Nachtschicht für Engel - Dagmar Seifert - E-Book

Nachtschicht für Engel E-Book

Dagmar Seifert

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Beschreibung

Weihnachten mal anders! Am Heiligabend verändert sich die Welt und es geschehen Dinge, die wir nicht für möglich gehalten haben: Die hochschwangere Isabella besiegt einen Serienkiller, der streunende Kater Peter findet ein neues Zuhause, zerfleddert den Baum und sorgt für Tränen; Folker folgt einer Einladung und kehrt mit neuem Kind, neuem Hund, neuem Baum zurück und gewährt der angebeteten Nachbarin ein Obdach; eine kleine Krippenfigur bringt eine Familie wieder zusammen ... schließlich ist es eine Nacht der Wunder. Ein Potpourri an überraschenden Wendungen und skurrilen Begebenheiten.

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Seitenzahl: 199

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Dagmar Seifert

Nachtschicht für Engel

Weihnachtsgeschichten

LangenMüller

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2011 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München © für das eBook: 2013 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Jesus ist unterwegs

Peter, der Weihnachtskater

Nachtschicht für Engel

Happyends

Festliche Sammlung

Das passende Opfer

Später Nachmittag

Heut kommt ein anderer Weihnachtsmann

Jesus ist unterwegs

Winter hört sich anders an als Sommer. Und Schnee, auch wenn er lautlos fällt, hört sich ganz besonders an. Er wattiert die Akustik.

Eva erwachte, blinzelte zweimal, lauschte und grinste dann unwillkürlich, wobei sie zeigte, dass ihr sowohl unten links als auch oben rechts ein Vorderzahn fehlte. Sie warf ihre Bettdecke beiseite, sprang auf und rannte zum Fenster: Wirklich, alles weiß überpudert, wirbelnde Flocken, mehrere Männer, die mit breiten Schaufeln herumschabten. Evas Grinsen wurde immer triumphierender.

Sie hüpfte zum Adventskalender, fummelte das 24. Türchen auf und steckte sich mechanisch die kleine Schokoladenfigur in den Mund, die darin gesteckt hatte.

Kauend nahm sie einen Anlauf und hopste mit einem Satz auf ihren schlafenden Bruder: »Pavelchen, wach mal auf bitte, du hast recht gehabt: ganz viel Schnee!«

Genau, wie sie erwartet hatte, brüllte er vor Schreck. »Aua! Mann – geh bloß von meinem Bauch runter!« – und schob sie ein Stück beiseite.

Er rieb sich heftig die Augen, strich erfolglos sein verwuscheltes Haar nach hinten, das ihm sofort wieder in die Stirn sprang, suchte seine Brille auf dem Nachtschrank und setzte sie auf.

Nun sah er aus wie er selbst.

Er griff nach ihren nackten Füßen und verlangte: »Steck die mal unter meine Decke, die sind ja eisig, sonst kriegst du noch eine Erkältung … Also hat es wirklich geschneit heute Nacht, was? Dann haben wir wenigstens weiße Weihnachten, wenn schon sonst nichts …«

Eva schluckte das letzte bisschen Schokolade herunter. »Wieso? Gibt es keine Geschenke?«

Pavel lächelte mit niedergeschlagenen Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln, ein sarkastischer Ausdruck, für den er mehrere Jahre zu jung war.

»Geschenke? Aber klar doch. Sogar mehr als sonst. Wir haben ja doppelte Weihnachten, halb bei Mami und halb bei Pappi. Gibt doppelte Geschenke.«

Eva tastete mit dem Zeigefinger, ob ihre neuen Zähne schon nachwuchsen. »Schenkt Andreas uns nichts?«

»Willst du was von dem? Kann er behalten. Hast du etwa was für den?«

Eva schüttelte den Kopf. »Nein, muss ich?«

»Überhaupt nicht. Soll er doch sehen, wo er Geschenke herkriegt. Komm, wir gehen frühstücken!«

Sie wanderten in ihren bunten Schlafanzügen über den Flur in die Küche. Hier konnte man durch die Balkontür wunderbar das Schneegewirbel sehen. Auf dem Balkonboden befanden sich winzige Fußspuren von Drosseln, vom alten Blumentopf mit der vertrockneten Hortensie zum am Balkongitter angebundenen Erdnuss-Netz.

Mami hatte den Frühstückstisch für die Kinder gedeckt. An der Thermoskanne lehnte ein Zettel. Pavel nahm ihn und las vor:

Meine Süßen,

ich arbeite ja heute nur bis mittags.

Andreas kommt irgendwann

die Weihnachtssachen bringen.

Macht ihm bitte auf, er klingelt dreimal.

Bis nachher,

Tüschi!

Mami

Dann holte er die Milch aus dem Kühlschrank, goss sie in Evas Schüsselchen, schüttete Haferflocken aus der Packung dazu und toastete für sich selbst ein Weißbrot.

Bevor er es fertig mit Butter bestrichen hatte, klingelte es dreimal.

Eva hörte auf, zu kauen.

»Mann, kommt der früh!«, bemerkte Pavel und verteilte die Butter liebevoll bis in die kleinsten Toastecken. »Ich denke, der kommt ›irgendwann‹? Ist ›irgendwann‹ kurz nach Mitternacht? Eben war’s noch dunkel draußen. Beinah hätten wir noch geschlafen.«

Eva nickte und löffelte weiter.

Pavel malte mit dem Honig Schnörkel auf sein Brot, während er nachdenklich bemerkte: »Nun stell dir vor, wir hätten Mamis Zettel nicht gelesen. Dann wüssten wir gar nicht, dass Andreas dreimal klingelt und dass wir ihm aufmachen sollen.«

»Ja. Dann würden wir nur denken: wer da wohl dreimal bei uns klingelt?«

Pavel biss in sein Toastbrot.

Es klingelte wieder dreimal.

Eva schubste die letzten weichen, nassen Haferflocken mit dem Finger auf ihren Löffel. »Jetzt steht Andreas wohl im Schnee unten vor der Haustür?«, überlegte sie.

»Ja. Da steht er, und es schneit auf ihn. Und wahrscheinlich lungern um ihn rum schon die hungrigen Wölfe …« malte Pavel aus.

Eva kicherte. »Und die Eisbären!«

Diesmal klingelte es sehr energisch: Einmal! Zweimal! Dreimal!

Pavel steckte das letzte Stück Toast in den Mund, wischte seine Finger am Schlafanzug ab und murmelte: »Der hat auch keine Geduld, hat der nicht …«, während er seinen Stuhl mit den Kniekehlen zurückschob. Er schlenderte langsam zur Wohnungstür, um sie zu öffnen und gleichzeitig auf den Summer zu drücken.

Eva hüpfte hinterher.

Sie beobachteten beide, wie Andreas die Treppe hinaufkam, ein ungewöhnlich gut aussehender, mittelgroßer blonder Mann um Anfang vierzig in einem eleganten grauen Wintermantel, leicht beschneit. Er schleppte einen gewaltigen Pappkarton. Soweit er überhaupt darüberblicken konnte, guckte er ziemlich giftig.

Pavel rief ihm munter entgegen: »Guten Morgen, Andreas!«

Eva piepste: »Fröhliche Weihnachten!«

Andreas antwortete, etwas atemlos: »Wieso habt ihr nicht eher aufgemacht? Was sollte das, verdammt noch mal?«

Er betrat die Wohnung, marschierte ins Wohnzimmer, stellte den Karton auf dem Couchtisch ab und drehte sich zu den Kindern um, die ihm gefolgt waren.

Pavel erwiderte: »Wir dachten, du bist es nicht. Mami hat aufgeschrieben, du würdest dreimal klingeln.«

Wenn Andreas wütend war, schienen seine hübschen blauen Augen ein wenig hervorzuquellen. »Ich habe dreimal geklingelt, Pavel!«

»Nein, du hast neunmal geklingelt. Und da dachten wir, du bist es nicht«, sagte der Junge mit weicher, etwas einfältiger Stimme. Eva hielt ihr Gesicht mit beiden Händen zu.

Andreas zog mit kurzen, heftigen Bewegungen seine hellgrauen Wildlederhandschuhe aus.

»Was ist denn in der Kiste?«, fragte Eva, die nun wieder aufgetaucht war.

»In dem Karton, meinst du …« Andreas kämpfte ganz offenbar mit widerstreitenden Gefühlen. Einerseits hatte er keine Lust, mit den Kindern zu sprechen oder ihnen seine Schätze zu zeigen. Andererseits war er stolz darauf. Nach kurzem Zögern klappte er den Deckel des Kartons auf und erklärte: »Das sind alles Weihnachts-Sachen aus meinem Elternhaus. Mundgeblasene Christbaumkugeln aus dem vorigen Jahrhundert, Engelshaar und so was … Das gibt’s heute gar nicht mehr. Und hier, vor allem …« Er holte mit behutsamen Bewegungen eine Krippe hervor: »Die ist gut zweihundert Jahre alt. Alle Figuren, Maria und Josef und die Tiere, die Heiligen Drei Könige, alles ist handgeschnitzt.« Andreas stellte die Figuren auf dem Couchtisch nebeneinander und betrachtete sie zärtlich. »Das alles ist …« Eva hatte eine durchsichtige, mit kleinen Perlen besetzte Christbaumkugel aus dem Karton gefischt. Sie rutschte ihr aus der Hand – Andreas fing sie gerade noch, ein Stück über dem Boden, auf und vollendete streng seinen Satz: »… sehr kostbar!«

Er packte die Sachen eilig, aber vorsichtig wieder ein, klappte den Deckel energisch zu und stellte den Karton neben dem Tisch auf den Boden.

Pavel sprach vor sich hin: »Mundgeblasen, handgeschnitzt …«

Andreas musterte ihn misstrauisch und antwortete mit einer gewissen Schärfe: »Allerdings! Das sind richtige Kunstgegenstände. Wir schmücken heute unseren Baum damit …«

»Welchen Baum?«, unterbrach ihn Eva.

»Der steht noch unten, neben meinem Auto. Ich hole ihn schnell rauf …«

Andreas zog seine Handschuhe wieder an und verließ die Wohnung, die Tür sorgfältig einen Spalt offen lassend. Ziemlich schnell war er zurück und schüttelte im Treppenhaus den Schnee von einer perfekten, besonders blauen Blautanne, bevor er sie in die Wohnung brachte.

Pavel knipste das Flurlicht an, um den Baum genauer zu betrachten: »Der ist ganz hübsch«, meinte er. Aber er sah skeptisch aus, und in seiner Stimme lag wenig Anerkennung.

Andreas lächelte und versuchte, nicht beleidigt zu wirken. »Na, ich glaube schon. Geradezu makellos gewachsen, würde ich sagen.«

Eva wandte ein: »Aber er ist so klein!«

Andreas konnte es nicht fassen: »Klein?! Du findest den klein? Der ist etwa eins achtzig oder so – der ist so groß wie ich!«

Pavel verschränkte die Arme vor der Brust und bemerkte: »Also, wir sind das einfach gewöhnt, einen größeren zu haben. Unser Weihnachtsbaum war immer riesig, weißt du. Praktisch genauso groß wie unser Vater …«

Andreas hielt es für angebracht, das Thema fallen zu lassen. Er lehnte die Tanne an die Wand im Wohnzimmer und erklärte kurz: »So, ich muss wieder los. Nachmittags können wir ihn schmücken. Ihr dürft mir helfen, wenn ihr Lust habt.«

Pavel guckte in die Fernsehzeitung und antwortete nicht.

Eva zuckte mit ihren schmächtigen Schultern und murmelte: »Mal sehen …«

Andreas verzog kurz den Mund. Dann ging er wirklich. In der Tür sagte er noch: »Und bitte, fasst den Weihnachtsschmuck nicht an, okay? Das wäre sehr ärgerlich, wenn was kaputtginge!«

Nachdem er gegangen war, fragte Eva: »Wollen wir was kaputt machen?«

Pavel warf die Fernsehzeitung auf den Tisch. »Extra? Nein. Gibt bloß Stress …«

Sie räumten stattdessen ein wenig die Küche auf, um nett zu sein.

Plötzlich hörten sie, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Sie sahen sich mit großen Augen an.

»Wer ist das?«, flüsterte Eva.

Pavel flüsterte zurück: »Mami kann’s noch nicht sein, und Andreas hat doch keinen Schlüssel. Also ist das …«

Sie begriffen es im gleichen Augenblick: »Omi!!«

Die freute sich über das entzückte Gejohle, knuddelte beide, nannte sie ›Engelchen‹ und ›kleiner Prinz‹, zog dann ihren Mantel aus, nahm den breitkrempigen dunklen Samthut ab und zupfte vor dem Flurspiegel an ihren weißen Löckchen herum.

»Ich wollte etwas aufräumen, dann hat eure Mami heute Nachmittag nicht so viel am Hals. Habt ihr schon den Geschirrspüler gefüttert? Ihr seid ja phantastische Heinzelmännchen. Sagt mal, war das eben nicht dieser Herr Frisecke, der vor der Haustür an mir vorbeiging zu seinem Auto?«

Pavel nickte: »Ja, der ist gerade weg. Hat kostbaren Baumschmuck angeschleppt, lauter Erbstücke.«

»Und ein kleines Bäumchen«, fügte Eva hinzu.

»Und wieso grüßt der mich nicht?«, wollte Omi wissen. »Na, vielleicht hat er mich nicht erkannt. Hatte seine Brille nicht auf.«

»Andreas hat doch gar keine Brille?«, überlegte Eva.

»Aber er braucht eine. Dann würde er mich erkennen«, sagte Omi kurz.

Sie gingen zusammen ins Wohnzimmer, um das ›kleine Bäumchen‹ zu betrachten.

»Meine Güte, der war bestimmt sündhaft teuer«, vermutete Omi und tauschte einen verständnissinnigen Blick mit Pavel. »Und blau ist der –!«

Dann ging sie ins Kinderzimmer, um Betten zu machen. Pavel und Eva mussten sich dazu anziehen, denn Omi brauchte ihre Schlafanzüge, um sie zusammengelegt unter die Kopfkissen zu packen.

Dabei erzählte sie, sie hätte ihrer Nachbarin versprochen, am späten Nachmittag oder frühen Abend noch mal bei ihr vorbeizuschauen: »Das arme alte Ding wird so schlecht mit dem Alleinsein an Weihnachten fertig.«

»Wie alt ist denn das arme Ding?«, erkundigte sich Eva.

»Sechsundsechzig.«

»Und wie alt bist du?«, fragte Pavel.

Omi schüttelte den Kopf: »Man fragt eine Dame nie nach ihrem Alter. Außerdem ist das eine Sache der Persönlichkeit. Wie alt jemand ist, hat beinah gar nichts mit dem Geburtsdatum zu tun. So, fertig. Jetzt könnten wir natürlich noch überall staubsaugen und die Fenster putzen und den Küchenboden scheuern. Oder habt ihr einen besseren Vorschlag?«

Eva war dafür, ›Mensch-ärgere-dich-nicht‹ zu spielen.

Pavel wandte ein, sie hätten die Weihnachtsgeschenke noch nicht alle fertig.

»Ihr wollt ja immer selbst gemachte. Dabei sind gekaufte viel einfacher. Ein paar haben wir auch gekauft …«

Aber die Schachtel für Büroklammern und Gummibänder musste teilweise noch beklebt werden. Und das Bild für ihren Vater fertig zu malen, hatte Eva nie geschafft.

»Du hattest doch das ganze Jahr Zeit?«, wunderte sich Omi. »Noch gehst du schließlich nicht zur Schule …«

Eva zog ihre kleine Nase kraus, erklärte: »Man kommt einfach zu nichts!« und war beleidigt, als die beiden anderen lachten.

Sie setzten sich an den abgewischten Küchentisch, verteilten Klebe, Glanzpapier und Buntstifte und legten los. Pavel besetzte eine dunkelblaue Pappschachtel mit vielen goldenen Sternen. Eva malte das wundervolle Bild fertig, auf dem eine Prinzessin mit spitzem Hut, an dem ein Schleier flatterte, in voller Fahrt einem dicken grünen Drachen davonrannte, dem Feuer und Qualm aus dem Maul schlugen. Omi holte ihre Brille hervor und las Weihnachtsgeschichten vor.

Und die ganze Zeit schneite es, mal in vielen feinen, eifrigen Flocken, mal in betulichen großen. Die Vogelspuren waren längst nicht mehr zu erkennen. Auf dem Balkongitter lag schon ein hoher weißer Rand.

Ab und zu guckte Omi, wie weit die Kinder kamen: »Junge, Junge! Der Drache sieht ja toll aus!«

Pavel fand: »Ja, ein bisschen wie Andreas.«

Eva kicherte. Omi sah aus, als wollte sie auch kichern, sagte dann jedoch: »Ach nein, Pavel, das ist gemein.«

Pavel räumte ein: »Na gut, so dick ist er nicht. Aber im Gesicht …«

»Andreas ist doch nicht grün im Gesicht!«, widersprach seine Schwester.

»Noch nicht. Noch haben wir ja auch nicht seine handgedingsten Christbaumkugeln zerschmissen.«

Das hatte Omi lieber gar nicht erst gehört. Sie legte das Buch beiseite und machte Suppe mit Buchstabennudeln heiß, die im Kühlschrank gestanden hatte.

Nach dem Essen wurden die Geschenke vollendet und Omi half, sie hübsch einzupacken und mit Schleifen zu versehen.

Sie hatten kaum das Bastelzeug beiseitegeräumt, als es wieder an der Tür schloss. Diesmal kam Mami nach Hause. An ihren Handgelenken hingen schwere Lebensmitteltüten, und sie trug einen kopflosen, gerupften Truthahn. Nachdem sie die meisten ihrer Einkäufe im Kühlschrank verstaut hatte, umarmte sie ihre Familie und freute sich, dass ihre Mutter da war.

»Ist der Mantel neu?«, fragte Omi. »Dreh dich mal um, Tinchen. Süß!«

»Ja, nicht? Aus Natis Laden, eine Ärmelnaht war etwas eingerissen, da hab ich dreißig Prozent gekriegt.«

»Trevira?«

»Ja, Trevira.«

Eva wollte wissen: »Was ist Trevira?« und erfuhr, das sei etwas besonders Schönes.

Dann wurde der neue Mantel in die Garderobe gehängt, und Mami fragte ihre Kinder: »Andreas hat doch seinen Weihnachtsschmuck gebracht?«

Pavel nickte nur. Eva sagte: »Im Wohnzimmer steht der kleine Baum. Und die Kiste. Ach nein, der Karton. Da sind ganz alte Sachen drin, mit denen muss man ganz vorsichtig sein.«

»Alles ›mundgeblasen‹ und ›handgemalt‹!«, fügte Pavel in geziertem Ton hinzu.

Omi meldete an: »An mir ist er direkt vor der Haustür vorbeigerauscht, ohne mich eines Blickes zu würdigen, dein Herr Frisecke.«

»Ach, Mutti – er hat dich gerade zweimal kurz gesehen. Und wenn du deinen Räuber-Hotzenplotz-Hut trägst, erkenne ich dich auch kaum«, verteidigte Mami ihren Freund. Sie fügte hinzu: »Außerdem war er wahrscheinlich mal wieder geschafft durch diese Bande …« und warf ihren Kindern einen grimmigen Blick zu. »Die lassen keine Gelegenheit aus, den Mann zu triezen.«

Pavel widersprach: »Doch, lassen wir. Wir lassen ganz schön viele gute Gelegenheiten aus.«

Eva nickte: »Ja, weil Weihnachten ist.«

»Wie christlich von euch!«, schnappte ihre Mutter.

Omi fragte, ob es den Puter schon am Abend geben sollte.

»Nein, der ist erst morgen dran. Heute Abend gibt es blauen Karpfen.«

Pavel murmelte, bei Andreas müsse wohl alles immer blau sein, ob nun Weihnachtsbaum oder Karpfen. »Also ich ess’ den nicht.«

»Ich auch nicht! Bloß nicht!«, schloss sich Eva an.

»Keine Sorge, ihr bekommt Pizza«, verkündete Mami kurz. Sie fragte ihre Mutter: »Vielleicht möchtest du die auch lieber essen?«

Aber Omi hatte keine Vorurteile gegen blauen Karpfen. Im Übrigen erklärte sie, sie müsse nun nach Hause oder vielmehr zu ihrer Nachbarin, Frau Schweiger.

»Die heißt leider nur so. Ich bin so nett und hör’s mir alles an. Wann genau geht es denn heute Abend bei euch los, Tinchen?«

»Ich dachte, wir essen so gegen acht …«

Pavel warf ein: »So spät? Wir essen erst um acht?«

Mami sah ihn erstaunt an. »Ist das spät? Vorher ist doch Bescherung, dann wollt ihr mit den neuen Sachen spielen. Wenn ihr vorher großen Hunger habt, könnt ihr was von den bunten Tellern naschen …«

Pavel pflanzte sich breitbeinig in den Flur und sah seine Mutter vorwurfsvoll an. »Ja. Und wann sollen wir zu Pappi gehen?«

Er bekam erst mal keine Antwort. Mami half Omi in den Mantel, sah zu, wie sie ihre Stirnlöckchen unter dem Hut zurechtzupfte, reichte ihr die Handtasche: »Hier. Dann bis nachher, Mutti!« – und öffnete ihr die Wohnungstür.

Pavel blieb in seiner anklagenden Haltung stehen.

Omi schaute ihn an.

Eva schaute ihn an.

Es blieb Mami nichts anderes übrig, als sich auch zu ihrem Sohn umzudrehen. »Ach so, ja, also … Richtig. Ihr wolltet ja noch zu … Sicher. Aber doch nicht nach dem Essen? Das ist dann doch viel zu …«

»Sag ich doch. Zu spät«, bestätigte Pavel und kniff den Mund zu einem Strich zusammen.

Mami steckte beide Hände in ihre Hosentaschen. »Könntet ihr nicht heute Nachmittag schnell hingehen?«

Pavel schüttelte den Kopf. »Schnell wollen wir ja nicht zu Pappi. Sondern in Ruhe.«

Eva mischte sich ein: »Und nachmittags ist doch noch nicht Weihnachten. Das ist doch erst abends.«

Mami tippte nervös mit einer Fußspitze. »Okay. Also wie und wann?«

Omi bot an: »Ich könnte ja Frau Schweiger etwas hastiger abfertigen und fix wieder zu euch zurückkommen, um dir zu helfen, du bist doch allein …«

»Bin ich nicht. Andreas kommt um halb vier oder so. Er will den Baum schmücken …«

»Oh, wie wundervoll, Kind! Mit all diesen teuren, handverlesenen Erbstücken.«

»Mutti! Jetzt fang du auch noch an!«

Omi lächelte süß, nickte den Kindern zu und stieg in ihren Stiefeln vorsichtig die Treppenstufen hinunter.

Nachdem Mami die Wohnungstür geschlossen hatte, machte Pavel einen Vorschlag zur Güte: »Wir könnten um halb sechs zu Pappi gehen. Und um halb acht wieder hier sein. Dann bescheren wir eben ganz schnell und essen ein bisschen später.«

Seine Mutter seufzte. Ganz schnell wollte sie ja eigentlich auch nicht Weihnachten feiern. Sondern in Ruhe.

Eva schmiegte sich an ihre Hüfte und machte ihr liebes-kleines-Kätzchen-Gesicht: »Wir schmücken dann auch mit Andreas den Baum heute Nachmittag – das hat er sich nämlich gewünscht.«

»Wirklich?« Mami lächelte unwillkürlich. Ihre Kinder lächelten auch.

Es sah so aus, als wäre nun doch ein annehmbarer Kompromiss gefunden.

Vielleicht hatte Andreas sich gar nicht so von ganzem Herzen gewünscht, dass die Kinder ihm beim Schmücken der prachtvollen Blautanne halfen. Vielleicht hätte er das ganz gern alleine gemacht, mit leiser Weihnachtsmusik im Hintergrund und einer Zigarette im Mundwinkel. Eventuell wäre es nett gewesen, sich von Tina helfen zu lassen und ihr dabei ein wenig über die verschiedenen schönen Stücke zu erzählen. Aber sie hatte ja nun mal diese beiden … diese Kinder.

So befand man sich am Nachmittag zu dritt im Wohnzimmer – oder eigentlich zu viert, denn der Baum stand fest und gerade in seinem Fuß, duftete leise vor sich hin und piekte leider schrecklich. Eva hatte schon ein paarmal ziemlich laut gequiekt und saß nun beleidigt im großen karierten Sessel, einen Finger im Mund.

Andreas war in seinem feinen Anzug für den Abend erschienen, hatte das Jackett jedoch einstweilen über eine Stuhllehne gehängt. Er besaß eine sehr präzise Vorstellung davon, wie ein perfekter Weihnachtsbaum aussehen sollte.

Zunächst hatte er goldene Kerzenhalter mit goldenen Wachskerzen so symmetrisch wie möglich befestigt. Jetzt hängte er langsam und konzentriert gläserne Engel, perlenverzierte Kugeln und verschiedene kleine Holzfiguren an die Zweige. Pavel durfte ihm die Sachen einzeln aus dem Karton reichen, der war wohl hoffentlich vernünftig genug, vorsichtig damit umzugehen.

Andreas wurde allerdings nervös, als er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Eva aufstand, zum Karton trippelte und ebenfalls ihre Hand darin versenkte.

»Was hast du vor –? Fass die Kugeln nicht an, ja?«

»Wie soll sie denn sonst helfen?«, fragte Pavel gereizt.

Diesen Ton mochte Andreas nicht, aber er nahm sich zusammen und antwortete (seiner Ansicht nach mit bewundernswerter Geduld): »Das hab ich doch schon gesagt. Sie soll da sitzen bleiben und uns zeigen, wo noch was hin muss.«

Eva setzte sich gehorsam wieder in den Sessel und zeigte: »Da! Da oben muss noch was hin!«

Andreas fragte ungern: »Wo?«

Eva streckte den Finger ganz enorm weit aus: »Da! Also rechts …«

Andreas wiederholte, ohne einstweilen hinzusehen: »Rechts?«

Eva wurde unsicher: »Oder ist das links?«

Andreas stöhnte unterdrückt. Jetzt guckte er doch hin, es half ja nichts. »Wo denn? Da? Aber nein – da ist doch schon alles voll … Nein, hier muss noch was hin, siehst du … Und hier … Es geht um die Proportion …«

Pavel hängte gerade mit gebührender Vorsicht einen geschnitzten bunten Musikanten mit kleiner Trommel und zwei winzigen Schlägeln auf. Andreas schaute sich das an und wartete, bis der Junge sich zum Karton umdrehte, bevor er das Stück schnell an einen anderen Zweig hakte, wo es besser in den harmonischen Gesamteindruck passte.

Jetzt kam Mami aus der Küche, eine Schürze mit dem Abbild von Snoopy vor ihre Jeans gebunden. Sie strömte angenehme Küchendüfte und gute Laune aus.

»Na, wie kommt ihr voran? Ach, ist das hübsch, Andreas!«

Andreas strahlte. »Ja, nicht? Und hast du schon … hier, hast du die handgeschnitzten Krippenfiguren gesehen? Die sind über zweihundert Jahre alt und seit fünf Generationen in meiner Familie …«

Er baute den Stall und die kleinen hölzernen Figuren auf, Ochse und Esel neben die Heilige Familie und die drei Könige mit ihren Gaben vorm Stall.

Eva war auch entzückt: »Ist das hier das Jesulein?«, fragte sie und holte die letzte Figur aus dem Karton. Andreas nahm sie ihr sanft aus der Hand und legte sie in die Krippe. »Ja. Schön, nicht?«

Pavel musterte den Krippeninhalt kritisch. »Der sieht aber nicht besonders neugeboren aus. Schon fast wahlberechtigt, finde ich.«

Andreas schnappte nach Luft oder nach Worten.

Mami erklärte: »Der Künstler, der das geschnitzt hat, wollte sicher ausdrücken, dass Jesus schon als Baby so klug war wie ein Erwachsener.«

Pavel verzog skeptisch sein Gesicht.

Eva beugte sich über die Krippe. »Er sieht aus wie so’n Zwerg, aber ohne Bart. Hallo, kleiner Jesus! Heute Nacht hast du Geburtstag.«

Jesus lächelte voll milder Güte, es war ihm so ins Gesicht geschnitzt.

Mami verschwand wieder in der Küche. Andreas widmete sich der Vollendung des Weihnachtsbaums. Er griff blind hinter sich nach den letzten Kugeln, die Pavel ihm reichte und befestigte sie mit der Sicherheit des genialen Ästheten genau an den richtigen Zweigen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass jemand, was das betraf, nicht mit ihm übereinstimmte.

Eva beispielsweise fand nach der Betrachtung aus einiger Entfernung, ein kleiner gläserner Kringel befände sich am falschen Platz und würde sich etwas höher viel besser machen.

Ehe Andreas das kleine Mädchen neben sich bemerkte, zog es bereits am Glaskringel. Sofort stach die wehrhafte Blautanne kräftig zu. Eva zuckte zusammen, sagte: »Aua!« und ließ den Kringel fallen, der mit einem zirpenden Geräusch zerbrach.

Andreas quollen schon wieder die Augen heraus. Er starrte schockiert auf die hellgrünen Scherben zu seinen Füßen. Schließlich holte er tief Luft, bückte sich und sammelte alles sorgfältig mit spitzen Fingern in ein ausgebreitetes Papiertaschentuch, das er anschließend zusammenrollte und in den Papierkorb warf.

Eva wurde ganz zappelig, weil er sie nicht mal anguckte. Sie bat sich aus: »Du musst doch schümpfen, Andreas!«

Der Mann murmelte vor sich hin: »Ihr solltet eurer Mutter sagen, dass sie vielleicht noch mal mit dem Staubsauger drübergeht. Damit ihr euch nicht in die Füße schneidet, falls ich ein Splitterchen übersehen habe und ihr im Wohnzimmer mal barfuß …«

»Andreas!«, rief Eva.

Jetzt drehte er sich halb um. »Warum soll ich denn schimpfen? Du weißt doch, was du getan hast?«

»Sie hat’s ja nicht mit Absicht gemacht«, mischte sich Pavel gereizt ein, »sonst hätte sie bestimmt was Größeres genommen.«

Andreas beugte sich über den Jungen und sprach sehr leise, ganz dicht vor seinem Gesicht: »Ihr seid ja zwei so entzückende Kinder!«

Pavel wich nicht aus. Er antwortete, eben so leise: »Ja, nicht? Und bis wir erwachsen sind, vergeht noch ’ne Menge Zeit. Was glaubst du, was wir bis dahin noch alles fallen lassen …«

Eva konnte nicht hören, was die beiden sagten. Aber es machte ihr Angst, wie sie so dicht voreinanderstanden. Sie krähte: »Andreas, wieso wolltest du eigentlich, dass wir dir helfen, den Baum zu schmücken? Das ist gar nicht gut für deine Nerven.«

Andreas schüttelte sich eine Zigarette aus der Packung auf dem Tisch und zündete sie an. »Ich hab mir das wohl anders vorgestellt.«

Pavel meinte nachdenklich: »Du hast gedacht, du machst es und wir gucken zu und sagen: toll!«

Andreas lachte kurz auf. »Vielleicht. So ähnlich.«