst etwas zutraut. Der enorme Boom an Do-it-yourself-Adaptionen ist aber ein Beleg dafür, dass die Perfektion zumindest im Fall von »Balloon Dog« offenbar mehr empowert als einschüchtert.
Allgemein lässt sich dennoch festhalten, dass Kunst, die empowernd wirken soll, nicht zu stark auf Vollkommenheit und Erhabenheit hin ausgerichtet sein sollte. Sonst setzt sich das hierarchische Bewunderungsverhältnis fort, das wir aus der autonomen Kunst kennen. Etwas, das zu perfekt, in jeder Hinsicht ideal ist, ist zu abgehoben und fern, um sich damit noch identifizieren zu können. Es mag anzeigen, in welche Richtung man sich bewegen sollte, aber es liefert nicht den Treibstoff, um diesen Weg auch gehen zu können.
In Ihrem Buch schreiben Sie, identifikatorische Kunst sei »genauso auf Erweiterung und Ergänzung angelegt wie das Handeln derjenigen, die sich in ihr wiederfinden«. Was soll das heißen?
Identifikatorische Kunst sollte auf jeden Fall offen und einladend sein. Dann fällt es nicht nur leichter, sich darin wiederzufinden, sondern dann kann man auch einfacher daran anknüpfen. Ihrem Charakter nach ist identifikatorische Kunst daher oft projektförmig. Nur zu formlos – zu unverbindlich – darf sie nicht wirken. Denn wer nach Empowerment strebt, will sich in etwas einschreiben, das bereits eine gewisse Größe hat. So wie im Fall von Fan Fiction, die ja auch nur entsteht, wenn etwas bei aller Offenheit vor allem als höchst lebendig und als etwas Besonderes, gar Einzigartiges wahrgenommen wird. Und wenn genügend Leute mitmachen, wird das Projekt umso größer, aber auch vielfältiger, bietet also mehr Möglichkeiten der Beteiligung und Identifikation, eben weil es viele unterschiedliche Ansatzpunkte für jeden Einzelnen gibt.
An was denken Sie da zum Beispiel?
Etwa an Konzepte des Politaktivismus: In diesem Bereich wird ja oft eine Handlungsform entwickelt, die dann von beliebig vielen Menschen adaptiert werden kann und sie so in eine neue, sie stärkende Position versetzt. Diese Handlungsform kann auch fortwährend angepasst, erweitert, abgewandelt werden, ist also in keiner Weise starr. Gerade deshalb erleichtert sie eine Identifikation.
Und hier das Beispiel: das »Pussyhat Project«, initiiert von zwei Frauen aus Los Angeles, Krista Suh und Jayna Zweiman. Anlass dafür war der »Women’s March«, ein Protestmarsch von Frauen, der im Januar 2017 nach dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident in Washington stattfand.16 Mit einer einheitlichen Kopfbedeckung, so die Idee der beiden, würden die protestierenden Frauen stärker auffallen, und daher sollten sich möglichst viele eine Mütze stricken oder nähen, in Pink und in rechteckiger Form, mit Spitzen – Katzenohren – an den beiden oberen Ecken. [Abb. 5] Zwar kursierten schnell Bastelanleitungen, aber die formalen Richtlinien waren offen genug, um jeder Frau kreativen Spielraum zu lassen. Wichtig war nur, dass die Mützen als Handarbeit entstanden, denn gerade weil Stricken und Nähen lange Zeit als häusliche, spezifisch weibliche Tätigkeiten abgewertet wurden, wollten die Frauen demonstrieren, dass sie damit auch politischen Protest manifestieren können. Was ihre Reduktion auf die Rollen der fürsorglichen Mutter und der braven Ehe- und Hausfrau so stark symbolisierte, sollte nun zum Medium sichtbaren Widerstands werden.17 Von Anfang an wurde mit den »Pussyhats« also Empowerment angestrebt: die Verwandlung vermeintlicher Schwäche in Stärke, die Vereinigung vieler einzelner, für sich jeweils ohnmächtiger politischer Subjekte zu einer großen, wahrnehmbaren und damit machtvollen, schlagkräftigen Community.
Abb. 5 Werbung für das Pussyhat Project auf dem Instagram-Account @p_ssyhatproject (2017)
Wie mit dem Motiv des Handarbeitens verfolgten die Frauen mit dem Namen des Projekts ebenfalls eine empowernde Umwertung, wollten Trumps berühmt-berüchtigte Äußerung »grab’em by the pussy«, mit der er seine Geringschätzung von Frauen artikuliert hatte, sowie generell die despektierliche Verwendung von »pussy« offensiv aufgreifen, um dem Wort eine andere, positivere Bedeutung zu geben.18
Obwohl das Projekt auch viel Kritik auf sich gezogen hat,19 ging es viral: In Washington trugen die halbe Million Menschen, die sich an dem Protestmarsch beteiligten, zum Großteil Pussyhats, ebenso war es bei mehr als 600 anderen Demonstrationen, die zeitgleich stattfanden.20 Auch in den Jahren darauf gab es immer wieder Pussyhat-Aktionen: Hier ist ein globales Symbol feministischen Empowerments entstanden, das es sowohl auf das Cover des »Time Magazine« als auch ins Victoria & Albert-Museum in London geschafft hat.21
Schön und gut. Aber in einer Hinsicht scheint mir Ihr Beispiel in Widerspruch zu dem zu stehen, was Sie zur empowernden Qualität von »Balloon Dog« gesagt haben. Da meinten Sie, erst der enorme Erfolg auf dem Kunstmarkt hätte viele dazu gebracht, sich mit Koons’ Skulptur zu identifizieren und stolz auf ihren eigenen Geschmack zu sein. Beim »PussyhatProject« aber ging es doch darum, sich gerade – aus Trotz – mit etwas zu identifizieren, das die eigene Schwäche und Diskriminierung repräsentiert – mit dem assoziiert zu werden also erst einmal nicht so positiv ist.
Das stimmt, ist deshalb aber noch kein Widerspruch. Es sind vielmehr unterschiedliche Formen von Empowerment. Bei »Balloon Dog« geht es – sehr allgemein – um die Frage, wie Menschen, die sonst gehemmt und unsicher sind, mehr Selbstbewusstsein entwickeln können. Das »Pussyhat Project« hingegen wurde von Leuten ersonnen und verbreitet, die bereits engagiert, vor allem aber wütend waren. Sie wollten sich nun ausdrücklich als Gemeinschaft spüren, wollten gegen die herrschenden Verhältnisse protestieren und politische Sichtbarkeit erlangen. Wenn man protestiert, muss man aber auch zeigen, wogegen man ist; will man dabei jedoch nicht nur als Opfer erscheinen, muss man zugleich beweisen, dass man die Stärke hat, sich über das zu erheben, was man ablehnt. Hätten die Frauen auf ihren Demonstrationen Trumps Misogynie nur beklagt, hätten sie sich in eine erniedrigte, unterlegene Position gefügt. Doch indem sie Symbole ihrer Abwertung gezielt aufgegriffen, sich damit lautstark und auch witzig identifiziert haben, konnten sie vorführen, dass sie über diesen Fremdzuschreibungen stehen: Sie konnten beanspruchen, selbst zu entscheiden, wie sie sich sehen. Das passiv-disqualifizierende Mit-etwas-identifiziert-Werden haben sie also in ein aktiv-stolzes Sich-Identifizieren verwandelt!
Lässt sich das generalisieren?