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Wenn die Schatten länger werden und der Wind ums Haus jault, ist es an der Zeit, sich mit diesem Buch ins warme Bett zu verkriechen und darauf zu vertrauen, dass einem mit den hier versammelten Geschichten angenehme Schauer über den Rücken laufen. Das Grauen in Dagmar Seiferts Erzählungen kommt ohne Blut aus und entwickelt sich aus dem Alltäglichen unmerklich ins Absurde und Schreckliche. So zieht Annas kleine Schwester eine geheimnisvolle Kraft immer wieder in den Mühlensee, Lureley - die weder weiß, woher sie kommt noch wie alt sie ist - flüchtet erfolglos vor ihrem großen, unheimlichen Bruder. Kurt erlebt auf der Reise zur Beerdigung seiner Tante ein höchst erschreckendes Tete-à-Tete, Mathias wird von einem reizvollen Geist beauftragt, Rache zu nehmen. Und Gerdas Nachbarin scheint mit ihren nahrhaften Süppchen leider nichts Gutes im Schilde zu führen...
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Seitenzahl: 237
Veröffentlichungsjahr: 2014
Dagmar Seifert
Gute Nachbarschaft
13 schaurig schöne Geschichten
LangenMüller
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www.langen-mueller-verlag.de
© für die Originalausgabe: 2005 LangenMüller in der
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das ebook: 2014 LangenMüller in der
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung andlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel / Ulrike Storch
Umschlagmotiv: photonica, Hamburg
eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
ISBN 978-3-7844-8223-1
Inhalt
Möwen und anderes Getier
Das Kind in der U-Bahn
Am Mühlensee
Gute Nachbarschaft
Verhext
Der Bücherwurm
Böser Blick
Frances
Tante Lene
Kleiner Begleiter aus dem Wald
Rache für Sophie
Großer Bruder
Das beleidigte Gespenst
Möwen und anderes Getier
Ediths Neffe Ronald war ein scheußlicher Mensch, arrogant und selbstgefällig. Gerade eben wanderte er auf ihrem Teppich umher und versuchte ihr zu erklären, dass ihre Nerven seit Justus’ Tod angegriffen wären und sie sich am besten in ein Sanatorium begeben sollte.
In ein Sanatorium! Als wäre sie senil oder übergeschnappt!
Misstrauisch verfolgte sie den hageren, schlaksigen jungen Mann mit den Augen, wie er so hin und her tappte, als liefe er auf weichen Pfoten, lautlos und lauernd. Beim Lachen zeigte er spitze Eckzähne, und wenn er hustete – was er vor Nervosität dauernd tat –, klang es wie heiseres Gebell. Um Himmels willen, ein Wolf in ihrem Wohnzimmer!
Edith wusste ganz genau, was Ronald wollte: das Vermögen, das Justus ihr hinterlassen hatte. Und sein verlogen-besorgtes Getue: »Tantchen, du musst dich erholen und beruhigen, du bist ja ganz durcheinander!« zielte nur darauf ab, sie entmündigen zu lassen und sich mit ihrem Geld zu amüsieren.
Nun, das würde sie zu verhindern wissen.
Nachdem er endlich gegangen war, rief Edith sich ein Taxi und fuhr zu dem Makler für gehobene Strandhäuser, mit dem sie schon mehrfach telefoniert hatte.
Der Mann war hocherfreut, dass sich die zaudernde Kundin nun doch entschlossen hatte. Obwohl es gar nicht mehr nötig war, redete er ihr immer noch lebhaft zu: »Sie können auf der Stelle einziehen, wenn Sie wollen. Die vorige Besitzerin ist bereits vor sechs Wochen ausgezogen. Der Platz scheint doch wie geschaffen für Ihre Pläne, gnädige Frau. Sie werden, wenn Sie Ihre Nachbarinnen kennen lernen, finden, dass es sich fast durchweg um Damen Ihrer Gesellschaftsklasse und Ihres Alters – ungefähr, nehme ich an – handelt …«
»Ich suche keineswegs Bekanntschaft in der neuen Umgebung«, bemerkte Edith abweisend. Das Geplapper des Mannes ging ihr auf die Nerven. Auch sein Gesicht gefiel ihr nicht, vor allem die lange Nase mit den großen, schnuppernden Nasenlöchern und der dünne graue Schnauzbart, der nur aus einzelnen Haaren zu bestehen schien, die wie zitternde Antennen in die Gegend ragten.
Sie erledigte den geschäftlichen Teil so schnell wie möglich. Dann machte sie sich noch am selben Abend daran zu packen und sich auf den Umzug vorzubereiten. Etliches aus ihrem Haushalt verschenkte sie an eine Nachbarin. Sie hatte keine Lust mehr, sich mit allzu viel Besitz zu belasten.
Sie hoffte, verschwunden zu sein, bevor Ronald sie mit seinem nächsten Besuch belästigen konnte, und plante, keine Adresse zu hinterlassen. Möglicherweise würde er ja versuchen, sie aufzustöbern. Aber vielleicht gab er es auch auf, wenn er merkte, wie energisch und schnell sie planen und handeln konnte.
Eine knappe Woche später stand jede Vase, jede Lampe an ihrem Platz und Edith saß zufrieden vor dem Kamin in dem schmucken, kleinen Haus. Ein Spätsommerabend mit kitschig schönem Sonnenuntergang schien sich mit dem Blick durch die gläserne Verandatür bei ihr einschmeicheln zu wollen. Dicht vor dem Haus, nur durch eine flache Düne abgetrennt, rollte das Meer an den Strand, ein gleichmäßiges, beruhigendes Geräusch. Sonst war es still – der gewohnte Großstadtlärm fehlte beinah.
An der Seite ihres Mannes hatte Edith ein buntes, ereignisreiches Leben geführt und das Glück einer harmonischen Ehe genossen. Leider waren ihnen Kinder versagt geblieben. Jetzt sehnte sie sich nach Ruhe und Beschaulichkeit. Aquarelle malen wollte sie, einen gepflegten kleinen Steingarten anlegen, viel lesen und spazieren gehen. Keine Erlebnisse mehr – nur Frieden, bis sie eines nicht zu späten Tages wieder mit Justus vereint sein würde.
Edith band sich ein leichtes Tuch um die Haare und verließ das Haus, um einen ersten Spaziergang in die Umgebung zu machen. Versonnen stand sie am Meer und blickte auf die sanften Wellen. Sie sog tief den Geruch nach Tang, Fisch und Salz ein. Plötzlich ließ sie ein scharfer, heiserer Schrei zusammenzucken. Sie sah sich hastig um und musste dann über sich selbst lächeln. Hinter ihr stand eine große, ziemlich hässliche Möwe mit im Vergleich zu kleinem Kopf und besonders langem, stark gebogenem Schnabel. Sie betrachtete Edith melancholisch aus ihren glänzenden Vogelaugen.
»Hallo, du«, sagte Edith halblaut. Sie liebte Möwen und hatte bisher nicht darüber nachgedacht, dass es eigentlich an jedem Strand welche gab. Es würde Spaß machen, sie zu füttern, ihren melancholischen Schrei zu hören und den eleganten Flug zu beobachten. Sie ging langsam zurück und auf ihre Haustür zu.
Bevor sie eintrat, drehte sie sich noch einmal um und bemerkte zu ihrer Überraschung, dass die einsame Möwe ihr offenbar den ganzen Weg zu Fuß gefolgt war. Scheu und doch irgendwie drängend blickte sie Edith an. Dann gab sie ein merkwürdiges Geräusch von sich und flog gleich darauf im geschmeidigen Bogen über das Meer davon.
Seltsam, dachte Edith, ich hätte schwören können, dass dieser Vogel eben genauso geseufzt hat wie ein Mensch!
Es gab so viel Ruhe und Frieden, wie sie sich erträumt hatte – ja, manchmal fühlte sie sich wirklich fast einsam, und, entgegen dem, was sie damals dem Makler gesagt hatte, suchte sie doch die Bekanntschaft ihrer Nachbarn.
Tatsächlich handelte es sich bei denen ausschließlich um ältere Damen; verwitwet zumeist, bis auf die beiden Fräulein Sommer, Zwillingsschwestern, die beide nie geheiratet hatten und nun schon Ende siebzig waren. Edith mochte die munteren, geschwätzigen alten Mädchen besonders gern und sie fühlte sich auch sehr zur pensionierten Studienrätin Weiß hingezogen, einer gutmütigen, rundlichen Frau, die mit dunkler, heiserer Stimme sprach, vielleicht, weil sie Kettenraucherin war.
Dann gab es noch Aima Rothe, die hübsche und intelligente Witwe eines deutschen Beamten. Aimas dunkle, mit Kajal schwarz umrahmte Augen ließen erkennen, dass sie aus dem Orient stammte, aber ihr Deutsch war vorzüglich.
Hin und wieder fand im Gemeindehaus neben der Schule ein Basar statt, meistens zu Gunsten irgendwelcher armen Kinder in fernen Ländern. Früher hätte Edith solch spießige Anlässe für Geselligkeit missachtet, doch da ihre neuen Freundinnen bei der Organisation der Basare beteiligt waren oder dafür Handarbeiten herstellten, fand auch sie Freude daran, sich aktiv zu beteiligen.
Gleich bei der ersten Gelegenheit dieser Art Ende August stand sie, als sie amüsiert umherwanderte, vor einer sonderbaren Greisin, die neben kleinem Zelt saß und durch ein Schild versprach, die Zukunft zu verkünden.
»Ach, komm, das ist Frau Berghuhn, Esmeralda Berghuhn, die hat irgendwie Zigeunerabstammung – aber sie spinnt!«, tuschelte ihr Susi Sommer ins Ohr, als sie interessiert stehen bleiben wollte, und zog sie weiter.
Edith verfolgten die traurigen Augen der Uralten. Sie war neugierig und beschloss, wenn die Schwestern Sommer weg waren (die beiden standen enorm früh auf, um am Strand entlang zu wandern und gingen entsprechend früh zu Bett), doch noch einmal zu dem geheimnisvollen Zelt zu gehen.
Das tat sie auch – schon kurz nach zehn fand sich dazu Gelegenheit.
Edith stellte sich erwartungsvoll vor Frau Berghuhn. »Was kostet ein Blick in die Zukunft?«, fragte sie heiter.
Die Greisin hüstelte und blickte sie misstrauisch und ohne Sympathie an. »Sie sind auch aus den Strandhäusern, Sie sind eine reiche Frau. Sie können viel geben«, bemerkte sie mit knarrender Stimme.
Edith runzelte die Stirn. Das mochte ja sein, doch die Art der Aufforderung missfiel ihr. Sie kramte in ihrem Portemonnaie und gab mehr, als sie ursprünglich geplant hatte.
Esmeralda Berghuhn faltete den Schein mit klauenartigen Händen zusammen, räusperte sich und schien durch Edith hindurch zu sehen. »Sie werden mir nicht glauben. Es hat keinen Sinn, Ihnen was zu sagen. Sie glauben nicht daran, dass Menschen in Tiere verwandelt werden können. Wenn ich sowas sage, sperrt man mich nur in eine Anstalt …«, murmelte sie.
Edith verlor endgültig ihr amüsiertes Lächeln. »Menschen werden in Tiere verwandelt? Ich meine … Wieso? Wie meinen Sie das?«, fragte sie unsicher, während sie dachte: Um Gottes willen, Susi hatte Recht. Die Frau ist verrückt. Vermutlich Altersdemenz …
»Es ist ein Hexenrezept, es gehörte den Frauen. Aber die Männer haben es gestohlen, um Profit zu machen. Die Strandhäuser werden immer und immer wieder verkauft, so ist das.«
»So, ein Hexenrezept?«, wiederholte Edith freundlich, indem sie bereits vorsichtig ein paar Schritte vom Wahrsagezelt weg ging, »Das ist ja interessant! Danke schön, und guten Abend, Frau Berghuhn …«
»Leider sind die Zutaten ein bisschen teuer …«, murmelte die alte Frau schläfrig vor sich hin, »gar nicht schwer zu bekommen, aber leider teuer …«
Edith verließ ärgerlich und aufgeregt den Basar und fuhr nach Hause, um sich in einem duftenden Bad zu entspannen.
Wie merkwürdig, dass man die komplett verrückte Greisin dort einfach sitzen, Geld kassieren und ihr Gefasel den Kaufenden verzapfen ließ...
Eines Abends im Februar blieb Studienrätin Weiß, die von Edith zu einem Abendessen eingeladen war, ohne Entschuldigung aus. Das sah der zuverlässigen Frau nicht ähnlich. Edith wählte beunruhigt ihre Nummer. Niemand hob den Hörer ab.
Es schneite, der Wind jaulte um die Hausecken, aber Edith schlug den Kragen ihres Pelzmantels hoch und stiefelte, schräg gegen den Wind geneigt, zum Haus der Frau Weiß. Die Läden waren geschlossen, das Namensschild an der Tür abmontiert! Edith blinzelte halbgetaute Flocken aus ihren Wimpern. Was war denn nur passiert? Noch am Abend des vorigen Tages hatte sie hier einen Besuch gemacht, und alles war gewesen wie immer!
Durch Sturm und Schneetreiben wanderte sie sehr langsam zu ihrem Haus zurück.
Edith hörte von Frau Weiß nie wieder ein Wort. Als sie schließlich den Makler anrief, um sich zu erkundigen, ob er davon wüsste, konnte der sie beruhigen: Frau Weiß sei urplötzlich einem Ruf ihres vermisst geglaubten Sohnes aus Übersee gefolgt.
Ein paar Wochen später zog ein spröder, anmutiger Frühling ein, und Edith genoss die herrlichen Stimmungen am Meer. Sie fütterte auch die einsame Möwe, die fast zahm geworden war und zu bestimmten Zeiten auftauchte. Sie war im Übrigen gar nicht mehr einsam; eine zweite, ziemlich dicke, mit heiserer dunkler Stimme hatte sich zu ihr gesellt. Edith freute sich an den Vögeln und wunderte sich nur manchmal, dass niemals andere Möwen am Strand auftauchten. Sie unterhielt sich mit den Schwestern Sommer darüber und beide versicherten erstaunt, überhaupt noch nie eine Möwe am Strand gesehen zu haben.
Das war übrigens eins der letzten Gespräche, die Edith mit den heiteren Schwestern führte. Sie fuhr im März für ein paar Tage zu einer Bekannten, um bei einer Taufe als Patin zu fungieren. Als sie wiederkam, stand das Haus der Fräulein Sommer zum Verkauf.
Von Aima erfuhr Edith, dass beide urplötzlich krank geworden und bald darauf im Hospital gestorben waren – nur Stunden auseinander. »Das ist ja bei Zwillingen häufig so«, fügte Aima hinzu.
Edith nickte betrübt. Sie verabschiedete sich von der Freundin und ging langsam zurück nach Hause. Ein paar Meter davor stutzte sie. Da saßen ihre beiden Möwen, die mit dem kleinen Kopf und dem langen, krummen Schnabel und die rundliche, heisere. Und, zum ersten Mal seit Ediths Ankunft, waren noch andere Möwen dabei – zwei zierliche, hübsche Vögel, die nervös um die anderen herumtrippelten und kleine, zirpende Laute ausstießen. Edith kniff den Mund zusammen. Fange ich an, den Verstand zu verlieren? Oder erinnern die beiden neuen wirklich an Susi und Stella Sommer? Und, wenn ich es schon überlege: sieht nicht die, die seit Februar dabei ist, der alten Studienrätin Weiß erstaunlich ähnlich? Ist sie nicht genauso füllig und heiser?
Edith flüchtete an den aufkreischenden und hochfliegenden Vögeln vorbei ins Haus und wählte hastig die Telefonnummer von Aima. »Ich bin es noch einmal – nein, ich habe nichts liegen lassen … bitte sag mir mal: Kanntest du meine Vorgängerin in diesem Haus? Weißt du, wie sie aussah? Und was ist mit ihr geschehen?« Edith erfuhr, die alte Dame sei während eines Kuraufenthalts ums Leben gekommen. Sie sei durch eine große, gekrümmte Nase aufgefallen, aber eine Seele von Mensch gewesen.
»Ich kann dir ein Foto von ihr zeigen, wenn du morgen vorbeikommst«, versprach Aima.
Edith legte den Hörer auf und betrachtete, durch die Gardine verborgen, die vier Möwen in ihrem Vorgarten, die alle nebeneinander saßen und stumm das Haus anstarrten. Sie fühlte, wie sich ihre Haare sträubten.
Am nächsten Tag fieberte Edith bereits, und dann lag sie fast sechs Wochen lang mit einer schweren Lungenentzündung im Bett. Sie ließ sich eine Pflegerin kommen und weigerte sich, sobald sie bei Bewusstsein war, standhaft, ins Krankenhaus zu gehen. Sie wollte unter keinen Umständen ihr Haus verlassen.
Dazwischen durchlitt sie Fieberträume, in denen sie zusehen musste, wie einer ihrer Arme sich mit weißen Federn bedeckte, wie ihre nackten Füße, die sie aus dem Bett streckte, leuchtend rot waren, dreieckig und mit Schwimmhäuten versehen. Oder sie träumte, dass sie zur Polizei lief, um alles zu melden, und nur durchdringendes, melancholisches Möwengeschrei aus ihrer Kehle kam.
Ende Mai fühlte sie sich kräftig genug, wieder einen Spaziergang zu machen. Sie ging zum Haus von Aima, denn sie war in großer Sorge. Aima hatte sich seit dem letzten Telefongespräch nicht mehr bei ihr gemeldet, ihr Telefon blieb stumm, und die Pflegerin, die sie einmal hingeschickt hatte, kam mit der Auskunft zurück, das Haus sehe unbewohnt aus.
Als Edith näher kam, sah sie, dass das jedenfalls nicht stimmte.
Sie hatte gerade aufatmend geklingelt, als sie zu ihrem Entsetzen einen wildfremden Namen am Türschild las: ›Christa Möller‹ stand da jetzt. Gleich darauf öffnete sich die Tür. Eine unbekannte Frau musterte sie erstaunt, aber freundlich. Sie erzählte, die frühere Besitzerin des Hauses habe ganz überraschend wieder geheiratet und sei ihrem Mann ins Ausland gefolgt – das hatte ihr jedenfalls der Makler erzählt.
Edith bedankte sich geistesabwesend bei Frau Möller und ging zurück. Sie hörte die gellenden Schreie der Möwen über ihrem Kopf, aber sie drehte sich nicht um, bis sie vor der Tür stand. Dort saßen die weißen Vögel in ihrem Vorgarten und sahen sie an: fünf waren es; die neue, große Möwe zeichnete sich durch schöne, im Gefieder schwarz umrahmte dunkle Augen aus.
Edith rannte wie gehetzt ins Haus und packte hysterisch einen Koffer mit allem, was ihr in die Hände kam. Sie stürzte an den aufkreischenden Möwen vorbei auf ihr Auto zu und gab Gas wie eine Wahnsinnige. Sie wollte in die Stadt zurückfahren, direkt zu Ronald, ihrem Neffen, und zugeben, dass er Recht gehabt hatte. Jawohl, sie gehörte in eine Anstalt und ihr Vermögen sollte in Gottes Namen ihm gehören! Wenn sie dadurch vielleicht dem Schicksal entging, im Sturm umherflattern zu müssen, nie ein vernünftiges Dach über dem Kopf zu haben, rohe Heringe herunterzuschlucken oder im Müll zu picken …
Sie fuhr auf eine Autobahnraststätte, um sich mit einem Kaffee zu erfrischen – als ihr plötzlich etwas auffiel: Das orangerote Cabriolet dort, das mit zurückgeklapptem Verdeck hinter der Raststätte parkte, gehörte doch ihrem Neffen? Sie erkannte sogar die Autonummer wieder, doch, natürlich, RR und 666, darauf war er ja immer so stolz gewesen.
War das nun eine weitere Wahnvorstellung, oder befand Ronald sich zufällig wirklich auf dem Weg zu ihr? Und woher wusste er, wo sie sich befand?
Edith schlich äußerst vorsichtig zur Glastür der Raststätte und spähte hindurch. Dort hinten, an einem der Tische, saß ihr Neffe und lachte und redete mit einem anderen Mann, der ihr den Rücken zukehrte. Sie erblickte nur ab und zu graue Barthaare, die wie Antennen hervorstanden. Als der Mann dann endlich den Kopf wandte und sie seine lange Nase mit den schnuppernden großen Nasenlöchern erkannte, wurde es ihr klar: Dort saß der Makler für exklusive Häuser am Meer und sprach mit Ronald!
Wie auch immer es zusammenhängen mochte, was auch immer die beiden vorhatten, Edith war nun ganz sicher, dass es sich um ein Komplott handelte, zweifellos von langer Hand vorbereitet.
Sie bewegte sich behutsam wieder aus dem eventuellen Blickfeld ihrer Feinde, stieg in ihren Wagen und fuhr zügig zurück zu dem kleinen Ort am Meer. Sie hielt jedoch nicht vor der eigenen Haustür, sondern sie beeilte sich, zum Rathaus zu kommen. Sie wollte sich nach der Adresse der uralten kleinen Frau Berghuhn erkundigen. Und sie hoffte inständig, dass die noch lebte …
Als es ungefähr drei Stunden später an ihrer Haustür klingelte, öffnete Edith, überrascht und erfreut über den völlig unerwarteten Besuch.
Ihr Neffe Ronald und der nette Makler erklärten, sie wären sich gerade am Strand begegnet, der eine auf dem Weg, sie zu besuchen, der andere, um eins der leer stehenden Häuser mit einem Verkaufsschild zu versehen.
»Da hab ich ihn überredet, mit zu dir zu kommen, Tantchen …«
»Ja, ich hoffe, es ist nicht ungelegen. Ich wollte doch mal persönlich sehen, wie Sie sich nun hier am Meer fühlen …«, sprach der verschlagene alte Mann mit zitternden Barthaaren.
Edith versicherte, sie fühle sich großartig, gesünder und kräftiger denn je. Sie würde auf der Stelle Kaffee kochen, und, was für ein netter Zufall, gerade eben hatte sie ein Blech mit Ingwerkeksen gebacken, die würden gleich fertig sein.
»Nehmen Sie doch bitte Platz – und du auch, mein Junge, nein, hier müssen Sie sitzen, da haben Sie den Blick auf die Düne und das Meer …«
Edith lächelte und strahlte, Ronald war angenehm berührt. So freundlich hatte er seine Tante noch nie erlebt. Es schien ihr wirklich deutlich besser zu gehen als früher.
Die beiden Herren tranken Kaffee und aßen, weil sie so genötigt wurden, fast die ganzen Ingwerkekse auf. Da Männer auf so etwas selten achten, bemerkten sie überhaupt nicht, dass die alte Dame selbst nicht einen einzigen Keks zu sich nahm.
Christa Möller, die ja in Aimas Haus gezogen war, freundete sich mit Edith an.
Es war sonst recht einsam am Strand, denn für die leer stehenden Häuser schien sich absolut kein neuer Mieter zu finden. Nach und nach verrotteten die Verkaufsschilder des Maklers in den Vorgärten, es kümmerte sich auch niemand darum.
»Ich habe gelesen, die Maklerfirma sei Pleite gegangen, nachdem der Mann im Frühsommer verschwunden ist«, erzählte Christa, die es sich mit ihrer Teetasse auf Ediths Sofa bequem gemacht hatte.
Edith zuckte dazu nur die Schultern. »Tatsächlich? Ich fand ihn schrecklich unsympathisch. Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, bis eine andere Firma die Vermittlung der Häuser übernimmt. Sie sind ja alle hübsch und tipptopp«, meinte sie und goss sich selbst noch eine Tasse Tee ein.
Plötzlich rief Christa lebhaft: »Edith, nun schau bitte – da sind sie wieder! Ich hatte dir doch von diesen merkwürdigen Tieren erzählt, die hier manchmal am Strand umherlungern – da guck doch – nein, nun sind sie weggelaufen! Ein dünner, zottiger junger Schäferhund, sieht fast wie ein Wolf aus, und eine graue alte Ratte. Was für eine Zusammenstellung! Das müsste doch einen Zoologen interessieren, dass sich zwei so verschiedene Tiere zusammengetan haben, meinst du nicht?«
Manchmal ging Christa Edith mit ihrer Lebhaftigkeit schon ein bisschen auf die Nerven. Indessen nickte sie lächelnd. »Sicher, meine Liebe.«
»Ach, du glaubst mir schon wieder nicht. Das ist aber auch zu ärgerlich, dass du sie wieder nicht gesehen hast. Ein Schäferhund und eine Ratte, ich versichere dir …«
»Ja, warum nicht? Es gibt die sonderbarsten Tierfreundschaften«, stimmte Edith friedfertig zu. »Denk mal an unsere Möwen …«
»In der Tat. Und so aparte, individuelle Vögel. Waren die eigentlich schon immer da, seit du hier wohnst?«
»Nicht von Anfang an. Es ist nach und nach eine dazu gekommen«, antwortete Edith.
»Glaubst du, es werden sich noch weitere Möwen dazu sammeln?«, fragte Christa.
»Nein, damit rechne ich auf keinen Fall, meine Liebe. Es werden fünf Möwen bleiben, ich denke, das kann ich garantieren«, sagte Edith gelassen.
Das Kind in der U-Bahn
Ausgerechnet während Gitta in Spanien Urlaub machte, begegnete ihrer besten Freundin in der Hamburger U-Bahn eine Geistererscheinung.
Zuerst wusste Rosemarie gar nicht, dass es sich um etwas Übernatürliches handelte: Sie sah einfach ein Kind auf dem Sitz ihr gegenüber, einen kleinen braunhaarigen Jungen von vielleicht acht oder neun Jahren in einem Strickpullover. Das Kind sah sie mit großen, traurigen Augen an. Das tat ihr unwillkürlich Leid, sie überlegte, was ein so kleines Kerlchen wohl für Probleme haben könnte. Dann holte sie ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche, um sich die Nase zu putzen (es war ein kühler Tag mit beißendem Wind) und nachdem sie es wieder fort gesteckt hatte und aufschaute – war der kleine Junge verschwunden. Vor ihr nichts als ein leerer Platz, der einzige leere Platz in der sonst feierabendlich vollen U-Bahn nebenbei bemerkt.
Rosemarie wunderte sich, wie das Kind, ohne dass sie eine Bewegung wahrgenommen hatte, aufgestanden und weggegangen sein mochte, und sie begann, im Wagen umherzuschauen. Sie wollte gern sehen, wo der Kleine geblieben war. Gehalten hatte die Bahn inzwischen ganz gewiss nicht, der Junge musste also auf jeden Fall noch im Abteil sein. Doch merkwürdig genug, sie sah weder vorn noch hinten noch rechts noch links irgendein Kind. Weder Junge noch Mädchen, weder groß noch klein, nur Erwachsene saßen und standen umher, unterhielten sich miteinander oder starrten müde und ausdruckslos vor sich hin.
Sie achtete bei der nächsten Station scharf darauf, wer ausstieg und den Bahnsteig entlangging, und auch hier handelte es sich nur um ausgewachsene Leute.
Habe ich etwa geträumt?, fragte Rosemarie sich.
Sie fand das alles merkwürdig, vergaß es allerdings bald; es schien ja ohne Bedeutung zu sein.
Doch einige Tage später, als sie wieder nach Hause fuhr, bemerkte sie denselben kleinen Jungen in ihrem U-Bahn-Abteil. Stumm und traurig sah er sie an, mit großen Augen, und er rief verschiedene Gefühle in ihr hervor, Mitleid und Neugier, sogar Angst, und das fand sie selbst sonderbar: Was sollte schließlich an einem kleinen Jungen beängstigend sein?
Rosemarie nahm ein Rätselheft aus ihrer Tasche und löste ein Kreuzworträtsel. Als sie am Kugelschreiber kaute und umherblickte, weil ihr kein polnischer Fluss mit sieben Buchstaben einfiel, bemerkte sie, dass der Kleine schon wieder ausgestiegen sein musste. Sie wollte gar nicht erst darüber nachdenken, ob die Bahn inzwischen eigentlich an einer Station gehalten hatte. Was gingen sie wildfremde Kinder an?
Bereits am nächsten Tag fuhr Gitta wieder mit ihr zusammen ins Büro und zurück, fortgesetzt Urlaubsgeschichten erzählend. Rosemarie hörte amüsiert zu, auch noch bei der Nachhausefahrt am späten Nachmittag. Sie dachte überhaupt nicht an das mysteriöse Kind. Gitta saß ihr gegenüber und redete und lachte, Rosemarie hörte zu und lachte ebenfalls. Dann fiel ihr Blick zufällig ins gegenüberliegende Fenster, das undeutlich die vorbeifliegende dunkle Tunnelwand und ausgesprochen deutlich das erleuchtete Abteil zeigte. Und in diesem Spiegelbild sah sie, dass der traurige kleine Junge auf dem Platz direkt rechts von ihr saß. Rosemarie zuckte zusammen und schaute unwillkürlich neben sich, doch natürlich war dieser Platz leer, seit ein dicker Herr bei der letzten Station aufgestanden war, ihr auf den Fuß getreten hatte und ausstieg.
Rosemarie blickte in das Fenster (da saß der schwermütige Junge, hin- und hergeschaukelt wie jeder andere Fahrgast), dann wieder neben sich – da war nichts als ein kahler, glatter, leerer Sitz.
Sie unterbrach Gitta mitten in einer Anekdote über einen Herrn aus Berlin mit schwerem Sonnenbrand, der sich in sie vergafft hätte, indem sie ihr die Hand in den Arm krallte und halblaut verlangte: »Sieh mal in das Fenster gegenüber! Siehst du da was?«
Gitta guckte gehorsam, ziemlich erstaunt, und flüsterte: »Was denn?«
»Der kleine Junge, neben mir – siehst du den?«
Gitta schaute neben Rosemarie, ins Fenster gegenüber, neben Rosemarie und dann, ziemlich verwirrt, in das Gesicht ihrer Freundin: »Kleiner Junge –?«
Die U-Bahn wurde langsamer, lief in eine Station ein und hielt. Einige Leute stiegen aus und einige stiegen ein. Eine ältere Frau mit einer Pelzmütze setzte sich aufatmend neben Rosemarie auf den leeren Sitz. Auch im Fenster gegenüber.
»Was für ein kleiner Junge?«, fragte Gitta, immer noch deutlich beunruhigt.
»Ist schon gut«, behauptete Rosemarie munter. »Alles in Ordnung! Und bist du ihm näher gekommen, diesem Berliner?«
Gitta brauchte eine Weile, bis sie wieder im Erzählfluss war. Sie warf manchen misstrauischen und besorgten Blick auf Rosemarie und beschloss, ihre Freundin in der nächsten Zeit genauer zu beobachten.
Dabei fiel ihr auf, dass Rosemarie zunehmend nervös wurde; dass sie vor allem in der U-Bahn dazu neigte, weder um sich herum noch in eins der Fenster zu sehen, sondern nur auf ihre gefalteten Handschuhe und manchmal, wenn Gitta sie ansprach, direkt in das Gesicht ihrer Freundin.
Was sieht sie? Was fürchtet sie?, fragte Gitta erst sich und dann Rosemarie. Eine wirklich aufschlussreiche Antwort erhielt sie nicht, nur die Bitte, sich zu gedulden. Rosemarie müsse erst selbst herausfinden, was mit ihr los sei. Dann würde sie alles erklären.
Gitta bemühte sich also um Geduld. Als einmal eine Mutter mit zwei Kindern, darunter einem hübschen, etwa elfjährigen blonden Jungen in ihrer Nähe saß, fragte sie Rosemarie mit den Augen, ob dies etwas zu bedeuten hätte und erhielt ein Kopfschütteln als Antwort.
Dann bekam Gitta zu ihrem Kummer ihre große alljährliche Wintererkältung. Sie musste einige Tage mit Fieber im Bett bleiben und Rosemarie mit der U-Bahn alleine lassen. Sie wollte ausdrücklich keinen Besuch, damit Rosemarie sich nicht ansteckte, das war seit Jahren eine feste Abmachung zwischen ihnen.
Am dritten Tag konnte sie immerhin schon wieder, wenn auch heiser und rau, sprechen, und sie rief die Freundin an und fragte, wie es ihr ginge.
»Oh, gut!«, sagte Rosemarie mit offenbar gespielter Munterkeit.
Darauf stellte Gittas heisere Stimme die vielleicht etwas sonderbare Frage: »Wie war es heute in der U-Bahn?«
Und Rosemarie antwortete darauf sofort: »Oh, heute? Ach, heute bin ich nicht U-Bahn gefahren, nein. Heute habe ich mir ins Büro und zurück mal ein Taxi geleistet. Ich war etwas spät dran, weißt du, und es war ja auch so scheußliches Wetter …«
Sie schwieg und Gitta schwieg auch. Dann begann Rosemarie, ins Telefon zu weinen und Gitta anzuvertrauen, sie fürchte, verrückt zu sein. Sie erzählte alles von dem traurigen kleinen Jungen. »Entweder bin ich matschig im Kopf oder das ist ein Gespenst, was meinst du?«
Gitta neigte zu der zweiten Ansicht. »Ich hab keine Ahnung von so was und ich hab es selbst noch nie erlebt, aber man hört und liest doch immer wieder von solchen Sachen, das ist Millionen von Menschen schon passiert. Wenn du verrückt wärst, würdest du darauf bestehen, dass dieses Kind wirklich da ist anstatt es zu bezweifeln, glaube ich. Also, sehr wahrscheinlich handelt es sich um ein Gespenst und es will was von dir. Deshalb zeigt es sich dir. So ist das doch auch immer in Filmen …«, flüsterte Gitta.
»Warum gerade von mir?«, fragte Rosemarie verzweifelt, aber mehr konnte Gitta an diesem Tag beim besten Willen nicht mehr von sich geben und sie erlitt darüber hinaus einen Rückfall, bei dem das Fieber wieder anstieg und ihr die Stimme noch einmal ganz versagte.
Als sie eine gute Woche später wieder auf wackeligen Beinen war, besuchte sie Rosemarie in deren Wohnung. Der Duft des Kaffees drang bis ins Treppenhaus. Rosemarie hatte einen Napfkuchen gebacken sowie Haferflockenkekse. Im Übrigen sah sie bleich und übernächtigt aus.
»Hast du immer noch mit dieser Sache zu schaffen?«, fragte Gitta, und ihre Freundin nickte.
»Ich bin gestern und vorgestern wieder mit der U-Bahn gefahren. Diese ewigen Taxifahrten kann ich mir einfach nicht leisten. Und da hab ich ihn wieder gesehen. Vorgestern saß er auf dem Notsitz im Mittelgang. Und gestern – das war schrecklich! – war er nicht im Abteil, sondern im U-Bahn-Tunnel!«
»Was?!«
»Ja, stell dir vor. Ich hab nämlich extra weder im Abteil rumgeguckt noch in die Scheiben, sondern durch das Glas durch in den Tunnel. Und da stand er plötzlich neben den Schienen, dicht an die Wand gedrückt, und seine Haare sind im Fahrtwind geflogen.«
Gitta erschauderte und nahm sich ein großes Stück Napfkuchen.
»Ich hab vor Schreck aufgeschrien. Hast du eine Ahnung, wie die Leute dich angucken, wenn du in der U-Bahn ohne Grund schreist? Fürchterlich. Du, ich hab so einen Verdacht, was der Geist von mir will. Du hast doch gesagt, er will was?«
Gitta nickte unsicher.
»Also, es passiert immer zwischen den Stationen Baumwall und Rödingsmarkt. So viel hab ich herausgefunden. Und jetzt glaube ich …« Rosemarie beugte sich mit weitaufgerissenen Augen über den Kaffeetisch, »dass er da unten irgendwo liegt. Falls er liegt.«
Gitta verstand gar nichts und guckte entsprechend.