Kleine Leckerbissen - Dagmar Seifert - E-Book

Kleine Leckerbissen E-Book

Dagmar Seifert

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Beschreibung

Schwarzer Humor, gespenstische Ereignisse, herrlich böse Überraschungen: Zutaten für unheimliche Geschichten, die jeden Roald-Dahl-Fan begeistern werden. Der gestresste Geschäftsmann Ingo steht in einer langen Kassenschlange eines Kaufhauses, er ist in Eile weil er zu einem wichtigen Meeting gehen muss, plötzlich wird er umgestoßen, bricht zusammen und wacht in einer fremden Welt auf, in der er das Opfer eines Voodoo-Clans ist ... Harmlose Alltagssituationen wandeln sich unmerklich ins Absurde und Schreckliche. Annelene verschwindet spurlos, bis ihre Stimme sich aus einer anderen Dimension meldet, Herr Klein fühlt sich von einem geheimnisvollen Zwerg verfolgt und Lea stellt fest, dass sie einer Familie sächsisch sprechender Werwölfe angehört. Die Bestseller-Autorin Dagmar Seifert präsentiert 13 neue phantastisch-makabere Geschichten.

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Seitenzahl: 230

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Dagmar Seifert

Kleine Leckerbissen

13 schaurig schöne Geschichten

LangenMüller

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2006 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für das ebook: 2014 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung andlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Claudia S. Sanna

Umschlagmotiv: Claudia S. Sanna

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8222-4

Inhalt

Das Lächeln der Spinne

Mondmörder

In alle Ewigkeit

Verantwortungslos

Kleine Leckerbissen

Esoterisch

Annelene

Die Doppelgängerin

Déjà-vu

Ein starker Freund

Untergetaucht

Pfotenspuren

Lohengrin

Das Lächeln der Spinne

Gerade eben habe ich einen Mord begangen. Ich hab einem anderen Menschen mit der Axt …

Um Himmels willen.

Ich kann gar nicht hingucken.

Immerhin hab ich genug gesehen, um zu wissen: Der ist mausetot. Nichts mehr zu machen. Gar keinen Zweck, den Notarzt anzurufen. Meine hellgrüne Auslegware, vor einem knappen Vierteljahr verlegt – total verdorben. Na, das ist jetzt auch egal. Ich werde mein Leben sowieso im Gefängnis beschließen.

Ich kann nichts vertuschen. Man hat mich beim Morden beobachtet.

›O Gott, Herr Klein!‹

Ich hör noch den Schrei. Ganz schrill und ungläubig. Das war meine Nachbarin, Frau Graukern. Ich kann in Ruhe darauf warten, dass mich gleich die Polizei holt. Draußen ist schon ordentlich was los, Sirenen und so weiter. Man wird mich auffordern, herauszukommen, und wenn ich aus dem Haus trete und aus Versehen ein kleines bisschen mit der Nase zucke, werden mich mehrere Maschinenpistolen erledigen.

Es ist diese verdammte Angst, die alles verursacht hat.

Von Natur aus bin ich nie ein ängstlicher Mensch gewesen. Im Gegenteil, ich galt früher geradezu als wagemutig, hab als kleiner Junge meine Raufereien und Mutproben bestanden wie jeder andere auch.

Nachdem meine Frau sich von mir trennte, gab’s dann wohl so eine Art Knick in meiner Psyche.

Ute hat mich wegen Ralfie verlassen, eine Figur wie King Kong und eigentlich sieht er auch im Gesicht aus wie ein Monsteraffe. Ich hatte so meine Einwände gegen diese Paarung. Ich hab es auf einen Streit mit dem Kerl angelegt, weil ich dachte, er würde seinem Aussehen zum Trotz andere Sitten pflegen als ein Urwaldungeheuer.

Das ging ins Auge, ganz buchstäblich, ich musste genäht werden und eine Weile sah es sogar so aus, als wäre meine Sehfähigkeit ein für alle Mal beeinträchtigt.

Ursprünglich wollte ich Ralfie verklagen. Da kam Ute, sagte mir, dass sie die Scheidung nun eingereicht hätte und dass Ralfie mich grüßen und mir ausrichten ließ, wenn ich irgendwelchen Scheiß vorhätte wie zur Polizei gehen oder so, dann würde er mich bei lebendigem Leibe ausweiden.

Ich meine: was für eine Vorstellung! Falls man so dumm ist, es sich vorzustellen. Ich meinerseits träumte sogar davon, sehr lebhaft und in Farbe, obwohl ich so spät wie möglich ins Bett ging und nie ohne ein, zwei Flaschen Bier getrunken zu haben.

Na, und dann kamen die Ängste.

Ich bin ein aufgeklärter, nüchterner Mensch mit guter Schulbildung. Ich würde sogar sagen, ich bin ein Skeptiker. Trotzdem begann ich plötzlich Dinge für möglich zu halten, die früher nie für mich in Betracht gekommen wären.

Beim Haareschneiden im Friseursalon fing es an. In irgendeiner Zeitschrift stieß ich auf eine Comic-Figur. Ich amüsierte mich, ich dachte: Aha, der Ralfie, hier hat ihn jemand gut porträtiert. In dieser Geschichte handelte es sich beim Monster jedoch um keinen Urwaldaffen, sondern um einen Außerirdischen. Wenn er mal ganz allein mit sich war, bekam er plötzlich mehrere Augen am Stängel und noch ein paar Zusatzarme. Außerdem lebte er mit einer blonden Menschenfrau zusammen, die meiner Frau ganz erstaunlich ähnlich sah. Zum Schluss trat noch der Widersacher dieses Außerirdischen auf, der eigentliche Held.

Da fuhr ich zusammen: Dieser Typ sah aus wie ich, hatte meine Augen, meine Frisur, trug sogar dasselbe schottische Oberhemd wie ich an diesem Tag.

Nichts gegen Zufälle, aber das alles zusammen erschien mir doch etwas dick aufgetragen!

Ich blickte kurz in den Spiegel, um mein Gesicht mal kritisch mit dem des Alienjägers zu vergleichen – da bemerkte ich, wie der Friseur mich lauernd anschaute. Er sah dann schnell beiseite, als er meinen Blick bemerkte und tat harmlos. Doch nun wusste ich Bescheid und passte auf. Ein paar Mal erwischte ich ihn noch, wie er mich so merkwürdig anguckte. Jetzt wurde mir auch klar, dass ich ihn noch nie hier gesehen hatte.

Plötzlich, im Spiegel, grinste er tückisch und ich merkte ganz entsetzt, dass seine Zähne spitz gefeilt waren! Bei einem Zahnarzt würde mir das ja eventuell noch einleuchten, aber bei einem Friseur?

Ich sah zu, dass ich aus dem Laden kam und ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Was war hier los? Es schien ein Komplott zu sein und ich spielte irgendeine Rolle darin. Aber welche? Und während ich noch darüber grübelte, kam es mir vor, als verfolge mich ein Zwerg. Huschte hinter mir her und um mich herum und versteckte sich, wenn ich genau hinsah. Er schien einen rosa Klumpen zu tragen.

Legte es irgendjemand darauf an, mich völlig verrückt zu machen?

Ute wollte natürlich gern das Haus und mehr Unterhalt, als ich ihr zu geben bereit war. Am liebsten wohl einfach alles, was mir gehörte. Ging es darum?

In der folgenden Nacht träumte ich nicht nur, dass ich ausgeweidet wurde, sondern auch, dass eine Spinne anfing, mich einzuspinnen und auszusaugen, eine Spinne mit dem schmalen blassen Gesicht des Friseurs, die mich mit seinen zugespitzten Zähnen anlächelte.

Dann wachte ich auf und entdeckte an der Wand dicht neben mir eine ziemlich große schwarze Spinne, die dort regungslos verharrte, zwar mit ihrem eigenen Gesicht, aber trotzdem. Wen wundert es, dass ich versuchte, sie mit dem großen Straßenatlas zu erlegen, der zufällig neben meinem Bett lag, weil ich vor dem Einschlafen nach Fluchtwegen gesucht habe? Natürlich rannte sie weg mit ihren acht Beinen und der Wälzer brach mir beim Runterfallen den Mittelfußknochen an.

Jetzt humpelte ich mit einer Krücke herum.

Ich sprach mit meinem Arzt über die Sache, ganz nebenbei. Erzählte ihm von den spitzen Zähnen und King Kong und von dem Zwerg.

»Was für ein Zwerg?«, fragte der Doktor.

»Er scheint irgendwie dazuzugehören«, erklärte ich. »Ich hab ihn ein paar Mal nur aus den Augenwinkel wahrgenommen, deshalb weiß ich nicht genau, wie er aussieht. Er trägt einen rosa Klumpen und huscht um mich herum. Er will irgendwas.«

»Was?«, fragte der Arzt.

»Ich hab keinen Schimmer. Vielleicht einfach mein Leben.«

»Freuen Sie sich, dass Sie nicht von Riesen verfolgt werden. Zwerge sind doch niedlich«, meinte er.

»Zwerge können sehr gefährlich sein. Vor allem dieser. Ich weiß nicht, wieso, aber ich hab so das Gefühl.«

»Was für ein Gefühl genau?«

»Angst!«, sagte ich verzweifelt. »Im Zusammenhang mit diesem Zwerg hab ich eine Todesangst.«

Der Doktor lachte ein bisschen und stellte fest, ich hätte irgendeine ›kleine Phobie‹. Er meinte, ich sei überarbeitet und verordnete mir Tabletten. Ich sollte sie nur nehmen, wenn es schlimm würde. Was zeigte, dass er nichts verstanden hatte. Meine Angst war ganz furchtbar schlimm. Mal enorm schlimm und mal viel schlimmer.

Als ich zum Wagen humpelte, überlegte ich, ob der Arzt mit im Komplott war. Bis jetzt verdiente er immerhin ganz gut an der Sache: mein genähtes Auge, der angebrochene Fuß und nun vielleicht auch noch die kleine Phobie.

Wolfram, mein Freund und Teilhaber, hätte natürlich ebenfalls der Drahtzieher sein können. Eventuell steckte er mit Ute unter einer Decke. Beziehungsweise mit Ute und Ralfie und dem Friseur und dem Arzt und der Spinne. Den Zwerg nicht zu vergessen. Wolfram hätte vermutlich gern den Laden ganz und gar übernommen. Wenn ich für unzurechnungsfähig erklärt wurde, käme es vielleicht dazu. Ihm waren viele meiner Geschäftsprinzipien zu altmodisch, er fand, ich blockiere das Wachstum unserer Firma.

Wolfram grinste breit und mitleidsvoll, als er meinen Fuß sah. Auch er meinte, ich wäre überarbeitet, riet mir dazu, mich auszuruhen – was den Verdacht nährte, dass er gemeinsame Sache mit dem Doktor machte, der dasselbe geäußert hatte – und wollte mich sogar zu mir nach Hause bringen.

Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass ich schließlich allein gekommen war und einen Wagen mit Automatik fuhr, da brauchte ich nur den rechten Fuß, und vielen Dank auch.

Nach Hause fuhr ich trotzdem. Bevor die Tür hinter mir zufiel, glaubte ich, schon wieder den Zwerg zu sehen, da brach mir der Schweiß aus. Ich brauchte diesmal zum Einschlafen nicht nur zwei Bier, sondern auch noch eine halbe Flasche Cognac und meine Träume waren grauenhaft.

Am nächsten Nachmittag sah ich zufällig eine Frau im Fernsehen, das war Selena, die blinde Seherin. Sie schien wirklich blind zu sein, sah nett und bürgerlich aus wie eine Sekretärin oder so und wirkte ganz überzeugend. Sie fand eine verschwundene Brosche in einem ziemlich vollgemüllten Einfamilienhaus, indem sie ihren Assistenten per Funkgerät da rumschickte, und sie konnte einer heulenden Frau beibringen, dass die ihre Katze nicht weiter suchen sollte, die schnurrte schon im Jenseits.

Es dauerte alles in allem zwei Tage, bis ich einen Termin mit der blinden Seherin hatte, und dann musste ich noch mal anderthalb Wochen warten. Bis dahin traute ich mich kaum mehr aus dem Haus und als ich endlich losfuhr, legte ich auf dem kurzen Stück von der Tür zum Auto vor Angst die Ohren an.

Ich spürte den Zwerg, er war ganz in der Nähe …

Selena wohnte am Stadtrand in einem großen, modernen Wohnhaus mit bunten Balkonen. Ihr Assistent machte mir die Tür auf und verschwand taktvoll, als ich von meinen Problemen erzählte.

Die blinde Seherin hörte sich alles genau an und schaute mit ihrer dunklen Brille auf den Teppich. Zum Schluss sagte sie: »Ich glaube, Sie haben Recht, Herr Klein. Da ist etwas Gefährliches, Bedrohliches, ich kann es auch fühlen.«

»Wie hängt es zusammen? Wer steckt dahinter?«, fragte ich aufgeregt. »Meine Frau? Mein Teilhaber? Oder etwa irgendwelche Außerirdischen?«

»Ich glaube nicht. Außerirdische? Nein. Eher etwas Dämonisches, im weitesten Sinne. Ich werde … Warten Sie mal …«, verlangte Selena.

Sie lauschte nach innen und ich saß ganz still da, um sie nicht zu stören.

Dann sprach sie langsam und abwesend: »Es ist überaus gefährlich. Es ist mörderisch. Und Blut wird fließen, das ist nicht zu vermeiden.«

»Wessen Blut?!«, fragte ich entsetzt.

»Das liegt bei Ihnen, Herr Klein. Haben Sie eine Waffe? Könnten Sie sich einen Leibwächter leisten?«

Mir wurde ganz schlecht. »Was für eine Waffe? Nein. Ich bin kein Jäger und ich bin nicht im Fechtclub oder im Schützenverein. Wir sind doch nicht in Amerika! Ich könnte vielleicht jemanden mit meinem großen Straßenatlas niederschlagen, der ist sehr schwer und kantig …«, fügte ich hinzu, um witzig zu sein.

Selena, die blinde Seherin, lachte nicht. Sie setzte eine zweifelnde Miene auf.

»Gut, ich werde mir natürlich einen Leibwächter nehmen, gar keine Frage! Für wie lange wohl ungefähr?«

»Das kann ich nicht sagen. Bis alles vorbei ist.«

Und wenn das Jahre dauerte? Dann hatte mich der Leibwächter ruiniert, bevor es losging.

»Es handelt sich vor allem um den Zwerg«, merkte die Seherin noch an. »Der Zwerg ist wichtig, Herr Klein. Konzentrieren Sie sich auf den. Wenn Sie das tun, kann Ihnen nicht viel passieren. Falls Sie Glück haben.«

»Und falls nicht?«

Selena ruckelte an ihrer dunklen Brille und seufzte. »Dann gibt es eine Tragödie.«

Während ich dem Assistenten das Honorar für die Seherin zahlte, fragte ich mich, ob es dafür stand. Was wirklich los war, wusste ich immer noch nicht. Ich fühlte mich nur ein wenig bestätigt. Besser als nichts.

Also etwas Dämonisches?

Ich wusste noch nicht mal genau, was damit gemeint war.

Den nächsten Tag verbrachte ich am Telefon, um einen Leibwächter zu finden. Schwierig zu erklären, worum es ging, wenn sie wissen wollten, wovon ich mich bedroht fühlte.

Ich erklärte, angegriffen worden zu sein und nicht zu wissen, von wem und weshalb. Wer die Narbe an meinem Auge sah und meinen bandagierten Fuß, der würde mir schon glauben.

Am nächsten Vormittag sollte ein kräftiger geschulter Herr erscheinen, um mich zu beschützen. So gegen zehn. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, weil ich nicht ahnte, dass meine Schicksalsstunde bereits gegen neun Uhr schlug.

Irgendetwas aber spürte ich.

Als ich an diesem Morgen aufwachte, standen mir alle Haare zu Berge vor Angst und ich fühlte förmlich, wie das Unheil näher kam. Ich saß am Frühstückstisch und hob gerade die Tasse mit dem duftenden Kaffee – als ich im Nachbarhaus, bei den Mattmanns, einen fürchterlichen Lärm hörte, Gepolter und Geschrei. Was mochte da los sein? Ehekrach? Revolution?

Und schon wieder glaubte ich, den Zwerg zu spüren, er wollte zu mir, er war auf dem Weg, ich konnte ihm nicht entkommen!

Ich stellte den Kaffee klirrend beiseite und humpelte aufgeregt im Zimmer umher. Hätte ich mich doch nur bewaffnet, wie die blinde Seherin mir riet, um mich wehren zu können, bis der Leibwächter eintraf!

Ich hob versuchsweise den Feuerhaken vor dem Kamin an, aber der hatte einen wackeligen Griff. Ich blieb in der Küchentür stehen und wollte gar nicht erst die Messer durchprobieren – ich hätte gern eine längere Waffe gehabt, um mir Angreifer vom Leib zu halten!

Dabei fiel mir die Axt ein, die im Keller lag. Mein Bruder hatte mir vergangenen Herbst geholfen, im Garten eine Birke zu fällen und zu zerkleinern und er brachte dieses gefährliche blinkende Instrument mit, schärfte es auch noch mit einem nassen Wetzstein und vergaß es dann später, als er wieder zurückfuhr.

Ich humpelte die Kellertreppe hinunter und suchte nervös, verzweifelt, ungeduldig nach der Axt. Ich fand sie schließlich und zog mich, so bewaffnet, am Geländer wieder nach oben.

Und komisch, seit ich die Axt in der Hand hielt, kam ich mir ein bisschen lächerlich vor.

Übertrieb ich nicht maßlos? Ich war überarbeitet, Wolfram hatte Recht.

Ich hatte einfach eine Phobie, wie der Arzt schon sagte.

Ich war nicht ganz bei Trost, den Verdacht hatte Ute hin und wieder ausgesprochen.

In was hatte ich mich da eigentlich hineingesteigert mithilfe von Leuten, die Geld von mir wollten? Dämonen, Außerirdische, Zwerge und Friseurspinnen verfolgten mich derart, dass ich einen Leibwächter brauchte!

Auf einmal konnte ich fast darüber lachen. Ich würde dem guten Mann das Fahrgeld ersetzen und ihn wieder nach Hause schicken, wenn er nachher kam, um auf mich aufzupassen.

Ich ging zurück zur Kellertür, rechts neben der Haustür, um die alberne Axt zurückzubringen.

Da hörte ich vom Gartenweg her kleine, leichte Schritte auf mich zurennen, Zwergenschritte, ein rasender Wichtel. Direkt neben der Haustür saß in der Wand eine schmale Scheibe vom Boden bis zur Decke, die plötzlich explodierte. Glas splitterte mit unglaublichem Getöse und durch die entstandene Öffnung in meiner Wand sprang er, der Zwerg!

Ich brauchte eine halbe Sekunde, um mich zu fassen, ich holte weit mit der Axt aus und merkte, während die blanke Klinge im Bogen herumsauste, dass ich den Zwerg verfehlt hatte, er war wieder mal an mir vorbeigehuscht, ins Haus hinein. Und ich traf die Gestalt, die dicht hinter ihm kam, ebenso in Eile wie der Kleine.

Diese zweite Gestalt, die jetzt vor meinen Füßen zusammenbrach, die Axt tief im Schädel – die kannte ich.

Das war Eckard Besel, mein Nachbar aus der Nummer 3, dem das Blut gleichzeitig aus dem Mund und aus der zertrümmerten Schädeldecke schoss und der nur noch ein paar Mal mit den verkrampften Fingern zuckte, bevor er ruhig liegen blieb.

Von draußen, auf der Straße, hörte ich den schrillen Schrei der Frau Graukern: »O Gott – Herr Klein – !!«

Ich wusste, sie wird gleich die Polizei anrufen.

Mir wurde schwach und schwindelig, ich ließ mich auf den Teppich gleiten und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand.

Ich wusste noch nicht, wie alles zusammenhing, wie es kam, dass die Scheibe neben der Tür zerbrochen war und was Eckard Besel damit zu tun hatte. Ich wusste nur, dass ich wegen irgendwelcher Zwergen-Wahnideen einen armen Menschen umgebracht hatte.

Anstatt Urlaub zu machen, um nach meiner zerbrochenen Ehe und beruflichem Stress wieder zu mir zu kommen, war ich zu einer Esoteriktante gegangen, um mir meine Phobie bestätigen zu lassen!

Draußen erklangen jetzt verschiedene Sirenen, Autos hielten mit laufenden Motoren, viele Menschen redeten durcheinander.

Nun, für Nachbar Besel kam jeder Notfallwagen zu spät.

Nur noch mit gelinder Neugier überlegte ich, wie willkommen dieses Ende meiner bürgerlichen Laufbahn vielleicht Ute und ihrem King Kong oder Partner Wolfram kommen mochte. Sie hatten freie Bahn, egal, ob ich im Knast oder in der Irrenanstalt mein Leben beschloss.

Da klingelte jemand an der Tür, gleichzeitig wurde geklopft. Beides war albern, denn daneben klaffte ja das mannshohe Loch in der Mauer. Durch dieses Loch steckte nun auch schon ein Uniformierter seinen Kopf und sagte: »Sind Sie Herr Klein? Polizei!« – als könnte ich das nicht sehen.

Sein Blick fiel auf Eckard Besel. Besonders entsetzt sah er nicht aus. Die von der Polizei sind wohl Schlimmes gewöhnt.

»Wo ist denn der Kleine?«, fragte er dann, während er vorsichtig durch das kaputte Fenster und die Scherben trat. »Ist ihm was passiert?«

Ich verstand nicht, was er meinte. Er sprach doch wohl nicht von meiner Wahnvorstellung, dem dämonischen, gar nicht existierenden Zwerg?

Da raschelte es leise hinter mir und als ich im Sitzen herumfuhr, bemerkte ich im Wohnzimmer einen kleinen Jungen vor meinem Sofa, ebenfalls auf dem Boden. Er sah schrecklich aus, blutverschmiert, das kleine weiße Gesicht in Entsetzen eingefroren. In beiden Armen hielt er einen großen rosa Klumpen, an dem ein Kabel mit Elektrostecker baumelte.

»Lasse? Geht es dir gut?«, fragte der Polizist freundlich und trat langsam über den toten Eckard Besel auf den Kleinen zu wie auf ein wildes Tier, das man nicht erschrecken darf.

Natürlich, das war Lasse Mattmann, das Söhnchen der Nachbarn links von mir. Aus ihrem Haus war vorhin der merkwürdige Lärm gekommen.

Der Polizist sprach in sein Telefon, gleich darauf drängten sich noch mehr Uniformierte durch die kaputte Scheibe, bis endlich jemand die Idee hatte, meine Haustür zu öffnen.

Dadurch konnte ich sehen, dass aus dem Haus der Mattmanns Bahren mit zugedeckten Gestalten getragen wurden.

»Werde ich nicht verhaftet?« , fragte ich benommen.

»Verhaftet?«, wiederholte der Polizist mit milder Stimme. »Lieber Herr Klein, Paragraph 32 besagt, dass Notwehr eine Verteidigung ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. Sie haben den Sohn Ihrer Nachbarn geistesgegenwärtig und tatkräftig gerettet. Der Mann …« – er warf einen missbilligenden Blick auf den zusammengesackten Besel mit der Axt im Kopf – »der Mann hat die Eltern des Kindes umgebracht in einem wahren Blutrausch und war auch noch hinter dem Kind her. Wenn Sie nicht eingegriffen hätten …«

Und jetzt erkannte ich erst, dass unter Eckart Besel etwas wie ein gebogener Dolch lag, den er wohl hatte fallen lassen, als ihn die Axt traf.

»Aber warum? Was ist denn bloß passiert?«

»Das wird zu klären sein. Bis jetzt haben wir erfahren, dass es sich um eine Eifersuchtstat zu handeln scheint. Herr Besel und Frau Mattmann waren wohl liiert und die Frau wollte das Verhältnis beenden …«

»Ach so …«, sagte ich schwach.

»Der Arzt wird sich gleich um Sie kümmern und Ihnen vielleicht etwas zur Stärkung geben«, versprach der Polizist. »Sie stehen möglicherweise unter Schock.«

Ich glaubte nicht, dass ich unter Schock stand. Ich würde nur eine Weile brauchen, um zu begreifen, weshalb ich das alles irgendwie vorausahnen konnte und was mich dazu brachte, bei Zwergenalarm zur Axt zu greifen.

Eine Beamtin kam, nahm den kleinen Lasse in die Arme und führte ihn fort, beruhigend auf ihn einredend. Das Kind hielt immer noch den rosa Klumpen fest.

Auf einmal wurde mir klar, dass Lasse eine Salzlampe trug. Vielleicht hatte er sie in seinem Elternhaus als Waffe ergriffen. Sicher schlug er damit die Scheibe neben der Tür ein, um in mein Haus zu fliehen.

In diesem Augenblick fuhr ein Wagen auf meine Einfahrt und ein Schrank von einem Mann stieg aus.

Für einen kurzen Augenblick fürchtete ich schon, es könnte Ralfie sein, der neue Liebste meiner Ute, doch dann sah ich, dass er menschliche Gesichtszüge trug. Er klopfte höflich an die offen stehende Haustür, schaute sich respektvoll zwischen den vielen Uniformierten um, blickte sorgenvoll auf meinen blutgetränkten Teppich, von dem sie gerade Eckard Besel entfernt hatten und fragte: »Entschuldigen Sie – lebt Herr Klein noch?«

»Ja, hier!«, antwortete ich vom Boden aus.

Und der Leibwächter meinte mit einem kleinen, kantigen Lächeln: »Oh, großartig! Ich dachte schon, ich komme zu spät …«

Mondmörder

Als ich dreizehn Jahre alt war, sind in der Umgebung unserer Stadt einige grauenhafte Morde geschehen. Soviel ich weiß, wurden sie nie aufgeklärt. Immer, wenn der Mond groß und rötlich tief am Horizont steht wie heute, muss ich daran denken, denn diese Verbrechen geschahen stets bei Vollmond, sodass damals in den Zeitungen stand: ›Der Mondmörder hat in der Gegend um die idyllische Kleinstadt wieder zugeschlagen.‹

Anfang September kam eine Neue in unsere Klasse, Lea Wülfing, klein und zierlich, mit schmalen gelblichbraunen Augen unter dickem, wuscheligem rotbraunem Haar.

Wir freundeten uns sofort an. In der Pause erfuhr ich, dass ihre Familie bis vor kurzem in Thüringen gelebt hatte und ›durch die Wälder‹ in den Westen geflohen war.

»Mein Baba versteht viel von dr Nadur und so. Er gann alle möglichen Spurn sehn und ganz leise schleichn und mit zwe Hölzchen Feur machen. Er hat im Osdn bei der Forschtverwaltung gearbeded«, erzählte Lea. Zum Glück für die Familie hatte der Vater auch bei uns eine ähnliche Stellung bekommen und die Wülfings wohnten nun in dem Holzhaus am Waldrand, in dem früher unser alter Förster lebte.

Schon am selben Nachmittag besuchte ich meine neue Freundin. Dabei lernte ich ihre Eltern und ihren Bruder Edgar kennen, den ich schon auf dem Schulhof gesehen hatte.

Sie entsprachen keineswegs dem, was man sich bei uns unter einer ›Familie aus der DDR‹ vorstellte: Vielmehr überraschten die Wülfings mich durch ihr wildromantisches Aussehen. Nicht nur Lea und ihre Mutter, auch der Förster und der fünfzehnjährige Edgar trugen sehr langes Haar, das so aussah, als sei es nicht erst seit der Flucht durch die Wälder gewachsen, sondern jahrelang vorher. Vater Wülfing wucherte noch dazu ein Vollbart über die Brust, der in keiner Weise an einen gemütlichen Förster erinnerte, eher an einen verzweifelten Schiffbrüchigen. Die Familie hätte mich vielleicht sogar geängstigt – wenn sie nicht allesamt so ein dickes Sächsisch gesprochen hätten.

Ich wurde gleich zum Essen eingeladen und kostete mit Interesse den Brennesselauflauf im Teigmantel.

»Wr sind strigde Vechedarier, neworr!«, klärte mich der Förster auf und starrte dabei streng auf Edgar, der schuldbewusst seinen Kopf über den Teller senkte. Offenbar war das ein Streitthema zwischen Vater und Sohn.

Ich fand es faszinierend. Damals redete man kaum über gesunde Ernährung und Vegetarier waren selten, so etwas wie Sektierer.

Meine Eltern missbilligten die Freundschaft mit Lea und meinen Umgang mit den Wülfings. Zwar trug mein Vater sein Haar inzwischen auch kragenlang und ließ seine Koteletten bis zum Kinn wachsen – das tat ja sogar unser Bürgermeister –, aber das war immer noch etwas anderes als das verwilderte Aussehen der Försterfamilie.

»Mit denen stimmt was nicht. Erzähl mir doch nichts!«, schnaubte meine Mutter. »Solche Bärte trägt man auf keinen Fall in der Zone!«

»Ulbricht hat auch einen Bart«, verteidigte ich meine Förster.

»Ulbricht ist neulich gestorben«, mischte sich mein Vater ein.

»Na und? Deshalb hat er immer noch einen Bart!«, beharrte ich bockig.

»Aber nicht so einen. Der Mann will in der Forstwirtschaft gearbeitet haben? Dann wäre er Beamter gewesen. Die lassen doch da drüben ihre Beamten nicht rumrennen wie die Hippies«, wusste meine Mutter.

Die Wülfings wurden allgemein angefeindet und sie taten wenig, um sich beliebt zu machen. Hätten sie ihr Äußeres auf den damaligen Normalstatus heruntergestutzt, im Schützenverein Schweinshaxe gegessen, mit jedem viel über gar nichts geredet und dazu gelacht, dann hätte man ihnen vielleicht sogar das Sächsische verzeihen können. Doch sie separierten sich aufs Gefährlichste. Es dauerte nicht lange und über den neuen Förster und seine Familien waren allerlei Gerüchte im Umlauf.

In meiner Schule gab es einen Jungen, Reiner Ude, der eine blonde Prinz-Eisenherz-Frisur trug und sich in der Handballmannschaft hervortat. Auf ihn hatte ich bis vor kurzem meine aufblubbernden Hormone konzentriert und er zeigte sich dafür sehr empfänglich. Seit Edgar Wülfing mich melancholisch, aber bedeutsam aus seinen schmalen gelblichen Augen unter dem struppigen dunklen Haarwusch anschaute, auf dem Schulhof oder im Forsthaus, kam mir Reiner entsetzlich nichtssagend vor.

»Wie der schon spricht, dieser Edgar!«, war der erste Vorwurf, den ich von ihm zu hören bekam. »Und wie der aussieht! Was willst du denn von dem?«

»Nichts. Ich bin mit seiner Schwester befreundet«, fertigte ich ihn kurz ab.

»Das wirst du noch bereuen«, versprach Reiner pathetisch.

Kurz darauf ging es los mit den unheimlichen Todesfällen. Der Erste, der sein Leben ließ, war Pfiffikus, Reiners Meerschweinchen. Das Tier wurde im Biologieunterricht der zehnten Klasse vorgezeigt und nutzte die Gelegenheit, um den jungen Wülfing in die Hand zu beißen.

Auf dem Schulhof prahlte Reiner noch damit: »So ein Tier hat klare Instinkte!«

Ich rief wütend: »Danke sehr! Mich hat das kleine Luder bekanntlich auch schon gebissen! Und deine eigenen Hände, Reiner Ude, sind voller Narben, nicht nur von deinem blöden Pfiffikus, sondern genau so von euerm Kater, der hat wohl ebenfalls klare Instinkte!«

Edgar wurde im Lehrerzimmer von der Hausmeisterin verarztet und kam mit weiß umwickelter Hand erst auf den Schulhof, als die Pause beinah vorbei war.

Anfang der nächsten Stunde gab es dann im Klassenraum der Zehnten einen Riesentumult, derart, dass unser Lehrer die Tür öffnete, um nachzusehen, während wir alle neugierig hinter ihm in den Flur quollen.

Es stellte sich heraus, dass dem armen Pfiffikus, der in seinem Käfig im Biologiezimmer auf den Schulschluss gewartet hatte, der Kopf abgebissen worden war.

Abgebissen?!!

So drückte es zumindest Reiner aus, kreidebleich, mit weißen Lippen. Die Lehrer hielten die Formulierung ›abgetrennt und entwendet‹ für passender.

Reiner schleuderte einen anklagenden Blick auf Edgar und murmelte vor sich hin: »Und ich weiß auch, wer das getan hat!«

Am zwölften September war Vollmond. Ich sage das rückblickend – damals, tagsüber, dachte ich gar nicht daran. Im Morgengrauen fand ein Autofahrer die Leiche unserer Französischlehrerin in der Nähe der Landstraße, auf der sie häufig mit dem Rad in den Nachbarort fuhr, um ihre Mutter zu besuchen. Frau Andergast wurde auf dem Bauch liegend gefunden und schien auf den ersten Blick nicht beschädigt. Als man sie umdrehte, stellte sich heraus, dass ihr Herz fehlte. Es war, zusammen mit einem Stück Mantel und einem Stück Pullover, nicht mehr da, wie von einer großen Kralle herausgeschält, wurde uns erzählt. Eine blutige Sache.

Wir waren alle völlig entsetzt, wir redeten von nichts anderem, nahmen uns vor, nicht mehr davon zu sprechen und nicht mehr daran zu denken – und redeten weiter.

Dauernd standen Polizeiautos in der Stadt oder auf der Landstraße und tagelang sahen wir die Kreidemarkierung, die zeigte, wo Frau Andergast gelegen hatte, bis es kräftig regnete.

Zehn Tage, nachdem man sie gefunden hatte, wurde für die Lehrerin eine Trauerfeier in der Schule abgehalten. Auf die richtige Beerdigung mussten ihre Verwandten warten, weil die Polizei die Tote noch für ihre Untersuchungen brauchte.

Ich schlief schlecht in dieser Zeit. Ständig heulte der Wind ums Haus, so einen stürmischen Herbst hatte es lange nicht gegeben. Außerdem heulte seit einer Weile irgendetwas oder irgendjemand anderer: Ein Hund musste das sein. Es klang ausgesprochen schaurig und schien aus dem Osten zu kommen, vom Wald her.

»Vermutlich ein entlaufenes Tier!«, sagte mein Vater, »Vielleicht ist sein Herrchen gestorben, so etwas gibt es. Dann heult es jede Nacht, bis es selber tot ist.«

»Was hoffentlich bald der Fall sein möge«, fügte meine Mutter, die mit Augenringen am Frühstückstisch saß, hinzu.

Mir tat der arme Hund vor allem Leid und ich versuchte, ihn zu finden. Vielleicht könnte er mich gern haben, seinen verstorbenen Herrn vergessen und mit zu mir nach Hause kommen?