Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen - Nir Eyal - E-Book

Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen E-Book

Eyal Nir

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Noch nie war die Welt so voller Ablenkungen: Kollegen, Lärm, Tweets und E-Mails sind einige der häufigsten externen Konzentrationskiller im Alltag. Schlimmer ist nur noch der selbstverschuldete Dauergebrauch von Tabletts oder Smartphones, der sein übriges dazu beiträgt, dass wir uns kaum noch längere Zeit auf etwas konzentrieren können. In seinem neuen Buch Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen zeigt der Bestsellerautor Nir Eyal, wie Ablenkung in unseren Köpfen entsteht – und wie man ihr widerstehen kann. Es ist längst nicht ausreichend, sich kurze Auszeiten von seinem Smartphone oder Social Media zu verordnen. Die entscheidenden Punkte sind die richtige Einstellung, die passenden Gewohnheiten und der entsprechende Gebrauch von Technik. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die über ihre Aufmerksamkeit wieder selbst bestimmen und die ihre Zeit wieder in den Griff bekommen möchten – im Alltag und vor allen Dingen im Berufsleben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 293

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

2. Auflage 2021

© 2019 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe by Nir Eyal

Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei BenBella Books, Inc. unter dem Titel Indistractable.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Britta Fietzke, Frankfurt a. Main

Redaktion: Desirée Simeg, Stadtbergen

Umschlaggestaltung: Sonja Vallant, München

Umschlagabbildung: shutterstock_172291964_432649960_kopf; shutterstock_1772291964_432649960_kopf_kreis_weiß

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-86881-754-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-124-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-125-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Ein paar wichtige Dinge vorweg

Einleitung Von Hooked bis Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen

Kapitel 1 Was ist Ihre Superkraft?

Kapitel 2 Unablenkbar sein

Teil 1 Interne Trigger bewältigen

Kapitel 3 Was motiviert uns wirklich?

Kapitel 4 Zeitmanagement ist Schmerzmanagement

Kapitel 5 Mit Ablenkungen von Innen umgehen

Kapitel 6 Der interne Trigger mal anders

Kapitel 7 Die Aufgabe neu konzipieren

Kapitel 8 Das Temperament überdenken

Teil 2 Zeit für Antrieb schaffen

Kapitel 9 Werte in Zeit umwandeln

Kapitel 10 Den Input kontrollieren, nicht die Resultate

Kapitel 11 Wichtige Beziehungen planen

Kapitel 12 Synchronisation mit allen bei der Arbeit

Teil 3 Externe Trigger abwehren

Kapitel 13 Kritische Fragen stellen

Kapitel 14 Arbeitsunterbrechungen entgegenwirken

Kapitel 15 E-Mail-Flut eindämmen

Kapitel 16 Gruppenchats bewältigen

Kapitel 17 Meetings reduzieren

Kapitel 18 Der Smartphone-Falle entgehen

Kapitel 19 Desktop bereinigen

Kapitel 20 Online-Artikeln den Rücken kehren

Kapitel 21 Feeds abschaffen

Teil 4 Mit Pakten gegen Ablenkungen

Kapitel 22 Die Macht der Zusage

Kapitel 23 Aufwand-Pakte gegen Ablenkungen

Kapitel 24 Geld-Pakte gegen Ablenkungen

Kapitel 25 Identitäts-Pakt gegen Ablenkungen

Teil 5 Ein unablenkbarer Arbeitsplatz

Kapitel 26 Ablenkung als Zeichen der Dysfunktionalität

Kapitel 27 Ablenkungen eliminieren: der ultimative Test für die Unternehmenskultur

Kapitel 28 Der unablenkbare Arbeitsplatz

Teil 6 Unablenkbare Kinder und psychologische Nahrung

Kapitel 29 Ausreden vermeiden

Kapitel 30 Interne Trigger der Kinder verstehen

Kapitel 31 Gemeinsam Zeit für Antrieb finden

Kapitel 32 Kinder gegen externe Trigger wappnen

Kapitel 33 Lernen, eigene Pakte zu schließen

Teil 7 Unablenkbare Beziehungen führen

Kapitel 34 Immunisierung der Freunde

Kapitel 35 Unablenkbar lieben

Hat Ihnen das Buch gefallen?

Kernpunkte der einzelnen Kapitel

Timeboxingvorlage

Ablenkungs-Tracker

Danksagung

Mitwirkende

Diskussionsanregungen

Über die Autoren

Ein paar wichtige Dinge vorweg

Bevor Sie mit der Lektüre beginnen, laden Sie sich die zusätzlichen Materialien von meiner Website herunter. Sie finden kostenloses Infomaterial, Downloads und meine neuesten Updates auf:

NirAndFar.com/indistractable1

Dabei ist aber vor allem die Arbeitsmappe mit Übungen für jedes Kapitel wichtig, um Ihnen dabei zu helfen, das Gelernte auf Ihr Leben zu übertragen.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich keinerlei finanzielles Interesse an den genannten Unternehmen habe, es sei denn, es wird ausdrücklich darauf hingewiesen. Ebenso wenig werden meine Empfehlungen von Werbekunden beeinflusst.

Wenn Sie persönlich mit mir in Kontakt treten möchten, können Sie mich über meinen Blog unter NirAndFar.com/contact erreichen.

1 Das kostenlose Informationsmaterial, die Downloads und Updates sowie die Arbeitsmappe mit den Übungen liegen nur in englischer Sprache vor.

Einleitung Von Hooked bis Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen

Es gibt ein Buch, das Sie in den Regalen der meisten großen Technologieunternehmen wie zum Beispiel bei Facebook, Google, PayPal und Slack finden werden. Es wird auf Technologiekonferenzen und Firmenschulungen verteilt. Ein Freund bei Microsoft erzählte mir, dass der CEO, Satya Nadella, ein Exemplar hochhielt und es allen Mitarbeitern des Unternehmens empfahl.

Dieses Buch – Hooked: Wie Sie Produkte erschaffen, die süchtig machen – war ein Bestseller des Wall Street Journal und gilt, während ich diese Zeilen schreibe, noch immer als das beste Buch in Amazons »Produkte«-Kategorie.1 Es ist eine Art Kochbuch mit Rezepten für menschliches Verhalten – also Ihr Verhalten. Technologieunternehmen wissen, dass sie uns immer wieder zu sich zurückholen müssen, um Geld zu verdienen, denn ihre Geschäftsmodelle hängen davon ab.

Ich weiß das so genau, weil ich die letzten zehn Jahre damit verbracht habe, die geheime Psychologie zu erforschen, mit der einige der global erfolgreichsten Unternehmen ihre Produkte so fesselnd gestalten. Jahrelang habe ich die Führungskräfte der Zukunft sowohl an der Stanford Graduate School of Business als auch am Hasso Plattner Institute of Design unterrichtet.

Beim Schreiben von Hooked hatte ich die Hoffnung, dass Start-ups und sozial engagierte Unternehmen dieses Wissen nutzen würden, um Menschen bei der Entwicklung besserer Gewohnheiten zu unterstützen. Warum sollten die Technikriesen diese Geheimnisse für sich behalten? Sollten wir nicht dieselbe Psychologie nutzen, die Videospiele und Social Media so interessant macht, um Produkte zu entwickeln, die den Menschen dabei helfen, ein besseres Leben zu führen?

Und ja, seit der Veröffentlichung von Hooked haben Tausende Unternehmen das Buch genutzt, um ihren Nutzern zu ermöglichen, nützliche und gesunde Gewohnheiten zu entwickeln. Fitbod zum Beispiel ist eine Fitness-App, mit der man bessere Trainingsroutinen aufbauen kann; Byte Foods in und um Sacramento will die Essgewohnheiten der Menschen ändern, indem es smarte Kühlschränke mit Internetanschluss aufstellt, die lokal hergestellte frische Mahlzeiten enthalten; die aus Norwegen stammende Firma Kahoot! entwickelt Software für ein interessanteres und unterhaltsameres Lernen im Klassenzimmer.2

Wir wollen, dass unsere Produkte nutzerfreundlich, leicht zu bedienen und zudem gewohnheitsfördernd sind. Dass Unternehmen ihre Produkte ansprechender gestalten ist nicht zwangsläufig ein Problem – das ist Fortschritt.

Aber natürlich gibt es auch eine dunkle Seite. Wie bereits der Philosoph Paul Virilio schrieb: »Wenn du das Schiff erfindest, erfindest du gleichzeitig das Schiffswrack.«3 Nutzerfreundliche Produkte und Dienstleistungen können einerseits ansprechend und leicht zu bedienen sein, aber andererseits Ablenkungen verursachen. Für viele Menschen können diese Ablenkungen außer Kontrolle geraten und ihnen das Gefühl geben, dass ihnen die Entscheidungsgewalt entrissen wird. Es ist leider Fakt, dass unser Gehirn heutzutage gegen Ablenkungen gerüstet sein muss, damit diese nicht zu manipulierenden Zeiträubern mutieren.

In diesem Buch werde ich aufzeigen, wie sich mein eigener Kampf gegen die Ablenkungen da draußen gestaltet hat und wie ich – oh, welch Ironie! – süchtig wurde. Aber ich werde auch berichten, wie ich diesen Kampf gewinnen konnte und erklären, warum wir viel mächtiger sind als all die Tech-Giganten zusammen. Denn als Brancheninsider kenne ich deren Achillesferse – und Sie demnächst auch.

Die gute Nachricht ist, dass wir die einzigartige Fähigkeit haben, uns an Bedrohungen anzupassen. Wir können Trainingsmaßnahmen ergreifen und unser Gehirn zurückerobern. Und ganz ehrlich: Haben wir eine andere Wahl? Nein, im Gegenteil! Wir haben keine Zeit, darauf zu hoffen, dass Regulierungsbehörden etwas unternehmen, und falls Sie einfach den Atem anhalten und darauf warten wollen, dass die Konzerne ihre Produkte irgendwann mit weniger Ablenkung gestalten, werden Sie wohl leider ersticken.

In Zukunft werden wir die Menschheit in zwei Gruppen teilen können: diejenigen, die ihre Aufmerksamkeit und ihr Leben von anderen kontrollieren und zwangssteuern lassen, und diejenigen, die sich stolz »unzerstörbar« oder »unablenkbar« nennen können. Und ja, das klingt absichtlich wie eine Superkraft! Weil Sie dieses Buch nun in den Händen halten, haben Sie den ersten Schritt getan, um Ihre Zeit und Ihre Zukunft zurückzuerobern. Aber das ist erst der Anfang, denn seit Jahren wurden Sie auf sofortige Belohnungen konditioniert. Betrachten Sie also das Erreichen der letzten Seite von Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen als eine persönliche Herausforderung, um Ihren Geist zu befreien.

Das Gegenmittel gegen Impulsivität ist Voraussicht. Vorausschauende Planung stellt sicher, dass Sie das Geplante auch wirklich durchziehen. Mit den Techniken in diesem Buch werden Sie lernen, was Sie von nun an tun müssen, um Ihre Aufmerksamkeit und somit Ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen.

1 »Amazon Best Sellers: Best Sellers in Industrial Product Design,« www.amazon.com/gp/bestsellers/books/7921653011/ref=pd_zg_hrsr_b_1_6_last. Zugegriffen: 29. Oktober 2017.

2 Ich fand es so grandios, wie Kahoot! und Byte Foods mein Buch genutzt haben, dass ich letztlich in beide Firmen investierte.

3 Paul Virilio. Politics of the Very Worst. New York: Semiotext(e), 1999. S. 89.

Kapitel 1 Was ist Ihre Superkraft?

Ich liebe Süßigkeiten, ich liebe Social Media und ich liebe Fernsehen. Aber so sehr ich das alles liebe, wird diese Liebe doch nicht erwidert. Etwas Zuckerhaltiges nach dem Essen, zu viel Zeit mit einem Social-Media-Feed oder ein Netflix-Binge bis 2 Uhr morgens: alles Sachen, die ich einst aus reiner Gewohnheit tat.

So wie der Verzehr von zu viel Junkfood zu gesundheitlichen Problemen führt, hat auch die übermäßige Nutzung von Smartphone, Tablet & Co. negative Folgen. Ich zum Beispiel stellte diese mobilen Geräte über die wichtigsten Menschen in meinem Leben – am schlimmsten war, dass ich sie über meine Tochter stellte und die Beziehung zu ihr gefährdete. Sie ist unser einziges Kind und für meine Frau und mich das tollste Kind der Welt.

Eines Tages nahmen wir uns ein Mitmachbuch vor, das Väter und Töchter einander näherbringen soll. Wir sollten aufzählen, was der andere am liebsten mag. Wir sollten ein Papierflugzeug aus einer der Buchseiten falten. Und wir sollten beide die folgende Frage beantworten: »Wenn du eine Superkraft hättest, welche wäre es?«

Ich würde Ihnen gern verraten, was meine Tochter in diesem Moment gesagt hat – aber ich kann es nicht. Ich weiß es nämlich nicht, weil ich nicht wirklich da war. Ich war körperlich anwesend, aber mein Verstand war woanders. »Daddy«, fragte sie, »was wäre deine Superkraft?« – »Hmm? Nur eine Sekunde … Ich muss schnell was beantworten …« Ich wies sie ab, weil ich mich um etwas, was damals wichtig schien, aber definitiv hätte warten können, auf meinem Smartphone kümmern wollte. Meine Augen klebten am Bildschirm. Die Finger tippten. Sie verstummte. Als ich wieder aufsah, war sie weg.

Ich hatte gerade einen ganz besonderen Moment mit meiner Tochter vermasselt, weil etwas auf meinem Smartphone meine Aufmerksamkeit erregt hatte. An sich wäre das keine große Sache, aber es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass dies ein Einzelfall war. Ähnliche Szenen hatten sich schon unzählige Male abgespielt.

Und ich bin nicht der Einzige, der Ablenkungen einst anderen Menschen vorzog. Einer der ersten Leser meines Manuskripts für dieses Buch erzählte mir, dass seine achtjährige Tochter auf die Frage, was ihre Superkraft wäre, geantwortet habe, sie wolle mit Tieren sprechen. Auf die Frage, warum, antwortete sie: »Damit ich jemanden zum Reden habe, wenn du und Mama keine Zeit habt, weil ihr am Computer arbeitet.«

Nachdem ich meine Tochter gefunden und mich entschuldigt hatte, beschloss ich, dass sich etwas ändern musste. Zuerst übertrieb ich es, weil ich überzeugt war, dass an allem diese ganze Technik schuld sein musste: Mein erster Lösungsversuch war also ein »Digital Detox«. Ich benutzte ein uraltes Klapphandy, sodass ich nicht in Versuchung geraten konnte, das E-Mail-Programm, Instagram oder Twitter zu öffnen. Aber es nervte, ohne GPS und die in meiner Kalender-App gespeicherten Adressen auszukommen. Außerdem höre ich gerne beim Spazierengehen Hörbücher und vermisste sie nun arg – ebenso wie all die anderen praktischen Dinge, die mein Smartphone konnte.

Um keine Zeit mit zu vielen Zeitungsartikeln online zu verschwenden, abonnierte ich die Printausgabe. Ein paar Wochen später schaute ich die Nachrichten im Fernsehen – mit einem fein säuberlichen Stapel ungelesener Zeitungen neben mir.

Um beim Schreiben konzentriert zu bleiben, kaufte ich mir ein Textverarbeitungsprogramm ohne Internetanschluss aus den 1990er-Jahren. Wann immer ich mich jedoch an den Schreibtisch setzte, ging ich irgendwann zum Bücherregal und blätterte durch Bücher, die nichts mit meiner Arbeit zu tun hatten. Irgendwie ließ ich mich – auch ohne die Technik, von der ich dachte, sie sei die Ursache des Problems – immer wieder ablenken.

Die moderne Internettechnologie zu verbannen funktionierte nicht. Ich ersetzte lediglich eine Ablenkung durch eine andere.

Ich erkannte, dass wir für ein bewusstes, zielgerichtetes Leben nicht nur das Richtige tun, sondern auch das Falsche lassen müssen – also das, was uns vom Weg abbringt. Wir alle wissen, Kuchen ist schlimmer für unsere Hüfte als ein gesunder Salat, ebenso wie zielloses Scrollen durch Social-Media-Feeds nicht so bereichernd ist wie die Zeit mit realen Freunden. Um bei der Arbeit produktiver zu sein, dürfen wir keine Zeit verschwenden. Wir wissen also bereits, was zu tun ist. Aber wir wissen noch nicht, wie wir uns weniger oder gar nicht mehr ablenken lassen.

Bei der Recherche und dem Schreiben dieses Buchs in den letzten fünf Jahren und mithilfe der wissenschaftlich fundierten Methoden, die ich hier vorstellen werde, bin ich nun produktiver, körperlich und geistig fitter, besser ausgeruht und erfüllter in meinen Beziehungen als je zuvor. Dieses Buch handelt von dem, was ich gelernt habe, als ich die wichtigste Fähigkeit für das 21. Jahrhundert entwickelte: Ich lernte »unablenkbar« zu werden – und Sie können das auch.

Der erste Schritt ist die Erkenntnis, dass die Ablenkung von innen kommt. In Teil 1 stelle ich Ihnen praktische Wege vor, wie Sie die psychologischen Stolpersteine, die Sie vom Weg abbringen, identifizieren und überwinden können. Ich werde jedoch einen Bogen um abgedroschene Techniken wie Achtsamkeit oder Meditation machen. Diese Methoden mögen für einige Leute effektiv sein, wurden jedoch bereits bis zum Gehtnichtmehr beschrieben – und da Sie dieses Buch in den Händen halten, haben Sie sie vermutlich bereits erfolglos ausprobiert. Stattdessen werfen wir hier einen frischen Blick darauf, was unser Verhalten wirklich motiviert. Im Zuge dessen werde ich erklären, warum Zeitmanagement eigentlich Schmerzbehandlung ist und wie Sie fast jede Aufgabe angenehm gestalten können. Und zwar nicht wie Mary Poppins, die »ein Löffelchen voll Zucker« dazu nimmt, sondern indem Sie sich darin schulen, sich intensiv auf das zu konzentrieren, was Sie tun.

Teil 2 wird zeigen, wie wichtig es ist, Zeit für das zu haben, was Sie wirklich tun möchten. Sie können nichts als »Ablenkung« bezeichnen, wenn Sie nicht wissen, wovon es ablenkt. Sie werden lernen, Ihre Zeit mit Bedacht zu planen, auch wenn Sie dann lieber den neuesten Klatsch und Tratsch oder einen aufregenden Liebesroman lesen. Denn Zeit, die Sie verschwenden wollen, ist keine Zeitverschwendung.1

Teil 3 analysiert unerwünschte externe Trigger, die Ihre Produktivität und Ihr Wohlbefinden beeinträchtigen. Während Technologieunternehmen verschiedene Signale, wie Pings, Klingeltöne und Vibrationen auf Smartphones nutzen, um Ihr Verhalten zu manipulieren, sind externe Trigger nicht allein auf Ihre digitalen Geräte beschränkt. Sie sind überall um uns herum – von Keksen, die uns aus dem Küchenschrank anlachen, bis hin zu einem überaus gesprächigen Mitarbeiter, der uns vom eiligen Projektabschluss abhält.

Teil 4 hält den letzten Schlüssel zur »Unablenkbarkeit« bereit: Pakte. Zwar ist es wichtig, externe Trigger loszuwerden, aber Pakte sind eine bewährte Methode, um Sie zurückzuhalten und sicherzustellen, dass Sie das, was Sie sich vorgenommen haben, auch wirklich durchziehen. Mit der alten Taktik der Zusagen gegen die neuen Herausforderungen der Moderne.

Zum Schluss besprechen wir, wie Sie Ihren Arbeitsplatz unablenkbar machen, unablenkbare Kinder großziehen und unablenkbare Beziehungen fördern können. Dieser letzte Teil zeigt Ihnen, wie Sie Ihre verlorene Produktivität bei der Arbeit wiedererlangen, zufriedenere Beziehungen mit Ihren Freunden und Ihrer Familie führen und sogar ein besserer Liebhaber sein können, weil Sie sich nicht mehr ablenken lassen.

Sie dürfen die vier Schritte zur Unablenkbarkeit in einer selbst gewählten Reihenfolge durchlaufen, ich empfehle aber, von Teil 1 bis 4 chronologisch vorzugehen. Denn diese vier Module bauen aufeinander auf und der erste Schritt ist der grundlegendste.

Wenn Sie am liebsten anhand von Beispielen lernen und die Methode vorab in Aktion sehen wollen, fangen Sie die Lektüre mit Teil 5 an und kommen dann für eine tiefer gehende Erläuterung zu den ersten vier Teilen zurück. Ich möchte Ihnen auch nicht vorschreiben, dass Sie jede einzelne Technik sofort anwenden müssen. Einige passen möglicherweise nicht zu Ihrer aktuellen Situation und werden erst in Zukunft nützlich. Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie bis zum Ende dieses Buchs mehrere Durchbrüche erleben werden, die Ihren Umgang mit Ablenkungen für immer verändern werden.

Stellen Sie sich die unglaubliche Macht vor, wenn Sie Ihre Absichten verwirklichen können. Wie viel effektiver wären Sie bei der Arbeit? Wie viel mehr Zeit könnten Sie mit Ihrer Familie verbringen oder die Dinge tun, die Sie lieben? Wie viel glücklicher wären Sie dann? Wie wäre das Leben, wenn Unablenkbarkeit Ihre Superkraft wäre?

Bemerkenswert

Sie müssen lernen, Ablenkungen zu vermeiden. Um das Leben zu leben, das Sie wollen, müssen Sie nicht nur das Richtige tun, sondern auch das Falsche unterlassen.Das Problem liegt tiefer als nur in der Technik. Unablenkbarkeit bedeutet nicht, ein Technikfeind zu sein. Sie müssen die wahren Gründe verstehen, warum Sie gegen Ihre eigenen Interessen handeln.Sie können unablenkbar werden, indem Sie vier Schlüsselstrategien erlernen und anwenden.

1 Ein Wortspiel auf Basis eines Zitats von Marthe Troly-Curtin, »Time You Enjoy Wasting Is Not Wasted Time,« Quote Investigator. https://quoteinvestigator.com/2010/06/11/time-you-enjoy/. Zugegriffen: 19. August 2018.

Kapitel 2 Unablenkbar sein

Die alten Griechen überlieferten einst die Geschichte eines ständig abgelenkten Mannes. Im Englischen ist der Begriff für etwas Wünschenswertes außerhalb unserer Reichweite nach eben diesem Mann benannt: »tantalising« (verlockend). Die Geschichte besagt, dass Zeus seinen Sohn Tantalos zur Strafe in die Unterwelt verbannte.1 Dort watete dieser in einem Wasserbecken, einen Ast voller reifer Früchte über seinem Kopf baumelnd. Der Fluch wirkte zunächst also positiv, aber als Tantalos eine Frucht pflücken wollte, bewegte sich der Ast von ihm weg, immer knapp außerhalb seiner Reichweite.

Der Tantalos’sche Fluch: auf ewig nach etwas zu greifen.2

Und als er sich bückte, um das kühle Wasser zu seinen Füßen zu trinken, wich es zurück, sodass er seinen Durst nie stillen konnte. Es war also offenbar Tantalos’ Strafe, sich nach Dingen zu sehnen, die er begehrte, aber nie greifen konnte.

Man muss es den alten Griechen lassen: Allegorien waren ihre Stärke. Eine bessere Beschreibung des menschlichen Zustands ist unmöglich. Wir »greifen« ständig nach etwas: mehr Geld, mehr Erfahrungen, mehr Wissen, mehr Status, mehr Zeug. Die alten Griechen dachten, dies sei lediglich ein Teil des Fluchs, ein fehlbarer Sterblicher zu sein, und nutzten diese Geschichte, um die Macht unserer unablässigen Begierden aufzuzeigen.

ANTRIEB UND ABLENKUNG3

Stellen Sie sich eine Linie vor, die alles einteilt, was Sie im Laufe Ihres Tages tun. Auf der rechten Seite stehen die positiven Dinge, auf der linken die negativen.

Rechts befindet sich also der Antrieb (engl. traction, aus dem Lateinischen von trahere, »ziehen«). Diese Handlungen führen uns zu dem, was wir im Leben wollen. Dem gegenüber steht die Ablenkung (engl. distraction), also das Gegenteil des Antriebs. Im Lateinischen ist es aus der gleichen sprachlichen Wurzel abgeleitet und bedeutet »Abziehen des Geistes«.4 Ablenkungen sind also Stolpersteine auf dem Weg zu unserem angestrebten Leben.

All unsere Verhaltensweisen, egal ob antreibend oder ablenkend, werden durch interne oder externe Trigger ausgelöst. Interne Trigger leiten uns von innen heraus an. Wenn unser Magen knurrt, suchen wir uns etwas zu essen. Wenn uns kalt ist, einen Mantel zum Aufwärmen. Und wenn wir traurig, einsam oder gestresst sind, einen Freund oder eine geliebte Person. Externe Trigger wollen uns per Wink mit dem Zaunpfahl vorschreiben, was wir als Nächstes tun sollten – wie die Pings, Klingeltöne und Vibrationen, die uns auffordern, unsere E-Mails zu checken, eine Nachricht zu öffnen oder einen Anruf entgegenzunehmen. Externe Trigger können aber auch andere Personen sein, wie Kollegen, die an unserem Schreibtisch vorbeilaufen. Oder auch Objekte wie der Fernseher, dessen bloße Anwesenheit im Raum zum Einschalten drängt.

Ob nun durch interne oder externe Trigger ausgelöst, ist die resultierende Tat entweder auf das eigentliche Ziel (Antrieb) oder eben falsch ausgerichtet (Ablenkung). Antrieb hilft uns dabei, unsere Ziele zu erreichen; Ablenkung führt uns von ihnen weg.

Es war schon immer eine Herausforderung, dass unsere Welt so konzipiert ist, dass wir auf verschiedene Weisen abgelenkt werden können. Allem voran geschieht dies heutzutage durch das Smartphone, aber letztlich ist es lediglich die neueste Hürde für unsere Konzentration. Früher beschwerten sich die Menschen über den Fernseher, der wohl Gehirnzellen zum Schmelzen brachte.5 Davor waren es das Telefon, die Comics oder das Radio. Selbst dem geschriebenen Wort wurde vorgeworfen, dass es die Menschen daran hindere, selbstständig zu denken oder sich zu erinnern, so meinte zumindest Sokrates bei Platon.6 Obwohl einiges davon im Vergleich zu heutigen Ablenkungen vielleicht langweilig erscheint, sind sie Teil unseres Lebens – und werden es immer sein.

Aber irgendwie fühlt es sich heutzutage anders an. Die Masse der verfügbaren Informationen, die Geschwindigkeit, mit der sie verbreitet werden, und die Allgegenwart der neuen Inhalte auf unseren Geräten haben zu einem Trio infernale der Ablenkung geführt. Wer Ablenkung suchet, der findet.

Aber was ist der Preis all dieser Ablenkungen? Dazu schrieb der Psychologe Herbert A. Simon im Jahr 1971: »Der Informationsreichtum bedeutet einen Mangel an etwas anderem … nämlich eine Armut an Aufmerksamkeit.«7 Forscher proklamieren seit jeher, dass Aufmerksamkeit und Konzentration die Basis der menschlichen Kreativität und Blütezeit sind.8 Im Zeitalter der zunehmenden Automatisierung sind die gefragtesten Aufgaben diejenigen, die Kreativität, neue Lösungen und menschlichen Einfallsreichtum erfordern. Das wiederum klappt aber nur, wenn wir uns auf eine anstehende Aufgabe konzentrieren können.

Gesellschaftlich betrachtet sind enge Freundschaften das Fundament unserer psychischen und physischen Gesundheit. Einsamkeit ist laut Forschungsergebnissen gefährlicher als Fettleibigkeit.9 Aber können wir überhaupt enge Freundschaften pflegen, wenn wir ständig abgelenkt sind? Denken wir auch mal an unsere Kinder. Wie können sie sich gut entwickeln, wenn sie sich nicht lange genug konzentrieren können, um sich zu entfalten? Was für ein Vorbild sind wir für sie, wenn sie statt unserer fürsorglichen Gesichter nur Scheitel über Geräten sehen, weil wir auf Bildschirme starren?

Kehren wir noch mal zu Tantalos zurück. Was genau war sein Fluch? Waren es der ständige Hunger und Durst? Nicht wirklich. Was wäre passiert, hätte er einfach aufgehört, nach den Früchten und dem Wasser zu greifen? Er befand sich schließlich in der Hölle und tote Menschen brauchen kein ­Essen und Wasser, stimmt’s? Der Fluch ist demnach nicht, dass Tantalos für alle Ewigkeit nach etwas außerhalb seiner Reichweite greifen muss, sondern die Ignoranz gegenüber seiner viel größeren Torheit. Tantalos’ Fluch ist, dass er nicht erkannt, dass er nichts davon braucht. Das ist die wahre Moral dieser Geschichte.

Sein Fluch ist auch unser Fluch. Wir werden angehalten, nach Dingen zu greifen, die wir angeblich brauchen – was aber nicht stimmt. Wir müssen unsere E-Mails nicht sofort ansehen und beantworten oder auf die neuesten Nachrichten reagieren, egal wie sehr wir glauben, dass wir es sollten.

Glücklicherweise können wir uns – im Gegensatz zu Tantalos – von unseren Gelüsten distanzieren; sie als das erkennen, was sie sind, und letztlich etwas gegen sie unternehmen. Unternehmen sollen innovativ unsere sich wandelnden Bedürfnisse befriedigen, unsere Probleme lösen, aber wir als Verbraucher müssen uns auch die Frage stellen, ob bessere Produkte wirklich unser Leben verbessern. Es wird immer Ablenkungen geben, aber der Umgang mit ihnen liegt in unserer Hand.

Wenn wir das machen, was wir uns vornehmen – dann sind wir unablenkbar.

Unablenkbare Menschen sind so ehrlich zu sich wie zu anderen. Wenn Sie sich um Ihre Arbeit, Ihre Familie, Ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden kümmern wollen, müssen Sie lernen, wie Sie unablenkbar werden können. Das vierstufige Modell der Unablenkbarkeit hilft Ihnen, die Welt mit anderen Augen zu sehen und anders mit ihr zu interagieren. Sie werden Ihre Aufmerksamkeit kontrollieren lernen und Ihr Leben wieder selbst gestalten.

Bemerkenswert

Ablenkung hindert Sie daran, gesetzte Ziele zu erreichen. Sie bringt Sie von dem ab, was Sie wirklich wollen. Antrieb bringt Sie näher an Ihre Ziele. Sie bekommen durch ihn, was Sie wirklich wollen. Trigger sind Antrieb ebenso wie Ablenkung. Externe Trigger kommen von außen und verlangen nach Taten. Interne Trigger kommen von innen.

Eine Anleitung zur Unablenkbarkeit in vier Schritten

1 Euripides, Orestes, S. 4–13.

2 August Theodor Kaselowsky, Tantalos und Sisyphos im Hades, Ölgemälde, um 1850, inzwischen zerstört, hing im Niobidensaal des Neuen Museums in Berlin, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tantalus-and-sisyphus-in-hades-august-theodor-kaselowsky.jpg.

3 Anm. d. Ü.: Im Englischen funktioniert diese Gegenüberstellung noch etwas besser: traction und distraction. Das eine zieht uns voran, das andere weg. Sprachlich perfekt!

4 Online Etymology Dictionary, s. v. »distraction«. www.etymonline.com/word/distraction. Zugegriffen: 15. Januar 2018.

5 Louis Anslow. »What Technology Are We Addicted to This Time?« Timeline. 27. Mai 2016. https://timeline.com/what-technology-are-we-addicted-to-this-time-f0f7860f2fab#.rfzxtvj1l. Zugegriffen: 31. Juli 2019.

6 »Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden.« Plato. Phaidros, übersetzt von Friedrich Schleiermacher. 275. https://gutenberg.spiegel.de/buch/platons-werke-erster-theil-7316/5. Zugegriffen: 31. Juli 2019.

7 »The wealth of information means a dearth of something else […] a poverty of attention.« H. A. Simon. »Designing Organizations for an Information-Rich World«. Computers, Communication, and the Public Interest, hrsg. v. Martin Greenberger. Baltimore: Johns Hopkins Press, 1971, S. 40–41.

8 Hikaru Takeuchi et al. »Failing to Deactivate: The Association between Brain Activity During a Working Memory Task and Creativity«. NeuroImage 55(2), 15. März 2011: S. 681–87. https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2010.11.052. Nelson Cowan. »The Focus of Attention As Observed in Visual Working Memory Tasks: Making Sense of Competing Claims.« Neuropsychologia 49(6), Mai 2011: S. 1401–6. https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2011.01.035. P. A. Howard-Jones & S. Murray. »Ideational Productivity, Focus Of Attention, and Context«. Creativity Research Journal 15(2–3), 2003: S. 153–66. doi.org/10.1080/10400419.2003.9651409. Nilli Lavie. »Distracted and Confused? Selective Attention under Load«. Trends in Cognitive Sciences 9(2), 1. Februar 2005: S. 75–82. https://doi.org/10.1016/j.tics.2004.12.004. Barbara J. Grosz & Peter C. Gordon. »Conceptions of Limited Attention and Discourse Focus«. Computational Linguistics 25(4), 1999: S. 617–24. http://aclweb.org/anthology/J/J99/J99-4006.Amanda L. Gilchrist & Nelson Cowan. »Can the Focus of Attention Accommodate Multiple, Separate Items?« Journal of Experimental Psychology, Learning, Memory, and Cognition 37(6), November 2011: S. 1484–1502. https://doi.org/10.1037/a0024352.

9 Julianne Holt-Lunstad, Timothy B. Smith & J. Bradley Layton. »Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review«. PLOS Medicine 7(7), 27. Juli 2010. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1000316.

Teil 1 Interne Trigger bewältigen

Kapitel 3 Was motiviert uns wirklich?

Zoë Chance, Professorin an der Yale School of Management, die in Harvard promoviert hat, enthüllte ihrem TEDx-Publikum eine schockierende Wahrheit: »Ich komme heute ins Reine und erzähle diese Geschichte zum allerersten Mal – mit all ihren hässlichen Details. Im März 2012 … kaufte ich ein Gerät, das langsam, aber sicher mein Leben zerstörte.«1

In Yale unterrichtete Chance die Führungskräfte der Zukunft und weihte sie in die Geheimnisse des sich wandelnden Konsumentenverhaltens ein. Sie nannte ihren Kurs »Mastering Influence and Persuasion«, sie wollte also zeigen, wie man sich gegen Einflüsse und Überredungskünste wappnen kann. Aber ihr Geständnis im TEDx-Talk zeigt, dass sie selbst auch nicht immun gegenüber diesen Manipulationen war: was als Forschungsprojekt begonnen hatte, verwandelte sich schnell in einen sinnlosen Zwang.

Chance stieß auf ein Produkt, das für viele der Überzeugungstechniken steht, die sie in ihrem Kurs lehrte: »Wir sagten ständig erstaunt: ›Oh, das ist brillant, diese Typen sind genial. Sie nutzen tatsächlich jedes Motivationsinstrument, das man sich vorstellen kann.‹«2 Natürlich musste sie es selbst ausprobieren und stellte sich als Versuchskaninchen zur Verfügung. Sie konnte schließlich nicht ahnen, wie dieses Produkt sowohl ihren Kopf als auch ihren Körper manipulieren würde. »Ganz ehrlich: Ich konnte wirklich nicht damit aufhören, und es dauerte lange, bis ich das als Problem erkannte«, resümiert sie später.

Kein Wunder, dass Chance ihr Problem so lange leugnete: Das Produkt, von dem sie abhängig geworden war, war keine verschreibungspflichtige Pille oder eine Straßendroge, sondern ein Schrittzähler. Genauer: der Striiv Smart Pedometer. Ein Jahr zuvor hatten ehemalige Videospieldesigner ein Silicon-Valley-Start-up gegründet und ihn erfunden. Der Striiv ist aber kein gewöhnlicher Schrittzähler. Das Unternehmen vermarktet ihn als »Personal Trainer in der Tasche«. Dem widerspricht sie vehement: »Nein! Es ist Satan in Ihrer Tasche!«

Striiv nutzt aus Videospielen bekannte Verhaltenstaktiken, um die Nutzer zu mehr körperlicher Aktivität zu animieren. Sie werden mit bestimmten Challenges konfrontiert, bei denen sie fürs Gehen Punkte sammeln. Sie können sich mit anderen Spielern messen und wie bei Turnieren ihre jeweiligen Platzierungen auf Ranglisten anzeigen lassen. Gleichzeitig ist der Schrittzähler mit einer Smartphone-App namens MyLand gekoppelt, bei der die Spieler mit ihren Punkten virtuelle Welten aufbauen können.

All das hatte Chance in einen Bann gezogen und sie bewegte sich unentwegt, um weiter Schritte und damit Punkte zu sammeln. »Ich kam nach Hause, und während ich aß, oder während ich las, oder während ich aß und las, oder während mein Mann versuchte, mit mir zu reden, lief ich zwischen dem Wohnzimmer und der Küche und dem Esszimmer und dem Wohnzimmer und der Küche und dem Esszimmer kontinuierlich im Kreis.«

Leider begann all das kontinuierliche Gehen (meistens übrigens im Kreis), seinen Tribut zu zollen: Sie hatte weniger Zeit für ihre Familie und Freunde. »Die einzige Person, der ich näherkam«, gab sie zu, »war mein Kollege Ernest, der auch einen Striiv hatte, daher konnten wir uns gegenseitig Challenges stellen und miteinander konkurrieren.«

Sie entwickelte eine regelrechte Obsession: »Ich habe Tabellenkalkulationen erstellt, um zu optimieren und immer auf dem neuesten Stand zu sein – aber nicht mein Training, sondern meine virtuellen Transaktionen in einer virtuellen Welt, die auf einem Striiv-Gerät existierte.« Das kostete sie nicht nur Zeit, sondern fügte ihr allmählich auch körperlichen Schaden zu. »Als ich den Striiv benutzte, ging ich 24.000 Schritte pro Tag. Rechnen Sie sich selbst aus, wie viele Kilometer das täglich sind.«

Chance erinnert sich, dass sie am Ende eines besonders aktiven Tages von ihrem Striiv ein verlockendes Angebot erhielt: »Es war Mitternacht, ich putzte mir gerade die Zähne und machte mich bettfertig, als diese Pop-up-Challenge auftauchte. Da stand: ›Wir geben dir die dreifachen Punkte, wenn du nur zwanzig Stufen hinaufgehst!‹« Chance war sofort klar, dass sie für diese Challenge nur eine knappe Minute brauchen würde; sie müsste nur zweimal die Kellertreppe hoch und runter. Dann erhielt sie eine weitere Nachricht, die sie zu weiteren vierzig Schritten ermutigte – wieder für die dreifache Punktzahl. Also lief sie schnell noch viermal die Kellertreppe hoch und runter. Aber da hörte es noch lange nicht auf. Sie lief diese Treppen die nächsten zwei Stunden – von Mitternacht bis zwei Uhr morgens –, wie von einer seltsamen, den Verstand kontrollierenden Macht besessen. Als sie endlich ein Ende fand, war sie über 2.000 Stufen gestiegen. Das sind mehr als die 1.872, die man im Empire State Building bis nach oben braucht. Sie hatte sich mitten in der Nacht dank des Striiv in einen Fitnesszombie verwandelt!

Chances Geschichte liest sich wie eine perfekte Fallstudie aus dem Lehrbuch: Etwas so gesund Wirkendes wie ein Schrittzähler mutiert zu einer schädlichen Ablenkung. Ich hörte von ihrer seltsamen Besessenheit mit ihrem Fitness-Tracker und wollte mehr wissen. Aber zuerst musste ich die Motivation hinter ihrem Verhalten verstehen, ihren Antrieb.

Seit Jahrhunderten sind wir davon überzeugt, dass Motivation durch Belohnung und Bestrafung getrieben wird. Jeremy Bentham, der englische Philosoph und Begründer des Utilitarismus, schrieb dazu: »Die Natur hat die Menschheit unter die Kontrolle zweier souveräner Meister gestellt, Schmerz und Freude.«3 Dabei hat Motivation tatsächlich viel weniger mit Lust zu tun als ursprünglich angenommen.

Wir denken, wir wollen uns vergnügen, wollen uns aber eigentlich nur von unserer Begierde nach etwas anderem ablenken.

Bereits der altgriechische Philosoph Epikur brachte es auf den Punkt: »Mit Vergnügen meinen wir die Abwesenheit von körperlichen Schmerzen und von seelischen Leiden.«4

Unser Unbehagen zu lindern ist der Antrieb unseres Verhaltens, alles andere nur eine unmittelbare Ursache.

Das Billardspiel ist eine gute Metapher dafür: Warum rollen die farbigen Kugeln in die Taschen, wegen der weißen Billardkugel, des Queues oder der Aktionen des Spielers? Die weiße Kugel und der Queue sind zwar notwendig, die eigentliche Ursache ist aber der Spieler. Kugel und Queue sind also nicht die Hauptursachen, sondern die unmittelbare Ursache des daraus resultierenden Ereignisses.5 Im wahren Leben ist es dennoch oft schwer, die Hauptursache zu erkennen. Wenn wir bei einer Beförderung übergangen werden, könnten wir dem Kollegen die Schuld geben, der den Job angenommen hat – statt über unseren Mangel an Qualifikationen und Initiative nachzudenken. Bei einem Streit mit unserem Partner könnten wir den Konflikt auf einen winzigen Vorfall schieben, etwa einen hochgeklappten Toilettensitz – statt auf die jahrelang ungelösten Probleme. Und wir könnten unsere politischen und ideologischen Gegner für die globalen Probleme zum Sündenbock erklären, statt die tieferen systemischen Gründe für diese Probleme verstehen zu wollen.

Diese unmittelbaren Ursachen haben eines gemeinsam: Wir können die Verantwortung abwälzen. Es ist nicht so, dass die weiße Billardkugel und der Queue nicht in die Gleichung einfließen, ebenso wie der Kollege oder der Toilettensitz, aber sie sind nicht allein verantwortlich für das Ergebnis. Ohne die eigentliche Ursache zu verstehen und anzugehen, sind wir hilflose Opfer in unserer letztlich selbst geschriebenen Tragödie.

Unsere Ablenkungen sind das Ergebnis derselben Kräfte. Sie sind unmittelbare Ursachen, die wir als schuldig deklarieren, während die eigentlichen Ursachen verborgen bleiben. Wir neigen dazu, etwas anzuprangern, zum Beispiel das Fernsehen, Junkfood, Social Media, Zigaretten und Videospiele – aber das sind alles nur unmittelbare Ursachen für unsere Ablenkung.

Ein Smartphone ist genauso wenig schuld an der Ablenkung wie der Schrittzähler an den vielen erklommenen Stufen.

Wenn wir nicht die eigentlichen Ursachen der Ablenkung angehen, werden wir uns weiterhin ablenken lassen. Es geht nämlich nicht um die Ablenkung per se, sondern um unsere Reaktion.

Zoë Chance schilderte mir in mehreren E-Mails, was sie in ihrem TEDx-Talk nicht preisgeben wollte: ihren eigentlichen Antrieb, die düstere Realität. »Striiv fand seinen Weg während einer der stressigsten Phasen meines Lebens zu mir«, schrieb sie. »Ich wollte mich gerade auf die Suche nach einer Einstiegsstelle als Marketingprofessorin machen: ein zermürbender, monatelanger Prozess ohne auch nur den Hauch einer Sicherheit. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Wissenschaftler während der Stellensuche körperliche Stresssymptome zeigen. Ich verlor Haare, hatte Schlaf- und Herzrhythmusstörungen. Ich fühlte mich, als würde ich verrückt werden, auch weil ich scheinbar keine Schwäche zeigen durfte.«6

Komplizierter wurde es noch dadurch, dass ihr Mann ebenfalls Marketingprofessor war, sie deshalb eine gemeinsame Anstellung finden mussten, entweder für sie an seiner Universität oder für beide an einer anderen. »Aber Marketinginstitute sind klein«, erklärte sie, »und gemeinsame Anstellungen sind so selten wie Goldstaub.« Weil das alles noch nicht reichte, war nicht einmal sicher, ob ihre Ehe halten würde. »Ich wusste nicht, ob wir zusammenbleiben würden oder nicht. Aber weil es das beste Szenario wäre, wenn wir die Dinge in den Griff bekämen, verheiratet blieben und ich einen Job an seiner Universität bekäme, wollten wir nicht, dass jemand an seiner Universität von einer möglichen Scheidung erfuhr. Das hätte meine Aussichten auf einen Job weiter verschlechtert.«

Chance fühlte sich wie festgefahren. »Ich wusste, dass es fast egal war, was ich tue, selbst meine besten Bemühungen garantierten kein gutes Ergebnis für meine Ehe oder auf dem Arbeitsmarkt. Im Nachhinein weiß ich, dass Striiv mir etwas gab, über das ich die Kontrolle hatte.« In dieser besonders schwierigen Zeit sei Striiv eine Hilfe gewesen. »Es war eine Flucht aus der Realität«, räumte sie ein.

Damit ist sie schon einen Schritt weiter als die meisten Menschen, die sich die ungesunde Realitätsflucht durch Ablenkungen nicht eingestehen wollen. Zu unangenehm ist diese Wahrheit. Wie wir mit unbequemen internen Triggern umgehen, hängt von unserem gesunden Antrieb oder unseren selbstzerstörerischen Ablenkungen ab. Für Chance war das Sammeln von Striiv-Punkten die erhoffte Flucht. Andere entkommen ihrer Realität in den Social Media, machen Überstunden, schauen zu viel fern oder flüchten sich gar in Alkohol oder Drogen.

Wenn Sie also vor etwas so Gravierendem wie einer drohenden Scheidung flüchten wollen, ist das Problem nicht Ihr Schrittzähler! Wenn Sie sich nicht mit der eigentlichen, zur Flucht antreibenden Ursache befassen, werden Sie weiterhin zu der einen oder anderen Ablenkung greifen.

Nur einen identifizierten Schmerz können wir kontrollieren – wie auch die daraus resultierenden negativen Impulse.