Die Lavendelfrau - Dagmar Seifert - E-Book

Die Lavendelfrau E-Book

Dagmar Seifert

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Beschreibung

Lavendel: Symbol für Reinheit, Sauberkeit und Vernunft. In Kerstins Garten duftet, blüht und wuchert er nicht gerade zufällig. Mit Pflichtbewusstsein, Reinheits- und Ordnungsdrang kümmert sie sich um jeden Menschen und jedes Tierlein in ihrer Umgebung, pflegt und tröstet und verdrängt erfolgreich, dass sie selbst womöglich Probleme haben könnte. Bis, ziemlich genau an ihrem vierzigsten Geburtstag, ihre heile Welt zusammenbricht. Plötzlich wird ihr klar, wie sehr man sie allerseits ausnutzt. Gleichzeitig taucht ein Kindheitstrauma wieder auf und ihre Gesundheit scheint ernstlich bedroht. In dieser Lebenskrise schafft sie sich rigoros menschliche und tierische Schmarotzer vom Hals, lässt alle Verpflichtungen sausen und türmt über den Atlantik, um am Ufer des Huron-Sees in Kanada Abstand zu gewinnen und nach und nach zu begreifen, dass jeder sich seine Welt, seine Realität, selber macht. Die Lüge ist ein zentrales Thema des Buches, die Lebenslüge, der Betrug, die segensreiche Schwindelei und die Erkenntnis, dass alle Wahrheit letztlich subjektiv sein muss. Dagmar Seiferts neuer Roman ist leidenschaftlich, tiefsinnig und doch wieder in ihrem unnachahmlich leise-ironischen Unterton erzählt. Erneut begegnen uns viele bemerkenswerte und lebensechte Figuren: der alte Joshua, der mit seiner höchstpersönlichen Lüge in trauter Zweisamkeit lebt die winzige Greisin Miss Dottie, die gebissklappernd wonnevoll über Sünden plaudert, die Indianerin Pattie, großherzig und dem Feuerwasser zugetan, deren faszinierender Verwandter, der grünäugige Roy, und die Heldin selbst, die es schafft, aus einer Lavendelfrau zu einer Wilden zu werden, loszulassen und Hingabe zu lernen - ohne sich selbst schließlich untreu zu sein

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Dagmar Seifert

Die Lavendelfrau

Roman

LangenMüller

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www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2001 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Thinkstockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8288-0

Im 1. Kapitel geht es ganz schön wild zu, bevor es überhaupt richtig anfängt

Joshua Henderson hat mir erklärt, dass die Menschen sich deshalb so wenig miteinander verstehen, weil wir alle in unterschiedlichen Welten leben. Dem einen ist angenehm warm, während der andere sich kaputtschwitzt und noch ein anderer fröstelt – alle im selben Zimmer. Es läge an uns selbst und unserer speziellen Temperatur sowie unserer Sicht der Dinge.

Ebenso, meint Josh, könne man urplötzlich aus einer dieser grundeigenen Welten in eine andere geraten.

Genau das ist mir passiert. Eigentlich ist es mir sogar schon zwei Mal passiert – aber das erste Mal war so schrecklich, dass ich die Erinnerung daran abkapselte wie eine Muschel ein schmerzhaftes Sandkorn, um das sie eine Perle bildet. Ich dachte kaum je daran. Ich bemühte mich stattdessen, alles völlig unter Kontrolle zu halten, damit mir so etwas nicht noch einmal passieren könnte. Ich sorgte dafür, nie wieder völlig glücklich zu sein, damit der eventuelle Fall in den Abgrund nicht so tief würde.

Ich war also nicht glücklich, aber doch sehr zufrieden mit meinem Leben – als es zum zweiten Mal geschah.

Ich genoss gerade den romantischen Spätsommer, ich war einverstanden mit meiner Gegenwart und freute mich auf meine Zukunft. Und im nächsten Augenblick gab es ringsumher nur noch Finsternis und Schwefeldampf, alles ging in Trümmer. Da verlor ich vorübergehend meine sorgfältig antrainierte Kontrolle und wurde bösartig. Daraus ergab sich, dass ich wegen Körperverletzung angezeigt wurde.

Die Polizei schickte mir einen unangenehm amtlich aussehenden Brief. Ich war in Pottschrapels gewalttätig geworden, das gehört zum Landkreis Pinneberg. Verklagt wurde ich von Herrn Reimer Ewers und seiner Frau Christa. ›Ihnen wird zur Last gelegt‹, stand da, ›die nachstehend näher bezeichnete Straftat begangen zu haben: Sie griffen den Sohn der Kläger, den minderjährigen Alexander Ewers, am 29.8. dieses Jahres tätlich an, indem Sie ihm mit einer Kosmetikschere ...‹

Ich zerknüllte den amtlichen Brief und warf ihn in eine Ecke. Nicht, weil Herr Reimer Ewers und seine Frau Christa oder die Polizei etwa unrecht gehabt hätten. Im Gegenteil. Sondern weil ich immer noch vor Entsetzen über mich selbst nach Luft schnappte, sobald ich daran erinnert wurde. Ich war eine Bestie! Ein Monster!

Das empfand ich damals schon, gleich, nachdem ich zugeschnitten hatte und Alexanders Schreie hörte, während seine helle Jeans sich rapide verfärbte.

Liebe Polizei, ich war außer mir.

Es dürfte kurz nach neun gewesen sein an diesem schrecklichen neunundzwanzigsten August, es dämmerte schon. Ich befand mich allein im Haus und spielte Klavier: Bachs Fugen, weil ich sehr aufgewühlt war und weil Bachs Fugen mich meistens beruhigen. Zwischendurch feilte ich an meinen Fingernägeln herum, und dann spielte ich weiter, mit einer manikürten und einer unmanikürten Hand.

Da klingelte es Sturm und als ich öffnete, stand Alexander vor mir. Groß und schlank, helle Jeans, helles T-Shirt, heller Blouson, blanke dunkle Augen, eingeknickte Hüfte, beide Daumen im Gürtel. Übertrieben minderjährig sah er nicht aus.

Er sagte natürlich nicht: ›Entschuldigen Sie die Störung‹ oder so was. Er sagte nicht mal ›Guten Abend, Frau Thiele‹. Seine Rede lautete knapp und nuschelig: »Nicki da?«

»Nein«, sagte ich genauso knapp.

Da schlängelte er schon an mir vorbei wie ein Reptil. »Ich warte in ihrem Zimmer auf sie.«

Ich kam wütend hinterher und folgte ihm in Nicoles chaotisches, unaufgeräumtes Zimmer. Das hätte ich natürlich nicht tun dürfen. Nicht mit zerrauftem Haar und zerrauftem Gemüt. Ich hätte ganz besonders diesem hübschen jungen Mann aus dem Weg gehen sollen, weil ich ohnehin schon wütend auf ihn war.

Er knipste die Nachttischlampe an und warf sich auf das ungemachte Bett, auf dem ganze Bündel durcheinandergewurstelter Kleider lagen, etliche Schulbücher sowie ein Teller mit eingetrockneter Tomatensauce und festklebenden Nudelstückchen. »Sie sind wohl nicht sehr gut drauf?«

Aus seinem Grinsen schloss ich, dass Nicole klitzeklein berichtet hatte, was ihrer Tante so in den vergangenen Tagen zugestoßen war. Wie schön, ich versorgte meine Lieben und ihren Bekanntenkreis mit interessantem Gesprächsstoff.

Alexander warf mir, verdeckt durch seine unwahrscheinlich langen und dichten Wimpern, einen amüsierten Blick zu. Dann klimperte er mit den Handschellen herum, die, geöffnet, am Fußende von Nicoles Bett befestigt waren. »Wo hat Nicki die denn her? Stimmt, ja, überhaupt, der Vater von ihrem kleinen Bruder ist’n Bulle, nicht? Die Teile kenn ich noch gar nicht ...«

Er legte sein linkes, schmales Handgelenk in die eine Metallspange und drückte sie zu. Klick. Dann legte er sein rechtes Handgelenk in die andere Metallspange und drückte sie ebenfalls zu. Klick. Dann zog er seine Hände zurück, bis die kurze Kette gestrafft wurde: »Cool. Sieht doch gefährlich aus? So richtig wie für Sado-Maso ...« Er versuchte, die Hände spitz und dünn zu machen, um aus den Fesseln zu schlüpfen – was nicht klappte. »Passen die Dinger eigentlich jedem? Sitzen irgendwie nicht zu eng – und kann man trotzdem nicht rausrutschen? Wie machen die denn das?«

Ich stand weiter stumm vor ihm, mein Nageletui in der Hand. Ich zog den Reißverschluss immer wieder ein Stückchen auf und wieder zu. Eigentlich hätte ich Alexander Ewers gern das Etui um die Ohren gehauen.

Er blickte in mein Gesicht und meinte überrascht: »Sind Sie irgendwie sauer auf mich?«

»Natürlich bin ich das. Ich find’s widerlich, wenn jemand Sekt in mein Aquarium gießt und Kartoffelchips hinterherschmeißt.« Ich hörte selbst, wie heiser und merkwürdig meine Stimme klang. Ich konnte den Puls in meiner Halsschlagader fühlen.

Der Bengel blinzelte durch den Wimpernvorhang. »Ich wollte Ihren Fischchen eben mal was Schönes gönnen. Die sollten auch Spaß haben.«

»Nett von dir. Ich mach seit Tagen Wasserwechsel. Die meisten Pflanzen sind eingegangen. Sieben Fischbabys und ein erwachsener Fisch sind schon tot, einige andere krank.«

Alexander tat jetzt etwas sehr Dummes. Er gluckste vor unterdrücktem Lachen. »Gottogott, wie schrecklich. Dabei kennen Sie die alle einzeln, nicht? Und Sie unterhalten sich mit denen?«

Das Blut in meinen Ohren hörte sich inzwischen an wie die Waschmaschine im Spülgang. Vielleicht waren ja auch meine Augen blutunterlaufen. Alexander schien meinen Anblick unheimlich zu finden, so, wie er den Kopf einzog. Sicher wurde ihm gerade bewusst, dass er festsaß. Er erkundigte sich mit etwas schrillerer Stimme: »Wo ist’n eigentlich der Schlüssel für die Dinger?«, und schüttelte seine Handgelenke.

»Weiß ich nicht«, behauptete ich. Das war gelogen. Ich wusste genau, dass die zwei kleinen Schlüssel neben Nicoles Fernseher lagen, zwischen alten Kinokarten, bunten Büroklammern, Haar-Gummiringen, winzigen Plastiktierchen aus Überraschungseiern und Staubflocken. Ich hätte sie sogar sehen können, wenn ich den Kopf gedreht hätte. Dann wäre jedoch Alexander vielleicht darauf aufmerksam geworden. Er hätte sie eventuell sogar erreichen können, wenn er die Beine ausstreckte und mit den Füßen danach angelte.

»Ich weiß gar nicht, ob Nicole überhaupt Schlüssel dafür hat«, fügte ich hinzu.

»Wie, hier – muss mich vielleicht die Feuerwehr freisägen, oder was?«, fragte er nervös. »Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt?!« Er warf sein Haar aus der Stirn und starrte mich aggressiv an.

»Wir hatten gerade darüber gesprochen, was du mit meinen Fischen gemacht hast.«

»Ach, scheiß auf die Viecher! Bloß weil Sie hier frustriert sind und was drum her machen, als ob diese Glibberdinger Ihre besten kleinen Freunde sind –«

Ich klebte ihm eine. Nicht sehr fest und nicht sehr energisch. Es war eher ein kleiner Klaps. Ich war überhaupt nicht darin geübt, jemanden zu schlagen.

Er trat sofort mit beiden Füßen nach mir und traf mich am Knie und an der Hüfte. Das tat nicht sehr weh, weil er Turnschuhe anhatte. Übrigens wirkte es ebenfalls recht unkontrolliert, geradezu albern, wie frühkindliches Gestrampel. Ich ging einfach zwei Schritte beiseite, hinter das Bett, aus seiner derzeitigen Reichweite.

»Du blöde Kuh, du hast sie doch nicht alle!«, brüllte Alexander, nun vertraulicher werdend. Er versuchte, seine Beine über die hintere Bettkante zu schieben, um mich weiter zu treten, das funktionierte jedoch nicht recht. Vor allem behinderte ihn das Gerümpel auf dem Bett.

»Wie dumm du bist«, sagte ich. Ich sprach langsam und leise, genau wie ein gefährliches Monster, obwohl meine Stimme vor Aufregung etwas zitterte. »Ich hab mich oft gewundert, wenn ich im Film Leute gesehen habe, die sich in aussichtsloser Situation befinden und trotzdem vorlaut werden. Das spricht für einen niedrigen Intelligenzquotienten.«

Normalerweise hätte ich mich nie so benommen. Ich liebe Ordnung und Vernunft. Mir waren bloß in der letzten Zeit irgendwie Ordnung und Vernunft abhandengekommen.

Er rief ein äußerst hässliches Schimpfwort, das ich nicht wiederholen möchte, und versuchte, den schmutzigen Teller nach mir zu schleudern. Das ging total daneben, weil er mit seinen gefesselten Händen nicht vernünftig ausholen konnte. Der Teller polterte auf den Boden und blieb sogar heil. »Aussichtslose Situation, ich krieg ja wohl das Kichern! Wollen Sie mich hier bedrohen? Was wollen Sie mir denn schon groß tun?«, schrie Alexander. Durch sein Getobe hing sein glänzendes weiches Haar wild um seinen Kopf.

Ich machte mit einer heftigen Bewegung das Nageletui ganz und gar auf und holte die feine kleine Hautschere heraus.

Alexander starrte mit weit aufgerissenen Augen unter seinem Haar hervor, als ob er einen Horrorfilm anguckte. Und der Horror war ich. Er schlängelte und wand sich panisch auf Nicoles Bett umher. Je mehr er sich aufregte, desto rasender klopfte mein Herz. Ich beugte mich über das Bettende, weil er mich da mit den Füßen nicht erreichen konnte, warf das Etui einfach hinter mich und griff mit der linken Hand grausam fest in seinen hübschen Haarschopf. In der rechten hielt ich die kleine Schere, bereit zum Schneiden. Ich zerrte Alexanders Gesicht ganz dicht vor meins. Er kullerte mit den Augen wie ein Pferd, das gleich durchgehen will. »Was denn jetzt –?!«, sagte er heiser.

Ich erwiderte noch leiser: »Jetzt amüsieren wir uns beide. Du wolltest doch, dass meine Fische Spaß haben? Jetzt will ich, dass du mal Spaß hast! Und damit du alles deutlich sehen kannst ...« Ich führte die Schere dicht an sein linkes Augenlid.

Dann schnitt ich zu. Alexander kreischte auf der Stelle wie ein Wahnsinniger. Kreischte – und pullerte sich in die Hosen. Das konnte man ziemlich schnell erkennen, weil sie vorher naturweiß gewesen waren.

Dadurch kam ich dann endlich wieder zu mir. Es war so ähnlich, als ob man aus einem Albtraum oder aus einer Hypnose erwacht. Und ich bekam wirklich einen Heidenschrecken. Ich ließ auf der Stelle den armen Alexander los, warf die Tatwaffe im hohen Bogen von mir und rannte, um die kleinen Schlüssel für die Handschellen zu holen. Schon war mein Opfer frei.

Er hatte aufgehört zu schreien. Seine Augen quollen ihm aber immer noch übergroß aus dem Kopf. Er lag zusammengeduckt und verkrümmt auf Nicoles Bett und rührte sich nicht.

Ich sagte leise und besorgt: »Alexander? Ist alles in Ordnung?«

Daraufhin gab er ein fiependes kleines Geräusch von sich, zog seine Hände aus den offenen Fesseln und stemmte sich taumelnd hoch. Er zog seinen Blouson aus, ohne mich dabei eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und band ihn sich wie eine Schürze umgedreht vor den Bauch.

Als ich später wieder zum Denken kam, fand ich das eigentlich sehr pfiffig. Auf diese Art sah keiner die riesigen gelben Flecken.

Wir standen uns noch einen Augenblick stumm gegenüber und blickten uns an. Seit einigen Sekunden wirkte sein Blick merkwürdig konfus, fast ein bisschen, als ob er schielte, weil ihm am linken Auge neuerdings fast alle Wimpern fehlten. Das wäre sicher weniger aufgefallen, wenn die am rechten Auge nicht derart lang und dicht und dunkel gewesen wären.

Dann ging Alexander Ewers an mir vorbei aus dem Haus, wortlos.

Als er weg war, saß ich lange bewegungslos da und starrte vor mich hin. Ich kam mir vor wie eine Mörderin. Oder wenigstens wie eine verhinderte Mörderin.

Später habe ich die kleine Schere aufgehoben und auch das Nageletui und beides ordentlich an seinen Platz gesteckt. Ich habe auch die abgeschnittenen Wimpern, so weit ich sie fand, mit der Handfläche von Nicoles Bett gebürstet. Und als ich ein paar feuchte Stellen auf dem Laken zu finden glaubte, habe ich die zerknüllten Kleider darüber verteilt und obendrauf den schmutzigen Nudelteller gestellt. Ich war ziemlich sicher, dass Nicole weiter nichts auffallen würde, so, wie ihr Zimmer immer aussah.

Danach setzte ich mich ins Wohnzimmer. Es wurde immer finsterer, aber ich machte kein Licht an. Ich versuchte herauszufinden, was mit mir passiert war.

Im 2. Kapitel fängt die Sache wirklich an

Am vierundzwanzigsten August war ich vierzig geworden. Nun gibt es ja sicher Geburtstage, die mehr Laune machen als gerade der vierzigste. Es hatte sogar mal eine Zeit gegeben, da ertrug ich das Wort ›Geburtstag‹ nicht – keineswegs aus Angst vor dem Älterwerden (denn damals war ich noch ein Kind), sondern weil genau an meinem Geburtstag eine Katastrophe passiert war, untrennbar verbunden mit Kuchen, Kerzen und Schleifenpaketen. Ich hatte gelernt, die Erinnerung daran vollkommen zu unterdrücken.

Deshalb wachte ich auch heiter und zufrieden auf. Die Sonne kämpfte sich rötlich durch einen leichten Morgennebel. Ich beugte mich weit aus dem Fenster und schnüffelte nach unten – der Lavendel aus meinem Garten duftete bis in den ersten Stock.

In gewisser Weise würde dies ›ein Tag wie jeder andere‹ sein. Mein Freund Joachim arbeitete für eine Kosmetikfirma, die sich kürzlich mit dänischen Herstellern zusammengetan hatte: Cremes aus Algen und Kaviar oder so ähnlich. Er hatte unbedingt an einem tagelangen Seminar in Kopenhagen teilnehmen müssen, das erst am 25. August zu Ende sein würde. Und meine Mitbewohnerin und Schwägerin Verena war von der Krankenkasse zwei Wochen an die Ostsee geschickt worden und würde an diesem Nachmittag erst zurückkommen. Deshalb hatten wir das Feiern auf den kommenden Abend verlegt.

Ich zog meinen Reitdress an und verließ das Haus. Verenas Kinder ließ ich schlafen, denn noch waren Sommerferien. Nicole hätte mir sowieso nicht gratuliert, weil das nett gewesen wäre, und sie vermied es konsequent, nett zu sein. Sie ist fünfzehn und pubertiert aus Leibeskräften seit mindestens drei Jahren, ein Ende ist nicht abzusehen. Nicole ist meine Nichte, die Tochter meines Bruders.

Der kleine Pascal dagegen war ganz von selber nett, er konnte nicht anders. Er hatte mir schon am Vorabend mein Geschenk überreicht, weil er die Spannung nicht mehr aushielt: »Pack mal aus, Kerstin, ich will gucken, wie du dich freust, aber gratulieren tu ich erst morgen!« Er hatte Stickgarn in schönen Rosa-, Blau- und Grüntönen für mich gekauft. Pascal ist noch nicht einmal acht – und ich bin trotzdem sicher, dass er sich dieses Geschenk ganz allein ausgedacht hatte. Seine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen. Seine Schwester schon gar nicht.

Pascal ist übrigens nicht mein Neffe. Sein Vater ist ein Polizeibeamter in Pinneberg, ein netter, kräftiger und seelenvoller Mann, der sich im Privatleben ›Kerli‹ rufen lässt. Obwohl wir also nicht verwandt sind, mag ich Pascal viel lieber als seine merkwürdige Schwester.

Ich fuhr nach Heidgraben zum Reitstall, um Flocke von der Weide zu holen, ein großes weißes Pony mit vielen braunen Sprenkeln. Sie gehörte mir nicht. Ich hatte nur eine Reitbeteiligung und durfte zwei Mal in der Woche mit ihr Ausflüge machen.

Das Pony kam gleich angelaufen, als es mich erkannte. Ich klopfte seinen warmen, rauen Hals und sagte: »Gratulier mir mal, Flocke, ich hab heute Geburtstag!« Worauf es den Schweif beiseitebog und seinen Blähungen freien Lauf ließ. Aber vielleicht war das Zufall.

Bevor ich Flocke bürstete, ihr die Hufe putzte und den Sattel auflegte, fütterte ich sie mit Äpfeln. Ich persönlich liebe die kleinen roten Augustäpfel und die Klaräpfel aus meinem Garten, die an meinem Geburtstag schon reif sind. Flocke legte Wert auf süße Äpfel vom vorigen Herbst, sie durften gern etwas verschrumpelt sein.

Schließlich trabten wir vom Hof, ein Stück die Autostraße entlang, in den Wald und zwischen Feldern hindurch. Hin und wieder lungerte noch ein wenig Nebel auf den Wiesen herum.

Für meine Begriffe gibt es auf der Welt keine schönere Landschaft als die Gegend um Pottschrapels. Da kann sich die Toskana auf den Kopf stellen.

Ein junges Kaninchen schaute uns neugierig hinterher und hoppelte eilig ins Gebüsch. Über uns – oder über dem kleinen Karnickel? – kreiste ein Bussard.

Der Sattel knarrte und quietschte leise bei jeder Bewegung. Flocke purrte die Fliegen weg, die ihr Maul umschwirrten.

In den Knicks wuchsen massenhaft Brombeeren. Ich stieg ab, pflückte davon und reichte auch Flocke hin und wieder eine Handvoll.

Als ich wieder zu Hause war, räumte ich auf. Während ich die Betten machte, sang ich vor mich hin. Verena hat mir haarklein auseinandergesetzt, wie pervers es ist, wenn jemand am Aufräumen Spaß hat. Aber jetzt war sie ja gerade nicht da.

Pascal erschien mit verstruwweltem Haar aus seinem Zimmer und gratulierte nun kräftig. Wir frühstückten zusammen. Pascal wollte mit dem Rad zu seinem Freund Svenni und dann weiter ins Freibad nach Moorrege. Der Sommer war eine traurige, nasskalte Angelegenheit gewesen. Erst seit Mitte August gab es täglich Sonne und tropische Temperaturen.

Um zehn machte es leise ›Klick‹ und die Schaltuhr knipste das Licht im Aquarium an. Ich hockte mich davor und betrachtete meinen wunderschönen Unterwassergarten mit den anmutigen bunten Bewohnern. Dann bemerkte ich: Die Mollydame Isabell besaß plötzlich eine schlanke Taille, nachdem sie am vergangenen Abend noch dick wie eine schwarze Kastanie an mir vorbeigeschwommen war.

»Naaa – Isabell?«, sagte ich. Sie drehte bei, tauchte im grünen Gewirr der Wasserpest unter und wollte nicht darüber reden. Stattdessen kam die handfeste kleine Bulma unter der Holzwurzel durchgetaucht, eifrig und gierig um sich blickend. Für mich sah es so aus, als ob sie auf beiden Backen kaute. Sushi für Bulma? Ich musste mich beeilen.

Ich griff mir den Kescher und sammelte in der nächsten halben Stunde winzige Mollybabys ein, die versuchten, sich zwischen den Wasserpflanzen zu verstecken, weil sie in mir den bösen Feind vermuteten – statt in Bulma. Zwanzig Stück, schwarze, goldene und goldschwarze. Einige saßen noch ganz benommen auf Blättern oder auf dem Kies, ein Zeichen dafür, dass sie gerade erst angekommen waren. Sie wurden in die durchsichtige Kinderstube gesetzt, die vorn oben im Aquarium schwimmt, und erhielten eine Prise Aufbaufutter für Jungfische. Eine Schwimmpflanze setzte ich auch dazwischen – ich hatte die Erfahrung gemacht, dass die kleinen Racker ziemlich früh mit Revierkämpfen von der Sorte: Hau ab da, das ist mein Krümel! loslegten. Dann war es gut, wenn zartere Exemplare sich hinter Blättern bergen konnten.

Nachdem ich den Deckel wieder aufgesetzt und das Licht darin eingeschaltet hatte, entdeckte ich natürlich noch ein Baby. Kleiner als die anderen, goldgelb, mit schwarzem Zappelschwänzchen und riesigen schwarzen Augen. Süß. Ich sammelte es ein und kippte es zu seinen Geschwistern. Einundzwanzig Mollybabys!

Und alle feierten am selben Tag Geburtstag wie ich.

Früher hatte ich gedacht, Zierfische wären entsetzlich langweilig. Sie schwammen von links nach rechts und machten Blubb, und dann schwammen sie von rechts nach links und machten noch mal Blubb, und das war’s. Einschläfernd.

Was für ein Irrtum.

Seit ich sie beobachtete, begriff ich, dass da ganz unterschiedliche Persönlichkeiten herumpaddelten. Einige stockdumm, einige ganz schön pfiffig. Menschenfreundliche mit großem Interesse an Kommunikation, Stumpfsinnige ohne jedes Interesse, nicht einmal an Fressen oder Sex, Ehrgeizige, denen es viel bedeutete, sich ein Revier zu erobern und zu verteidigen.

Nachdem ich die Fische versorgt hatte, spielte ich ihnen ein bisschen auf dem Klavier vor: die »Forelle« von Schubert. Da klingelte das Telefon zum ersten Mal an diesem Tag.

»Mein heiß geliebtes Mädchen, alles Gute zum Geburtstag! Ich vermisse dich! Vermisst du mich? Morgen bin ich ja wieder da, und dann wird gefeiert ...«, sagte Joachims helle, heitere Stimme. »Ich habe ein feines Geschenk für dich!«, fügte er fröhlich hinzu.

Ich wusste, was es war. Mein Bruder Bertil, der Juwelier ist, hatte gepetzt; mich angerufen und sich darüber aufgeregt, dass Joachim einen Mondsteinring, herabgesetzt und mit kleinen Fehlern, haben wollte. »Der Kerl steht doch wirtschaftlich weiß Gott nicht schlecht da!«, hatte Bertil geschimpft.

Ich fand das nicht so schlimm. Wir wollten schließlich noch in diesem Jahr heiraten und so gesehen sparte Joachim gewissermaßen unser gemeinsames Geld. Sicher war der Ring trotzdem schön.

Später am Vormittag brachte mir der Postbote ein Wertpaket. Eine pompöse Glückwunschkarte vom großen Bruder und – ein paar hübsche Mondsteinohrringe, in Silber gefasst. Die passten ganz bestimmt genau zu Joachims Ring.

Ich rief Bruder Bertil im Geschäft an und bedankte mich. Es war gerade kein Kunde da, deshalb berichtete er mir ausführlich von seinen Sorgen mit Hühnchen. Hühnchen – seine Freundin seit etwa einem Jahr, jung, schön und schwierig.

Wir versicherten uns gegenseitig, dass wir uns bald mal in Ruhe sehen und sprechen müssten. Demnächst.

Schließlich meldete sich auch noch Lars, mein Sohn. Er gratulierte herzlich und kündigte für Sonntagnachmittag seinen Besuch an ›bei euch da draußen‹. Fast sechs Jahre lang hatte er mit ›da draußen‹ gewohnt, bevor er nach Hamburg gezogen war. Jetzt war er wieder mit Leib und Seele Großstädter. Zurzeit besuchte er die Kunsthochschule.

Nachmittags kam Verena von ihrer Kur an der Ostsee zurück. Sehr braun gebrannt, noch etwas üppiger als vorher, an den Schläfen geradezu weißblond gebleicht.

»Na, Alte? Bist du jetzt auch endlich unter den Erwachsenen?«, sagte sie lächelnd und umarmte mich. Sie hatte mir ein zartviolettes Negligé mitgebracht mit vielen Rüschen und Spitzen, gleichzeitig unschuldig wie ein Taufkleid und sündhaft wie eine Tropennacht.

»Das ist entzückend, vielen Dank!«, sagte ich und hielt es mir vor dem Spiegel unter’s Kinn. »Obwohl – würde es zu dir nicht besser passen als zu mir? Ich bin doch mehr der sportlich-schlichte Typ. Normalerweise trag ich nachts klassische Pyjamas ...«

»Normalerweise trag ich nachts überhaupt nichts!«, sagte Verena und lachte laut. Sie hat ein aufreizendes, kehliges Lachen, das die meisten Männer nervös macht. Ich war selbst dabei, als sie sich’s antrainiert hat, damals, im Internat.

Wir kamen zur gleichen Zeit in dieses Landschulheim auf einer Nordseeinsel. Wir teilten ein Zimmer. Wir gingen in dieselbe Klasse, obwohl sie fünfzehn Monate älter ist. Und wir waren beide aus Hamburg. Deshalb dachte sofort jeder, dass wir Freundinnen sein müssten.

Wir fielen sogar selbst drauf rein.

Ich half Verena bei den Schularbeiten und bei ihren Briefen nach Hause. Ich nähte Kleinigkeiten an ihrer Kleidung, weil ich es unmöglich fand, wenn sie zerfetzt herumlief – und weil es ihr selbst gleichgültig war. Dafür erzählte sie mir alles, was sie über Sexualität wusste, und das war nicht wenig. Es dauerte nicht lange, und sie sammelte praktische Erfahrungen. Ich war immer ganz entsetzt und warnte sie vor den Folgen. Wenn es nun rauskam! Wenn sie nun schwanger würde! Verena lachte mich kehlig aus.

Sie kam aus zerrütteten Familienverhältnissen, deshalb lud ich sie sogar mal über die Weihnachtsferien zu mir nach Hause ein. In Hamburg wohnte ich bei meiner zarten, feinen kleinen Urgroßmutter, die, sobald sie allein mit mir war, flüsterte: »Dieses Mädchen ist schrecklich ordinär, Kind, warum hast du sie nur hergebracht?«

Silvester feierten das ordinäre Mädchen und ich bei meinem großen Bruder und seiner ersten Frau, die ich sehr gernhatte. Ich fühlte mit meiner Schwägerin und war unendlich böse auf Verena, als man sie noch im alten Jahr mit Bertil im Wintergarten erwischte, nicht direkt in flagranti, aber fast. Meine Schwägerin machte einen Riesenskandal und zog aus. Nach vielem Hin und Her führte das zur Scheidung und einige Jahre später heiratete Bertil wirklich Verena. Das hat unsere kleine Uromi glücklicherweise nicht mehr erlebt.

Was mich anging, so hatte ich in ebendiesen dramatischen Weihnachtsferien, wenige Tage später, meine eigene ›erste Erfahrung‹. Natürlich wurde ich auf der Stelle schwanger. Verena wollte sich totlachen.

Ich ging von der Schule ab, heiratete Hals über Kopf, bezog mit meinem Mann eine hübsche Wohnung, bekam Lars und war erwachsen, ehe ich richtig begriff, was passiert war.

Abitur hatte ich nun leider keins, und auch keine Berufsausbildung. Meine Urgroßmutter hatte davon geträumt, dass ich studierte, am liebsten Archäologie, weil sie mal mit einem Archäologen verlobt gewesen war, bevor sie Urgroßvater nahm.

Ich selbst wollte eigentlich immer gern Krankenschwester werden. Davon wollte Uromi aber partout nichts wissen. Sie meinte, das sei ordinär.

Verena ließ ihren unausgepackten Koffer mitten im Flur stehen, die Schuhe, aus denen sie geschlüpft war, dicht daneben, und telefonierte ausufernd mit Robert, ihrem Liebsten. In seinem Büro, denn er ist verheiratet.

Ich kämpfte mit mir, ob ich ihr nach dem Telefongespräch energisch klarmachen sollte, dass sie Koffer und Schuhe aus dem Weg räumen müsste – sie würde ›Ja, ja, gleich‹, sagen, tausend andere Dinge tun, und ich konnte mir den Rest des Tages am Koffer das Bein stoßen und über die Schuhe stolpern – oder ob ich die Sachen schnell selbst an ihren Platz schaffte. Dann wusste ich jedenfalls, dass es wirklich geschah.

Ich packte, da ich nun schon mal dabei war, gleich den Koffer aus und hängte die Kleider in Verenas Schrank. Als ich fast alles einsortiert hatte, kam sie dazu. »O Gott, Mütterchen macht mal wieder Ordnung! Wer hat dir das eigentlich erlaubt? Musst du hier in meiner Schmutzwäsche wühlen? Warum lässt du den Koffer nicht einfach stehen, wo ich ihn hingestellt hab?«

»Zum Beispiel, weil es mir peinlich ist, wenn plötzlich Besuch kommt und dann dein Koffer und deine Stiletto-Pumps im Flur rumliegen. Und weil’s mir um deine Klamotten leidtut, wenn die tagelang nicht ausgepackt werden und sich zu Tode knittern ...«

»Na und? Das hat dich nicht zu interessieren. Lass mich doch knitterig rumlaufen! Hast du eigentlich keine eigenen Probleme?«, fragte Verena. Sie musterte mich wütend aus ihren runden kleinen Augen und fügte giftig hinzu: »Nein – du hast keine eigenen Probleme! Das ist dein Problem.«

Letztendlich hatten wir uns gestritten, seit wir uns kannten. Wir waren so daran gewöhnt, dass wir kaum noch in einem anderen Ton miteinander sprechen konnten.

Ich warf den Pullover, den ich gerade zusammenlegte, auf Verenas Bett und ging runter, in die Küche, um Wasser aufzusetzen.

»Der Tee ist fertig!«, rief ich kurze Zeit später die Treppe hinauf, und Verena kam ins Wohnzimmer. Ich hatte Apfelstrudel in der Mikrowelle aufgetaut und Vanillesauce drübergegossen.

»Wird jetzt ein bisschen Geburtstag gefeiert?«, fragte Verena. »Wo ich in dieser Kur eh schon so aus dem Leim gegangen bin.«

»Pascal ist heute im Schwimmbad, aber wo deine Tochter steckt, weiß ich nicht. Bis mittags war sie im Bett, seitdem ist sie verschollen. Sollen wir sie suchen?«

»Nein, lass. So können wir uns besser unterhalten«, wehrte Verena ab. »Unterdrück mal deinen Futterstopf-Trieb!« Sie ließ sich auf dem Sofa nieder, nachdem sie alle Sofakissen auf den Sessel neben sich geworfen hatte. Das machte sie immer so, und immer ärgerte es mich. »Du, Kerstin – hat Robert hier angerufen, während ich weg war?«

»Ja. Zwei Mal. Irgendwie dachte er immer, du müsstest schon zurück sein.«

»Ja klar. Der Kerl wollte mich kontrollieren!« Verena bohrte ihre Kuchengabel heftig in den Strudel. »Nicht zu fassen. Er traut mir nicht.«

Vanillesauce spritzte auf die Sofalehne. Verena betrachtete mit einem gewissen Schuldbewusstsein die Spritzer und ging in die Küche, wo sie den Wasserhahn andrehte. Gleich darauf kam sie wieder, den Wischlappen vom Küchenbecken in der Hand.

Ich sprang auf und riss ihn ihr weg, bevor sie damit der Sofalehne nahe kommen konnte: »Bloß nicht! Der ist doch fettig!«

Dann rannte ich los, nahm ein frisches Geschirrtuch aus dem Schrank, machte einen Zipfel mit brühheißem Wasser nass und putzte damit energisch die Saucenspritzer aus dem Stoff.

Verena schüttelte den Kopf. »Ich mach alles falsch, was? Du findest ja auch falsch, dass ich mit Robert zusammen bin.«

»Du bist nicht mit ihm zusammen. Seine Frau ist mit ihm zusammen. Du hast eine Affäre mit ihm.«

»Kotz! Wenn ich dich höre ... Was ist daran so schlimm? Sie weiß nichts davon. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.«

»Du meinst, wenn dein Partner fremdgehen würde, wäre dir das völlig egal, Hauptsache, du weißt nichts davon?«

»Klar.«

Ich goss uns beiden noch eine Tasse Tee ein. »Bist du da sicher? Dir wäre es gleichgültig, wenn der Mann, der eigentlich zu dir gehört, es mit allen möglichen anderen Weibern treibt?«

»Naja, mit allen möglichen anderen Weibern ... Das muss ich nun auch nicht haben.«

»Ich verstehe. Nicht mit vielen verschiedenen Frauen. Aber es wäre dir egal, solange er eine einzige feste Geliebte neben dir hätte?«

Verena zog ihre wohl geformte Nase kraus. »Bei dir klingt das immer alles so tragisch und hässlich. Ein Seitensprung ist doch nichts Wildes. In Frankreich geht jeder fremd, dauernd, und die sind dabei vergnügt und können gut kochen. Liebe bedeutet doch nicht, sich aneinander festzuklammern. Wenn du jemanden liebst, dann lass ihn los ...«

»Dir macht es vor allem Spaß, in fremden Gehegen zu räubern. Wenn es keine Gehege mehr gäbe, hättest du keinen Spaß mehr!«, gab ich zu bedenken.

Wie immer, wenn ihr die Argumente ausgingen, verdrehte Verena die Augen, hatte keine Lust mehr, sich zu unterhalten, und griff sich die TV-Fernbedienung.

Das Wetter blieb den ganzen Tag herrlich. Nach dem Tee arbeitete ich ein bisschen im Garten. Ich jäte gern Unkraut, weil ich dabei so gut nachdenken kann. Je sauberer die Gartenwege und die Beete werden, umso klarer werden auch meine Gedanken.

Warum, fragte ich mich, während ich zupfte, tat ich’s mir eigentlich an, mit Verena zusammenzuwohnen?

Sie hatte schon öfter behauptet, durch ihre Unvollkommenheit würde ich mich noch vollkommener fühlen. Natürlich bestritt ich das. Aber wenn ich ganz schonungslos ehrlich war und es keinem weitersagte – doch, es bereitete mir ein gewisses Behagen, zuzuschauen, wenn Verena sich in ihrem eigenen Chaos verhedderte, um dann mit ordnender Hand einzugreifen und alles wieder an seinen Platz zu stellen. Und, ja: Sobald ich eine Weile beobachtete, wie sie herumpatzte und sich in Terminen, Verpflichtungen und Emotionen verfing, wurde mir angenehm bewusst, wie wenig Probleme ich selbst mit so was hatte.

Verenas Schwangerschaften beispielsweise waren Katastrophen gewesen.

Beide begannen mit missglückten Abtreibungsversuchen. Die Erste endete nahezu bei der Hochzeit. Verenas Bauch unter dem weißen Kleid ließ sich auch mit Gewalt nicht mehr verbergen. Vielleicht war ihr das wirklich egal. Auf einem Foto vor der Kirche streckt sie den Bauch extra vor und die Zunge heraus. Mein Bruder steht mit angespannten Kiefermuskeln daneben und ärgert sich deutlich.

Verenas zweite Schwangerschaft endete dann nahezu bei der Scheidung, weil Bertil bezweifelte, dass dieses zweite Kind von ihm war, und weil Verena das auch gleich zugab.

Mitten im Scheidungskrieg tauchte sie unter, ungefähr im achten Monat, und war nicht mehr zu erreichen. Verschwunden.

Ich lebte nach meiner eigenen Scheidung schon seit Jahren mit meinem Sohn in Blankenese. Lars war damals vierzehn und machte gerade mit seinem Vater Urlaub in Spanien. Ich fand es ganz entspannend, mal ein paar Wochen allein zu sein.

An einem brüllend heißen Julitag kam ich vom Einkaufen zurück. Ich holte im kühlen Treppenhaus meine Post aus dem Briefkasten, als ich ein seltsames Stöhnen hörte. Da hockte Verena verkrümmt auf den Treppenstufen über mir. Sie hatte verschmiertes Make-up im Gesicht, einen Bauch wie ein Wasserball und ein nasses Kleid.

»Die Fruchtblase ist, glaube ich, geplatzt!«, wimmerte sie halblaut. »Was soll ich denn jetzt bloß machen, Kerstin?«

Ich schob sie hastig in meine Wohnung und setzte sie auf einen Küchenstuhl, weil der abwischbar war – dann stürzte ich mit einem Handtuch zurück ins Treppenhaus und trocknete die Stufen. Danach rief ich Verenas Hebamme an (das war kompliziert, ich musste sie zunächst im Telefonbuch suchen) und erklärte ihr, wie es aussah, und dass Verena auf keinen Fall in ein Krankenhaus wollte, weil sie sich auf eine natürliche Geburt eingestellt hatte.

Anschließend telefonierte ich herum und sagte allen elf Personen ab, die ich für den Abend eingeladen hatte.

Die Hebamme, Frau Habanitzki, kam mit einem Taxi, wedelte mit der Quittung und wollte das ausgelegte Geld zurückhaben, bevor sie das Baby holte. Von mir selbstverständlich. Verena hatte noch nicht einmal eine Handtasche bei sich.

Sie machten es sich auf meinem Teppich, einigen Decken und vielen Badelaken einigermaßen bequem, Frau Habanitzki und Verena, und gingen daran, Pascal auf die Welt zu bringen. Frau Habanitzki zeterte erst mal, sie übernehme keinerlei Verantwortung, denn das sei keine natürliche Geburt mehr, wenn das Fruchtwasser schon abgegangen wär. Dann beguckte sie sich die Angelegenheit näher und meckerte, die Fruchtblase sei ganz heil, wo wir denn Fruchtwasser gesehen hätten? Und ich fragte mich, was ich wohl im Treppenhaus aufgewischt haben mochte.

Trotz der Hitze musste ich die Fenster und Balkontüren schließen, damit meine Nachbarn nicht das Überfallkommando alarmierten. Frau Habanitzki fand auch, dass Verena übertrieb: »Schreien könn’ Sie ja. Aber müssen Sie so schreien?«, fragte sie gereizt. Ich gab ihr innerlich recht. Gleichzeitig wunderte ich mich, weshalb Verena eigentlich ausgerechnet diese derbe, unfreundliche Frau, die sie offenbar nicht leiden konnte, bei der Geburt zu Hilfe haben wollte. Warum hatte sie sich nicht jemanden ausgesucht, der netter zu ihr war?

Als ich mein Baby bekam, wuselten lauter liebe Menschen um mich herum, die mir die Angelegenheit erleichterten. Das hielt ich indessen auch für mein gutes Recht. Vielleicht fand Verena, dass sie kein Recht hatte, nett behandelt zu werden?

Ich saß auf dem Klavierschemel und guckte sie mir an, wie sie sich da am Boden auf den Handtüchern wand, völlig nackt – denn Frau Habanitzki meinte, jede Kleidung beenge jetzt nur, und heiß genug sei es sowieso. Der unnatürlich runde Bauch mit dem vorgestülpten Bauchnabel glänzte vor Schweiß. Verenas wundervolles Haar, von Natur honigblond, hing ihr gelb und ölig in den Nacken.

Ab und zu teilte die Hebamme uns mit, wie viele Zentimeter die Muttermund-Öffnung nun betrug. Mittendrin wollte sie Kaffee für sich selbst. Sie hätte eine böse Nacht hinter sich mit Zwillingen, von denen einer quer lag, und zum Schluss sei die Sache ›beinah in die Grütze‹ gegangen und alle mussten ›mit Tatütata‹ ins Krankenhaus. Verena, entschied Frau Habanitzki, sollte lieber keinen Kaffee trinken. Und auch sonst nichts. Darüber jammerte Verena, solange sie nicht auf einer Wehe brüllte.

Ich tränkte einen Seiflappen in lauwarmem Wasser und wusch ihr das verschmierte Gesicht und den verschwitzten Körper. Dann kochte ich Kaffee für die resolute alte Frau und füllte für Verena ein Schälchen mit Eiswürfeln zum Lutschen. Als Frau Habanitzki sich darüber aufregte, sagte ich ihr kurz und scharf, sie möge sich nicht darum kümmern, ich würde es schon verantworten.

Daraufhin war sie mir gegenüber bedeutend respektvoller als vorher.

Verena lächelte mich schief an, als die Habanitzki mal die Toilette aufsuchte, und flüsterte mit ihrer heiser geschrienen Stimme: »Du kannst eben mit den Dienstboten umgehen ...«

Gegen Abend erschien der kleine Pascal. Er trug die Nabelschnur um den Hals und schimmerte infolgedessen, sobald er den Kopf in die Welt steckte, himmelblau.

Ich hatte noch nie einen Menschen von so grotesker Farbe gesehen und schaute entsetzt der Hebamme zu, die an diesem blauen Köpfchen zerrte, als wollte sie es abreißen. Zumindest sah das für mich so aus. Allerdings wusste sie wohl ganz genau, was sie tat, denn gleich darauf flutschten die Schultern und dann der ganze kleine Körper von Pascal heraus. Frau Habanitzki streifte ihm die Nabelschnur vom Hals, er wurde sehr schnell graublau und bleich und rosa – und dann brüllte er.

Nun fühlte sich Frau Habanitzki elend. Sie musste sich setzen und einen Schnaps trinken. Ich wollte Verena ihren kleinen Jungen in die Arme legen, doch die fühlte sich auch elend, schob ihn weg – und schlief ein. Sie gab die Nachgeburt buchstäblich im Schlaf von sich.

Also war ich es, die Pascal abnabelte – einer musste es ja machen. Frau Habanitzki, die halb in meinem Fernsehsessel lag, erteilte mir mit schwacher Stimme Anweisungen. Ich wusch das Baby im Badezimmer und wickelte es locker in ein Handtuch. Anschließend zeigte ich ihm vom Balkon aus, wie schön die Erde ist. Bienen und Zitronenfalter schwebten um meine Blumenkästen herum, der schläfrige, heiße Sommerabend dehnte sich zufrieden, ein älteres Ehepaar ging gemächlich vorbei und unterhielt sich leise.

Pascal schaute mit milchig blauen Babyaugen in den Himmel und versuchte, wobei er angestrengt die Augenbrauen hochzog, an meiner Schulter zu lutschen. Oben auf seinem Kopf saß ein kleines gesträubtes Haarbüschel. Da verliebte ich mich schon in ihn.

Von drinnen rief Verena nach mir. Jetzt wollte sie endlich ihr Baby haben. Später machte sie mir heftige Vorwürfe, weil ich ihn gleich gewaschen hatte. Sie hätte ihm das Blut und das Fett, das seinen Körper bedeckte, gern einmassiert, das sei gesund.

»Wenn man dir ein paar Minuten was zu halten gibt, kann man Gift darauf nehmen, dass man es nur gewaschen wiederkriegt!«, sagte sie.

Verena wusste nicht, wohin mit sich und ihrem Baby. Sie war nach der Geburt sehr depressiv – und erst recht nach der Scheidung von Bertil, die bald darauf folgte. Ihr blieb fast sofort die Milch weg.

Als mein Sohn aus den Ferien kam, öffnete ich ihm die Tür mit Pascal auf dem Arm und einer Nuckelflasche in der Hand.

»Nanu«, sagte Lars, und gleich darauf: »Wie süß!« Er hatte schon immer starke Nerven.

Ein paar Monate später zogen wir dann alle nach Pottschrapels, nordwestlich von Hamburg. Lars und ich hatten vorher schon öfter gesagt, wir würden gern aus der Stadt wegziehen.

Ich kaufte das nette alte Haus am Ortsrand und nahm Verena bei mir auf. Nach vielem Wenn und Aber ließ Bertil ihr auch Nicole. Er fand es wohl beruhigend, dass seine Tochter in meinem Haus aufwachsen konnte – wenn sie schon bei Verena sein musste.

Zuerst war es sehr idyllisch mit den drei Kindern und der Katze Sophie, die uns zugelaufen war. Verena war mir unendlich dankbar. Nach einer Weile ging mir ihre Dankbarkeit auf die Nerven. Und ihr auch.

Die Katze Sophie stürzte sich unter ein Auto, und wir fingen wieder an, uns zu streiten.

Pottschrapels ist ein plattdeutsches Wort und bedeutet soviel wie letztes Restchen, das, was noch aus dem Topf zusammengekratzt wird. Offenbar lag es mal am Ende der Welt.

Es schwebt jedoch ein zarter Hauch von Kultur über dem Städtchen. Zum Beispiel liegt hier eine wunderschöne alte Klosterkirche mit etlichen historischen Gebäuden rundherum, in denen adelige Stiftsdamen saßen, von denen eine mit Goethe höchstselbst korrespondierte. Darauf ist Pottschrapels immer noch ziemlich stolz.

In einem gepflegten Waldstück befindet sich ein weißes Herrenhaus, zum Museum umfunktioniert, in dem man auf Filzpantoffeln umhergleiten darf.

Außerdem gibt es eine Art Naturmuseum, ein großes Parkstück mit Ententeich und eingearbeitetem Restaurant. Hier sind viele verschiedene Rosensorten zu besichtigen, jede mit ihrem Namensschildchen vor sich im Beet. Denn Pottschrapels ist, sehr zu Recht, über die Landesgrenzen hinaus als Rosenstadt bekannt. Zumindest bei Leuten, die sich für Rosen interessieren.

Von Osten her pirscht sich der Nachbarort, Booksteed, immer näher an Pottschrapels heran. Das Wort Booksteed hat natürlich ebenfalls plattdeutschen Ursprung – obwohl sich die Experten streiten, was es eigentlich bedeuten soll. Die Stätte, an der die Buchen stehen? Wirklich relevant wurde das Problem, als die beiden prächtigen Bürgermeister der Nachbargemeinden und einige andere Sachverständige beschlossen hatten, offiziell zusammenzufügen, was sowieso heimlich zusammenwucherte; alle zerbrachen sich den Kopf, was auf dem Ortsschild stehen sollte. Pottsteed? Das hieße Topfstätte, ziemlich trivial. Oder lieber Bookschrapels – also Buchenkrümel –? Vielleicht weil sich einfach kein vernünftiger Name für das zusammengeknetete Städtchen finden ließ, wurde die Fusion zunächst mal wieder aufgegeben.

Wir lebten gern hier. Wunderbare Luft, großartige Einkaufsmöglichkeiten, ein reizender kleiner Markt einmal die Woche. Und Parkplätze! Parkplätze!!

Nur wer jahrelang in Hamburg umhergeirrt ist, im immer weiteren Bogen um immer weitere Blocks, während der Magen knurrt und die Augen tränen, in dem verzweifelten Bemühen, das Auto jedenfalls einigermaßen in der Nähe des Zielortes unterzubringen – nur der versteht, was es bedeutet, direkt vor der Tür halten und den Wagen gemütlich zurechtrücken zu können, keine Parkuhr oder sonstige Maschine mit dem restlichen Silbergeld vollstopfen zu müssen und sich nicht scheu nach gierigen Politessen umzublicken.

Wir richteten uns nach und nach sehr hübsch ein. Ich bin recht tüchtig im streichen und tapezieren, Vorhänge nähen oder sogar Lampenschirme beziehen. Und Verena wiedersetzte sich meinen Ideen nicht.

Der Garten war mein Ein und Alles. Ich verlegte Platten und Fliesen für geschlängelte Gartenwege, lichtete die Düsternis, indem ich Büsche und Gestrüpp beschnitt und entfernte, setzte klostergartenähnliche Kräuterbeete an, getrennt durch kleine Buchsbaumhecken. Natürlich wuchsen überall Rosen – wozu lebte ich in der Rosenstadt?

Da ich Blattläuse hasse, und da Blattläuse den Geruch von Lavendel hassen, stand an allen Ecken und Enden dieses gesegnete Kraut mit den graugrünen Blättern und den zarten blauvioletten Blüten. Inzwischen, um ehrlich zu sein, gab es mehr Lavendel im Garten als irgendetwas anderes. Von Mai bis Oktober lag der charakteristische Lavendelduft über dem Garten, zuverlässig und beruhigend.

Leider stimmte Verena mit den Blattläusen überein: Ihr wurde übel von dem Geruch. Er erinnerte sie an Krankenhäuser oder Jugendherbergen und Zwang und Keuschheit und Klöster, sagte sie.

Aber letztendlich war sie sowieso ziemlich selten in unserem Garten.

Verena fuhr am Abend los, um sich mit dem verheirateten Robert in der Wohnung seines Freundes zu treffen. Ich schlenderte durch die Sommernacht im Garten, guckte mir die Sterne an und freute mich. Ich freute mich über die Schönheit der Nacht; ich freute mich auf Joachim, der morgen zurückkam; ich freute mich auf meine große Geburtstagsfeier am kommenden Abend; ich freute mich auf die Hochzeit mit Joachim im Oktober oder November. Nicht, dass ich vor Liebe zu ihm halb wahnsinnig gewesen wäre; aber wir verstanden uns gut und stimmten in vielen Beziehungen überein. Ich empfand bei ihm Geborgenheit und Frieden. Er verfügte über gute Erziehung und guten Geschmack. Es würde schön sein, mit ihm zusammen alt zu werden.

Vor lauter Freude setzte ich mich, als ich wieder im Haus war, ans Klavier, um die »Ode an die Freude« zu spielen. Nach wenigen Takten begriff ich plötzlich, dass ich dabei war, ein Tabu zu brechen, und ich hörte auf der Stelle auf. O nein. Mein Geburtstag war kein düsterer Gedenktag, auf keinen Fall!

Ich kümmerte mich erst mal darum, Pascal ins Bett zu bekommen. Nicole war immer noch bei Freunden, hatte inzwischen aber angerufen und versichert, sie wäre vor zwölf zu Hause.

Nachdem ich völlig überzeugt davon war, dass Pascal jetzt tief und fest ratzte –, stand er in seinem Sommerschlafanzug vor mir. »Ich kann überhaupt nicht schlafen, Kerstin. Weil’s so warm ist. Darf ich noch mal die kleinen Fischlein angucken?«

Wir gingen gemeinsam zu den neuen Babys. Dann gab ich ihm ein Glas Saft und brachte ihn wieder ins Bett.

»Hast du was, Kerstin? Du guckst so komisch. War dein Geburtstag nicht schön, weil keiner gekommen ist?«

»Der wird doch morgen gefeiert. Gucke ich komisch? Vielleicht macht es mir zu schaffen, dass es mir so gut geht. Alle Menschen, die ich kenne, haben Sorgen. Ich habe keine. Das ist mir etwas unheimlich, verstehst du?«

Pascal gähnte. »Wenn du welche haben möchtest, kriegst du ja vielleicht bald welche ...«

Als ich ihm noch ein bisschen vorlas, schlief er dann doch ein.

Ich knipste das Radio an und hörte leise Musik, während ich mich allein wieder vor das Aquarium setzte. Mittags wurde das Licht für zwei Stunden ausgeschaltet. Jetzt, am späten Abend, war die Unterwasserlandschaft hell erleuchtet.

Die am Vormittag angekommenen Mollykinder huschten munter durcheinander wie ein Insektenschwarm. Kugelfisch Günther zog majestätisch vorbei. Von Kugelfischen wird behauptet, sie fressen alles, was lebt, vor allem arme kleine Fischbabys. So einer war unser Günther nicht. Er fraß Schnecken, denn das war sein Job, ließ jedoch auch winzigste Guppybabys ungeschoren. Dafür war er ein Nervenbündel und neigte dazu, in großen Sprüngen wie Flipper aus dem Wasser zu hopsen, sobald er mitbekam, dass ihn kein Deckel daran hinderte. Hin und wieder sprang er auch daneben. Einmal war er auf dem Fernseher gelandet, ich hatte ihn gerade noch mit beiden Händen erwischt und zurück ins Wasser gleiten lassen.

Marisa und Bonny, die beiden Guppymädchen, flirteten mit den schönen Guppyjünglingen Romeo und Gisbert. Interessanterweise kümmerte sich Marisa nur um Romeo und Bonny nur um Gisbert, und auch die Fischmännchen waren allein auf die derzeitige Partnerin konzentriert.

Das Radio spielte den »Tango Bolero« von Juan Llossas. Die Musik im Hintergrund erweckte zwingend den Eindruck, dass die Fische tanzten. Sie schwebten stolz und elegant zwischen den Pflanzen umher, immer dicht an der Nase des jeweiligen Tanzpartners vorbei. Die Männchen setzten im entscheidenden Augenblick, wenn sie im Profil zu sehen waren, jeden Fetzen Flosse.

Manchmal verschwand einer der Beteiligten für längere Zeit in den Pflanzen, vermutlich, um den Partner ungeduldig zu machen. Der Alleingebliebene tat inzwischen so, als falle ihm das nicht weiter auf. Irgendwann erschien der Versteckte wieder, die schönen bunten Schleier wurden mit einem Ruck gespreizt wie Fächer und der Tanz ging weiter. Immer erotischer. Gut, dass Pascal schlief.

Ich saß völlig fasziniert von diesem Schauspiel, als das Telefon klingelte.

Meine Tante Svea aus Toronto gratuliert mir zuverlässig an jedem Geburtstag. Nur meist recht spät, da sie sechs Stunden früher lebt als wir in Europa.

»Alles Gute, Honey! Herzlichen Glückwunsch. Ich dachte so an dich. Und an deine armen, armen Eltern ...«

»Bitte nicht, Tante Svea –«

»Ach, Darling, ich hatte vergessen ... wir müssen nicht darüber reden. Geht es dir gut? Störe ich dich? Was machst du gerade?«

»Ich sehe meinen Aquarienfischen beim Liebesspiel zu.«

Tante Svea war erst ein paar Sekunden still, dann lachte sie herzlich. »O mein Gott, Kerstin! Eben habe ich wirklich einen Moment lang gedacht, du meinst das ernst ...«

Ziemlich spät in der Nacht ging auch ich zu Bett. Schon nach zwölf – ich hatte nicht mehr Geburtstag. Nicole war inzwischen wirklich nach Hause gekommen, Verena nicht.

Ich betrachtete zweifelnd das lila Negligé und zog einen leichten Pyjama an. Dann kuschelte ich mich im Bett zurecht und griff nach dem Buch, das auf meinem Nachtschrank lag. Egal wie spät es war, ein bisschen wollte ich vor dem Einschlafen lesen. Gerade als ich das Buch aufschlug, klingelte es an der Haustür.

Das musste ein Irrtum sein.

Wer konnte um diese Zeit was von uns wollen?

Beim zweiten Klingeln hielt ich es für einen dummen Streich. Wenn niemand reagierte, würde der Klingler schon verschwinden.

Beim dritten stand ich kopfschüttelnd auf, zog meinen Morgenrock über, begab mich nach unten und riss die Tür mit einem Ruck auf.

Vor mir stand eine ältere Frau, die große Handtasche unter den Arm geklemmt. Sie blinzelte mich im Licht der Straßenlaterne unsicher an. Sehr breite Schultern, ein knochiges Gesicht – welliges, grau gesträhntes Haar – helle Augen, die beide nach außen blickten wie schlecht eingestellte Scheinwerfer ...

An irgendwen erinnerte die Person mich. Sie rührte Gefühle auf, bevor mein Kopf begriff, wen ich vor mir hatte. Tatsächlich, dachte ich schwerfällig, die hier sieht aus wie ... wie eine Karikatur von ... aber natürlich viel älter als ... Könnte das etwa –?!!

»Alma?«, sagte ich leise und ungläubig. Jetzt glaubte sie ihrerseits auch, dass ich es war. Sie fiel mir um den Hals.

Sie roch nach Keller und nach Mottenkugeln und nach altem Zigarettenrauch und ein bisschen nach Birkenhaarwasser. Ich hielt sie fest und klopfte ihr auf die Schulter.

»Mein Kerstin! Mein lütten Schietbüddel – das bissu ja wirklich!«, sagte Alma beglückt. Sie blickte scharf und angespannt über die Schulter zurück und drängte ins Haus: »Du, lass mich man rein, die sin hinner mir her ... Kann ich wohl hierbleim? Gehtas wohl?«

Ich brachte sie ins Gästezimmer im Souterrain und bezog ihr das Bett, während Alma mir anvertraute, die Behörden wollten sie einsperren. Oder abmurksen.

»Welche Behörden, Alma?«

»Weissich das? Ich versteh das auch allens nich. Den ganzen Tag ham sie mich gejaacht und gehetz. So ein fiesen Kerl mit fischkalte Augen. Ich kann dir sagen. Hassu ’n Nachthemd für mich?« Alma entkleidete sich beherzt. Ihr Büstenhalter sah aus, als hätte jemand Sprungfedern eingearbeitet.

Ich holte ein Riesen-T-Shirt mit Goofy-Aufdruck und zog es ihr sanft über die drahtigen Wellen. Seit sie im Haus war, gähnte sie dauernd und wirkte todmüde. Schläfrig versicherte sie mir noch ein paar Mal, die Behörden wollten sie umbringen, abstechen oder so. Die machen das, und man merkt nichts. »Das liessu nie inne Zeitung, mein Lütten, glaub mir das!«

»Schlaf dich richtig aus, Alma. Hier kriegen sie dich bestimmt nicht. Und morgen beim Frühstück erzählst du mir alles, ja?«

Alma gähnte breit. »Ja.« Legte sich im Bett zurecht, schob eine Hand unter das Kopfkissen und überlegte: »Was war das noch – irgendwas wollt ich dir doch noch sagen?«

Ich stand wartend in der Tür. »Fällt’s dir ein?«

»Nee. Doch, ja. Rolf stirbt. Das mussu doch wissen ...« Ihre Stimme vermurmelte. Sie schlief schon.

Rolf starb? Und die Behörden wollten Alma abstechen?

Ich ging zurück in mein Bett, machte das Licht aus und starrte in die Dunkelheit. Da war meine düstere Vergangenheit auf einmal vor mir aufgebrochen wie ein altes Geschwür. Na also, schon hatte ich ein paar Sorgen.

Das 3. Kapitel beschreibt den plötzlichen Sturz von einer Welt in eine andere

Um meinen zehnten Geburtstag – den Ersten mit einer Null – besonders schön zu feiern, beschlossen meine Eltern, einen Alsterdampfer zu mieten und damit durch die Fleete zu fahren. Die Mädchen in meiner Klasse standen Kopf und schmeichelten sich auf jede erdenkliche Weise Wochen vorher bei mir ein, seit das bekannt war. Ich gab jeder eine Einladung, allen neunzehn Mädchen. Ein Alsterdampfer ist groß.

Im Grunde konnte ich mich überhaupt nur an schöne Geburtstage erinnern. Ich war ein Nachkömmling, fast zwölf Jahre jünger als mein Bruder, und ich wurde sehr geliebt.

Immer gab es große Feiern mit vielen Kindern, meist in unserem Garten. Torten und Eis, Topfschlagen und Lampions. Einmal war ein echter Zauberer da gewesen, der Kaninchen und flatternde Tauben aus seinem Zylinder holte. Einmal wurden alle Geburtstagsgäste ins Kindertheater eingeladen. Ich trug jedes Mal ein neues Kleid, das meine Mutter vorher mit mir kaufte. Hell und mit Rüschen oder Spitze. Je größer ich wurde, desto kürzer wurden diese Kleider. Das lag an der Mode. Meistens hatte ich weiße Schleifen im Haar. Manchmal auch einen Blumenkranz.

Noch vor dem Frühstück bekam ich meine Geschenke. Ein antikes Puppenhaus (an dem meine Mutter bestimmt genauso viel Freude haben würde wie ich) – neue Reitstiefel – viele schöne Bücher – die Noten der »Kinderszenen« von Schumann – ein Hochzeitskleid für meine Barbiepuppe – und ein bezauberndes Medaillon aus Altgold. Schmuck gab es immer. Schließlich war bereits mein Urgroßvater Juwelier gewesen. Mein großer Bruder hatte mir ein Paket geschickt mit einer echten, perlenbestickten Indianertrommel. Er war gerade bei Tante Svea in Kanada.

Babette, unser wuschelköpfiges Au-pair-Mädchen, gratulierte mir ebenfalls in ihrem ulkigen Deutsch. Sie schenkte mir einen süßen Plüschhund.

Mein Vater fuhr mich zur Schule und gab mir einen Kuss: »Bis heute Nachmittag, Engelchen! Freu dich drauf!«

Er und meine Mutter würden sich beide, wie immer an meinem Geburtstag, den Nachmittag freinehmen, obwohl es ein ganz gewöhnlicher Montag und Arbeitstag war. Meine Eltern arbeiteten gemeinsam in unserem Geschäft in der Innenstadt, deshalb sah ich sie normalerweise nur morgens und abends und am Wochenende.

Meine Lehrerin, Frau Sonderburg, und die Kinder in meiner Klasse gratulierten mir, ich bekam eine Kerze auf meinen Tisch und wurde angesungen. Alle lächelten mich an.

Ich wusste, dass Frau Sonderburg mich gern mochte. Ich hatte mal gehört, wie sie halblaut zu einer anderen Lehrerin sagte: »Kerstin Brodersen ist wirklich ein angenehmes Kind. Da merkt man das Zuhause ...«

Die Sonne schien strahlend hell und warm, Geburtstagswetter. Katja Schütt verlangte dann allerdings, dass die Gardinen zugezogen wurden, sonst bekäme sie einen Sonnenstich. Katjas neuer Haarschnitt, ein ›Affenkopf‹, stand ihr leider überhaupt nicht. Ihrem Vater gehörte ein Hotel und sie gab ebenfalls imponierende Geburtstagsfeiern. Seit der Scheidung ihrer Eltern war Katja jedoch oft zickig und schwierig und nicht mehr sehr beliebt.

Meine Eltern, da war ich sicher, würden sich niemals scheiden lassen, denn sie liebten sich innig – obwohl meine Mutter schon Mitte vierzig war und mein Vater noch viel älter. Trotzdem sahen beide gut aus und ich war stolz auf sie.

Auf einmal glaubte ich, mein weiteres Leben vor mir zu sehen wie auf einer breiten, heiteren Straße. Ich würde größer und hübscher werden (einstweilen hatte ich zu große Füße und war zu dünn), ich würde mit meinem Vater tanzen, so in zehn, fünfzehn Jahren, bei meiner eigenen Hochzeit, im langen weißen Kleid. Ich würde einen Mann heiraten, der genauso wunderbar wäre wie mein Vater. Alles würde immer schön bleiben – weil alles immer schön gewesen war und sich noch steigerte.

Nach dem Unterricht verabschiedete ich mich von den anderen mit: »Bis nachher!« und ging zu Fuß nach Hause.

Auf mein Klingeln öffnete mir Babette. Meine Eltern waren beide noch nicht da. Ich zog mein neues weißes Geburtstagskleid mit den schwarzen Samtschleifen an und setzte mich im Wohnzimmer ans Klavier, um ein bisschen zu spielen. Weil ich so froh war, spielte ich die »Ode an die Freude«. Ich bekam seit vier Jahren Unterricht und allmählich hörte es sich schon ganz gut an.

Es duftete nach Kalbsbraten. Der Tisch im Esszimmer war gedeckt, Frau Plück, die an den Wochentagen bei uns putzte und kochte, rumorte in der Küche herum. Mein Magen rumorte auch und ich sah ungeduldig auf die Uhr. Schon fast zwei! Was mochte meine Eltern aufhalten?

Dann hörte ich eine Tür zuschlagen und ich sprang auf und in den Flur: »Mami?!«

Da stand meine Mutter und lächelte mich an. Sie zeigte dabei auf die Küchentür. Und dann ging sie in die Küche hinein und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb verdutzt stehen. Was sollte das? Warum hatte sie nichts gesagt? Und wo war mein Vater?

Ich rannte hinterher, riss die Küchentür auf – und sah nur Frau Plück, die am Herd stand und in der Sauce rührte.

»Wo ...?«, fing ich an. Dann machte ich den Mund wieder zu. Wenn meine Mutter vor zwei Sekunden in die Küche gekommen wäre, würde Frau Plück nicht so ruhig dastehen. Hatte ich mich geirrt? Gesponnen? Geträumt? War ich verrückt? Ich bekam Angst.

Frau Plück drehte den Kopf und knurrte: »Watt denn nu? Die Kartüffeln sin alle verkocht, die sin Matsch, da kann ich nix mehr bei helfen!«

»Ich weiß auch nicht, Frau Plück. Und wenn meine Eltern kommen, müssen wir ja sofort los. Dann können wir eigentlich gar nichts mehr essen ...«

»Zu was koch ich denn überhaupt?«, fragte Frau Plück beleidigt und knallte den Deckel auf einen Topf.

Es wurde Viertel nach zwei. Ich machte mir inzwischen große Sorgen. Meine Eltern waren beide enorm pünktlich. Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer unseres Geschäfts. Niemand nahm ab. Das wunderte mich. Wenn meine Eltern schon unterwegs waren, dann mussten doch die beiden Verkäufer auf jeden Fall da sein!

Babette wurde auch nervös. Sie war mit ihrem Freund verabredet. Sie fragte mich, ob ich meinte, dass sie einfach losgehen könnte.

Ich nickte, und Babette verließ das Haus.

Ich habe sie nie wieder gesehen.

Um halb drei, das wusste ich, wollte der Alsterdampfer ablegen. Meine Freundinnen dürften jetzt schon am Anleger stehen, auf mich warten und sich wundern, wo ich blieb.

Da klingelte das Telefon. Frau Plück hatte gerade ihre Jacke übergezogen, wollte nach Hause und überlegte noch, ob sie mich allein lassen sollte. Sie nahm eilig den Hörer ab und meldete sich: »Plück bei Brodersen – –?«

Dann schwieg sie lange. Ich schaute ihr Gesicht an, das breite, derbe Gesicht mit den schmalen Lippen und den hellen Augen, die etwas nach außen schielten. Sie wurde immer weißer um die Nase, je länger sie zuhörte. »Ja ... ja ... ja, das versteh ich ...«, murmelte sie ab und zu leise. Sie mied meinen Blick.

Ich ging langsam aus dem Wohnzimmer und die Treppe hoch in mein Zimmer. Hier setzte ich mich auf mein Bett. Über mir rüschte sich ein Vorhanghimmel aus pastellfarbenem Organza. Neben mir saßen meine Stofftiere. Der neue Plüschhund war auch dabei. Vor dem Fenster stand mein kleiner antiker Schreibtisch, auf dem die Geburtstagsgeschenke lagen. Alles sah so hübsch und harmlos aus.

Fünf nach halb drei. Ob sie jetzt mit dem Alsterdampfer losfuhren und ohne mich feierten? Was wohl Katja Schütt sagen mochte?

Es klopfte an meiner Zimmertür. Ich traute mich plötzlich nicht, zu reagieren.

Die Tür öffnete sich langsam und Frau Plück guckte mich an. Sehr mitleidig. »Ach, mein lütten Schieter! Also, deine Eltern sin ... Alle beide sin sie ... Das’s aber auch ein Jammer, issas. Wie soll ich dir das jetz man bloß sagen ...«

Ich schüttelte den Kopf: »Gar nicht.«

»Was?«, fragte Frau Plück.

»Gar nicht. Nichts sagen ...«, flüsterte ich.

Ich hob meine Füße und betrachtete meine schönen neuen Schuhe, weiß mit schwarzen Kappen und schwarzen Schleifchen.

Frau Plück setzte sich mit ihrem umfangreichen Hinterteil neben mich aufs Bett und blickte mit auf die Schuhe. »Schön sin die. Ganz neu, was?«

Ich nickte. Frau Plück nickte auch.

Dann legte sie einen Arm um mich. Ich drückte vorsichtig meinen Kopf an ihre Schulter und guckte an die Decke, weil ich merkte, dass mir Tränen in die Augen stiegen – und ich wollte sie auf keinen Fall runtertropfen lassen. Nicht weinen. Bloß nicht weinen.

Frau Plück roch nach Keller und nach Mottenkugeln und nach kaltem Zigarettenrauch und etwas nach Birkenhaarwasser.

»Was soll denn nu wohl aus die Lütte hier werden?«, redete sie vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Ich kannas Kind doch hier nich alleine lassen? Aber ich muss nach Hause, die warten ... Ich weiß man gar nich, was ich jetz machen soll ...«

Frau Plück klang ganz verzagt. Ich riss mich zusammen. Was hätte meine Mutter getan? Hier allein bleiben, den Rest des Tages und die lange Nacht, das wollte ich wirklich nicht. Soviel ich wusste, besaß ich keine Verwandtschaft außer Tante Svea in Kanada und einer ganz alten Großmutter meines Vaters, die seit Urgroßvaters Tod in Venezuela lebte. Wo konnte ich überhaupt hin? Zu einer Schulfreundin und deren Eltern, die mich mitleidig anguckten und sich freuten, dass es ihnen selbst besser ging? Und dann fiel mir plötzlich ein, dass ich mir ja kurz eingebildet hatte, Mami hatte lächelnd auf die Küche gezeigt und sei dann darin verschwunden. Hatte sie Alma Plück gemeint?

»Ich komme mit zu Ihnen, Frau Plück«, entschied ich.

Sie sah mich zuerst erstaunt an und nickte dann: »Das’s ’ne gute Idee, Schieter.«

Sie verschwand für eine Weile aus meinem Zimmer und erschien wieder mit drei oder vier Supermarkt-Plastiktüten. Dann öffnete sie meinen weißen Kleiderschrank und packte mit Bedacht: Unterwäsche und Socken, Schlafanzüge, mein Turnzeug, T-Shirts und Pullover, Jeans und Röcke, ein paar Turnschuhe und ein Paar Schnürschuhe. Mehr ging nicht in die vier Tüten. So ähnlich, als ob man sich bei einer überstürzten Flucht oder wenn es brennt für das Wichtigste entscheiden muss.

Vielleicht wusste Frau Plück wirklich nicht, dass unsere Koffer auf dem Dachboden standen. Mir war’s egal. Ich versank in einer Art Traumzustand. Es kam darauf an, nicht nachzudenken.

Wir nahmen nichts weiter mit. Nicht meine Schultasche – keines meiner schönen Kleider – weder Mäntel noch Jacken. Ich ließ alle Stofftiere da und alle Geburtstagsgeschenke. Es passte ja nichts mehr in die vier Tüten.

Frau Plück schloss die Haustür ab und warf den Schlüssel durch den Briefkastenschlitz. Ich habe unser Haus nie mehr gesehen – von innen wenigstens nicht.

Dann wanderten wir nebeneinander her, Hand in Hand, durch den warmen Sommernachmittag, sie in ihrem schlecht sitzenden, kurzen engen Rock und der karierten Kostümjacke, ich in meinem neuen weißen Spitzenkleid und den schwarz-weißen Schuhen. Sie schleppte ihren gewöhnlichen roten Beutel und drei Plastiktüten. Ich trug die vierte. Wir sahen aus, als kämen wir von der Altkleidersammlung.

Wir gingen die Oberstraße hoch, über den Grindelberg zur U-Bahn-Station Hoheluftbrücke. Ich fuhr an diesem Nachmittag zum ersten Mal im Leben U-Bahn. Wir setzten uns in einen leeren Wagen, damit Frau Plück sich, wie sie erklärte, endlich eine ins Gesicht stecken konnte, denn eigentlich, erfuhr ich, war Rauchen hier verboten.

Straßburger Straße stiegen wir aus. Frau Plück wohnte am Dulsberg. Ihre Wohnung lag im vierten Stock (ohne Fahrstuhl) und roch trotzdem nach Keller.

Zwei blonde Kinder saßen am Küchentisch, als wir eintraten, und machten Schularbeiten. Allerdings sahen sie für mich so aus, als hätten sie vorher wer weiß was gemacht und sich eben erst in wilder Eile zu dieser Tätigkeit niedergelassen. Der Junge hatte sein Schreibheft sogar verkehrt herum unter dem Füller und korrigierte das durch unauffälliges Drehen nach und nach.

»So, das’s Karin, mein Pflegekind, und das’s Rolf, mein eigener. Und hier’s Kerstin Brodersen, die hat heute – die is – die bleibt jetz wohl mal ’n büschen bei uns ...«, sagte Frau Plück. Die Kinder starrten, nicht ganz zu Unrecht, meinen festlichen Aufzug an.

Ich guckte aus dem Küchenfenster auf die Straße.