Ein silbergrüner Wasserfall - Dagmar Seifert - E-Book

Ein silbergrüner Wasserfall E-Book

Dagmar Seifert

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Beschreibung

Ein spritziger Roman mit Anleitung zum Glücklichsein Viele Leute behaupten, sie hätten Angst davor, dass sich in ihrem Leben niemals etwas ändern wird. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es gerade die Veränderungen sind, vor denen sich die Menschen fürchten. So geht es auch Dörthe Mehling, die zwar mit ihrem Leben unzufrieden ist, sich aber davor scheut, den eingefahrenen Weg zu verlassen - bis ... ja, bis ein Fremder ihr klarmacht, dass sie im Hier und Jetzt leben muss, und sie sich Hals über Kopf verliebt …

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Seitenzahl: 518

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Dagmar Seifert

Ein silbergrüner Wasserfall

Roman

LangenMüller

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www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2000 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Thinkstockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8287-3

Für meinen Mann,

der mich mit Geduld und Fantasie

ans Wasser gewöhnt hat

1. Kapitel

In dem Dörthe Mehlig ihre betrübliche Ausgangssituation schildert – ein Verrückter im Bus dieselbe Ansicht vertritt wie Diana Ross – Monika meint, das wird ja doch nichts – wir Curd Andreesen bei seinem ersten strahlenden Auftritt beobachten – und die Zukunft neuerdings ziemlich ernst genommen wird

Viele Leute haben Angst davor, dass sich in ihrem Leben niemals etwas ändern wird. Ich glaube jedoch, noch mehr Leute haben Angst davor, dass sich in ihrem Leben jemals etwas ändern könnte. Das kleinere von zwei Übeln scheint zu sein, dass alles bleibt, wie es ist – selbst das Unangenehme. Das kennt man wenigstens und hat gelernt, damit umzugehen.

Ich zum Beispiel hieß vor anderthalb Jahren noch Dörthe Mehlig. So was kann einen Menschen enorm behindern.

Eigentlich fing alles an diesem Montag vor anderthalb Jahren an. Zunächst ein ganz normaler Morgen: Dicky, mein Hund, sprang mit dem Weckerklingeln um halb acht auf meinen Bauch, hechelte mir ins Gesicht und wartete, bis ich aufwachte. Ich schubste ihn zurück auf den Boden, erhob mich schimpfend, kam am Flurspiegel vorbei und sagte kurz und halblaut zu meinem Spiegelbild: »Ich hasse dich, Dörthe Mehlig.« Wie jeden Morgen. Dann setzte ich die Kaffeemaschine in Gang, bevor ich ins Bad trottete.

Nach dem Frühstück zog ich Dicky sein Halsband an und ging mit ihm runter auf die Straße. Man hat mir erzählt, auf Mallorca wäre der März ganz bezaubernd. In Hamburg ist er kalt, nass und windig; außerdem hatte ich bis spät in die Nacht einen alten amerikanischen Film im Fernsehen gesehen und war sehr müde. Ich gähnte dauernd, dass mir die Augen tränten.

Nachdem er sich ausgepinkelt hatte, wurde der arme Dicky zurück in die Wohnung gebracht. Es ist kein Spaß für einen kleinen, fetten alten Hund, zwischen acht und fünf Uhr täglich allein in einer Wohnung zu sitzen und zu warten, bis Frauchen wieder da ist. Wenigstens gehörte ihm ein Sofakissen auf der Fensterbank, von dort aus konnte er die Straße beobachten.

Wenn Dicky große, schöne Hunde mit geraden Beinen sah, keifte er wie verrückt. Wenn es ihm langweilig oder zu einsam wurde, dann heulte er schwermütig. Was ich damals noch nicht wusste: Die Nachbarn sammelten Unterschriften, um uns zum Auszug zu zwingen.

Ich kontrollierte, ob sich Fressen und Wasser in Dickys Näpfen befand – Wasser ja, seine Tagesration Hundefutter verputzte er gern schon zum Frühstück – zog ihm das Halsband aus, damit er’s bequemer hatte, und ging. Ich kam noch mal am Flurspiegel vorbei, sah aber nicht hin. Ich wusste schließlich, wie ich aussah. Feist und seltsam.

Seltsam zum großen Teil deshalb, weil ich dauernd Schwierigkeiten mit meinen Mitmenschen bekam. Meine Haare zum Beispiel: teils glatt geschnitten, teils stufig und teils gepuschelt wie Dickys Schnauzenbart. Ich hatte mich so mit dem Friseur gestritten, dass ich während des Schneidens aufstand, mir das Riesenlätzchen vom Hals riss, bezahlte und ging. Zu Hause nahm ich mir dann eine Schere und verschlimmerte die Sache.

Oder mein weißer Lackmantel. Den kaufte ich aus purem Trotz, weil eine selbstgefällige Verkäuferin mir erklärte, er sähe komisch an mir aus. Ich wollte demonstrieren, dass ich für mich selbst entscheiden konnte. Dabei sah er definitiv komisch an mir aus.

Oder meine Schultertasche. Ich fand sie widerlich. Ich hatte sie im Schlussverkauf einer Frau weggeschnappt, die mich vorher geschubst und geknufft hatte. Bloß, um sie zu ärgern. Zur Strafe besaß ich nun diesen orange-braunen Beutel.

Ich stiefelte zur Bushaltestelle, guckte die anderen Wartenden giftig an, weil sie mich giftig anguckten, führte einen Disput mit dem Fahrer, weil ich ihm angeblich meine Dauerkarte zu kurz vor seine dumme Nase gehalten hatte, bekam einen Sitzplatz und starrte missmutig in den nassgrauen Morgen, während wir in die Innenstadt fuhren.

Ein Kerl neben mir las im Stehen, rang in einer Kurve um Balance und stieß mir seine Zeitung gegen den Kopf. Ich grunzte: »Na –!!« Und er murmelte eine unglaubwürdige Entschuldigung. Sein Gesicht sagte: Platzbeefsteak! Ich dachte, du mich auch, und starrte weiter aus dem Fenster.

Ich war dran gewöhnt, dass mich keiner leiden konnte. Hässliche Menschen sind unbeliebt.

Ich glupschte den chaotischen Morgenverkehr an und grübelte wie so oft darüber nach, warum das Leben mich eigentlich so gemein behandelte. Einmal mehr schien mir, als sei man von vornherein auf Niete programmiert, wenn man Dörthe Mehlig heißt.

Was den Vornamen angeht: Getauft bin ich auf Dorothea, aber mein Opi hat’s verhunzt. Solange er noch lebte, nannte er mich immer min lütten Dörthe. Das übernahm meine Mutter aus lauter Pietät gegenüber dem Verstorbenen. Weil er ihr stets so ein guter Vater gewesen war und weil er so grandios Mundharmonika spielte. Anstatt es aus Pietät mir gegenüber, die ich noch lebte, bleiben zu lassen! Ich konnte zwar nie Mundharmonika spielen, dafür sang ich sehr schön. Meine Stimme war schon immer das einzige, womit ich zufrieden war. Ich sang eigentlich den ganzen Tag, mit Radiobegleitung und ohne. Schüchtern schon als Kleinkind und maßlos verlegen, sobald ich aus Versehen im Mittelpunkt stand, verlor ich jede Befangenheit, sobald es hieß: Dörthe, sing was! Ich sang sofort jedes gewünschte Lied vor, laut und ungeniert. Das einzige Problem bestand für gewöhnlich darin, mich dazu zu bewegen, den Schnabel wieder zu schließen.

In der Schule riefen sie mich Dörrobst. Die anderen in meinem Jahrgang hießen Michaela und Andrea und Claudia. Und dazwischen ich als Dörrobst.

Außerdem war ich hässlich. Schnullermund und große, dicke weiße Augendeckel. Busenlos und knochig, viel zu dürr – wie mein Name schon sagte – stolperte ich in die Pubertät. Ausgerechnet in dieser Zeit, in der man für jeden Krümel Attraktivität dankbar ist, verpasste mir ein mitleidsloses Geschick eine dicke Zahnklammer und eine dicke Hornbrille.

Weil ich so hässlich aussah und so hässlich hieß, tröstete ich mich mit Nugat und Champagnertrüffeln. Das Ergebnis war, wie sich jeder denken kann, niederschmetternd: Hängebacken links und rechts vom Schnullermund, ein Kürbisbäuchlein, ein afrikanischer Fettsteiß und Cellulitis wie eine rosa Pampelmuse. Zwar konnte mich niemand mehr busenlos schimpfen. Aber das fiel über dem drallen Bauch gar nicht weiter auf. Wenigstens wurde ich irgendwann die Zahnklammer wieder los, weil meine Zähne klein beigegeben hatten. Die Brille blieb selbstverständlich.

Mein Schicksal verlief ununterbrochen traurig. Den Beruf, den ich anstrebte – Jazzsängerin – ergriff ich natürlich nicht, weil meine Mutter sich sonst vom Fensterbrett gestürzt hätte. Mein Vater sagte nichts dazu. Mein Vater sagte nie viel. Er war ein sehr bedrückter Mensch.

Ich wurde Verlagskauffrau. Das versprach nämlich Sicherheit. Nach der Ausbildung war ich zwei Jahre lang arbeitslos. Ich hätte genausogut singen können. Das wäre jedoch unsicher und gefährlich gewesen. Siehe Fensterbrett. Lieber vernünftig arbeitslos als singend. Und dann traf ich Manfred Mehlig, Spediteur. Ich verknallte mich vorübergehend in seine lustigen braunen Augen. Gerade, als ich anfing, darüber nachzudenken, ob er nicht eigentlich ziemlich oberflächlich war, gerade, als mir auffiel, dass sein Frohsinn eine Menge mit seinem jeweiligen Alkoholpegel zu tun hatte – da fiel mir auch auf, dass ich schwanger zu sein schien.

Ich geriet sofort in Panik. Babys sind ja furchtbar goldig, nur behagte mir der Gedanke überhaupt nicht, mit zweiundzwanzig nicht bloß fett, hässlich und unzufrieden, sondern auch noch eine fette, hässliche, unzufriedene alleinerziehende Mutter zu sein.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich es machte. Jedenfalls entwickelte ich plötzlich sehr viel Initiative und Hartnäckigkeit, und ein paar Wochen später waren Manfred und ich verheiratet. Jetzt hieß ich außer Dörthe auch noch Mehlig.

Ich feierte eine miese kleine Hochzeit mit vielen Kompromissen, mit großmäuliger Verwandtschaft des Bräutigams (Was hat Manni sich denn da aufgehalst?) und gramzerfurchter Verwandtschaft der Braut (Wenn das man gut geht! Ein Spediteur –??). Meine Tante Edith äußerte, als sie schon voll des edlen Weines war, das grenze ja an Proletariat. Ich hatte ebenfalls bereits einen im Tee und erzählte ihr, Manfred könne auch an schlechten Tagen mindestens zwei Mal hintereinander. Das fand Tante Edith degoutant, woraufhin ich plärrte, sie sei ja nur neidisch. Nun war Onkel Günther beleidigt, nahm Tante Edith am Arm und ging.

Ein Freund des Bräutigams und der Trauzeuge prügelten sich zu fortgeschrittener Stunde in der Küche, ausgerechnet neben dem kalten Buffet, mein Verdacht hinsichtlich der zunehmenden Trunksucht Manfred Mehligs wurde rapide bestärkt, und meine Mutter bekam einen Heulkrampf, weil ihr neuer Schwiegersohn sie olle Zippe genannt hatte und weil mein Vater überhaupt nichts dazu sagen wollte.

Am nächsten Morgen stellte sich dann heraus, dass ich nicht im Geringsten schwanger war.

Obwohl ich selbst nie begriffen habe, woran es lag, brauchte ich vier Jahre, bis ich endlich geschieden wurde. Wenigstens habe ich begriffen, woran es lag, dass es dann endlich klappte: Manni hatte den blonden Lehrling aus der Drogerie schräg gegenüber geschwängert. Diesmal war’s kein falscher Alarm, es wurden Zwillinge. Ich war noch nicht mal siebenundzwanzig und kam mir uralt vor, denn der Drogerielehrling wurde gerade siebzehn.

Meine Mutter nickte mit ihrem tragischen Haupt und meinte: »So sind die Männer ...« Mein Vater stand stumm daneben und sah schuldbewusst aus. Er hatte sowieso ständig ein schlechtes Gewissen, das lag an seinem Beruf. Er war Gerichtsvollzieher.

Mir blieb die Zweizimmerwohnung im ersten Stock in der Osterstraße, Manfred zog aus. Mir blieb auch der ziemlich verbaute Dackelterrier. Den hatte ich mir aus Verzweiflung gleich nach der Hochzeit angeschafft. Um nicht ganz allein zu sein mit Manni Mehlig.

Der Hund passte optisch zu mir: die Hinterbeine etwas kürzer als die Vorderbeine und alle viere krumm, unordentlich verteilte braune Pünktchen auf weißem Fell, ein stehendes und ein hängendes Ohr und rund um die Schnauze ein vollkommen unmotivierter Puschelbart. Ich hatte ihn Moby Dick getauft, weil er als Welpe an ein glattes weißes Walfischbaby erinnerte. Da er Kekse und Kartoffelchips liebte, blieb von dem majestätischen Namen bald nur noch Dicky übrig.

Nachdem mein Gatte von der Bildfläche verschwunden war, fand ich mein Leben nicht mehr grauenhaft und tragisch. Nur noch langweilig und trostlos. Wenn ich in den Spiegel guckte, fiel mir auf, dass mein Schnullermund zunehmend ein Dreieck bildete, Spitze nach oben. Ich sah aus wie ein beleidigter Karpfen.

Und jetzt war seit langer Zeit überhaupt nichts mehr passiert. Ich arbeitete in einem Kinderbuchverlag im Vertrieb, das war öde. Ich nahm zu und machte irgendeine Diät und nahm etwas ab, dann überkam mich eines Nachts garantiert wieder der Frust, und ich schloss mich im Kühlschrank ein. Ich besaß Klamotten in Größe 42, in Größe 44 und in Größe 46. Alle passten ab und zu. Wenn 46 anfing zu kneifen, kaufte ich mir in der Apotheke Appetitzügler und Schlankheitsdrinks.

Seit Jahren hatte sich kein Mann mehr für mich interessiert. Außer einem Perversen im Kinderbuchverlag, der mich mal im Fahrstuhl belästigt hatte.

Ich fühlte mich wirklich nicht gerade glücklich. Was vielleicht noch schlimmer war – ich fühlte mich auch nicht unglücklich. Eigentlich fühlte ich überhaupt nichts. So, als wäre ich gar nicht da.

Ich las viele Romane, und ich guckte schrecklich viel fern. Ins Kino ging ich auch oft. Ich lebte in fremden Schicksalen, die mich davon ablenkten, dass es Dörthe Mehlig gab.

Am Dammtor stieg ein dünner, langer Mann mit fettigen Haaren in den Bus und setzte sich ausgerechnet auf den eben frei gewordenen Platz neben mir. Er sah irgendwie beängstigend aus. Ich starrte so angestrengt aus dem Fenster, dass ich ihm glatt den Rücken zudrehte.

Vor uns saß ein Ehepaar, das sich seit einer Weile stritt, ohne wirkliche Leidenschaft, einfach so gewohnheitsmäßig. Sie sagte ständig: »Wann willst du denn endlich mal damit anfangen?« Und er wiederholte dauernd: »Demnächst. Ich fang bald damit an. Jetzt nicht. Nicht jetzt.«

Und plötzlich bollerte der dürre Mensch neben mir los: »Ja, du, bloß, wir leben nun mal im Jetzt! Nur im Jetzt können wir handeln!« Er war so laut, dass der ganze Bus zuhörte und der Fahrer besorgt in den Rückspiegel blickte. Ich kriegte vor Schreck Bauchschmerzen. Natürlich war ich herumgefahren, als es neben mir zu brüllen anfing.

»Gestern ist vorbei und nicht mehr zu ändern! Morgen kann das zu spät sein! Weißt du, ob du morgen noch lebst?!«, donnerte der Verrückte mich an. Er hatte wilde, fanatische Augen.

Ich traute mich nicht, wegzugucken, und schüttelte hastig den Kopf.

»Na siehst du! Wer weiß das schon? Morgen geht das vielleicht nicht mehr. Wenn du was tun willst, denn tu das JETZT!! Das ist die einzigste Zeit, in der du was tun kannst! Du musst bereit sein! Erwarte dein Schicksal! Wenn du das verpennst, denn war’s das gewesen! Nur wenn du wach bist, kriegst du das mit. Sei bereit für das Lebensziel, für den wirklichen Sinn von deinem Leben! Irgendwann brettert das nämlich plötzlich auf dich zu – über dich weg – dddschschschjjjjjummm! –, und denn ist das vorbei. Jeder Mensch hat jede Möglichkeit, wenn er man will. Bloß woll’n muss er! Und sein Ziel muss er kennen! ’N Ziel, für das sich das lohnt ...« Ein stehender Fahrgast klopfte dem Prediger auf die Schulter und meinte: »Ist ja gut, Alter, nu komm man wieder runter, was?«

Daraufhin hörte er wirklich auf. Er blickte verstört um sich und aus dem Fenster. Der Bus hielt, der Beruhiger öffnete die Tür, um auszusteigen, der Verrückte sprang auf und hinterher auf die Straße. Ich hörte, wie er den Beruhiger fragte: »Hast du mal ’n büschen Geld, du?«

Jedenfalls lebte er nach seiner eigenen Devise: Er war wach genug gewesen, um dem einzigen Mann, der ihn freundlich ansprach, jetzt hinterherzuspringen und ihn anzuschnorren.

Die Tür ging wieder zu, und wir fuhren weiter, an der Alster vorbei, deren Fontaine im hohen Bogen in den grauen Himmel spuckte. Mein Herz klopfte immer noch aufgeregt. Mir gab die Sache einen Stich. Wo war denn eigentlich mein Lebensziel? Bereits – dddschschschjjjjjummm! – über mich hinweggebrettert – und ich hatte es verpennt?

Fast hätte ich meine Haltestelle verpasst vor lauter Nachdenken. Ich marschierte zum Verlagsgebäude. Damals hatten sie den Eingang noch nicht umgebaut, es sah alles etwas düster und eng aus. Über der Tür war das Kuchenbecker-Verlagszeichen abgebildet, die Schattenrisse zweier Kinder, eins mit einer Schaufel, eins mit einem Eimerchen in der Hand, umrahmt von einer Art Wappen. Vielleicht waren die Vorfahren von Max Kuchenbecker ja noch richtige Bäcker gewesen; sein Vater verlegte bereits Kinder- und Jugendbücher und hatte sich deshalb passenderweise die Sandkuchen backenden Gören ausgedacht.

Meine Mutter fand den Verlag solide. Er brachte Bilderbuch-Klassiker heraus wie das Mohnmännchen und Zirpe, die Grille, die hatte sie als Kind schon gelesen, und ich bekam sie ebenfalls geschenkt. Dass Kuchenbecker ansonsten ziemlich viel oberflächlichen Schund produzierte, vor allem im Jugendbuchbereich, fiel ihr nicht weiter auf.

Ich stellte mich vor den Fahrstuhl und drückte den Knopf, um nach oben zu fahren. Mein Magen grummelte vor sich hin, weil ich außer Kaffee noch nichts zu mir genommen hatte. Ich frühstückte lieber am Arbeitsplatz, dann musste ich nicht ganz so zeitig aufstehen.

Bevor der Fahrstuhl kam, rumpelte jemand aus der Seitentür, die zu den Lagerräumen führte. Ausgerechnet der Perverse, der mich belästigt hatte. Dirk Etzold hieß er, aber alle nannten ihn Etzi. Ich fand ihn ätzend. Ein Kerl mit großer Nase und Schlitzaugen, ewig grinsend. Er arbeitete als Tischler und Packer und Allesheilmacher schon seit längerer Zeit im Verlag und erfreute sich größter Beliebtheit. Ich nannte ihn bei mir, weil er hauptsächlich im Keller zugange war, die Kellerassel. Etzi schleppte mehrere Bücherpakete und steuerte auf den Fahrstuhl zu.

Ich witschte um die Ecke und die Treppe hinauf, da ich streng darauf achtete, nie wieder mit diesem Mann allein in einem Raum zu sein, schon gar nicht im Fahrstuhl!

Im Winter war das gewesen: Draußen Eisregen, ich schlitterte morgens mit Dicky von Baum zu Baum – und im Verlag war die Heizungsanlage kaputt. Wir saßen in Mänteln und mit Handschuhen an den Computern und Schreibmaschinen. Der Wartungsdienst war bestellt, konnte aber erst am frühen Nachmittag kommen.

Da tat Etzi sich wer weiß wie hervor, indem er den Fehler entdeckte und korrigierte. Er wurde als der Held des Tages gefeiert und bekam von Max Kuchenbecker und von Heino Frohwein (meinem direkten Vorgesetzten) und überhaupt von allen erfreuten Menschen im Verlag einen Cognac oder einen Whisky angeboten. Die Leute machen sich überhaupt nicht klar, was sie anrichten, wenn sie einen labilen, unterschwelligen Wüstling mit Alkohol versorgen.

Als endlich Feierabend war, fuhr ich im Fahrstuhl nach unten. Ich ahnte damals noch nicht, wie schicksalsträchtig dieser Kasten war. Frau Sawade, die Jugendbuchlektorin aus dem vierten Stock, stand neben mir. Und im dritten Stock stieg die Kellerassel ein, um mit nach unten zu fahren. Etzi grinste verträumt vor sich hin und verbreitete einen Dunst wie eine Kneipe.

Da fiel mir schon auf, dass etwas nicht stimmte, denn im Spiegel starrte er immer mich an statt Simone Sawade. Daran konnte man bereits merken, wie pervers er war. Simone Sawade ist die schönste Frau im ganzen Verlag. Mit bronzefarbenem, langem, lockigem Haar, haselnussbraunen Augen und einem traumhaften Gesicht, immer enorm hübsch und geschmackvoll gekleidet. Natürlich war sie unendlich von sich eingenommen. Sie schenkte uns Untermenschen keinen Blick – wahrscheinlich liefen wir bei ihr unter der Müllmann und die fette Tippse aus dem Fünften. Plötzlich fiel ihr wohl ein, dass sie was in ihrem Büro vergessen hatte, denn sie schüttelte ungeduldig den Kopf und drückte den Knopf vom zweiten Stock, kurz bevor wir ihn passierten. Dann stieg sie dort aus. Von da an starrte Etzi mich aus seinen gelblichen Wolfsaugen nicht mehr nur im Spiegel an, sondern direkt. Und er sagte: »Na, Dörthe?« Das war sehr plump vertraulich. Ich setzte eine hochmütige Miene auf und guckte auf die Wand mir gegenüber. Da schwankte dieser Mensch zu mir, umarmte mich und knutschte an meinem Hals herum! Ich schrie laut und versuchte, ihn wegzuschubsen. Wir hielten inzwischen im Erdgeschoss, und die Fahrstuhltür öffnete sich. Mein Geschrei hallte ganz nett im Treppenhaus.

Eigentlich hätten um diese Zeit überall reichlich Kollegen sein müssen – eigentlich hätte der Portier unten in seinem Glaskasten sitzen müssen. Aber wie das so ist, weit und breit keine Seele, wenn man Hilfe braucht.

Etzi knutschte weiter, es schien ihm egal zu sein, dass ich auf seinen Schultern herumboxte und ihn zu treten versuchte. Bei all dem brachte er es noch fertig, den Fahrstuhlknopf für »Keller« zu drücken! Die Tür schloss sich langsam und mitleidslos wieder, und wir schwebten nach unten. Etzi grunzte, dass er von mir geträumt hätte. Ich konnte es mir vorstellen: ein typischer Lustmördertraum, an dessen Ende ich, mit meinem Karpfenmaul nach Luft japsend, am Boden lag, neben meiner zertrampelten Brille. Ich war gar nicht mehr in der Lage zu schreien, weil ich so heulen musste. Vor Aufregung bekam ich auch noch Schluckauf.

Dann hielt der Fahrstuhl, die Tür öffnete sich erneut. Etzi ließ mich los und schwankte kichernd davon. Mit teuflischem Lachen, das im Kellergang sehr unheimlich klang.

An dem Abend stieg ich auf dem Weg nach Hause eine Haltestelle eher aus dem Bus und kaufte mir im Supermarkt ein Fläschchen Kräutergeist. Ich hatte das deutliche Gefühl, jetzt auch einen Schnaps zu benötigen. Der Schluckauf ging übrigens den ganzen Abend nicht mehr weg, ich befürchtete schon, ich würde ihn bis an mein Lebensende behalten.

Will mir jemand verdenken, dass ich lieber die Treppe hochkeuchte, statt noch mal mit Etzi Fahrstuhl zu fahren?

Ich kam völlig außer Atem im fünften Stock an. Monika Hellwege, mit der ich das Büro teilte, war schon da und blinzelte boshaft mit ihren übergroßen dunkelbraunen Augen. »Morgen, Dörthe. Na, mein Deern – bist du von zu Hause hergejoggt? Tritt jetzt der Sport in dein Leben?«

»Nein. Nur Etzi wäre beinah in meinen Fahrstuhl getreten«, erklärte ich. Monika hatte ich damals gleich am nächsten Morgen den Überfall geschildert. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob ich den Vorfall der Verlagsleitung melden sollte und wollte ihre Meinung einholen. Sie hatte mir abgeraten: »Das glaubt dir doch keiner, Dörthe!«

Leider traf sie damit voll ins Schwarze. Ich glaubte ja selber kaum, dass jemand was Unsittliches mit mir vorhaben könnte.

Jetzt feixte sie breit. »Denkst du denn immer noch, dass Etzi was von dir wollte?«

Ich hängte gerade meinen Mantel in den Schrank und drehte mich erstaunt um: »Was meinst du damit, ob ich das noch denke? Er hat schließlich ...«

»Kindchen, der Mann hat dich auf den Arm genommen. Der hat dich voll verarscht! Und du bist drauf reingefallen ...« Monika zeigte ihren Überbiss in ungebremster Heiterkeit.

Ich bemühte mich um einen gelassenen Gesichtsausdruck, doch ich konnte fühlen, wie meine Mundwinkel auf meine Schultern stippten. »Ach, Monika, das ist jetzt ja auch egal ... «, sagte ich ganz ruhig. Dann machte ich Kaffee und packte meine zwei Stück Butterkuchen aus. Ich aß, während ich den Computer anwarf, immer noch mit möglichst heiterer Miene. Monika beobachtete mich genau. Ich begann einen Brief einzutippen. Natürlich hatte sie recht. Das einzig Merkwürdige war, dass ich den Grund für Etzis Überfall so falsch deuten konnte. Ich würde diesen Kerl in Zukunft nicht mehr fürchten, sondern mit Verachtung strafen.

Der weitere Tag verlief so weit ganz normal. Ich arbeitete lustlos vor mich hin. Nachmittags bekam ich einen groben Anpfiff von Heino Frohwein, weil ich ein wichtiges Fax vergessen hatte. Monika an ihrem Schreibtisch saß mit funkelnden Glupschaugen in der ersten Reihe und ließ sich kein Komma entgehen.

»Sie sind völlig desinteressiert! Es ist Ihnen egal, was Sie tun!«, wütete Frohwein. Ich protestierte empört. Im Prinzip hatte er absolut recht: Mein Job war sterbenslangweilig. Schon deshalb, weil ich ihn ausübte.

Heino Frohwein ist stämmig und borstig. Über seinem rötlichen Gesicht wuchert eine enorme Tolle harter Locken, aus seinen rötlichen Ohren und seinen rötlichen Nasenlöchern kringeln sich ebenfalls Borsten, seine Handrücken sind so dicht und drahtig behaart, dass ihn die sieben Geißlein bestimmt nie ins Haus lassen würden. Ein ehrgeiziger Mann, sehr bewundert von den meisten Mitarbeitern. Manche glaubten, er würde sich von Max Kuchenbecker adoptieren lassen und den Verlag übernehmen. Andere meinten eher, er würde eines Tages einfach aussteigen und seine eigene Firma gründen. Er war immer überall gleichzeitig zugange und machte nicht nur seinen eigenen Job, sondern half auch allen anderen, notfalls mit guten Ratschlägen.

Monika schwärmte für Frohwein. Sie fand, er hätte was Animalisches. Da konnte man wirklich nicht widersprechen. Sie hätte ihn gern geheiratet, weil sie die Zusammenstellung des Doppelnamens Hellwege-Frohwein so positiv fand. Das stimmte zweifellos. Man durfte nur nicht wissen, dass Frohweins Lieblingsspruch lautete: Verdammter Mist, verdammter!, während Monika ständig der Ansicht war: Das wird ja doch nichts ...

Damals stimmte ich ihr übrigens meistens zu. Es wurde ja wirklich alles nichts.

Frohwein seinerseits konnte Monika nicht ausstehen. Während er mich hin und wieder zu Recht anfauchte, war er zu ihr immer richtig gemein. Er hatte sogar ein Mal »Sie magere Ratte!« zu ihr gesagt. Monika weinte und erwog kurz, zu kündigen, ihn wegen Beleidigung zu verklagen oder vor’s Arbeitsgericht zu gehen. Sie ließ natürlich alles bleiben: Das wird ja doch nichts ...

Sie tröstete sich damit, dass sie ihm nicht gleichgültig war. Hass, sagte sie, ist der Liebe sehr nahe verwandt. Nur wenn er sie so gelangweilt behandeln würde wie mich, wäre sie traurig. Dann wüsste sie nämlich, dass sie ihm egal sei. Solange er sie ungerecht anbrülle und auf ihr rumhacke und zusammenzucke, sobald sie ihn berühre, sei völlig klar: »Der hat was mit mir laufen, Dörthe! Der wehrt sich zwar noch, aber ich mache ihm zu schaffen ...«

Nach der Predigt von Frohwein legten wir eine kleine schöpferische Pause ein. Monika las mir aus der Zeitung vor, einen Artikel über Mammografie. Vorsorge jeder Art war ihre Spezialität. Sie selbst hatte das erst kürzlich machen lassen, erzählte sie.

Ich blickte nachdenklich auf ihren Pullover. In meinem ganzen Leben ist mir keine busenlosere Frau als Monika Hellwege begegnet. Sie ist nicht einfach nur knabenhaft. Da, wo Ausbuchtungen zu sein haben, sitzen bei ihr leichte Vertiefungen. Ich rätselte, wie die Leute um Himmels willen etwas an ihr zu packen bekommen hatten, um es in den Mammografieapparat zu klemmen. Das Einzige, was hervorragt, sind die Vorderzähne.

Dann musste sie los, weil sie noch zum Orthopäden wollte. Die Zeitung ließ sie mir da. Ich blätterte gedankenlos darin herum und traf auf Folgendes:

Madame Fátima

befragt die Sterne –

löst Ihre Probleme –

weiß alles über Ihre Zukunft –

erklärt Ihnen den Sinn Ihres Lebens!

Und die Telefonnummer von Madame Fátima. Ich schnitt die Anzeige mit meiner großen Papierschere aus. Neuerdings interessierte ich mich für den Sinn meines Lebens.

Nicht viel später schaukelte ich im Bus nach Hause. Ich herzte meinen Hund und stürmte mit ihm nach unten zur nächsten Laterne. Nach dem Abendbrot schaltete ich nicht wie sonst den Fernseher ein. Ich setzte mich vielmehr mit dem Telefon aufs Sofa und wählte die Nummer von Madame Fátima.

Ein Anrufbeantworter spielte mir zunächst geheimnisvolle orientalische Bauchtanzmusik vor. Eine ebenso geheimnisvolle orientalische oder sonst wie fremdländische Männerstimme verkündete: »Madame Fátima is zu Zeit nich anwesen. Bitte teilen Sie Ihr Wunsche und Adress und Nummer hier auf ...« – da wurde der Orientale durch ein Knacksen unterbrochen, und eine recht gewöhnliche Frauenstimme meinte in breitem Hamburgisch: »Bohne! Wer ist denn da?«

Ich war gerade kurz davor gewesen, wieder aufzulegen, da ich nicht die Absicht hatte, einem wildfremden männlichen Orientalen meine Adresse anzuvertrauen, und schon gar nicht meine Wünsche. Jetzt musste ich mich hastig sammeln: »Mehlig, guten Abend! Sind Sie Frau Fátima?«

»Was wollen Sie denn?«

»Ich – ich würde mich gern beraten lassen. Zukunftsweisend«, sagte ich.

»Wann? Morgen nachmittag? Gegen vier?«

Ich kraulte Dickys Puschelbart. »Ich bin berufstätig und habe einen Hund, mit dem muss ich nach Feierabend erst mal raus ... Ginge es abends?«

»Punkt sechs!«, verkündete Madame Bohne. »Morgen also. Dann geben Sie mir man jetzt schon mal Ihr Geburtsdatum.«

Ich verriet es ihr.

»Hier in Hamburg geboren?«

»Im Marienkrankenhaus. Ich ...«

»Kennen Sie auch die Geburtszeit?«

»Ja. Ich bin nämlich zufällig Punkt vier Uhr morgens geboren, das weiß ich ganz genau. Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie die Uhr ...«

»Tje. Bis morgen abend denn«, unterbrach mich Madame Fátima. Ich legte nachdenklich auf.

»Ob das jetzt richtig war?«, fragte ich Dicky. Er wedelte. Er wedelte aber nicht zustimmend zu meiner Verabredung mit einer Wahrsagerin – er wedelte vielmehr unsere Nasch-Schublade an. Die Idee war im Grunde nicht verkehrt. Ich stand auf, holte eine Tüte »Cheese and Onion Chips« hervor, öffnete sie und fütterte abwechselnd Dicky und mich selbst.

Das war am Montag passiert. Und dann kam dieser schicksalhafte Dienstag. Die Sonne schien. Es lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Und ich begegnete zum ersten Mal Curd Andreesen.

Nachmittags war ich noch ausgesprochen frustriert gewesen, und ich sagte zu Monika: »Warum kaufen wir uns nicht eins von den tollen Nugat-Stücken aus der Konditorei Wanda?«, und Monika sagte: »Wozu? Ich bin noch satt vom Mittagessen, dieser Braten war grässlich, wie konntest du so viel davon essen?« Wobei sie sich wohlgefällig über ihre superschmalen Hüften strich. »Wenn du schon gehst, Dörthe, dann bring mir wenigstens auch die »Neue Frauenwelt« mit, die hab ich letzte Woche nicht gekriegt, und Donnerstag gibt’s schon wieder die neue.«

Nun kam ich also mit zwei Stück Nugattorte und einem kleinen Florentiner in Seidenpapier sowie der bunten Zeitschrift unter dem Arm zurück zum Verlag. Vor der Eingangstür – im Halteverbot – parkte ein blutrot-metallic schimmerndes Cabrio. Irgendein Oldtimer, bestimmt sehr teuer.

Ich überquerte vorsichtig mit dem Kuchenpaket die Straße. Ein weiteres Cabrio schoss auf mich zu (wenn es in Hamburg wirklich mal aufhört zu regnen und die Sonne ein bisschen scheint, meinen alle Leute sofort, sie müssten ihr Autodach aufreißen), das Radio spielte überlaut, ein alter Song von Diana Ross dröhnte heran: »Get ready! Get ready! Tweedelidee and Tweedelidam, look out, Baby, ’cause here I come, get ready, get ready!« Ich rettete mich mit einem uneleganten Hopser eben noch auf den Gehweg (ich trug gerade mal wieder meine Sachen in Größe 46, und alles spannte. Deshalb brauchte ich auch dringend Kuchen, um meinen Frust wegzukauen).

Das Cabrio rauschte an mir vorbei, Diana Ross verklang – und ich bemerkte Curd Andreesen in der Tür des Verlags.

Max Kuchenbecker stand neben ihm, einen Arm um seine Schulter gelegt, redete auf ihn ein und zupfte ihm irgendwelche Fussel von der Jacke. Sein verschmitztes braunes Dschingis-Khan-Gesicht leuchtete vor angestrengter Freundesliebe. Darüber wogten seine weichen weißen Haare wie Badeschaum. Aber ihn betrachtete ich nicht genauer, denn Kuchenbecker kannte ich.

Curd Andreesen sah ich zum ersten Mal. Ich meine: direkt. Im Fernsehen hatte ich ihn natürlich schon öfter erlebt. Er hatte bis vor Kurzem eine Talkshow im Fernsehen geleitet. Bei anderen hockte er ständig als Gast rum. Und seit er ein erfolgreiches Kinderbuch (bei Kuchenbecker) herausgegeben hatte, machte er sogar manchmal in einer Nachmittags-Kindersendung mit.

Bisher war er mir nie besonders aufgefallen. Warum auch? Falls er jemals vorher den Verlag besucht hatte, dann war es mir entgangen. Jetzt stand ich ihm in einigen Schritten Entfernung gegenüber, und ich fand ihn auf der Stelle umwerfend.

Hinterher dachte ich oft: Wenn nicht ganz genau eine halbe Sekunde vorher das Lied an mir vorbeigefahren wäre, das mich aufforderte, bereit zu sein, Get ready! –, und wenn nicht am Tag vorher ein Irrer im Bus neben mir gefaselt hätte, dass man jederzeit bereit sein sollte, seinem Schicksal zu begegnen – dann hätte ich Curd Andreesen vielleicht nur mit einem kurzen, gelangweilten Blick gestreift, hätte mich geärgert, dass ich den Fahrstuhl nicht für mich allein hatte, um dann die zwei Stück Torte sowie die Hälfte vom Florentiner zu essen. Dann wäre wahrscheinlich nichts weiter passiert, sondern alles so geblieben, wie es war. Und ich wäre bis zum heutigen Tag immer noch Dörthe Mehlig.

So aber fühlte ich mich wie elektrisiert. Ich starrte Andreesen an – weder er selbst noch mein Chef schienen mich auch nur zu bemerken. Sie schlenderten unter intensivem Gerede langsam auf den Fahrstuhl zu, ich schlich ebenso langsam mit meinem Kuchenpaket und der blöden Zeitschrift hinterher. Kuchenbecker drückte den Knopf, und der Fahrstuhl riss sofort sein Maul auf. Die beiden Männer stiegen ein und drehten sich zu mir um. Die Tür schloss sich langsam – doch Curd Andreesen schob seinen Arm dazwischen und lächelte mich strahlend an. »Na, hopp, Zaubermäuschen!«, sagte er.

Zaubermäuschen! Und es klang nicht mal ironisch.

Tweedelidee, Tweedelidam ... Ich hüpfte verschämt mit ins Kabäuschen. Max Kuchenbecker redete ungebremst weiter. Andreesen nickte fortgesetzt verständnisvoll. Dann plötzlich glitten seine dunklen Augen hinüber zu meinem Gesicht, und er zwinkerte mir ganz kurz zu! Natürlich rutschte mir die Zeitschrift unter dem Arm weg und platschte auf den Fahrstuhlboden. Max Kuchenbecker starrte verdutzt auf das Titelbild zu seinen Füßen, das Prinzessin Viktoria von Schweden mit Brillantkrönchen und Ordens-Sicherheitsgurt zeigte.

Curd Andreesen hob das Blatt auf, rollte es zusammen und steckte es mir vorsichtig unter den Arm. »Alles wieder beisammen?«, fragte er ganz nett.

Dann stiegen die beiden im dritten Stock aus. Kuchenbecker, ohne mich zur Kenntnis zu nehmen. Curd Andreesen jedoch drehte sich, bevor die Tür sich hinter ihm – und vor meiner Nase – schloss, wahrhaftig um und zwinkerte mir noch einmal zu!

Als ich im fünften Stock an Land krabbelte, hatte ich weich gekochte Knie.

Monika schilderte mir sofort ihr letztes Gespräch mit Frohwein: »Und ich so: ›Bis wann soll das denn fertig sein?‹ – und er so: ›Hurtig, meine Liebe!‹ – und ich so: ›Was denn nun – die Muster müssen doch auch ganz schnell raus?‹ – und er so: ›Dann beeilen Sie sich doch einfach mal!‹ –« In Monikas Berichten sprachen die Leute nicht miteinander, sie machten alle »so«.

»Rate mal, mit wem ich gerade im Fahrstuhl war!«, unterbrach ich sie.

»Mit Etzi?« Sie blinzelte listig.

»Nein doch! Mit Kuchenbecker – und mit diesem Curd Andreesen.«

»Und?«

»Er hat mit mir geflirtet. In gewisser Weise jedenfalls.«

»Kuchenbecker?!«

Ich setzte mich stumm an meinen Schreibtisch. Was tat ich da eigentlich? Warum vertraute ich so was ausgerechnet Monika an? »Du meinst doch nicht etwa, Curd Andreesen hätte sich in dich verguckt, mein Deern?«

»Natürlich nicht. Er hat bloß ein Auge zugekniffen.«

»Ihm war was reingefallen!«, vermutete Monika.

Es war schrecklich mühsam, sie wieder von diesem Thema abzubringen. Andererseits muss ich zugeben, dass es sich dabei um mein Lieblingsthema handelte. Indessen wusste Monika auch nicht mehr über ihn als ich; was man eben so in den Klatschmeldungen las. Ursprünglich war er Journalist und Kulturkritiker gewesen; weil er so gut aussah, kam unweigerlich das Fernsehen; er war dreiundvierzig oder vierundvierzig Jahre alt, mit einer blonden Frau verheiratet, die neben ihm optisch ein wenig abfiel, und hatte zwei Töchter.

Während ich den Kuchen aß, blätterte Monika angeregt in ihrem Herz-und-Schmerz-Blatt. Und da entdeckte sie prompt die neueste Geschichte über Curd Andreesen! Sie las sofort alles vor: Er hatte sich soeben von seiner Frau und den Töchtern getrennt, um seine Affaire mit Tanja Bausch voll auszuleben. Das Prachthaus ließ er seiner Familie. Bei Tanja Bausch handelte es sich um eine schöne TV-Nachrichtensprecherin. Sie war genauso alt wie ich: zweiunddreißig!

Ich kaute am Kugelschreiber und träumte aus dem Fenster.

»Der wird ja schon grau!«, bemerkte Monika abfällig und hielt mir das aktuelle Foto zum Artikel hin: Curd Andreesen kam, den Arm um Tanja Bausch gelegt, aus einem Restaurant. Stimmt, sein lockiges Haar war mit Grau durchsetzt. Dafür funkelten seine Augen tiefschwarz. Er hielt den Kopf leicht gesenkt und guckte auf interessante Weise von unten nach oben. Übrigens trug er auf dem Bild dieselbe Wildlederjacke, die er eben auch angehabt hatte. Ich verschlang ihn mit den Augen.

»Bist du jetzt verknallt in den, oder was?«, fragte Monika. Sie wollte sich totlachen: »Endlich mal ’n Mann, der zu dir passt, Dörthe!«

Ich bereute inniglich, die Sache überhaupt erwähnt zu haben.

Nachdem ich an diesem Abend mit Dicky alle Runden gedreht hatte, zog ich meinen Mantel gar nicht erst aus, sondern erklärte sofort: »Frauchen muss noch mal los, Frauchen muss ins Büro – du weißt doch, da kann man nichts machen! Frauchen geht ins Büro, und du machst es dir hier hübsch gemütlich ... Frauchen ist ganz schnell wieder zurück ...«

Dicky hob die Schnauze steil nach oben, schloss die Augen und ließ einen anschwellenden Heulton los.

Ich streichelte seinen runden glatten Kopf, als er im Bus neben mir saß. Er hatte ja recht: Neun Stunden am Tag allein zu sein reicht wirklich.

2. Kapitel

In dem Madame Fátima aussieht wie Hilde Bohne – Dicky einen Albtraum zerbellt – jemand um einen Gefallen gebeten wird – ein Leopard und eine Milchkuh im Café Wanda sitzen – Eimsbüttel bei aller Liebe nicht die Steppe ist – und die intelligenten Frauen des Kuchenbecker-Verlages eine Kreativitätsgruppe gründen

Madame Fátima wohnte in der Rothenbaumchaussee, in einem wuchtigen dunkelroten Altbau. Die Haustür stand offen, und Dicky hoppelte vor mir her die gebohnerten Treppen hinauf. Es roch nach angebratenen Zwiebeln. Im zweiten Stock rechts hing ein verschnörkeltes Messingschild mit Löwenkopf:

Fátima Maravilha. Sprechstunde 10.00-17.30

Ich klingelte hoffnungsfroh. Nach fast zehn Minuten warten und dem vierten Klingeln gab ich niedergeschlagen auf. Ich wollte gerade Dicky die Treppen wieder hinunterziehen, als ich an der gegenüberliegenden Tür ein weißes Plastikschild entdeckte:

Hilde Bohne

A. Maravilha

Ich läutete also auch an dieser Tür. Drinnen war ein lebhafter Gedankenaustausch in einer Fremdsprache zu hören, dann wurde mir von einem Mann mit pechschwarzem Schnauzbart geöffnet. An seinem linken Ohr funkelte ein kleiner Brillant. Zwiebeldunst umwölkte ihn. Er betrachtete mich, wie alle Menschen mich betrachteten: missmutig und leicht angeekelt. Als hätten sie unvermutet eine fette Spinne entdeckt.

»Guten Abend – Mehlig. Ich hatte ... Ich war mit Madame Fátima um sechs – also um achtzehn Uhr – verabredet ...«

Der Mann blickte auf seine Armbanduhr und teilte mir streng mit: »Es is schon eben eine Viertel na sechs!«

Ich erwiderte beleidigt: »Ich hab die ganze Zeit an der Tür gegenüber geklingelt ...«

Er schüttelte den Kopf über so viel Blödheit, beugte sich nach hinten und rief etwas Ausländisches in den Flur.

Eine ordinäre, grelle Frauenstimme – die Stimme von Frau Bohne, ich erkannte sie wieder – antwortete auf deutsch: »Jungenochmal, denn lass sie doch rein, Antonio! Ich komm gleich!«

Antonio nahm unwirsch ein Schlüsselbund von irgendwoher, trabte an uns vorbei zur gegenüberliegenden Wohnungstür, schloss sie auf, ging voran und knipste im Flur Licht an. Er öffnete eine Zimmertür, machte hier ebenfalls Licht und wies auf einige Stühle. »Ja, bitte sehr hier. Madame Fátima komm’ gleich!«

Nachdem er noch einen ausgesprochen diskriminierenden Blick auf den armen Dicky geworfen hatte, schüttelte er erneut den Kopf und verschwand.

Ich nahm Platz. Dicky setzte sich eingeschüchtert unter meinen Stuhl. Ein großes Poster an der Wand zeigte eine geheimnisvolle, schöne Frau mit einem Schleier über dem Haar, die in eine Kristallkugel schaute. Sie sah ganz genau so aus, wie man sich eine Madame Fátima vorstellte.

Auf einem Tischchen lag ein kleiner Stapel lila- und goldfarben gedruckter Heftchen. Ich hob eins hoch und las:

Madame Fátima

Astrologische Beratung,

Zukunftsvorhersagen,

Partnerzusammenführung

Gespräche nur nach Voranmeldung

Als ich das Heftchen aufblättern wollte, trat eine grobknochige Frau um die fünfzig mit kurzem, dauergewelltem graublonden Haar ein. Sie trug eine Kittelschürze und Gesundheitssandalen und sah nicht im Geringsten so aus, wie man sich eine Madame Fátima vorstellte. Sie wirkte ganz und gar wie Hilde Bohne. Ich stand erschrocken auf. Dicky zog sich noch etwas tiefer unter den Stuhl zurück und knurrte leise.

»Guten Abend!«, sagte die Frau und schüttelte energisch meine Hand. »Kommen Sie man mal mit! Das Tier lassen Sie hier ...«

Ich sagte beflissen »Platz!« und »Sitz!« und »Bleib jetzt hier!« zu Dicky. Er wollte jedoch unbedingt mitkommen. Madame Fátima schubste mich schließlich in den Flur, schob Dicky mit dem Fuß zurück und schloss die Tür vor seiner entsetzten Schnauze.

Mich führte sie durch eine Tür mit der Aufschrift Sprechzimmer. Der Raum war klein, aber sehr interessant. Auf einem Glastisch stand tatsächlich eine Kristallkugel. An den Wänden hingen astrologische Zeichnungen. Alles sah sehr magisch aus – bis auf den Computer auf Frau Fátimas Schreibtisch. Ein mittelgroßer, flacher Monitor, der auf einem Sockel wie auf einem Hals saß, das Gesicht schräg nach oben gerichtet. Bis auf den Bildschirm schien der Computer aus silbernem Metall zu bestehen. So etwas Tolles besaß nicht einmal Max Kuchenbecker. Diese Frau schien sehr gut zu verdienen. Diese Frau musste eine hervorragende Wahrsagerin sein, und wenn sie hundertmal aussah wie eine Putzfrau! Ich setzte mich vertrauens- und erwartungsvoll auf den Stuhl jenseits des Glastisches. »Tja, Frau Mehlig – ich hab schon Ihr Horoskop berechnet ...«, sprach Hilde Bohne. Sie raschelte mit irgendwelchen Papieren und suchte mit der Zunge zwischen ihren Zähnen nach Abendbrotresten.

Naja, dachte ich, du meinst: Dein Computer hat mein Horoskop berechnet ...

Madame Fátima schenkte mir einen kurzen, misstrauischen Blick, und ich zügelte meine Gedanken. Vielleicht konnte sie die ja wirklich lesen.

»Sie wollen was über Ihre Zukunft wissen ...«, fuhr sie fort. Sie nahm meine rechte Hand, drehte sie um, starrte in den Handteller und nickte. Dann sah sie durchdringend in meine Augen und nickte. Dann blätterte sie wieder in den Papieren, die vor ihr lagen, und nickte zum dritten Mal.

»Also ... Sie sind das einzige Kind ... Als Kleinkind immer bloß krank, später war die Gesundheit stabiler ... Ihr Vater steht im Staatsdienst?«

»Er – was? Ach so, ja, stimmt. Er ist ... Er arbeitet für’s Finanzamt ...«

Diesmal warf sie mir einen müden Blick zu, als hätte sie so ihre eigenen Erfahrungen mit dem Finanzamt, bevor sie fortfuhr: »So. Eine wichtigere Beziehung haben Sie mit Anfang zwanzig gehabt, das hat man ungefähr vier Jahre gehalten ...«

»Richtig!«, stimmte ich beeindruckt zu.

»Sie arbeiten in einem mittelgroßen Betrieb, und Sie reißen sich da ja wohl kein Bein aus!« Madame Fátima sprach Heino Frohwein aus dem Herzen. »Geldsorgen haben Sie keine, nicht wahr, trotzdem Sie auch nicht Spitzenverdiener sind. Der Saturn klebt am MC, da kann Ihnen ja nicht viel passieren.«

»Und – meine Zukunft? Wie geht’s weiter?«

Sie blätterte in den Computerausdrucken und zuckte dann mit den Schultern: »Wie geht’s weiter ... ’n recht gutes Auskommen, gute Gesundheit ... Wenn Sie nicht in dem Betrieb bleiben, wo Sie gerade zugange sind, dann wechseln Sie in so’n ähnlichen über. Sie werden immer in Geborgenheit leben, Saturn im zehnten Haus im Steinbock, rundum gut aspektiert. Also große Schicksalsschläge seh ich nirgends ...«

»Und – in der Liebe?«

Wieder bekam ich einen müden Blick zugeworfen. »Mhm. Tja, also ...«

Madame Fátima stockte, denn jetzt begann Dicky im Wartezimmer zu heulen. Ich erklärte: »Manchmal hört er von selbst wieder auf, wenn man sich nicht drum kümmert ...«

Madame Fátima seufzte. »Also mit der Liebe ... Da kommt nicht so viel. Nein.«

Ich starrte sie ungläubig an: »Gar nichts?! Nie wieder?«

Sie legte die Computerdrucke ungeduldig zusammen: »Mein Zeit, doch ... Hier und da ... Bloß harmonisch wird das auch nicht. Gucken Sie mal, Sie haben die Venus im zwölften Haus. Da ist sie schüchtern, einsam und enttäuscht. Und denn noch im Quadrat zu Uranus, ’n bildschöner Scheidungsaspekt. Sonne, Venus, Aszendent, alle im Stier. Sie sind bockbeinig und träge in Beziehungen. Stur wie ein Panzer. Sie suchen die Schuld nie bei sich selbst ...«

Dicky heulte jetzt sehr laut. Ich war auch den Tränen nahe: »Aber ... Wie –? Ich meine ... bekomme ich keine Kinder? Mache ich nicht irgendwie Karriere? Keine große Liebe ...?«

»Ach, liebe Frau Mehlig!«, sagte Hilde Bohne ungeduldig. »Was wollen Sie denn mit der großen Liebe? Zur großen Liebe gehört doch die große Tragödie, was soll Ihnen die nützen? Und Karriere ... Sei’n Sie man vorsichtig. Sonne im Quadrat zu Pluto, vielleicht haben Sie ja so’n unterdrückten Ehrgeiz. Damit lösen Sie bloß Abneigung bei anderen aus. Wer nach oben will, muss beliebt sein. Beleibt reicht nicht. Der Mond im Quadrat zum Jupiter, der lässt natürlich immer Fett ansetzen. Gucken Sie mal, Sie werden demnächst dreiunddreißig, und bis zum dreißigsten Lebensjahr sind die Weichen gestellt. Sie werden nie große Geldsorgen haben, immer ’ne solide Gesundheit ... Wenn Sie wüssten, was für verzweifelte Menschen mir hier oft gegenübersitzen! Die wären dankbar für so’n Schicksal wie Ihrs! Keine Katastrophen, Jungenochmal, kein großes Leid ... ’ner Klientin von mir sind ihre drei Enkel weggestorben ...« »Aber ...« Ich zupfte nervös an meiner Tasche herum, »wenn ich nun etwas ganz anderes will? Wenn ich was Besonderes will und alles dafür tue?«

Madame Fátimas müder Blick glitt über mein Gesicht, meine Frisur, meine Figur, mein Outfit. »Sie? Also sei’n Sie mir man nicht böse – Sie haben gar nicht die Ausstrahlung. Sie sind kein Mensch, der sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. Mit Ihrem Mond in den Fischen wissen Sie ja nicht mal genau, was Sie eigentlich wollen.« Sie musterte mich noch gründlicher von oben bis unten. »Sie sind nicht dynamisch. Zu viel Erd-Energie. So Menschen wie Sie können immer erklären, wieso alle anderen schuld sind ...« Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und fügte trocken hinzu: »Zahlen Sie bar oder mit Scheck?«

Ich zahlte mit Scheck. Dafür bekam ich die Computerausdrucke. Die Wahrsagerin schüttelte mir verabschiedend die Hand und zog mich gleichzeitig zum Wartezimmer, aus dem Dicky jaulte. Ob sie mir etwas anderes – oder jedenfalls etwas Ausführlicheres – gesagt hätte ohne Dickys schlechtes Benehmen?

Ich ließ ihre Hand nicht los: »Und wenn ich nun – wenn ich mein Leben doch noch mal ganz anders in den Griff bekäme?«

Madame Bohne entzog mir ihre Hand. »Sie bekommen ja noch nicht mal Ihren Hund in den Griff ...«, sagte sie trocken.

Wenige Minuten später ließ ich Dicky auf der Moorweide völlig neue Bäumchen schnuppern. Das schöne Wetter hatte sich nicht gehalten: Es nieselte schon wieder. Es machte also überhaupt nichts aus, dass ich leise vor mich hinflennte.

Wir fuhren im Bus durch den nassen Abend nach Hause. Ich würde mir die Pralinenschachtel zu Gemüte führen, die ich eigentlich für Monika Hellweges Geburtstag gekauft und geschenkmäßig hatte verpacken lassen. Musste ich ihr eben eine neue besorgen.

Ich kraulte Dickys feuchten Puschelbart, starrte in die dunkle, reflektierende Fensterscheibe und sah etwas sehr Unerfreuliches: mich. Mein Haar klebte feucht an meinem Kopf, und meine Nase glänzte wie lackiert. Ich war froh, als mir durch die Wärme im Bus die Brille beschlug.

Am nächsten Morgen wachte ich auf, weil Dicky auf meinem Bauch herumsprang und mich schrill ankläffte. Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr war, schimpfte ich diesmal nicht. Ich knuddelte ihn vielmehr voll Dankbarkeit und stand auf, um ihm einen Keks zu geben. Ich selbst trank ein Glas Milch, legte mich wieder ins Bett und starrte vor mich hin. Dicky hatte mich geweckt, weil ich gealbträumt hatte. Seit meiner frühesten Kindheit überfiel mich ab und zu derselbe schreckliche Traum. Immer ein wenig anders – und im Grunde doch stets gleich:

Um mich herum ist alles milchig-blaugrün. Ich höre merkwürdige Geräusche – eine Art Lärm, wie durch Watte. Ich blicke nach oben: Da schweben zwei riesige dunkle Wolken nebeneinander. Und ein paar kleinere dunkle Flecken. Ich kann nicht wirklich deutlich sehen. Abgesehen von diesen dunklen Wolken ist es oben hell, und ich bewege mich langsam immer tiefer, in eine schreckliche Dunkelheit. Eigentlich passiert in diesem Traum nie etwas Schlimmes. Keine Ungeheuer, niemand, der mich bedroht. Ich scheine ganz allein zu sein. Und trotzdem bin ich jedes Mal halb verrückt vor Angst! Ich will schreien, und ich weiß, dass ich nicht schreien darf. Ich will weglaufen, und ich weiß, dass ich nicht weglaufen kann. Ich will Luft holen, und ich weiß, dass ich verloren bin, wenn ich es jetzt wage zu atmen.

Ich glaube, ich gebe irgendwelche Geräusche von mir, wenn ich das träume. Manfred Mehlig hat mich manchmal nachts geschüttelt: »Dörthe! Wach bloß auf, Mensch! Das ist ja nicht mitanzuhören!«

Seit ich Dicky habe, weckt er mich erfreulicherweise, sobald ich wieder in diesem Grauen versinke. Das fand Manni übrigens nicht so gut. Er hatte wohl mehr Spaß daran, mich selbst zu schütteln, als durch Dickys Gebell aufzuschrecken.

Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, wieder einzuschlafen. Ich hatte Angst, dass der Traum noch nicht weit genug weg war – vielleicht kam er zurück? Also las ich ein Weilchen. Dann stand ich auf. Sonst wusch ich mich immer abends, um morgens länger schlafen zu können, aber jetzt tat ich es zur Abwechslung morgens. Anschließend machte ich mir ein richtiges Frühstück, anstatt einfach nur Kaffee zu trinken. Ich kochte mir sogar ein Ei. Und ich ging viel ausführlicher als sonst mit Dicky. Ich fühlte mich großartig. Sauber und ordentlich und aktiv.

Ich war vor Monika Hellwege im Büro. Das passierte selten.

Als sie endlich auftauchte, strahlte ich sie an: »Guten Morgen!«

Sie blinzelte misstrauisch ein Mal im Zimmer herum, bevor sie ihren Mantel auszog: »Was ist denn mit dir los? Hast du im Lotto gewonnen?«

»So was Ähnliches. Ich glaube, ich fange ein neues Leben an«, erklärte ich. Ihre Antwort hätte ich mir denken können: »Das wird ja doch nichts.«

Natürlich beschäftigte sich Monika damit, herumzutratschen, dass ich seit gestern unsterblich in Curd Andreesen verliebt war. Vielleicht fügte sie als besonders amüsante Beilage hinzu, dass ich deshalb ein neues Leben anfing. Ich redete mir ein, dass es mir egal war, was andere Leute von mir dachten.

Bedauerlicherweise war mir das jedoch über alle Maßen wichtig. Da ich ziemlich schlecht über mich dachte, hoffte ich immer, dass meine Mitmenschen das im Grunde anders sahen. Ich wollte geliebt, bewundert und verehrt werden. Dabei war ich selbst weit davon entfernt, andere Leute zu mögen.

Ich litt darunter, als ich merkte, wie mir in der Kantine hinterhergekichert wurde. Ich sah keine Möglichkeit, mich davor zu bergen. Dick und hässlich, wie ich war, musste ich mich mit meinem Tablett voll Grützwurst, Kartoffelmus und Apfelkompott zwischen den höhnischen Blicken hindurchwinden. Eigenartig, dass ich nicht lang hinschlug und mit dem Gesicht im Kompott landete. Auf jeden Fall bildete mein Magen einen soliden Knoten, in den kaum etwas hineinpasste. Ich beschloss, das als willkommenen Anlass zu einer neuen Diät zu benutzen.

Manchmal fragte ich mich: Redest du dir das nicht nur ein, dass dich keiner leiden kann, dass sie alle über dich lachen? Vielleicht finden sie dich ja ganz nett – oder jedenfalls uninteressant. Nimm dich nicht so wichtig, Dörthe!

Damit hatte ich mich in der Kantine auch gerade wieder getröstet, als ich mein Tablett zurückbrachte. Und dann hörte ich, kurz bevor ich in den Fahrstuhl stieg, wie ein Kollege aus der Promotion-Abteilung auf dem Flur leise zu einem anderen sagte: »Weia, hat der Andreesen ein Glück! So eine heiße Frau!« Und dann lachten beide wie verrückt. Und guckten mich an.

Die Fahrstuhltür ging hinter mir zu. Ich drehte mich um und blickte in den Spiegel. Meine Haare ähnelten Dickys Ohren: Teils standen sie in die Höhe, teils fielen sie platt herunter. Ich trug eine pinkfarbene Bluse zu einer normalen blauen Jeans – Größe 46. Damit man die Speckröllchen in meiner Taille nicht so sehen konnte, hatte ich über die Bluse eine blau-gelb geringelte Weste gezogen. Ich bemerkte plötzlich, wie wenig alle Farben zusammenpassten. Und die orange-braune Umhängetasche passte eigentlich auch nicht zu meinen schwarzen, klobigen Halbstiefeln. Genau wie Madame Fátima Bohne gesagt hatte: Sie lösen bloß Abneigung bei anderen aus ...

Ich holte ein Mal tief Luft. Jetzt, hatte der Dünne im Bus gesagt. Wenn du was tun willst, dann tu das JETZT!

Anstatt im fünften Stock auszusteigen, drückte ich den Knopf für den vierten. Vierter Stock: Jugendbuchlektorat. Ich las an den Türen die Namensschilder – hier, Simone Sawade – und klopfte an.

»Bitte sehr?«, erklang Simones arrogante Damenstimme.

Jetzt! Ich zerrte die geringelte Weste über meinen Fettsteiß und trat ein.

Simone hob erstaunt den Kopf, als sie erkannte, wer da kam. Vielleicht hielt sie’s für einen Irrtum. Ihr Zimmer duftete zart nach ihrem Parfum. Sie trug einen olivgrünen Anzug, die Ärmelmanschetten und der Kragen waren aus dunkelgrünem Samt oder Plüsch. Dazu hatte sie Schnürschuhe mit hohen Absätzen an aus olivgrünem Wildleder, deren Kappen aber aus dunkelgrünem Lack bestanden! Als hätte jemand die Schuhe zum Anzug entworfen – oder umgekehrt ... Und beides sah fantastisch aus zu ihrem bronzebraunen Haar und den haselnussbraunen Augen. Warum konnte ich das alles so genau erkennen und bewundern, ohne mich selbst ähnlich anzuziehen?

»Frau ... äh ...« Simone klopfte ungeduldig mit ihrem Kugelschreiber auf den Schreibtisch ... »Mehlrich –?«

»Mehlig. Guten Tag, Frau Sawade. Ich habe eine große Bitte. Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«

Sie starrte mich verblüfft an. »Einen Gefallen –?«

»Ja. Könnten Sie mir bitte beibringen, wie man gut aussieht?«

Simone öffnete den Mund, erst vor Erstaunen, dann vor Heiterkeit. Sie lachte laut los. Wenigstens klang es nicht gehässig. Nur furchtbar amüsiert. Als sie wieder reden konnte, sagte sie, weiter lächelnd: »Was –?!!«

Ich nickte nur. Verstanden hatte sie mich ja, sonst hätte sie nicht gelacht.

Simone schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht ... Wie soll denn –? Wie stellen Sie sich das denn vor?« Sie lachte wieder. Jetzt klingelte ihr Telefon. Sie hob ab und meldete sich mit einem Lachen in der Stimme. Dann wurde sie ernst: »Was soll das heißen? – Was fällt Herrn Kuchenbecker denn ein –? Die Verträge sind doch perfekt, da kann er doch jetzt nicht mehr ... Das ist doch Schnickschnack!« Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine scharfe Falte.

Ich stellte bekümmert fest, dass diese Falte intelligent und entschieden aussah. Wenn ich überhaupt ein paar Falten hatte, dann ganz unentschlossene.

Simone Sawade hatte mich völlig vergessen. Sie telefonierte energisch weiter. Ich schlich rückwärts aus dem Zimmer und schloss die Tür möglichst lautlos.

Vor meinem Schreibtisch sackte ich zusammen, holte einen Schokoladenriegel aus der Schublade und verschlang ihn mit zwei Happen. Monika sah entzückt zu: »Eines Tages werden sie dich über die Straße rollen müssen! Du kommst doch eben aus der Kantine, nicht?«

Ich verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass mein Magen in der Kantine noch ein abweisender Knoten gewesen und erst kürzlich wieder zu einem gierigen Hohlraum mutiert war.

Ich konnte gar nicht fassen, was ich da eben angestellt hatte. War ich denn völlig übergeschnappt? Wie konnte ich mich freiwillig noch viel lächerlicher machen, als ich sowieso schon war? Was hatte ich denn vorgehabt? Erwartete ich, dass die Sawade mich mit einem Zauberstab berührte wie die gute Fee von Aschenputtel, worauf aus mir – pling! – ein schöner Mensch wurde?

Ich hatte vollkommen spontan und unüberlegt gehandelt. Sehr selten tat ich so etwas. Fast immer bereute ich es.

Ich holte den zweiten Schokoladenriegel aus meinem Schreibtisch und wickelte ihn aus.

»Das mit deinem neuen Leben hat wohl nichts damit zu tun, dass du schlanker wirst?«, erkundigte sich Monika scharfsinnig. »Wie soll das denn sonst aussehen? Willst du einfach jeden Morgen früh aufstehen?«

Ich antwortete nicht und verleibte mir trotzig den zweiten Schokoriegel ein. Quatsch, neues Leben.

Madame Fátima hatte ja so recht. Ich besaß nicht das Format, um an mir und meinem Geschick irgendetwas zu ändern.

In einer Packung befanden sich drei Schokoriegel. Gerade, als ich nach dem dritten tastete, klopfte es an unsere Tür. Monika rief: »Herein!«

Simone Sawade trat ein. Mit ihr kam ein leichter Hauch Parfum. Sie warf ihre seidigen Locken zurück, lächelte mich spitzbübisch an und meinte: »Frau Mehlig, können wir nachher in der Konditorei Wanda einen Kaffee miteinander trinken? So gegen Viertel vor fünf?«

Ich konnte nur wünschen, dass Dicky es heute mal etwas länger aushielt. Kurz vor halb fünf verließ ich fluchtartig das Büro. Monika quetschte sich trotzdem noch mit in den Fahrstuhl. Seit Simone Sawade sich mit mir verabredet hatte, war ich von Monika mit Fragen bombardiert worden.

»Sie so: ›Können Sie einen Kaffee mit mir trinken?‹ – Was kann sie denn nur von dir wollen, Dörthe?«

»Keine Ahnung.«

»Du musst das doch wissen! Mit der haben wir doch sonst nie zu tun –?«

»Nein. Eigentlich nicht.«

»Was, glaubst du, will sie von dir?«

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht will sie, dass du irgendwas für sie tust?«

»Ja, vielleicht.«

»Könnte ich nicht einfach mitkommen, Dörthe?«

»Nein! Kannst du nicht!«

»Nun sei doch nicht gleich sauer. Na gut, tschüs, mein Deern! Aber erzähl’ mir morgen ganz genau, was sie wollte, hörst du?«

Wir waren unten angekommen. Monika machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Station. Sie drehte sich noch zweimal nach mir um, bevor sie endlich um die Ecke verschwand.

Ich war um zwei Minuten nach halb fünf im Café Wanda und bestellte mir Cappuccino und Champagnertorte. Ich war sehr nervös. Wenn ich Monika versicherte, dass ich keine Ahnung hatte, wieso die Sawade mich sprechen wollte, dann war das nicht gelogen. Was konnte sie wollen? Mich bitten, sie nie mehr zu belästigen? Mir einen Schönheitschirurgen empfehlen? Mir zum Kauf einer beliebigen Frauenzeitschrift raten, der ich entnehmen konnte, wie ich das Beste aus meinem Typ machte?

Simone Sawade kam um zehn vor fünf. Da hatte ich die Champagnertorte schon verputzt. Sie setzte sich zu mir an den Tisch. Ihr Blick war amüsiert und neugierig. »So! Jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten. Nun sagen Sie mir vor allem eins: Wie sind Sie bloß auf die Idee gekommen, ausgerechnet mich danach zu fragen?«

Das war einfach zu beantworten: »Sie sind die schönste Frau, die ich kenne. Und Sie haben so viel Geschmack ...«

Es war bestimmt nicht das erste Mal, dass Simone so was zu hören kriegte. Sie sah jedoch aus, als hörte sie’s immer wieder gern.

Sie bestellte grünen Tee und nichts zu essen. Ich meine: Wir waren bei Wanda, es duftete nach Schokolade und Vanille und Sahne – und sie bestellte nichts zu essen! Die Serviererin räumte meinen kahlgekratzten Teller ab. Simone betrachtete ihn kurz mit einer hochgezogenen Augenbraue. Dann guckte sie wieder mich an, als wäre ich etwas sehr Originelles, Lustiges.

»Wissen Sie, warum ich mich mit Ihnen verabredet habe?«

Wie ich schon mehrfach versichert hatte: »Keine Ahnung!«

»Weil mir Ihr Mut imponiert. Außerdem, nachdem ich ein bisschen drüber nachgedacht hatte, fing das Ganze an, mich zu reizen. Aber!« Sie hob warnend eine Hand: »So was geht nicht von heute auf morgen, das ist Ihnen doch klar? Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir eine Weile am Ball bleiben. Wir müssen Zeit und Energie investieren ...«

»Und Sie haben natürlich keine Zeit ...«, murmelte ich schuldbewusst.

»Wie kommen Sie darauf? In meinem Privatleben hat’s kürzlich eine Wende gegeben ... Jetzt habe ich erst mal ziemlich viel Zeit ...« Sie lächelte ein schiefes kleines Lächeln. »Und vor allem: Ich habe Lust dazu! Es ist kreativ. Wenn ich ehrlich bin, ich hab bei Ihrem Anblick schon öfter gedacht, ich würde Sie gern umkrempeln und einen Menschen aus Ihnen machen!«

Ich blickte verlegen aufs Tischtuch. Ich war ja froh, dass sie mir zustimmte. Aber ein kleines bisschen weniger Zustimmung hätte es auch getan.

»Vor allem müssen Sie sich gerade halten – Rücken durchdrücken! Brauchen Sie diese grässliche Brille eigentlich wirklich?«

»Naja – ich sehe nur alles Entfernte verschwommen.«

Simone nahm vorsichtige Schlückchen heißen grünen Tees. Er musste gallebitter sein: Sie hatte keinen Zucker hineingeschüttet. »Im Prinzip ist gegen Brillen nichts einzuwenden. Es gibt Gesichter, denen verleihen sie den intellektuellen, kühlen Touch. Andererseits gibt es Gesichter, die wirken durch eine Brille besonders hilflos. Ich unterstelle, dass Sie nicht unbedingt eine Sehhilfe brauchen. Sie sind eher der Typ Mensch, der sich dahinter verkriecht und versteckt. Nehmen Sie das Ding bitte mal ab? Aha! Na also – das ist doch schon viel besser! Jetzt kann man endlich Ihre Augen sehen ...«

Ich knallte sofort die Brille wieder auf meine Nase. »O Gott. Dabei sind die so hässlich ...«

»Ihre Augen? Wieso?«

Ich knüllte die Tischtuchecken zusammen. »Sie sind glotzig – und ich hab’ Augendeckel wie ’ne Leiche, so dick und weiß ...«

»Das ist doch Firlefanz! Ihre Augen sind sehr hübsch!« Simone langte über den Tisch, riss mir die Brille ab und behielt sie in der Hand. »Sehr groß und ausdrucksvoll. Klares Graugrün ... Sie haben ja sogar ganz besonders dichte und lange Wimpern ... Ihr Mund ist interessant ... Warum schminken Sie den nicht?«

»Diesen Mund?! Ich hatte in der Schule einen Freund, der hat sich geweigert, mich zu küssen, weil ich so einen hässlichen Mund hab’ ... Das Monstrum auch noch anmalen, damit’s jeder besonders deutlich sieht! Nein, das geht nicht.«

Simone schenkte sich grünen Tee nach und setzte sich gerade hin. Ihr Blick wurde wieder so hochmütig und gelangweilt, wie ich es gewohnt war. Sie legte meine Brille neben meine Tasse.

»Hören Sie mal, Frau Mehlig – so viel Zeit hab’ ich nun auch wieder nicht. Wenn Sie wirklich was an sich ändern wollen, bin ich gern bereit, Ihnen dabei zu helfen. Wenn das Ganze jedoch darauf hinausläuft, dass ich Ihnen Vorschläge zur Verbesserung mache, und Sie erwidern nur stereotyp, wie hässlich Sie sind und dass das alles doch keinen Zweck hat – dann ist das Schnickschnack. Dann lassen wir’s lieber bleiben. Wäre Ihnen das lieber?«

Ich senkte den Kopf und schwieg. Von seitwärts kam der Duft nach Karamell. Es roch sehr appetitlich. Ich war keineswegs satt.

»Gucken Sie mal hin!«, forderte Simone Sawade mich auf. Sie wies mit dem Kinn nach links. Ich folgte ihrem Blick – und sah uns beide im Spiegel. Simone ließ ihren sadistischen Neigungen freien Lauf: »Wer von uns beiden sieht bis jetzt besser aus?«

Gott sei Dank erkannte ich es ohne Brille nur verschwommen. Auch so war es schlimm genug. Wir sahen aus wie ein gestriegelter Leopard neben einer schwangeren Schleswig-Holsteiner Milchkuh mit Mumps und Fellräude. Ich brauchte nicht zu antworten. Ich blickte Simone traurig an.

»Ich, stimmt’s? Und was bedeutet das? Ganz einfach, es bedeutet, bis jetzt verstehe ich mehr von gutem Aussehen als Sie! Deshalb hat es keinen Sinn, wenn wir beide über Geschmacksfragen diskutieren. Sie haben mich um Hilfe gebeten. Ich werde Ihnen helfen. Jedoch nur, wenn Sie es zulassen. Das bedeutet, Sie müssen auf diesem Sektor tun, was ich sage. Ohne Widerspruch. Sogar ohne Zweifel. Sie müssen daran glauben, sonst verschwenden wir beide unsere Zeit. Ich bin der Boss – oder wir vergessen das Ganze! Also –?«

Ich überlegte kurz, was mir schon groß passieren konnte. Dass ich noch schlimmer aussah als vorher? Haha.

»Gut. Sie sind der Boss. Das ist bestimmt richtig. Und ich find’s sowieso enorm nett von Ihnen ...«

»Schon gut. Ich sage ja, es reizt mich selbst. Sie geben mir Ihr Wort, dass Sie mir freie Hand lassen?«

»Abgemacht!« Wir schüttelten uns über unseren Tassen die Hände. Mir tat der Rücken weh vom Geradesitzen. Ich war das nicht gewohnt.

»Wann wollen wir anfangen? Heute?«, fragte Simone unternehmungslustig.