Die Kunst zu lesen - Frank Berzbach - E-Book

Die Kunst zu lesen E-Book

Frank Berzbach

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lesend reisen wir vom fernen Japan bis in die hessische Provinz. Lesend fühlen wir uns in andere Menschen ein. Lesend treten wir in Resonanz mit der Welt.

In diesem Literaturverführer begleiten wir Frank Berzbach durch die Lektüren, die ihn geprägt haben. Und wir ertappen uns auf jeder Seite dabei, selbst ins Schwelgen, Erinnern und Sehnen zu kommen.

Frei von Bildungsdünkel, faszinierend und mitreißend, entführt uns Frank Berzbach in die magische Welt der Bücher und Büchermenschen. Ein Buch zum Selbstlesen und Verschenken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 212

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Zitate

01 Ein Traumberuf

02 Wie man Bücher auswählt

03 Von Hotels und Briefen

04 Japan beginnt an der Ostsee

05 Der Mönch am Meer

06 Einfach losgehen

07 Picknick am Wegesrand

08 Absolutely on Music

09 Sinn für das Unendliche

10 Trunken an Nüchternheit

11 Wie man dicke Bücher liest

12 Der Alltag als Verführer

13 Die Kunst, das bürgerliche Leben zu verlassen

Danksagung

Fußnoten

101 Bücher meines Lebens

Über dieses Buch

Lesend reisen wir vom fernen Japan bis in die hessische Provinz. Lesend fühlen wir uns in andere Menschen ein. Lesend treten wir in Resonanz mit der Welt.

In diesem Literaturverführer begleiten wir Frank Berzbach durch die Lektüren, die ihn geprägt haben. Und wir ertappen uns auf jeder Seite dabei, selbst ins Schwelgen, Erinnern und Sehnen zu kommen.

Frei von Bildungsdünkel, faszinierend und mitreißend, entführt uns Frank Berzbach in die magische Welt der Bücher und Büchermenschen. Ein Buch zum Selbstlesen und Verschenken.

Über den Autor

Dr. Frank Berzbach, geboren 1971, unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln. Er hat als Wissenschaftler, Journalist, Fahrradkurier, Technischer Zeichner, in der Psychiatrie und als Buchhändler gearbeitet. Seit vielen Jahren ist er Zen-Praktizierender, bleibt aber katholisch. Er arbeitet zu Fragen achtsamkeitsbasierter Psychologie, Arbeitspsychologie, Kreativität, Spiritualität, Mode, Popmusik und Popkultur.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Huyen Truong

Illustrationen: Ada Romanova

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0949-1

eichborn.de

luebbe.de

lesejury.de

Ein Buch lesen – für mich ist dasdas Erforschen eines Universums.

Marguerite Duras

Du ringst um die Einzelteiledeiner zerborstenen Geschichte.

für Marlene Teresa

01Ein Traumberuf

Ich habe meine Berufung gefunden! Der englische Autor Alan Bennett beschreibt sie so:

Sie erledigen Aufträge, Sie bringen meine Bücher zur Bibliothek und besorgen mir neue, Sie schlagen schwierige Wörter im Wörterbuch nach und finden Zitate für mich. (…) Sie sind Amanuensis.

In seinem Kurzroman Die souveräne Leserin sagt das die Queen zu ihrem neuen literarischen Assistenten. »Amanuensis« ist ein altmodischer Begriff für eine altmodische Tätigkeit, aber Bücher sind nun einmal nicht ganz neu. Amanuensis zu werden ist mein Plan B, falls mir alles andere am Kapitalismus zu sehr auf die Nerven geht. »Dann werde ich Punk«, sagte mir ein befreundeter Autor einmal. Punks waren Kinder belesener Leute, die sich demonstrativ vulgär gaben – ich halte das für eine schlechte Idee. Ich werde lieber »literarischer Berater«. Buchmenschen bilden vielleicht die Hardcorebewegung des digitalen Zeitalters, sie sind angesichts des grassierenden  Daddelns straight edge. Vielleicht kennen die Leser:innen der Zukunft sogar einen eigenen Dresscode, wie andere Subkulturen auch. Mein Vorschlag wären weiße T-Shirts oder weiße Hemden. (Warum, darauf komme ich zurück.) Sie haben also meine Bewerbung als Amanuensis in der Hand. Es ist nicht nur mein »Job«, sondern das Lesen und der Umgang mit  Büchern bestimmen mein Leben. Ihres vielleicht auch?

Leben und Lesen nicht zu unterscheiden sorgt für aufregende Tagträume. Die zeigen eine etwas eigenartige, aber lebenswertere Welt. »Lesen heißt durch fremde Hand träumen«, schrieb Fernando Pessoa in seinem Buch der Unruhe. Für Buchmenschen ist das Leben ein Lesebuch, darin zu blättern erweitert den Horizont. Ich habe einen alten Mann auf dem Friedhof getroffen und ihm geholfen, die Urne seiner Frau auszugraben. Ich habe mich, ein paar Bücher zuvor, aus liebender Verzweiflung vor einen Zug in Russland geworfen. Auch an die Krimkriege erinnere ich mich gut. In Berlin habe ich lange auf die Rückkehr meiner Jugendliebe gewartet, aber als sie ankam, fühlte ich, dass diese Liebe lange vergangen war. Während eines epileptischen Anfalls hat mich ein Freund beinah ermordet. (Ich muss mich in ihm geirrt haben.) Sogar Dracula bin ich begegnet, ein Zug brachte mich nach Transsilvanien. Von dort aus fuhr ich nach Wien, traf mich mit Norah, die aus Berlin dorthin geflohen war – uns wurde übel mitgespielt!  Immer wieder senkt sich eine Glasglocke über uns, die Protagonistin überlebt – nur die Autorin, Sylvia Plath, brachte sich um. Goethe wird daher immer wieder nach Italien reisen und Annie Ernaux uns durch ihre Jahrzehnte mitnehmen.1

Es gibt Buchmenschen. Für sie gehört der Umgang mit Büchern zur Lebenskunst, sie sind mehr als Zeitvertreib und mehr als ein »Hobby«. Literatur ist die Quelle für die Schönheit der Sprache, sie speichert die Geschichten, die unser Leben prägen und die Sicht schärfen. Buchmenschen sind nicht »zu müde zum Lesen«, sie werden durch Lesen erst richtig wach. Da die Zeiten der bürgerlichen Bildung vorbei sind, brauchen wir keine literarischen Kenntnisse mehr, um Teil einer Oberschicht zu werden. Heute geben mächtige alte weiße Männer sogar damit an, nie ein Buch zu Ende gelesen zu haben. Ich fürchte, literarische Kenntnisse verhinderten zu allen Zeiten, Millionen anzuhäufen und Macht zu missbrauchen. Damit ist eine große Freiheit verbunden – wer gute Bücher liest, der tut das aus Eigeninteresse und ohne strategische Absicht; Lesen ist eine Passion geworden. Bücher speichern immer noch den widerständigen Moment, der immer schon in guter Kunst zu finden war. In einer Zeit kalkulierter Serienplots und endlosen Daddelns ist es revolutionär, einen Romanklassiker aus dem neunzehnten Jahrhundert zu lesen. Was wäre heute nicht provozierender, als sich längere Zeit auf eine Sache konzentrieren zu können? Die Kraft, die dadurch entsteht, öffnet die Augen.

Dennoch handelt es sich nicht um eine Flucht aus der  Gegenwart; der Zeitgeist wird erst sichtbar, wenn man ihn aus gesunder Entfernung betrachtet. Wer in einer Gesellschaft mit rassistischen Strukturen die Romane von James Baldwin oder Toni Morrison entdeckt, der geht als anderer Mensch aus der  Lektüre hervor. Als postmoderner Amanuensis will ich Themen,  Situationen und Vorlieben sammeln, die dem Buchmenschen naheliegen. Ich werde von Lektüren und Erfahrungen berichten, um neugierig zu machen. Ich will über die Kunst zu lesen schreiben.

Lesen ist keine profane Tätigkeit. Wer sich ernsthaft den Büchern hingibt, der tritt einer Art Ordensgemeinschaft bei. Seit Jahrtausenden sind lesende Menschen miteinander verbunden, über Kulturen, Zeiten und Orte hinweg. Wer Boccaccios erotischen Geschichten folgt, der teilt etwas mit einem Autor, der vor über siebenhundert Jahren schrieb. Und er wird Mitglied im »Team Boccaccio«. Wer an Gott glaubt oder den buddhistischen Weg des Mitgefühls geht, der folgt Meistern, die vor über zweitausend Jahren wirkten. Wir wissen von  ihnen, weil Menschen ihr Wirken als Zeugen erlebten und später darüber schrieben. Solch eine Verbindung eingehen zu können macht den Zauber des Lesens aus. Die Bibel sammelt Geschichten darüber, welche Erfahrungen Menschen mit Gott gemacht haben. Da diese Geschichten gefährlich sind, hat eine kirchliche Machtelite jahrhundertelang verhindert, dass die Heilige Schrift in die Volkssprachen übersetzt wurde und so jedem Gläubigen zugänglich wird. Heinrich Böll hielt die Bibel daher für ein gefährliches Buch – eine Gefahr für die Mächtigen, die Oligarchen und die Despoten. Aber es geht nicht nur um die Geschichten von Gott. Die Gesamtheit der Bücher enthält die Erfahrungen, die Menschen gemacht haben. Das ist ein großer Schatz, wir leben in einer unendlichen Bibliothek. In der steht für jeden Menschen und jeden Anlass das richtige Buch. Buchhändlerinnen und Buchhändler sind dafür da, einem bei der Suche danach zu helfen.

In dieser unendlichen Bibliothek gibt es eine Vielzahl von veralteten Regeln, die vorgeben, welche Lektüre sich lohnt. Alte, weiße, situierte, bürgerlich gebildete Herren privilegierter Herkunft haben lange bestimmt, was lesenswert sein soll. Ich kenne zwar keinen Kanon, der schlechte Bücher enthält – ganz im Gegenteil. Im Laufe der Zeit überleben nur Bücher, die langfristig etwas Gewinnbringendes enthalten. Aber der Kanon hat leider nicht nur die Funktion, etwas weiterzugeben, sondern auch, anderes auszuschließen. Kennen Sie den Roman Effingers von Gabriele Tergit? Oder Irmgard Keuns Nach Mitternacht? Sie gehören nicht zum Kanon, vielleicht einfach deshalb, weil sie von Frauen geschrieben wurden. Die Effingers erzählen zudem eine jüdische Familiengeschichte, die damals niemand hören wollte. Auch James Baldwin wird heute erst entdeckt und übersetzt, er gehört zu den wichtigsten Nachkriegsautoren – aber er war Schwarzer. Lange Grund genug, ihn zu ignorieren. People of Color waren mit dem bürgerlichen Bildungsverständnis nicht vereinbar, ebenso wenig wie Frauen.

Ein Amanuensis der Gegenwart, der seine Mission ernst nimmt, muss darauf hinweisen. Er muss keine Quote einführen, sondern darf lesen, was er gern liest – unabhängig von  Bedeutungszuschreibungen, Geschlecht und Herkunftskultur.  Es geht gar nicht darum, alles richtig machen zu wollen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den ausgeschlossenen Autor:in- nen, den People of Color und dem früher »Abseitigen« reicht schon aus. Wer mit Büchern lebt, der muss den klassischen Kanon ergänzen. Es geht darum, die Geschichten zu finden, die sich mit dem eigenen Leben verbinden und zugleich andere Perspektiven hinzufügen, also die Bücher, aus denen man etwas lernen kann. Das können sehr alte Bücher sein! Treten Sie nur in den Orden ein, in den Sie eintreten wollen, und vergessen Sie nicht, dass es noch eine Vielzahl anderer gibt. Nicht ohne Grund schätzen sich die Mönche und Nonnen der Weltreligionen untereinander – sie sind nicht die Ursache der Glaubenskriege. Leser:innen untereinander sollten sich verbunden fühlen, auch wenn ihr Geschmack auseinanderfällt. Sie verbindet mehr, als sie trennt. Ich fühle mich manchmal bei Lew Tolstoi wohl, manchmal bei Charles Bukowski, mit Madame de Sévigné oder Melanie Raabe. Die Zeit der Inquisition ist vorbei, der freie Leser kann lesen, was er will.

Lesen ist immer eine Flucht in die Realität. Ohne Erzählungen können wir die Vielfalt der Welt nicht verstehen. Eine Welt, in der nichts mehr erfunden wird, in der nicht mehr erzählt wird, wäre das Ende der Geschichte. Ich halte die, die an einer eindimensionalen Rationalität festhalten, für Fantasten. Wer nur am Nützlichen oder Gewinnbringenden interessiert ist – ein Homo Faber –, ist von schlichtem Gemüt. Die Eindeutigkeit ist nur eine Erfindung. Es wäre sehr bequem, wenn alles in der Logik aufgehen könnte, aber unser Kosmos gehorcht selten unseren vernünftigen Erwartungen. Romane geben uns die Ruhe und Zeit, um etwas tiefer gehend zu verstehen, auch jenseits einer einfachen Rationalität. Lesen ist dann sinngebend, wenn am Ende eines guten Buches das Gefühl bleibt: Es ist kompliziert. Der Kontakt zwischen Büchern und Menschen findet auf verschiedenen Ebenen statt. Zum einen ganz materiell: Bücher gehören zur Königsklasse der Gestaltung, Kommunikations- und Produktdesign zugleich. Sie sind Handschmeichler, ein Genuss für die Sinne. Sie haben einen Geruch, eine Haptik, wir reagieren auf sie mit einer ästhetischen Empfindung. Wenn unser Geist dann diese Reihe an Buchstaben zum Leben erweckt, kommt eine geistige, manchmal spirituelle Erfahrung hinzu.

Die tibetischen Meditationslehrer fordern dazu auf, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Wer seinen Atem zählt, der verankert seine Wahrnehmung in einem körperlichen Vorgang. Das hat heilsame Vorteile und ist zugleich praktisch: Den Atem hat man immer dabei. Die Brücke zur Literatur ist kurz – Doris Dörrie nennt ihre autobiografische Einladung zum Schreiben daher Leben, schreiben, atmen.  Etwas Ähnliches gilt auch fürs Lesen. Bücher sind Objekte, auf die wir konzentriert unsere Wahrnehmung richten, wir versenken uns in ihnen – Lesen ist immer auch Meditation mit einem Objekt, dem Buch. Es ist ein stiller, wacher Vorgang.  Ein Buch kann man leicht überallhin mitnehmen. Wer mit  Büchern lebt, der hat immer ein Zuhause. Lesen ist stets mit Reisen und Unterwegssein verbunden, spirituell gesehen ist das Lesen eine permanente Pilgerreise. Geschichten entführen in eine andere Zeit und an einen anderen Ort. Buchmenschen sind geistig (und oft auch körperlich) unterwegs. Im Laufe dieses Buches mache ich mich auf die Suche danach, was genau einen solchen Menschen ausmacht. In der Regel fahren Lesende lieber Bahn als Auto. Während der Bahnfahrt kann man es schließlich tun. Die Ruhezone eines Zuges ist eine kulturelle Konzession an Menschen, die lesen. Als Amanuensis möchte ich Sie mitnehmen auf meine Lesereise. Dabei werde ich mich wenig um allgemeine Erwägungen kümmern, nicht an Bildungsprogramme denken oder einen neuen Kanon – Lektürevorlieben sind subjektiv. Aber in der Welt der Bücher bemerken wir auch: Subjekte sind nicht immer so unterschiedlich, wie wir meinen. Ich glaube, die Gemeinsamkeiten unter Buchmenschen überwiegen, ohne Rücksicht auf Alter, Kultur oder Geschlecht. Sich unter Buchmenschen zu  bewegen verbindet.

für Maria-Christinaund Florian

02Wie manBücher auswählt

Wo will ich lesend hin? Werde ich nackt in einem Bett in Berlin wach und folge dann mehreren Generationen durch die georgisch-deutsche Geschichte? Oder fällt mir auf, dass ein guter Freund auch bei großer Hitze immer langärmlige Hemden trägt? Wird meine Frau plötzlich Vegetarierin, obwohl ich sonst an ihr schätze, dass sie so langweilig, so gewöhnlich ist? Nehme ich eine Stelle bei dem Londoner Professor an, der ein akademischer Hauptkonkurrent meines Vaters ist?2

Ich schaue mir Neuerscheinungen zwar an, neige aber zu den Longsellern. Die Zeit sortiert aus, was nur als kurzfristiger Hype daherkommt. Manche Schreibenden punkten durch ihre Präsenz in den sozialen Medien, im Fernsehen und durch ihre Attraktivität. Die hält nicht lange vor, telegene Schönheit ist beliebig austauschbar, und Trendthemen verschwinden schnell. Vladimir Nabokov verglich in seinem Künstlerroman Die Gabe den Bestseller Was tun? von Nikolai Tschernyschewski mit einem frisch gebackenen Brot. Das sei unwiderstehlich, aber nur so lange, wie es warm und knusprig ist – allerdings hält diese Frische nur kurz an. Don’t believe the hype! Schnell ist ein Buch alt und trocken. So geht es mir mit vielen »Autorinnen/Autoren der Stunde«. Schon ein halbes Jahr später wissen wir nicht mehr, wer sie waren. Andere Bücher erlangen im Laufe der Zeit eine geheimnisvolle Zeitlosigkeit. Sie sind nicht nur für den Moment geschrieben. Der Kurzroman Kinder der Nacht von Jean Cocteau definiert noch immer, was ein »enfant terrible« ist, seit 1929. Und Raymond Radiguet bleibt jünger und wilder als die Jugend heute, mit seinem einzigen Roman Den Teufel im Leib von 1923. In einer beschleunigten Zeit findet sich ein Bestseller der 1980er-Jahre noch immer in den Regalen vieler Buchläden: Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit. Das Buch scheint nicht zu altern. Ein vermeintliches Defizit – die Langsamkeit – wird zum Erfolgsrezept, und das im Rahmen einer abenteuerlichen Schiffsreise. Das Thema der Beschleunigung wird uns so schnell nicht verlassen.

Die Autorinnen und Autoren »der Stunde« wirken zwar anziehend, aber man vergisst, dass man nicht das Centerfold des Playboy-Magazins ausklappt, sondern am Ende eine Bleiwüste in der Hand hält, die man lesend zum Erblühen bringen will. Die Geschichte selbst, die Atmosphäre des Textes und die Gestaltung des Buches müssen überzeugen. Aber wir unterschätzen, welche große mediale Wirkung das Aussehen eines schreibenden Menschen auf uns hat.

Ein belesener Freund hat mir einmal einen kleinen Sonderdruck von Wilhelm Genazino geschenkt. Der behauptet, das Lesen eines Romans beginne beim Foto des Autors oder der Autorin. Und so ist es: Sehe ich dort eine alte Dame, einen alten Herren (»lebt auf dem Land in der Nähe von Paris«), eine langhaarige junge Frau mit laszivem Blick (»lebt in Berlin und London«), einen etwas zerschundenen Vierzigjährigen (»lebt in einer Tagesklinik bei Freiburg«, »lebt in New York«)? Sehe ich die schreibenden Fernsehpromis, perfekt abgelichtet, von sich überzeugt (die Ghostwriter werden im Impressum genannt, ohne Bild!)? Es geht gar nicht nur ums Cover, es geht um das Autorenfoto. Und heute geht es um Instagram. Gegenwartsautor:innen schreiben dort ihre visuelle Biografie, daher gehe ich manchmal mit Melanie Raabe in die (fiktiven) Wälder unserer Kindheit oder folge Karen Köhlers politischer Wachheit. Ich bekomme auf meine Bücher manchmal Rückmeldungen, die sich auf meinen Instagram-Account beziehen – was einem dort begegnet, wird in meine gedruckten Texte hineingelesen. Noch stärker kann der Eindruck werden, wenn wir Schreibenden persönlich begegnen.

Als Alan Bennett die englische Queen zur Protagonistin seines Kurzromans Die souveräne Leserin machte, da war ihm klar, dass sie über ihr langes Leben einer ganzen Reihe bedeutender Schriftsteller begegnet war. Und sie weiß, ausgehend von ihrer aufkeimenden Leseleidenschaft, mit den Herren überhaupt nichts zu bereden:

Schriftstellern, so war ihr bald klar, begegnete man am besten auf den Seiten ihrer Bücher, und sie waren ebenso sehr Phantasiefiguren ihrer Leser wie ihre Romanhelden. Und sie fanden anscheinend auch gar nicht, dass man ihnen mit dem Lesen ihrer Werke einen Gefallen getan hatte. Vielmehr hatten sie einem den Gefallen getan, sie zu schreiben.

In der Auslage eines Buchladens sah ich ein Plakat mit dem Foto von Alan Bennett und war davon so angetan, dass ich mir sofort drei seiner Bücher kaufte (es blieb nicht bei den dreien). Wenn die Bücher so sind wie dieses Porträt von ihm, muss ich sie haben. Die Rechnung ging auf. Lesen ist daher eine sehr viel visuellere Tätigkeit, als man glaubt. Bevor wir eine Zeile gelesen haben, beeinflussen uns eine ganze Reihe Bilder.

Es kann eine Bereicherung sein, Schreibende live zu erleben. Lesungen und Literaturfestivals boomen. Es kann allerdings sein, dass man nach diesem Erlebnis nie wieder ein Buch von diesen Autor:innen lesen möchte, aber das ist das Risiko jeder echten Begegnung. Ich selbst habe noch keine negative Erfahrung bei Lesungen gemacht. Ich habe einmal Rainer Kunze seine Gedichte vortragen und Günter Grass aus Ein weites Feld lesen hören. Auch Christa Wolf durfte ich einmal erleben, sie las aus Medea. Diese Erfahrungen haben mein Lesen verändert, plötzlich war eine Stimme, eine Stimmung in mir, eine spezifische Melodie, die ich dem Text vorher nicht angehört hatte. Ich fand es eine Bereicherung! Grass hätte ich gern bei der Arbeit in seiner Werkstatt zugeschaut: Kaltnadelradierungen, Ton, Zeichenfeder, Pfeife rauchend, Schreibmaschine, Füllhalter, dann erste Zeilen eines Textes. (Die erste Seite von Die Rättin ist in Tonplatten geritzt.)

Mir sind Fotografien von Autor:innen wichtig, in mir lösen sie etwas aus, entführen mich in die Zeit, in der die Bücher entstanden sind. Zugleich liebe ich Taschenbücher dafür, dass dort auf ein Autorenfoto oft verzichtet wird. Ich lese dann unbefangener und kann selbst entscheiden, ob oder wann ich den Namen bei Google eingebe. Das Schlimmste am Taschenbuch ist allerdings, wenn Fotos der Verfilmung aufs Cover gedruckt werden! Das zerstört meine inneren Bilder. Ob in einer androgynen Literatur der Zukunft nur noch der Nachname (oder nicht einmal der) auf dem Cover erscheinen wird? Wir lesen einfach: einen Text, eine Geschichte. Mir würde etwas fehlen. Ich verliebe mich gern in den »Paratext«, wie Gérard Genette das ganze Drumherum eines literarischen Werkes nannte, von Klappentext, Covergestaltung, Autorenfoto bis zu Werbeanzeige und Autoreninterviews. Die Verzerrung ist damit vorprogrammiert: Da wir von Tolstoi oder Dostojewski immer nur Porträts sehen, die sie als alte Männer zeigen, entsteht die Fantasie, dass sie schon als kleine Jungen einen so langen Bart gehabt haben müssen … wären sie sonst noch sie selbst? Wie James Bond scheinen Autor:innen nicht zu altern, man lässt sie gern in einem bestimmten Alter erstarren.

Moralische Vergehen von Autor:innen beeinflussen meine Auswahl. Ich kann die Philosophie Martin Heideggers nicht ernst nehmen, weil er tat, was er tat, ganz abgesehen von seiner sprachlichen Manieriertheit. Ich muss mich, wenn ich Peter Handke lese, so sehr mit dem Ausblenden seiner passiven Aggressivität beschäftigen, dass es mir den Weg zum Text verbaut. Diese konsequente Haltung ist für einen The-Smiths-Fan eine traurige Angelegenheit. Haben Sie gehört, was Morrissey von sich gibt? (Seine Autobiografie konnte ich daher nicht zu Ende lesen.) Es geht dabei nicht um Intoleranz gegenüber anderen Meinungen. Ich bin weder für die lateinische Messe noch erzkonservativ, aber dennoch schätze ich Martin Mosebach. Ich bin auch kein Kommunist, aber Die rote Zora von Kurt Held ist ein großartiger Jugendroman. Bei Louis-Ferdinand Céline oder Knut Hamsun – beides Faschisten – sieht es aber anders aus. Auch historische Distanz macht es nicht besser. Wie Bertolt Brecht die Frauen behandelt hat oder seine Lobgedichte auf Stalin kann ich nicht vergessen, wenn ich seine Liebesgedichte lese. Milder und verzeihlicher sind unsympathische Einzelvergehen: Wie Virginia Woolf im Tagebuch über ihre Bediensteten schreibt! (Es ist allerdings ihr Tagebuch, also nicht etwas Öffentliches.) Wie bissig Theodor W. Adorno über Kollegen schrieb! (Briefe sind allerdings Privatsache.) Erich Kästners Frauenbild – es ist schlimm, entweder sind sie Mütter oder Schlampen. Und das denkt ein Mann, der ein Doppelleben geführt hat und zwei Ehen zugleich lebte. Aber seine Lyrische Hausapotheke bleibt eine heilsame Lektüre. Tolstois Nachwort zur Kreutzersonate – wie ihn jemals wieder lesen? Leben und Werk sind nicht eins, aber Leben und Werk gänzlich zu trennen ist falsch. Es gibt zwei Themen, die kann ich nicht ignorieren: Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit. In keiner Epoche gab es eine Verpflichtung dazu, Frauen oder Juden zu hassen. Und Männer, die das taten, sagen etwas über sich – nicht über das »andere Geschlecht« oder eine andere Religion. Leider haben abwertende Aussagen dennoch viel Leid erzeugt – weil andere nicht konsequent genug widersprochen haben. August Strindberg war schon zu Lebzeiten in ganz Europa als Frauenhasser berühmt; aber warum nennen wir ihn dennoch einen Klassiker? Die selektive Wahrnehmung, das schnelle Entschuldigen destruktiver Anteile müsste man diskutieren; ich selbst sehe ungern darüber einfach hinweg. Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit werden im Bildungsbürgertum oft lächelnd übersehen (aber wehe, jemand ist Antifaschist).

Lesezeit ist Lebenszeit, das erhöht den Druck auf die Wahl. Altes ist nicht besser als Neues, nur ist es besser sortiert. Aber auch in der Gegenwart lässt sich erahnen, was bleiben wird. Romane von Nino Haratischwili, Don DeLillo, Hanya Yanagihara, Han Kang oder Zadie Smith werden wir nicht wieder los, sie hinterlassen bleibende Spuren im literarischen Gedächtnis. Sehe ich Menschen Ein wenig Leben, Von der Schönheit oder Unterwelt lesen, möchte ich sie ansprechen, um eine Erfahrung zu teilen. Das habe ich auch gelesen, dort war ich auch! Das gefällt mir an Bookstagram: Ich kann auf dem Account sehen, was jemand gelesen und gemocht hat. Als ich zum ersten Mal mit Florian Valerius – dem »literarischen Nerd« – sprach, da wusste ich schon, welche Bücher in den Regalen seiner inneren Bibliothek stehen. Wir haben beide einen kleinen Schrein für Haruki Murakami, und solche Gemeinsamkeiten sind nichts Oberflächliches, sondern sie weisen auf andere hin. Wir lieben beide die Musik von Lana Del Rey und Cigarettes After Sex.

Wie kommen die Bücher zu mir? Oft bringt mich das Buch, das ich lese, zum nächsten. Wenn mir jemand gefällt, will ich mehr von ihm oder ihr lesen – oder gleich alles. Das Bedürfnis, nicht nur ein Buch, sondern ein Gesamtwerk zu lesen, habe ich immer wieder; wie bei Olga Tokarczuk oder Alan Bennett. Manchmal zeigen die Bücher direkt auf das nächste: Der Nachtzug nach Lissabon hat mich an Fernando Pessoa erinnert. (Dann bemerke ich, dass es eine neue, ungekürzte Übersetzung gibt, und kaufe mir das Buch der Unruhe noch einmal.) Und dann lese ich irgendwo, dass José Saramago einen Roman über Pessoa geschrieben hat. Ich gehe ständig in gute Buchläden, weil dort dieser Prozess unterstützt wird. Ich nehme Bücher in die Hand und lese die erste Seite. Der erste Satz ist unbestechlich:

Der Himmel hängt tief, er sieht aus, als müsse er sich sofort hinlegen.

Wer das Wetter in Hamburg kennt, weiß, wie wahr dieser Romaneinstieg in Revolverherz von Simone Buchholz ist. Ihre Heldin Chastity Riley meint man persönlich zu kennen, solche Gestalten laufen auf St. Pauli herum. John Cohen, der Buchhändler, der mir den Roman in die Hand gedrückt hat (obwohl ich nie in die Krimiecke schaue oder vielleicht genau deshalb), kennt Orte und Menschen, die Eingang in diese Bücher gefunden haben. Sich einen Stadtteil erschließen, das geht am besten über Geschichten. Inzwischen habe ich die Autorin kennengelernt, und eines Nachts liefen wir, nach zu viel Wein, zusammen zurück Richtung Wohlwillstraße. Simone erzählte mir zu jedem zweiten Haus, an dem wir vorbeikamen, eine gute Anekdote. Ich gehe nun ganz anders durch diese Straßen, und ich lese ihre Romane anders. Die Autorin, der Kiez auf St. Pauli, ihre Charaktere und Geschichten schieben sich für mich ineinander. Erst Geschichten machen einen Ort bewohnbar. Sie öffnen die Augen. Nur Nicht-Orte haben keine Geschichten, kein Gedächtnis.

Wenn Bücher zu Orten Bezug nehmen, die mich interessieren, greife ich zu. Ein Buch eines Pfarrers, der seit achtzehn Jahren seinen Dienst tut, hätte mich nicht unbedingt interessiert. Aber Sieghard Wilm leitet nicht irgendeine Gemeinde, sondern steht einer kleinen Kirche vor, die zwischen Reeperbahn und Elbe liegt. Und er lebt mit seinem Ehemann zusammen, in der kirchlichen Welt ist das leider für manche noch immer eine Provokation. Die St.-Pauli-Kirche liegt direkt am Park Fiction, einem schönen Areal zum Basketballspielen und Chillen, mit bestem Blick über die Elbe. Aber auch ein Ort, an dem sich die Dealer die Hand geben und der abends unangenehm werden kann. Ein Ort, an dem man nicht unbedingt seine Kinder aufwachsen sehen möchte. Es gibt Tage, da muss man den Sandkasten auf dem Spielplatz erst von gebrauchten Spritzen der Junkies befreien. Aber neben der Kirche hat Wilm einen wunderschönen Garten angelegt. Der Geruch des Flieders vertreibt den Gestank nach Urin, Haschisch und Alkohol. Diese Kirche ist eine Friedensinsel, ein Ort der Heiligkeit innerhalb eines schwierigen Viertels. Und das Heilsame dieser kleinen Ordnung strahlt aus. Ich musste das Buch sofort lesen, weil es auch mein Kiez ist. Einem Leser im schicken München muss es vorkommen wie der Bericht von einem anderen Planeten. Aber wir brauchen Gott in den Vierteln, die gottverlassen wirken. Hinter der groben Fassade sieht vieles anders aus (wie hinter den schicken Fassaden leider auch). Sieghard Wilm können wir in die Tiefen dieses Alltags folgen, den Karrieren von Dealern, dem Schicksal von Flüchtlingen, der Realität des Kirchenasyls und dem Leben als homosexueller Pfarrer.

Ich arbeite seit Ewigkeiten in Köln. Ich schätze Orte und Menschen dort, es gibt zwei Buchläden, die mit ihrem Sortiment kaum zu übertreffen sind. Die Paternoster im Funkhaus am Wallrafplatz sind ein literarisch bedeutender Ort. Heinrich Böll und Irmgard Keun haben der Stadt ein Denkmal gesetzt. Es ist auch die Stadt von Karl-Heinz Stockhausen und der Band CAN. Die Künstlerin Mary Bauermeister hat ein Erinnerungsbuch an ihren Mann geschrieben – Ich hänge im Triolengitter