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Isabelle Steinmann ist schwer krank und hat nur noch einen Wunsch: die große, einsame Villa in Frankfurt hinter sich zu lassen und eine letzte Reise anzutreten. Nach Frankreich, wo sie während des Krieges aufwuchs und wo sie die Liebe ihres Lebens verlor. Kurzerhand heuert die exzentrische, alte Dame den Ex-Sträfling Ben Bäcker als Privatpfleger und Reisebegleiter an. Und obwohl Isabelles vernunftbegabte Tochter Carole ihrer Mutter nie nahestand, bangt sie nun um deren Verstand und Sicherheit. Notgedrungen schließt sie sich der seltsamen Truppe an. Sie kann nicht ahnen, dass die Reise in Isabelles geheimnisvolle Vergangenheit ihrer aller Leben für immer verändern wird ...
Nominiert für die DELIA für den besten deutschsprachigen Liebesroman des Jahres.
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Seitenzahl: 533
Veröffentlichungsjahr: 2022
Buch
Die 77-jährige, verwitwete Isabelle Steinmann ist unheilbar krank und hat einen letzten Wunsch: die herrschaftliche, einsame Villa in Frankfurt hinter sich zu lassen und eine große Reise anzutreten. Nach Frankreich, wo sie nach dem Krieg aufwuchs. Im Gepäck hat sie sechzig geheimnisvolle Briefe, adressiert an Philippe Ozaneaux, den sie vor ihrem Tod unbedingt noch finden will. Kurzerhand heuert die exzentrische alte Dame den Ex-Sträfling Ben Bäcker als Privatpfleger und Reisebegleiter an. Und obwohl Isabelles vernunftbegabte Tochter Carole ihrer Mutter nie nahestand, bangt sie nun um deren Verstand und Sicherheit. Notgedrungen schließt Carole sich der seltsamen Truppe an, ohne zu ahnen, wie es um Isabelle steht. Und je mehr Kilometer die Reisegruppe zurücklegt und je tiefer Carole in die Vergangenheit ihrer Mutter eindringt, desto mehr beginnt sie, auch ihr eigenes Leben zu verstehen und sich zu öffnen. Auch dem attraktiven Ben Bäcker gegenüber, der sie mit seiner direkten Art immer wieder aus der Fassung bringt …
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Sonja Roos
Roman
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Originalausgabe September 2022
Copyright © 2022 by Sonja Roos
Copyright © dieser Ausgabe 2022
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotive: Landschaft: © mauritius images / Michel PERES /Alamy, Himmel, Busch, Vögel, Lavendel: FinePic®, München
Redaktion: Ulrike Gerstner
MR · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN978-3-641-27159-6V001
www.goldmann-verlag.de
Für meine Mama
Für alle Mütter und Töchter
Die Nacht war rabenschwarz. Wegen der Ausgangssperre waren die Häuser verdunkelt und die Straßenlaternen erloschen, und das Licht des abnehmenden Mondes vermochte es kaum, die Gehwege der Stadt zu erhellen. Zudem hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, in dessen Tropfen sich hie und da Schneegraupel mischte. Sabine Ozaneaux klappte den Kragen ihres Wollmantels hoch und steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen. Die Turmuhr von Saint-Guillaume schlug acht, und Sabine beschleunigte ihre Schritte noch einmal. Schwester Martine würde ihr gleich die Leviten lesen, wenn sie zum dritten Mal in dieser Woche zu spät zu ihrer Nachtschicht käme.
Dabei war es dieses Mal nicht einmal ihre Schuld. Ihre Schwester Agathe hatte einen furchtbaren Anfall, kurz bevor Sabine aufbrechen wollte. Maman konnte sie kaum beruhigen. Erst als Sabine sich der Länge nach auf ihre jüngere Schwester legte und dieser besänftigende Worte ins Ohr flüsterte, konnte sie spüren, wie Agathe sich langsam entspannte und kurz darauf einschlief. Agathe war auch der Grund, warum Sabine und ihre Eltern überhaupt in die besetzte Stadt zurückgekehrt waren, denn Agathe war mit der neuen Umgebung nicht klargekommen, und ihre Anfälle hatten sich verschlimmert. Hier, in ihrem Elternhaus, war sie zumindest ruhiger und neigte auch nicht so oft dazu, sich selbst zu verletzen.
Sabine dachte an Albert, und ein warmes Kribbeln breitete sich in ihr aus. Damals, als Straßburg wegen der Boches evakuiert worden war, hatte Albert vorgeschlagen, sie mit nach Paris zu nehmen, wo er sich Arbeit als Koch suchen wollte. Doch Sabine brachte es nicht über sich, Maman und Papa mit der Last von Agathes Betreuung allein zu lassen. Erst recht nicht, seitdem ihre älteste Schwester Gerte ihrem Mann auf sein Weingut in die Provence gefolgt war. Albert hatte das verstanden, hatte sie geheiratet und war trotz seines tief sitzenden Hasses auf die Deutschen wieder mit ihr und der Familie zurückgekehrt. Er arbeitete nun tagsüber in einem Gasthof in der Küche, nachts aber traf er sich von Zeit zu Zeit mit ein paar Männern, die der Résistance angehörten, sodass Sabine nicht wusste, ob sie stolz oder wütend auf ihn sein sollte. Immerhin war Philippe gerade einmal vier Jahre alt, und Albert brachte sie alle mit seinem Engagement gegen die Deutschen in große Gefahr. Trotzdem, sie hatte ihm schon so viele Opfer abverlangt, sie konnte ihn einfach nicht darum bitten, den Treffen in Marcels Keller fernzubleiben.
Sie hatte den Platz vor Saint-Guillaume nun überquert und warf einen schnellen Blick zur schiefen Turmspitze empor, die ihr jedes Mal ein Lächeln entlockte. Der Anker, der den Kirchturm schmückte, verriet, dass Saint-Guillaume die Kirche der Seeleute war, die, wie Sabines Familie, nahe dem Quai des Bateliers im Viertel Petite France lebten und arbeiteten. Auch ihr Vater Robert war einst zur See gefahren, bis er bei einem Schiffsunglück beide Beine verlor. Die ganze Familie war darum auf Sabines und Alberts Geld angewiesen, weshalb Sabine ihre Arbeit als Nachtschwester am Universitätskrankenhaus kurz nach Philippes Geburt wieder aufgenommen hatte, wenngleich es sie jedes Mal zerriss, ihren Kleinen in den Armen ihrer Mutter zurückzulassen, statt ihn selbst in den Schlaf zu wiegen oder ihm schlechte Träume in der Nacht zu verscheuchen.
»He da, wohin um diese Zeit? Wissen Sie nicht, dass Ausgangssperre ist ab acht?«, bellte eine unwirsche Stimme sie an. Sabine schrak zusammen und griff sich automatisch an ihr Herz, das nun im wilden Rhythmus schlug.
»Ich bin Nachtschwester drüben an der Universitätsklinik«, sagte sie mit zittriger Stimme und hasste die harten deutschen Worte, die sie dabei gezwungen war zu sprechen. Dieser Wagner, der Chef der Zivilverwaltung war, hatte nach der Annexion von Elsass-Lothringen allen Bürgern auferlegt, die Sprache ihrer neuen Heimat zu gebrauchen. Was die meisten daheim, in den eigenen vier Wänden, missachteten, egal, ob sie den elsässischen Singsang oder das Französische mit der Muttermilch aufgesogen hatten. Aber draußen mussten sie alle so tun, als seien sie Deutsche, als stünden sie hinter den neuen Machthabern, als verehrten sie diesen Hitler ebenso wie die beiden Boches, die nun mit finsterer Miene aus dem Schatten vor ihr aufgetaucht waren. Sabine angelte nach ihrer Handtasche und sah, wie der eine Soldat kaum merklich nach seinem Gewehr fasste, das er über der Schulter trug. Der andere starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Ich zeige meinen Passierschein«, sagte sie und griff mit schweißfeuchten Fingern nach dem Dokument, das ihr erlaubte, auch nach der Sperrstunde das Haus zu verlassen.
Der Soldat mit dem grimmigen Gesicht riss es ihr aus der Hand und überflog es, bevor er Sabine das Papier wiedergab.
»Beeilen Sie sich, Frau Ozaneaux«, sagte er, ehe er Sabine mit einem Hitlergruß verabschiedete.
Sie grüßte zurück, auch wenn sie jedes Mal das Gefühl hatte, ihr Vaterland zu verraten, wenn sie diese alberne Geste vollführen musste. Sicher, es gab genug Elsässer, die sich eher als Deutsche sahen und die nur allzu gerne den Besatzern Tür und Tor öffneten. Doch Sabine und ihre Familie gehörten nicht dazu. Ihr Vater war in Paris geboren und stolzer Franzose. Nur ihrer Mutter wegen war er ins Elsass gekommen. Sabine sprach zwar ein paar Brocken Deutsch und war des Elsässischen mächtig, aber zu Hause wurde Französisch gesprochen. Um kurz vor halb neun erreichte sie die Klinik.
»Ah, Sabine, ça va?«, begrüßte sie Michel, der an der Pforte des Krankenhauses saß und wie sie französische Wurzeln hatte.
Sabine legte ihren Zeigefinger an die Lippen und sah sich verstohlen um, ob wohl irgendwer gehört hatte, wie ihr Kollege sie empfing, doch außer ihr war niemand unterwegs um diese Zeit.
»Du musst deutsch sprechen, Michel«, sagte sie, milderte ihre kleine Zurechtweisung aber mit einem herzlichen Lächeln ab.
»Isch scheiß auf die Deutsch«, gab Michel zurück und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust.
Sabine schüttelte den Kopf, vermied es aber, ihn noch einmal darauf hinzuweisen, dass ihn eine solche Äußerung teuer zu stehen kommen könnte. Noch im Laufen zog sie den Wollmantel aus und eilte zu den Fahrstühlen, die sie hinauf zur Gynäkologischen Abteilung brachten, wo Martine Baillot sie bereits mit ungeduldigem Blick erwartete.
»Das wurde auch Zeit, hast du auf die Uhr geschaut?«, fragte sie gereizt und klopfte dabei auf die goldene Armbanduhr, die ihr ihr erster Mann Pierre geschenkt hatte, bevor er im Ersten Weltkrieg gefallen war.
»Tut mir leid, Agathe hatte einen Anfall«, sagte Sabine und eilte an Martine vorbei ins Schwesternzimmer, wo sie den Mantel in einen Spind aufhängte und sich ihre Schwesternkluft überzog.
»Dr. Keller sieht Zuspätkommen gar nicht gerne«, tadelte Martine, beließ es dann aber dabei und zog einen Stapel Akten vom Tisch, den sie Sabine übergab.
»Bei Frau Maillard gab es Komplikationen, es haben heute Mittag Blutungen und starke Schmerzen eingesetzt, das Kind wurde per Kaiserschnitt geholt. Ein Junge, doch er ist sehr schwach. Dr. Keller ist sich nicht sicher, ob das Kind die Nacht übersteht. Frau Gruber erholt sich gut, sie kann morgen mit den Zwillingen entlassen werden, und die junge Frau, die gestern Abend mit Wehen kam, hat am Morgen ein hübsches Mädchen entbunden.«
Martine drückte ihr die Akten in den Arm und verschwand dann, um ihre Sachen aus ihrem eigenen Spind zu holen. Sabine ging alle Unterlagen durch und belud anschließend einen der Rolltische mit Medikamenten, Blutdruckmessgerät, Fieberthermometer und Nierenschale. Dann begann sie ihre abendliche Runde.
In Zimmer 212 lag die junge Frau, die gestern bei der Einlieferung ihren richtigen Namen nicht hatte nennen wollen. Sabine schob ihren Wagen an das Bett und betrachtete die frischgebackene Mutter einige Augenblicke lang. Sie war hübsch, wenngleich auf eine aufdringliche Art. Alles an ihr schien etwas zu groß – ihr Mund, ihre Nase, ihre Brüste, die nun auch noch mit Milch gefüllt waren. Trotzdem waren die Augen von einem unglaublichen Grün und standen damit in einem schönen Kontrast zu ihren dunkelbraunen Haaren. Genau diese Augen waren nun auf Sabine gerichtet, als diese leise die Tür zum Krankenzimmer schloss.
»Wie geht es Ihnen heute, Frau Müller?«, fragte sie und stolperte etwas über den Namen, so wie die Frau es gestern getan hatte, als sie unter Wehen von einem jungen deutschen Soldaten in die Klinik gebracht worden war.
»Hure«, hatte ihre Kollegin Sarah geflüstert, für die alle Frauen Huren und Verräterinnen waren, die sich mit den Boches einließen. Da der junge Soldat bar gezahlt und sich dem Personal gegenüber sehr großzügig gezeigt hatte, war niemand auch nur auf die Idee gekommen, die Identität der Frau zu hinterfragen.
»Sie wissen, dass ich nicht so heiße, Schwester«, sagte die Wöchnerin auf Französisch, und Sabine zögerte einen Augenblick, bevor sie mit einem knappen Nicken bejahte.
»Sehen Sie, ich mag ihn wirklich, obwohl er mich niemals heiraten wird. Er ist einer anderen versprochen in Deutschland. Er wird sie heiraten, sobald der Krieg zu Ende ist. Aber er hat mir geschworen, für mich und das Kind zu sorgen. Das ist mehr, als die meisten Männer tun würden.«
Sie schwieg und ließ es zu, dass Sabine ihren Blutdruck und ihre Temperatur maß.
»Ich habe es zu spät bemerkt, sonst hätte ich es nie so weit kommen lassen. Ich war bei der alten Agnes, sie hat mir viel Geld abgeknöpft für einen Kräutertrank, doch der hat nur schlimme Schmerzen gemacht, das Kind ist dringeblieben.«
Sabine warf einen mitleidigen Blick auf das ungewollte Würmchen. Ein kleines Mädchen, dessen zarte Gesichtszüge vom fahlen Mondlicht beleuchtet wurden, das durch die hohen Fenster schien.
»Schonen Sie sich, Frau Müller, es wird sich alles fügen. Jetzt müssen Sie erst mal wieder zu Kräften kommen.«
Sabine hatte der jungen Frau mit Absicht auf Deutsch geantwortet, um sie daran zu erinnern, dass es nicht sicher war, sich auf Französisch zu unterhalten.
»Ich habe einen anderen kennengelernt, aber der will mich nicht mit Kind, was verständlich ist.«
Sie blickte abwesend zu dem Bettchen, in dem ihre Tochter schlief, die genau in diesem Moment unruhig wurde, als hätte sie bemerkt, dass man über sie sprach. Sabine trat zu dem Kind und nahm es auf, wobei sie vorsichtig das kleine Köpfchen mit beiden Händen umfasste. Verzückt betrachtete sie das Mienenspiel des Babys, während es gähnte.
»Sie ist wunderschön, wie heißt sie?«, fragte Sabine leise und auf Französisch, ihre eigene Mahnung von eben missachtend.
»Ich habe sie Isabelle genannt, nach meiner Mutter«, antwortete die Frau, wandte aber den Blick von ihrer Tochter ab.
Sabine legte sich das winzige Wesen an die Schulter und trat auf das Bett zu, um Mutter und Kind zu vereinen, doch die dunkelhaarige Frau schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Ich bin müde, können Sie sie ein bisschen mitnehmen, damit ich Schlaf finde?«
Sie nickte und legte das Mädchen wieder ab, bevor sie mit einem letzten Blick auf die Mutter das Zimmer verließ, wobei sie zuerst das Bettchen mit dem Kind hinausschob und dann noch einmal zurückkam, um ihren anderen Wagen zu holen. Die Frau hatte leise zu weinen begonnen, und Sabine zog es das Herz zusammen. Als alleinstehende Mutter, noch dazu mit dem Bastard eines deutschen Besatzungssoldaten, wartete nicht gerade eine rosige Zukunft auf die junge Frau. Egal, wer am Ende diesen vermaledeiten Krieg gewinnen würde. Wie gerne hätte Sabine ihr etwas Tröstendes gesagt, doch ihr wollte partout nichts einfallen.
Sie beendete ihre Runde und ging dann auf die Säuglingsstation, wo sie vor dem Bettchen des kleinen Mädchens stehen blieb.
»Salut Isabelle, ma petite princesse, tu es très belle«, flüsterte sie liebevoll und strich dem Säugling das dunkle Haar aus der Stirn.
Wie gerne hätte sie ein zweites Kind gehabt, doch es hatte Probleme unter der Geburt mit Philippe gegeben. Man hatte ihr die Gebärmutter herausnehmen müssen, sodass sie nie wieder das Glück würde spüren können, wie ein neues Leben in ihr wuchs. Nun fühlte sich Sabine den Tränen nahe. Weil sie Selbstmitleid hasste, wischte sie sich jedoch mit einer unwirschen Geste die Feuchtigkeit aus den Augen und begann, die Fieberkurven und weitere Werte in die Akten zu übertragen.
Als Martine gegen sechs kam, um sie abzulösen, nickte sie und bedeutete der anderen, dass sie nur schnell das kleine Mädchen, dessen Bettchen die ganze Nacht neben ihr im Schwesternzimmer gestanden hatte, zurück zur Mutter bringen würde. Sie schob das Wägelchen den langen, vom ersten Morgenlicht durchfluteten Gang entlang, wobei die Rollen quietschende Geräusche auf dem abgetretenen Linoleumboden machten.
»Ma petite princesse, nun bekommst du Frühstück«, sagte sie mit einem Lächeln, das mit einem Mal auf ihren ebenmäßigen Zügen gefror. Das Bett in Zimmer 212 war leer.
Isabelle Steinmann beobachtete die Bewerberin über den Rand ihrer Brille hinweg. Die Frau schien sich sichtlich unwohl zu fühlen. Immer wieder nestelte sie am Kragen ihrer steifen weißen Bluse. Zugegeben, im Zimmer war es wie üblich viel zu heiß, und Isabelle wusste, dass die Einrichtung ihren ungewöhnlichen Geschmack widerspiegelte, den manche auch exzentrisch nannten. Die Teppiche waren kostbar und farbenfroh, und die Tapeten hatten ein Muster, das ihre Tochter Carole einmal als »augenkrebserregend« bezeichnet hatte. Isabelles Geschmack, was Tand und Trödel aus fremden Ländern anging, ließ sich bestenfalls als bunt zusammengewürfelt beschreiben, doch mit jedem Stück verband sie eine besondere Erinnerung. Ihr scheinbar zusammenhanglos angesammeltes Konglomerat aus Reisememorabilien wärmte ihr beim Betrachten stets das Herz – auch wenn Kunstkenner vielleicht angemerkt hätten, dass es einem Frevel gleichkam, einen kleinen goldenen Buddha neben einer afrikanischen Fruchtbarkeitsgöttin und einem neuseeländischen Plastikkiwi zu platzieren.
Isabelle hatte jedoch nie viel auf das gegeben, was andere über sie dachten. Wobei sie durchaus daran interessiert war, was der korpulenten Mittfünfzigerin vor ihr gerade durch den Kopf ging. Mehrfach hatte die Dame verstohlen ein Taschentuch aus ihrem Ärmel gezogen und sich die Schweißperlen von der Stirn gewischt. Zudem vermied sie es, ihrem Gegenüber beim Sprechen in die Augen zu blicken, eine Unart, die Isabelle missfiel, denn sie selbst versuchte stets, offen und unvoreingenommen auf die Menschen zuzugehen. Sie lehnte sich noch weiter in ihr orange-grün gemustertes Sofa zurück, wobei sie die Arme vor der Brust verschränkte.
»Ihre Qualifikationen sind beeindruckend, Frau Michels, ich frage mich nur, wie flexibel Sie sind.«
Die Angesprochene rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.
»Nun ja, ich bin vor drei Monaten Großmutter geworden und versuche schon, so viel Zeit wie möglich mit meiner Enkeltochter zu verbringen«, sagte sie und musterte Isabelle plötzlich, um zu sehen, ob ihre Antwort Gefallen fand.
Isabelle ließ sich jedoch nicht in die Karten schauen.
»Ja, ja, die Familie ist das höchste Gut«, erwiderte sie stattdessen ausweichend und setzte sich nun doch wieder nach vorne auf die Sofakante. »Ich melde mich bei Ihnen, Frau Michels, Sie erhalten auf jeden Fall zeitnah eine Antwort.«
Sichtlich erleichtert stand die Dame auf, fächerte sich Luft zu und gab Isabelle die Hand. Mit einem letzten, abschätzigen Blick auf die Tapeten wandte sie sich zum Gehen. Isabelle musste schmunzeln. Ihr Interieur schien der Dame wie erwartet nicht zuzusagen.
Isabelle wartete genau zwei Herzschläge, nachdem die Tür hinter Frau Michels zugefallen war. Dann ließ sie deren Bewerbungsunterlagen mit einem bedauernden Schulterzucken in den Abfallkorb gleiten. Es wäre Zeitverschwendung für sie beide, sich noch länger mit dieser Bewerbung zu befassen – und wenn es etwas gab, wovon Isabelle nicht mehr viel hatte, dann war es Zeit.
Sie blickte auf ihren Terminplaner. Demnach sollten noch drei Aspiranten vor ihrer Tür sitzen, aber sie hatte keine Kraft mehr. Ihr war schwindelig, und sie hatte Durst vom vielen Sprechen, weshalb sie beschloss, die anderen Bewerber auf den nächsten Tag zu vertrösten. Wer dann wiederkam, bewies zumindest schon einmal Ausdauer.
Doch als Isabelle die schwere Eichentür aufzog, die das weitläufige Wohnzimmer vom Flurbereich trennte, saß da nur noch ein einsamer Mann. Er mochte etwa Ende dreißig sein, vielleicht auch ein paar Jahre älter. Sein Haar war kurz geschoren, und ein Dreitagebart bedeckte die untere Hälfte seines markant geschnittenen Gesichts. Er war breitschultrig und muskulös, vermutlich trainierte er viel. Er war nicht klassisch schön, eher auf eine kantige, raue Art attraktiv. Wäre Isabelle runde vierzig Jahre jünger gewesen, sie hätte ihn durchaus anziehend gefunden. So weckte er zumindest ihre Neugier.
Sie schob die Brille auf ihre Nase zurück und blätterte durch die Unterlagen. Es war offensichtlich, dass keine der Bewerbungen, die ihr vorlagen, zu dem Mann gehörte, der sie nun seinerseits interessiert betrachtete.
»Und wer sind Sie?«, fragte Isabelle und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme misstrauisch klang.
Er erhob sich, und Isabelle musste leicht den Kopf in den Nacken legen, als er sich vor ihr aufbaute, da er sie um gute zehn Zentimeter überragte.
»Ich heiße Ben Bäcker, wie der Schauspieler, nur mit ä«, leierte er einen wohl oft abgespulten Spruch herunter.
Er hatte sich angesichts der Wärme im Raum seine zerschlissene Lederjacke ausgezogen, sodass Isabelle nun die Tätowierungen erkennen konnte, die seine breiten Oberarme zierten. Im Gegensatz zu Frau Michels vermochte der junge Mann es sehr wohl, Isabelles Blick standzuhalten. Schweigend betrachteten sie einander, bis sich ein kleiner Sonnenkranz aus Lachfältchen um seine Augen bildete. Sein Lächeln kam überraschend und machte ihn gleich noch anziehender. Die kleinen Furchen verrieten, dass er eigentlich jemand war, der gerne lachte. Doch das Leben schien ihm nicht immer gut mitgespielt zu haben, denn bevor das Lächeln sich in seinen beeindruckenden Augen festsetzen konnte, hatte er es wieder eingefangen und hinter einer sorgsam einstudierten Miene aus gelangweilter Gleichgültigkeit versteckt. Isabelle befand, dass es sich lohnen könnte, ihn trotz ihrer Erschöpfung anzuhören.
»Dann kommen Sie mal mit«, sagte sie resolut und ging ihm voran ins Wohnzimmer, wo die Heizung immer noch auf der höchsten Stufe bollerte, obwohl draußen bereits zweistellige Temperaturen und Sonnenschein lockten.
Isabelle setzte sich und wartete, bis Bäcker ihr gegenüber Platz genommen und sich aufmerksam in dem kunterbunten Raum umgesehen hatte.
»Sie haben einen …« Er brach kurz ab, als er nach den richtigen Worten suchte. »… farbenfrohen Geschmack«, beendete er den Satz und blickte ihr danach wieder offen und vielleicht eine Spur taxierend ins Gesicht.
Seine Augen wanderten einmal an ihrer auffälligen Erscheinung auf und ab. »Leukämie?«, fragte er dann leise, und Isabelle zog kurz und scharf die Luft ein.
»Woher …?«
Noch bevor sie ihre Frage zu Ende stellen konnte, hatte er ihr mit einem Schulterzucken das Wort abgeschnitten.
»Ihr bunter Poncho verdeckt nicht überall die Haut an ihren Armen, sodass mir dort die großen Blutergüsse aufgefallen sind, weshalb ich auf Leukämie schließe. Sie frieren schnell, was für eine allgemein gebrechliche Gesamtkonstitution spricht. Da Sie keine Perücke tragen und sich zu Hause befinden, vermute ich, dass Sie auf eine Chemo- oder Strahlentherapie verzichtet haben – mutmaßlich, weil man Ihnen gesagt hat, dass diese kaum Erfolg versprechend sein wird. Zudem hieß es in Ihrer Stellenanzeige, es handle sich um ein zeitlich begrenztes Engagement. Da Sie – ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen – etwa Mitte siebzig sind und man normalerweise davon ausgehen müsste, dass so eine Stelle angesichts Ihrer Diagnose dauerhaft besetzt wird, da sich der Bedarf an Pflege auf Sicht eher noch erhöht, hat man Ihnen wahrscheinlich nur noch wenig Zeit auf dieser Erde in Aussicht gestellt.«
Isabelle starrte den Mann einen Moment lang sprachlos an, bevor sich ein anerkennendes Lächeln auf ihren faltigen Zügen ausbreitete. »Wir werden hervorragend miteinander auskommen, Herr Bäcker. Ich habe wirklich nicht mehr viel Zeit und genug von Menschen, die mit Katzenbuckel um mich herumtanzen und mich behandeln wie ein rohes Ei. Ich brauche Ihre Gesellschaft vor allem auf einer letzten Reise Richtung Frankreich, die ich in den kommenden Tagen zu machen gedenke. Sind Sie ungebunden und zeitlich flexibel?«
Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Er rieb sich den Nacken und wich ihrem Blick aus.
»Na ja, ich habe ja gar nicht gesagt, dass ich die Stelle will«, erwiderte er ausweichend.
»Weshalb sind Sie denn dann heute überhaupt hergekommen?«, bohrte sie nach, auch wenn sie einen leisen Stich der Enttäuschung fühlte.
»Mein Bewährungshelfer hat mir die Stellenanzeige geschickt. Ich muss mich aktiv um meine Wiedereingliederung bemühen, und dazu gehört ebenfalls, dass ich auf die Suche nach einer Arbeit gehe.«
Falls er geglaubt hatte, sein Bekenntnis würde Isabelle schockieren, hatte er sich gewaltig getäuscht. Im Gegenteil, nun war ihre Neugier erst recht geweckt.
»Was würde Sie denn für die Stelle als privater Pfleger qualifizieren?«, wollte sie wissen und schob sich dabei die Brille einmal mehr ihren Nasenrücken hoch.
Er zuckte erneut kurz mit den Schultern.
»Ich habe sieben Semester Medizin studiert – vor dem Knast«, fügte er leise hinzu. »Außerdem habe ich im Gefängnis eine Ausbildung zum Sanitäter gemacht und auf der Krankenstation gearbeitet.« Doch Isabelle hatte ihre Entscheidung bereits getroffen.
Sie lehnte sich mit einem äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck wieder in ihre dicken bunten Kissen. Er wäre die perfekte Reisebegleitung. Trotz seiner vermutlich nicht unproblematischen Vorgeschichte und der Sache mit der Inhaftierung nahm sie ihn als feinfühlig und intelligent wahr. Wie aufmerksam hatte er ihre Situation eingeschätzt, wie treffend ihre Diagnose erkannt. Gespräche mit ihm wären sicher nicht langweilig. Zugleich schien er sehr stark und zupackend zu sein, was ihrem geplanten Abenteuer durchaus zuträglich wäre. Alles in allem war er ein so ungewöhnlicher, jedoch passender Aspirant für diese Stelle, dass ihn auch gleich der Himmel hätte schicken können.
»Also von mir aus haben Sie den Job. Ich zahle 4 500 im Monat, zuzüglich Spesen und Fahrtkosten.«
Kurz sah sie Überraschung über seine sonst so beherrschten Züge huschen, doch er hatte schnell wieder eine neutrale Miene aufgesetzt.
»Geld ist, wie Sie sich vielleicht denken können, kein Problem. Ich brauche jemanden wie Sie, jemanden, der nicht viele Fragen stellt, der anpacken kann und der weiß, worauf er sich einlässt. Ehrlich, ich habe ein gutes Gefühl.« Sie war an die äußerste Kante des Sofas gerutscht und sah ihn nun über den Rand ihrer pinken Brille hinweg erwartungsvoll an.
»Ich weiß nicht.«
Wieder rieb er sich den Nacken, bevor er ihren Blick erwiderte. Sie sah die widerstreitenden Emotionen; das Geld musste eine Verlockung sein, aber irgendetwas schien ihn zögern zu lassen. Vielleicht hatte es mit seiner Biografie zu tun. Doch noch war es zu früh, ihn danach zu fragen, das spürte Isabelle so sicher wie den Wetterwechsel in ihren alten Knochen.
»Das mit der Auslandsreise könnte ein Problem sein, ich muss das mit meinem Bewährungshelfer und den zuständigen Behörden klären«, sagte er nach einer kleinen Ewigkeit, und Isabelle nickte zufrieden.
»Tun Sie das. Ich halte die Stelle frei, bis Sie sich entschieden haben.«
Sein Blick verharrte nachdenklich auf ihr. Isabelle kam nicht umhin, erneut seine Augen zu bewundern. Sie gefielen ihr. Ihre Farbe erinnerte sie an den Himmel über der Provence, tiefblau und klar.
»Sie geben nicht so schnell auf, was?«, fragte er, aber sein Ton war zu milde, um wie eine Zurechtweisung zu klingen.
Isabelle zuckte mit den Schultern und stand auf, um ihm zu bedeuten, dass das Bewerbungsgespräch für sie an diesem Punkt endete. Er erhob sich ebenfalls und folgte ihr zur Tür. Doch noch bevor ihre faltigen Hände den Griff zu packen bekamen, wurde diese aufgerissen, und Isabelle wäre um ein Haar in Carole gestolpert.
»Oh, du bist ja früh dran heute«, bemerkte sie und warf einen verstohlenen Blick über ihre Schulter zu Bäcker, der Carole durchaus mit Interesse musterte. Kein Wunder, ihre Tochter war eine Schönheit, wenngleich sie unnahbar wirkte wie eine Eisskulptur. Sofort verschränkte Carole die Arme vor ihrer Brust und starrte skeptisch zu dem Fremden hinüber.
»Entschuldige die Störung, Mutter, mir war nicht klar, dass du Besuch hast. Möchtest du mir den Herrn vorstellen?« Angespannt ließ sie ihre Finger bei dieser Frage über ihre Ellbogen tippen wie über ein unsichtbares Klavier.
»Nun ja, Herr Bäcker hier hat sich auf eine Stelle beworben.«
Caroles schön geschwungene Augenbrauen zogen sich zusammen, während sie Isabelle prüfend ansah.
»Wir haben vergangenen Monat einen neuen Gärtner eingestellt, Mutter«, erinnerte sie und sah zu Bäcker hinüber, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte.
»Es tut mir leid, dass Sie umsonst hergekommen sind. Den Weg nach draußen finden Sie allein?« Carole deutete mit ausladender Geste auf die Tür, um klarzumachen, dass der Besucher gerne den kürzesten Weg zur Haustür nehmen durfte.
Isabelle schüttelte leicht den Kopf. Ihre Tochter schaffte es, in einem Atemzug unfreundlich und dabei höflich zu klingen.
»Es geht nicht um die Stelle als Gärtner, ich suche eine Art Gesellschafter«, sagte Isabelle und stellte sich vor Ben, als müsse sie ihn beschützen, was unsinnig war, denn der Mann machte den Eindruck, als könne er gut auf sich selbst achtgeben.
»Mutter, das können wir doch in Ruhe gemeinsam tun. Es gibt eine gute Organisation, die Haushaltshilfen aus dem Ausland vermittelt, die wohnen dann bei ihren Auftraggebern und können dir zur Hand gehen und Gesellschaft leisten. Ich kann gerne da nachhören, wenn es dir hier allein zu einsam wird.«
Trotzig reckte Isabelle das Kinn vor.
»Ich brauche keinen Wachhund, Carole. Und außerdem entscheide ich selbst, wen ich einstelle. Jetzt hängt es nur noch von Herrn Bäcker ab, ob er die Stelle überhaupt will.«
Sie wandte sich mit einem kleinen, spitzbübischen Lächeln zu ihm um. »Ich hoffe wirklich, dass Sie zusagen, natürlich nur, wenn Ihr Bewährungshelfer nichts dagegen hat.«
Als Isabelle den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Tochter sah, hätte sie sich allerdings am liebsten auf die Zunge gebissen. Leider passierte es ihr immer wieder, dass ihr Mund schneller arbeitete als ihr Verstand. Doch nun war die Katze aus dem Sack.
Carole zog misstrauisch eine Augenbraue hoch und begutachtete Ben erneut.
»Sie haben im Gefängnis gesessen?«
Isabelle bemerkte, wie er sich etwas gerader aufrichtete, als müsse er sich daran erinnern, dass es nichts gab, wofür er sich schämen musste.
»Ja, in der Tat.«
»Wofür?«
»Mit Verlaub, aber das geht Sie nichts an.«
Isabelle kam sich vor wie bei einem Tennismatch. Die Worte sausten ihr wie Bälle um die Ohren, und ihr Kopf flog mit, von einem zum anderen. Ihr Blick blieb schlussendlich an Carole hängen, die ihre Empörung angesichts seiner Weigerung nur schwer zu verbergen vermochte. Ihre Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, und ihr Mund war eine einzige schmale Linie der Missbilligung.
»Ich denke, dass Ihr Vorstellungsgespräch damit auf jeden Fall beendet ist. Guten Tag.«
Isabelle wollte schon Partei für ihn ergreifen, als Bäcker sich sanft an ihr vorbeischob und kontemplativ über seinen Dreitagebart strich.
»Und ich denke, dass das Ihre Mutter selbst entscheiden sollte.«
»Meine Mutter entscheidet nicht immer zu ihrem Besten.«
Empört sog Isabelle die Luft ein, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Tochter den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, zückte Carole einen Hunderteuroschein und hielt Ben das Geld vor die Nase.
»Hier, mehr gibt es für Sie hier nicht zu holen. Nehmen Sie das Geld und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken. Wir brauchen keine Kleinkriminellen, die am Ende nur darauf aus sind, meiner Mutter ihr Hab und Gut unter der Nase wegzustehlen.«
Carole war gut darin, Menschen vor den Kopf zu stoßen, was sie gerade einmal mehr unter Beweis gestellt hatte.
»Carole, das geht entschieden zu weit«, warnte Isabelle ihre Tochter darum auch und starrte sie mahnend an. Doch Ben schien wenig beeindruckt. Er trat noch einen Schritt auf Carole zu, sodass diese trotz ihrer hohen Schuhe nun ebenfalls den Blick heben musste, um ihn anzusehen.
»Sie sollten Menschen nicht nach Ihrem Äußeren beurteilen. Würde ich das tun, würde ich Sie für eine verwöhnte, reiche Zimtzicke halten, die im Leben zu oft ihren Willen bekommen hat. Aber zum Glück fälle ich erst ein Urteil über jemanden, nachdem ich ihn kennengelernt habe.«
Caroles Augen weiteten sich kurz. Isabelle hätte fast geschmunzelt. Ihre Tochter war es sicher nicht gewohnt, dass jemand so mit ihr sprach, weder in ihrem Beruf noch privat.
»Ich habe es nicht nötig, mich in meinem Haus von jemand Dahergelaufenem beleidigen zu lassen. Ich fordere Sie noch einmal auf zu gehen. Ansonsten rufe ich die Polizei. Darauf sind Sie doch sicher nicht scharf.«
Isabelle konnte ausmachen, wie seine Kiefer mahlten. Das Blau seiner Augen war von warm zu eiskalt gewechselt.
»Korrigieren Sie mich, aber ich ging davon aus, dass wir uns im Haus Ihrer Mutter befinden. Entsprechend werde ich dann gehen, wenn es ihr Wunsch ist.«
Mit diesen Worten drehte er sich zu Isabelle um und sah sie abwartend an.
Isabelle lächelte. »Ich möchte Sie nicht noch länger dieser unangenehmen Situation aussetzen, jedoch ist es mein ausdrücklicher Wunsch, dass Sie diese Stelle annehmen.«
Sein Blick glitt nun herausfordernd zu Carole, während er sprach. »Ich melde mich, Frau Steinmann. Inzwischen tendiere ich dazu, Ja zu sagen. Guten Tag.«
Mit einem knappen Nicken verabschiedete er sich von Isabelle, dann schob er sich an Carole vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Das Geld schien ihn ebenso wenig zu interessieren, denn der Hunderteuroschein blieb unangetastet. Als die Tür hinter ihm zufiel, stand Carole buchstäblich vor Empörung der Mund offen.
»Was für ein ungehobelter Grobian. Aber was soll man auch von einem Kriminellen anderes erwarten«, zischte sie, steckte den Geldschein in ihre Jackentasche und drehte sich dann zu ihrer Mutter um.
»Ich frage mich allerdings, was du dir bei der ganzen Sache denkst? Ist dir nicht klar, welcher Gefahr du dich aussetzt, wenn du jemanden wie ihn in dein Haus lässt?«
»Ich habe ein gutes Bauchgefühl bei Herrn Bäcker«, verteidigte Isabelle sich, was ihr aber nur ein ungläubiges Schnauben einbrachte.
»Vielleicht hast du Verdauungsprobleme. Ich würde meinem Bauch bei so einem jedenfalls nicht vertrauen.«
Isabelle lachte, während sie langsam zum Sofa ging, um sich zu setzen. Sie legte sich schnell ein Kissen auf den Schoß, um zu verbergen, dass ihre Beine zitterten. Der Tag steckte ihr ganz schön in den Knochen. Carole war ihr nachgekommen, blieb jedoch mit verschränkten Armen stehen.
»Sag mir bitte, dass du nicht ernsthaft in Betracht ziehst, einen Ex-Knacki mit fragwürdigen Manieren für irgendeinen Job hier im Haus zu engagieren, geschweige denn für die Position deines ›Gesellschafters‹.« Bei dem letzten Wort malte sie kleine Gänsefüßchen in die Luft, um zu untermauern, wie albern sie diese Idee fand. »Mutter, bitte, wenn du mich mit dieser Aktion treffen willst, dann kannst du es jetzt gut sein lassen. Mir ist klar, dass du viel allein bist. Aber du weißt, wie hart ich arbeite und dass ich trotzdem versuche, so oft es geht, zu dir zu kommen.«
Isabelle legte den Kopf schief und betrachtete ihre Tochter nun eingehender. Carole sah deutlich jünger aus als Mitte dreißig und war eine wirklich attraktive Frau, auch wenn sie meistens viel zu ernst wirkte. Sie hatte Theos blondes Haar geerbt und Isabelles grüne Augen. Ihre Nase war gerade, und ihre hohen Wangenknochen hätten direkt aus dem Katalog eines Schönheitschirurgen stammen können. Sie war schlank am Rande zum Mageren, was daran lag, dass sie neben ihrem Beruf als Steueranwältin nur ein Hobby kannte, nämlich das Joggen. In jeder freien Minute lief sie, und ihre sehnigen Arme und Beine waren Beweis dafür. Genau diese Arme streckten sich jetzt aus und zogen fordernd an Isabelles Häkelponcho.
»Mutter, versprich mir, dass du diesem Menschen keinen Job gibst. Ich will nicht, dass jemand wie er in unserem Haus ein und aus geht.«
»Das kann ich nicht versprechen, Carole, denn ich werde Ben Bäcker einstellen, wenn er zusagt.«
Als wäre ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen, drehte Carole sich auf dem Absatz um und sprintete hinter dem Besucher her, als wäre dieser mit dem Tafelsilber durchgebrannt. Kurze Zeit später knallte die Haustür ein weiteres Mal zu.
Obwohl es sie enorme Mühe kostete, erhob Isabelle sich wieder, um zu sehen, wohin ihre Tochter gestürmt war. Auf wackeligen Beinen ging sie zu dem großen Fenster, von dem aus man einen freien Blick auf die Hofeinfahrt hatte. Sie erkannte Bäckers eindrucksvolle Silhouette, die in Richtung der langen, von Platanen gesäumten Auffahrt lief. Isabelle konnte kein Auto ausmachen, was dafür sprach, dass er mit dem Bus gekommen war. Ein paar Augenblicke später hatte Carole ihn eingeholt. Unsanft zog sie ihn am Arm zu sich herum. Isabelle öffnete leise das Fenster, um besser hören zu können.
»Warten Sie. Egal, ob meine Mutter ihren verrückten Plan, Sie zu engagieren, nun in die Tat umsetzt oder nicht. Sie werden mir sagen, wofür Sie eingesessen haben. Sie ist mit Sicherheit zu höflich, danach zu fragen. Ich bin es nicht.«
Mit verschränkten Armen baute sie sich vor ihm auf, und Isabelle konnte von ihrer erhabenen Position aus sehen, wie er Carole ein unechtes Lächeln schenkte.
»Sind Sie sicher, dass Sie das wissen wollen? Sie kennen doch bestimmt den alten Spruch: Neugier ist der Katze Tod.«
Auch wenn er sanft gesprochen hatte, klang unterschwellig eine leise Warnung mit.
Caroles selbstsichere Fassade bekam einen kleinen Riss. »Wollen Sie mir drohen, Herr …«
»Bäcker, Ben Bäcker, wie der Schauspieler, nur mit ä«, half er freundlich aus und kreuzte nun fast amüsiert die Arme vor der Brust, scheinbar gespannt, was sie als Nächstes tun würde.
Sie straffte die Schultern und fing sich wieder, bevor sie weitersprach. »Weichen Sie mir nicht aus, ich will wissen, weshalb Sie gesessen haben.«
»Meine Güte, Sie würden sicher eine exzellente Anwältin abgeben, so wie Sie mich hier ins Kreuzverhör nehmen.«
»Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin Anwältin«, sagte sie ohne eine Spur von Humor. Der amüsierte Zug um seinen Mund war nun ebenfalls verschwunden.
»Ich habe fünf Jahre bekommen, vielleicht hilft Ihnen das Strafmaß schon dabei zu begreifen, dass ich nicht nur ein paar Bonbons im Supermarkt geklaut habe.« Er trat einen Schritt auf sie zu, und Isabelle konnte sehen, dass es ihre Tochter enorme Anstrengung kostete, nicht vor ihm zurückzuweichen. Er ließ seinen kühlen Blick über Caroles nun blass gewordene Züge gleiten, bevor er sich zu Isabelle umwandte, die nach wie vor auf ihrem Posten am offenen Fenster stand.
»Wenn Sie mich immer noch wollen, Frau Steinmann, dann gehöre ich ganz Ihnen.« Sein Lächeln war zurückgekehrt und steigerte sich zu einem sarkastischen Grinsen, als er wieder auf Carole zutrat.
»Sie sollten mir besser aus dem Weg gehen, dann werden wir beide keine Probleme haben.« Mit diesen Worten ließ er sie stehen und ging mit federnden Schritten die lange Auffahrt zur Straße hinauf, wo ein entferntes Quietschen die Ankunft des Busses ankündigte.
Carole drehte sich mit nun vor Wut knallroten Wangen zu ihrer Mutter um.
»Eigentlich müsste ich sagen, ihr zwei habt einander verdient, Mutter. Aber am Ende heißt es noch, ich hätte dich buchstäblich ins offene Messer laufen lassen, wenn man dich morgens, mit deiner eigenen Strumpfhose stranguliert, im Bett auffindet. Herrgott noch mal, du weißt nicht einmal, was der auf dem Kerbholz hat. So, wie er sich gerade aufgeführt hat, und in Anbetracht seines Strafmaßes, könnte er ein Gewaltverbrecher sein. Ich bitte dich also inständig, diesen Unsinn nun zu beenden. Ich werde mich umgehend um eine nette Aushilfe für dich kümmern, die dich bei Laune hält.«
Mit diesen Worten stapfte sie zu ihrem Audi TT, dessen Verdeck noch offen stand und sprang wütend auf den Fahrersitz. Sie knallte die Tür mit solcher Wucht zu, dass ein Eichhörnchen vor Schreck von einem Baum hüpfte und über die Wiese zu einem geheimen Versteck verschwand.
»Einen Teufel wirst du tun, mein Kind. Noch habe ich hier das Sagen«, flüsterte Isabelle und schloss das Fenster, weil sie sich nicht erkälten wollte. Sie brauchte all ihre Kraft für das, was vor ihr lag.
Carole lenkte den Audi in die Tiefgarage unter ihrem Apartment, wo sie zunächst reglos im Fahrzeug sitzen blieb, obwohl sie den Zündschlüssel bereits in den Händen hielt. Vor ihrem inneren Auge lief die Begegnung eben noch einmal ab. Ob sie es vor sich selbst zugeben wollte oder nicht, der Vormittag hatte sie aufgewühlt – wie leider allzu oft die Treffen mit ihrer Mutter. Isabelle konnte sie mit ihrer Exzentrik wie kein anderer Mensch auf die Palme bringen.
Einen Ex-Sträfling als bezahlten Gesellschafter engagieren – darauf musste man erst einmal kommen. Immer noch ungläubig schüttelte Carole den Kopf. Sie würde mehr über diesen Bäcker in Erfahrung bringen. Sobald sie wusste, weshalb er gesessen hatte, konnte sie ihrer Mutter diese verrückte Idee vielleicht wieder ausreden. Auch wenn sie sich nicht nahestanden, so wollte Carole keinesfalls, dass ihre Mutter sich irgendeiner Gefahr aussetzte.
Tief in Gedanken stieg sie aus und fuhr mit dem Fahrstuhl in ihre Penthouse-Wohnung, deren spektakulärer Ausblick sie heute nicht berühren konnte. Sie schmiss ihre Jacke und Tasche achtlos auf den Hocker, der im Flur neben dem Schuhregal stand. Dann begab sie sich ins Schlafzimmer, um sich ihre Sportkleidung überzuziehen. Weil sie später noch einen Termin hatte, ging sie heute nur aufs Laufband, doch dafür powerte sie sich darauf umso mehr aus. Schon nach kurzer Zeit rann ihr der Schweiß, und ihr Atem kam stoßweise. Aber es half ihr, die innere Anspannung abzubauen, die sich seit dem Vormittag in ihr aufgestaut hatte. Außerdem bekam sie einen klaren Kopf beim Laufen.
Nach einer heißen Dusche und einer Tasse Kaffee fühlte sie sich besser. Sie fuhr ihren Laptop hoch, suchte nach einer Agentur, die Haushaltshilfen vermittelte, und griff, als sie fündig wurde, direkt zum Telefon. Die Chefin versicherte ihr, dass man bereits in den kommenden Tagen eine entsprechende Dame würde vorstellen können.
Zufrieden legte Carole auf. So konnte sie Isabelle schon bei ihrem nächsten Treffen eine Alternative präsentieren. Wenn ihre Mutter denn unbedingt meinte, sich eine bezahlte Unterhalterin engagieren zu müssen, dann doch wenigstens eine mit guten Referenzen und ohne Bewährungshelfer.
Ihr Verdacht war, dass Isabelle sie mit dieser Aktion drängen wollte, ihr mehr Zeit zu widmen. Aber dafür, dass ihre Mutter in Caroles Kindheit selbst kaum Zeit und Interesse ihrer Tochter gegenüber aufgebracht hatte, fand Carole, dass sie schon viel investierte. Sie telefonierten mehrmals die Woche, und wenn ihr Job es zuließ, fuhr Carole auch ein- bis zweimal in die Villa, die ihr nie wirklich ein Zuhause gewesen war.
Wäre Papa doch noch am Leben! Sie vermisste ihn immer noch jeden Tag. Er hatte stets sein Bestes gegeben, um Carole eine unbeschwerte Kindheit zu bieten. Aber von klein auf hatte sie gespürt, dass unter ihrem Dach viel Unglück wohnte. Die Ehe ihrer Eltern war zerrüttet gewesen. Sie stritten nicht einmal mehr, sondern lebten nur schweigend nebeneinanderher. Papa hatte sich darum in seine Arbeit gestürzt und Carole oft allein gelassen.
Wie sehr hatte sie sich nach Gesellschaft gesehnt, nach Geschwistern oder wenigstens einem Haustier. Sie hätte all den Reichtum sofort eingetauscht gegen einen Alltag mit Chaos und Lachen und Liebe wie bei ihrer Freundin Sanne, die zu fünft in einer kleinen Dreizimmerwohnung gelebt hatten. Sannes Eltern waren arme, einfache Leute gewesen, ihr Vater Klempner, ihre Mutter arbeitete im Supermarkt an der Kasse. Und trotzdem waren sie glücklich.
Bis heute beneidete sie Sanne um die Familientreffen, bei denen mittlerweile ganze Wagenladungen Menschen zusammenkamen. Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, Nichten, Neffen, Enkel, Cousins, und es wurden stetig mehr. Auch Sanne hatte inzwischen drei Kinder, und Carole vermutete, dass Nummer vier schon unterwegs war, weil Sanne bei ihrem letzten Treffen vor einer Woche Wasser statt Wein den Vorzug gab.
Sie selbst hatte nie viel Glück bei ihren wenigen längeren Beziehungen gehabt. Sanne hatte Carole mal vorgeworfen, sich stets Männer auszusuchen, bei denen sie nicht Gefahr lief, tiefe Gefühle zu investieren. »Du willst nichts geben aus Angst, verletzt zu werden, deshalb bekommst du aber auch nichts zurück«, hatte ihre Freundin erst neulich wieder doziert, als sie auf das Ende von Caroles jüngster Liaison anstießen.
Und vielleicht hatte Sanne damit gar nicht so unrecht.
Jochen war zwar attraktiv gewesen, allerdings auch ein egoistisches Arschloch. Carole hatte schon bei ihrem ersten Date gewusst, dass sie nicht zueinander passten, und doch waren sie danach noch fast ein Jahr zusammen gewesen. Sie hatte sich eingeredet, dass es sie nicht störte, dass Jochen sehr konkrete Vorstellungen von seinem Leben hatte, die vorsahen, dass er sich mit spätestens Mitte vierzig irgendwo am Meer zur Ruhe setzen und den ganzen Tag Golf spielen wollte. Weder Kinder noch Carole hatten in diesen Plänen eine bedeutendere Rolle gespielt, aber immerhin hatte er mal großzügig angedeutet, dass sie stets willkommen wäre in seinem künftigen Ruhestandsparadies. Zudem war er ein grauenhafter Küsser und ein einfallsloser Liebhaber gewesen. Nicht dass sie großen Wert auf das Körperliche legte. Es gehörte irgendwie dazu, aber Carole wusste nicht, warum alle so einen Wirbel darum machten. Sie hatte jedenfalls in ihrem Leben noch keinen Orgasmus mit einem Mann erlebt, und die wenigen Male, bei denen sie sich selbst einen beschert hatte, hatten sie irgendwie einsam und traurig zurückgelassen.
Auch ihre Mutter hatte Jochen furchtbar gefunden. Vermutlich hatte dieser Umstand entscheidend dazu beigetragen, dass Carole viel länger an dieser Liebschaft festhielt, als sie eigentlich wollte. Manchmal kam eben das kleine Mädchen in ihr wieder zum Vorschein, das alles tat, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erregen – im Guten wie im Schlechten. Als sie neulich jedoch einen eindeutigen WhatsApp-Chat zwischen Jochen und seiner Sekretärin auf dessen Handy fand, war das Maß voll. Sie hatte die Sache beendet und nicht eine Träne vergossen – so wie bei allen anderen vor ihm ebenso nicht.
»Emotional verkrüppelt«, auch das hatte Sanne sie mal genannt. Carole stieß einen kleinen Seufzer aus. Sanne hätte wohl besser Psychologin statt Kindergärtnerin werden sollen. Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren trüben Gedanken. Sie sah die Nummer ihrer Mutter auf dem Display.
»Was kann ich für dich tun?«, meldete sie sich ohne Begrüßung. Sie konnte hören, wie Isabelle langsam ein- und ausatmete, bevor sie sprach.
»Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht. So wie du vom Hof geschossen bist, hatte ich schon Angst, dich am nächsten Baum zu finden.«
Carole rieb sich müde über die Stirn. »Keine Sorge, ich bin gut nach Hause gekommen und war sogar fleißig. Ich habe mit einer sehr netten Dame telefoniert …«
Weiter kam sie nicht, denn Isabelle fiel ihr ins Wort. »Gut, dass du das Thema anschneidest. Das ist ein zusätzlicher Grund für meinen Anruf. Ich habe eben dieser aufdringlichen Person von der Agentur, die du auf mich gehetzt hast, abgesagt.«
Carole ließ gefrustet ihre Stirn auf die kalte Platte ihres Schreibtischs sinken, während sie die Augen schloss. Isabelle konnte stur wie ein Maulesel sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, und Carole fehlte gerade die Kraft, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sie hatte das Handy neben sich gelegt und den Lautsprecher angestellt, aus dem nun ein tiefes Seufzen drang.
»Ich tue es nicht, um dich zu ärgern, ich tue es nicht, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und ich tue es auch nicht, weil mein Leben mich langweilt und ich mir so ein bisschen Abwechslung erhoffe.« Isabelle klang resigniert und eine Spur verzweifelt.
Carole hob ihren Kopf und blickte nun auf das Handy, als könne sie dort sehen, was ihre Mutter umtrieb. Ein merkwürdiges Kribbeln breitete sich auf ihrer Kopfhaut aus. »Warum dann? Erklär es mir.«
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dehnte sich aus, bis ihre Mutter endlich leise und zögerlich antwortete. »Ich habe meine Gründe.«
Carole stöhnte auf. So war es immer zwischen ihnen. Wenn man glaubte, ein Stück vorangekommen zu sein, rannte man wieder gegen eine Wand. Zorn wallte nun in ihr auf. »Wir drehen uns hier im Kreis, Mutter. Lass es mich so formulieren: Du musst dir keine Gesellschafterin ins Haus holen. Wenn du mich fragst, musst du überhaupt niemanden im Haus haben, da du schon über eine ganze Armada von Hilfskräften verfügst, letztendlich ist es jedoch dein Geld. Aber …«
An dieser Stelle machte sie eine gewichtige Pause, um sicherzugehen, dass ihre Mutter den Ernst der Lage auch verstand. »Aber wenn du diesen Kriminellen ins Haus holst, werde ich alles daransetzen zu prüfen, ob du tatsächlich noch für dich allein entscheiden kannst.«
»Willst du damit drohen, mich entmündigen zu lassen?«, fragte Isabelle, halb amüsiert, halb schockiert.
»So sieht es aus.«
Die Worte waren heraus, bevor sie wirklich darüber nachgedacht hatte, und sie bereute sie sofort, doch Isabelle klang jetzt mehr vergnügt als verärgert, als sie nach einem nonchalanten »Viel Glück dabei« einfach auflegte.
Carole presste sich verzweifelt die Handballen auf die geschlossenen Augen, bis sie kleine Kreise sah. Hatte sie sich eben nach dem Training wenigstens noch ansatzweise entspannt und klar gefühlt, drehten ihre Gedanken sich nach diesem Telefonat wie ein Karussell. Sie stand auf, um an das bodentiefe Fenster zu treten, von dem aus sie über die Skyline von Frankfurt blicken konnte. Eigentlich beruhigte sie diese Aussicht stets, doch heute fühlte sie sich noch einsamer angesichts der Anonymität der Stadt.
Sie rieb sich über ihre Arme, weil ihr kalt war, obwohl draußen die Sonne schien. Mit einem müden Kopfschütteln wandte sie sich ab und lief unruhig durch ihr schickes Apartment. Außer einigen wenigen teuren Kunstdrucken gab es nichts, was die weißen Wände zierte, keine Familienbilder, keine Schnappschüsse. Die Möbel waren in Schwarz und Weiß gehalten und die Dekoration minimalistisch. Die Wohnung einer erfolgreichen, unabhängigen Frau, versuchte sie sich einzureden, doch in Wahrheit war weder ihr beruflicher Erfolg noch ihr Lebensstil ausreichend, um diese leere Stelle aus ihrer Kindheit mit Leben zu füllen.
Sie dachte wieder an Sanne, an das nette, alte Bauernhaus, das sie und ihr Mann Rainer vor einigen Jahren gekauft und renoviert hatten. Carole fühlte sich stets, als würde sie sich unter einer warmen, weichen Decke verkriechen, sobald sie dort zur Tür hereinkam. Alles war gemütlich und lebendig, wenn auch leicht chaotisch und unordentlich. So wie Sanne eben war. Ohne es zu wollen, beschlich sie ein wehmütiges Gefühl. Es war kein Neid auf die Freundin, mehr die Erkenntnis, dass sie selbst vermutlich niemals ein solches Zuhause haben würde. Carole seufzte.
Sie blickte auf ihre Smartwatch und stellte fest, dass es Zeit wurde, zu ihrem Termin zu fahren. Eilig angelte sie nach ihrem Mantel und ihrer Louis-Vuitton-Tasche. Sie war schon fast an der Tür, als ihr einfiel, dass sie noch in Erfahrung bringen musste, was dieser Bäcker auf dem Kerbholz hatte. Vielleicht brachte das ihre Mutter von ihrem verrückten Vorhaben ab. Sie hastete zurück und fingerte aufgeregt durch ein paar Zettel, die sie ordentlich in einem Ablagefach auf ihrem Schreibtisch aufbewahrte. Jan Munsius, perfekt.
Er arbeitete bei der Staatsanwaltschaft. Sie fischte ihr Telefon aus der Handtasche und tippte seine Nummer ein. Nach wenigen Klingeltönen nahm er ab. Seine Stimme klang wie immer leicht arrogant, wenn auch nicht unfreundlich. »Carole Steinmann, was für eine Überraschung, was verschafft mir die Ehre?«
Es wäre höflich gewesen, sich nach seinem Befinden zu erkundigen, ein paar Plänkeleien einzuwerfen, doch Carole war noch nie ein sehr geduldiger Mensch gewesen, und so fiel sie gleich mit der Tür ins Haus. »Du musst mir einen Gefallen tun, Jan. Finde heraus, warum ein gewisser Ben Bäcker fünf Jahre eingesessen hat. Seine jetzige Adresse kann ich dir zukommen lassen. Soweit ich weiß, hat er einen Bewährungshelfer, da könntest du ansetzen.«
Jan klang wenig erfreut, als er am anderen Ende aufstöhnte. »Carole, wir haben hier gerade einen Monsterfall, die Albaner, hast du vermutlich in der Zeitung gelesen. Mein Schreibtisch biegt sich unter den Aktenbergen, und ich habe wirklich keine Zeit …«
Weiter kam er nicht, denn Carole schnitt ihm das Wort ab. »Jan, bitte. Es ist dringend. Meine Mutter will diesen Bäcker anstellen.«
»Wie wäre es mit einer kleinen Gegenleistung, wenn du schon nach all den Jahren anrufst, nur um einen Gefallen einzufordern?«
Carole verdrehte die Augen. Sie hatte Jan Munsius bereits damals als junge Referendarin nicht gemocht, und es hatte sich an ihrer Gefühlslage kaum etwas geändert.
»Und was schwebt dir vor?«, fragte sie wenig enthusiastisch.
»Wenigstens ein Abendessen, je nach Arbeitsaufwand vielleicht auch mehr …« Er ließ seiner Aussage ein bedeutungsvolles Schweigen folgen. Carole schüttelte angewidert den Kopf. Der Typ hatte offenbar noch nichts von der #MeToo-Debatte mitbekommen. Trotzdem brauchte sie die Infos, und er konnte sie besorgen.
»Ein Abendessen und garantiert nicht mehr.«
Er schwieg wieder, gab jedoch mit einem Seufzer klein bei. »Aber nur, wenn du etwas wirklich tief Ausgeschnittenes trägst.«
»Du bist unglaublich, Jan. Vielleicht würde es auch reichen, wenn ich die Bilder verbreite, die du mir damals hast zukommen lassen.«
Nun war sie es, die gewichtig schwieg, während er sich ungemütlich räusperte. Er hatte ihr vor ein paar Jahren mal ein unappetitliches Selfie von sich geschickt, auf dem er nichts trug außer einem anzüglichen Grinsen. Sie hatte das Bild sofort gelöscht, aber das wusste ihr Gegenüber gottlob nicht.
»Du bist ein kaltherziges Biest«, zischte er, doch die Beleidigung perlte an Carole ab.
»Du kannst mich hier auf dem Handy erreichen, sobald du etwas in Erfahrung gebracht hast.«
Ohne ein weiteres Wort drückte sie das Gespräch weg und atmete kurz tief ein und aus. Sie war nicht stolz auf sich, aber in einer hemdsärmeligen Welt, wie die der Juristerei, musste eine Frau schon alle Register ziehen, um an ihr Ziel zu kommen.
Nicht umsonst war sie mittlerweile so gefürchtet und so hoch bezahlt. Man hatte ihr sogar eine Partnerschaft in der Steuerkanzlei, in der sie nun seit drei Jahren tätig war, in Aussicht gestellt. Sie wäre die einzige Frau in der Chefetage. Es würde bedeuten, dass sie noch mehr arbeiten musste, aber sonst gab es ohnehin nicht viel in ihrem Leben, was ihre Zeit und Aufmerksamkeit beansprucht hätte.
Der Bus hielt mit einem Ruck, und Ben wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er stieg aus und schlenderte durch die triste graue Frankfurter Innenstadt. Abseits der Shoppingmeilen und der hippen Restaurants und Bars zeigte sich Mainhattan eher finster und hässlich. In einer Straße hinter dem Bahnhof saßen zwei Junkies und kochten Heroin über einer aufgeschnittenen Bierdose aus. Eine viel zu junge Prostituierte schob sich von den Mauern eines mit Graffiti besprühten Hochhauses weg und wollte auf ihn zugehen, doch er warf ihr einen zwar freundlichen, aber entschiedenen Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Daraufhin ließ sie ihr riesiges Kaugummi schulterzuckend platzen und begab sich wieder auf ihren alten Posten.
In der Elbestraße hatte er ein billiges Zimmer ergattert, doch sein Ziel war es, dieser gottverlassenen Stadt bald den Rücken zu kehren. Aber dafür würde er Geld brauchen. Viel Geld, und Isabelle Steinmann hatte ihm genau das geboten. Er verspürte an sich keine besondere Lust, mit einer Sterbenden auf große Fahrt zu gehen. In der Vergangenheit hatte er genug Leid gesehen und wusste, was es hieß, wenn der Krebs einen Körper zerstörte. Er hatte genug vom Tod, aber irgendwie mochte er die unkonventionelle Art der alten Dame.
Ihre Tochter allerdings hatte Haare auf den Zähnen. Da nützte ihr auch ihre schöne Verpackung nichts.
Er trat bei dem Gedanken an Carole Steinmann frustriert vor eine leere Bierdose, die krachend gegen eine Hauswand flog. Er hasste es, dass die Menschen nur noch den Ex-Knacki in ihm sahen. Niemanden interessierte die Geschichte dahinter, niemand wollte wissen, warum er überhaupt dort gelandet war, es zählte nur, dass er im Gefängnis gesessen hatte.
Bei mehreren Krankenhäusern und Hilfsdiensten hatte er sich vorgestellt, doch angeblich waren gerade nirgends Stellen frei. Ben schnaubte. Er hatte zwar im Knast gesessen, das hieß allerdings nicht, dass er nichts von der Welt draußen mitbekommen hatte. Er wusste, dass es überall einen Pflegenotstand gab, doch mit seiner Vita war es eben schwierig, auch nur ansatzweise in dem Berufsfeld Fuß zu fassen, das er so liebte. Schon als kleiner Junge hatte er Arzt werden wollen, um den Menschen zu helfen. Aber ein unüberlegter Augenblick, ein Moment der Schwäche, hatte ihn alles gekostet. Und trotzdem fiel es ihm schwer, seine Tat zu bereuen.
Ben war vor dem schmutzig grauen Bunker angekommen, in dem er eine Zweizimmerwohnung hatte. Er ging durch den Hausflur, der wie immer voller Müll lag, und nahm die Treppe, weil der Fahrstuhl schon lange vor seinem Einzug den Geist aufgegeben hatte und ihn wohl niemand reparieren würde. Wozu auch? Die Menschen, die hier lebten, hatten sich ebenso aufgegeben wie die Eigentümer den hässlichen Betonklotz, den sie jedoch immer noch zu Wucherpreisen vermieteten.
Ben schloss sein Apartment auf und streifte seine Turnschuhe ab. Dann ging er in die winzige Küche und öffnete den Kühlschrank. Er musste sich nach diesem denkwürdigen Vormittag erst einmal beruhigen, weshalb er nun Gemüse, Fleisch und Gewürze auf der Arbeitsfläche stapelte, um ein Curry zuzubereiten. Es war zwar deprimierend, für sich allein zu kochen, doch das Hantieren mit den Lebensmitteln, das Zerkleinern und Zubereiten und der anschließende Duft und Genuss beruhigten ihn zutiefst. Vielleicht sollte er auf Koch umschulen? Aber selbst in einer Küche wäre er wohl nur der Sträfling, dachte er bitter, während er Bambussprossen und Ingwer unter das Hähnchenfilet rührte. Er hatte sich gerade die rote Paprika geschnappt, als sein Handy klingelte. Johannes Wagener, sein Bewährungshelfer. Ben wischte sich die Hände an seiner Jeans ab und ging ran.
»Wie ist es gelaufen, Kumpel?«, fragte Johannes ohne Begrüßung.
Er war ein anständiger Kerl, dem ernsthaft an seinen Klienten gelegen war. Ben mochte ihn, auch wenn Johannes dem System angehörte, das ihn in den vergangenen Jahren gebrochen statt neu ausgerichtet hatte.
»Ich könnte die Stelle haben, und sie ist wirklich gut bezahlt«, sagte er nachdenklich.
»Aber?« Johannes hatte zweifellos das Zögern in Bens Stimme bemerkt.
»Sie will eine Reise machen, auf die ich sie begleiten soll, ins Ausland.« Und sie wird sterben, und ich weiß nicht, ob ich dann bei ihr sein will, ergänzte er in Gedanken.
Johannes stöhnte, und Ben konnte fast bildlich sehen, wie er seinen rotblonden Hipsterbart zwirbelte.
»Das könnte ein Problem darstellen«, bestätigte Johannes. Ben wusste das. Er war damals zu fünf Jahren verurteilt worden, war aber nach drei Jahren und zwei Monaten wegen guter Führung frühzeitig auf Bewährung freigekommen. Doch eine seiner Auflagen war es, die Stadt nicht zu verlassen und sich regelmäßig bei seinem Bewährungshelfer zu melden.
»Hör zu, Mann, das wäre eine echte Chance. Ich werde also alles tun, damit du den Job kriegst.«
Ben wusste, dass es bei Johannes keine leeren Worte waren und dass er in seinem Namen bei Gericht alles daransetzen würde, ihm diese Stelle möglich zu machen. Doch ob das viel bewirken würde, bezweifelte er.
Einmal mehr überlegte Ben, ob er nicht einfach an die Uni zurückkehren sollte. Aber dann hatte er das Bild vor Augen, wie er im Hörsaal zwischen all den Grünschnäbeln Platz nahm, und ihm wurde klar, dass dieser Zug für ihn abgefahren war. Er hatte weder das Geld noch die Hoffnung, um erneut da anzufangen, wo er einst aufgehört hatte. Vielleicht war die Stelle bei Isabelle Steinmann seine einzige Chance, wieder auf einen geraden Weg in seiner sonst so krummen Vita zu kommen. Er atmete tief ein und aus, bevor er sich selbst mit seiner leisen Bitte überraschte.
»Gib mir schnell Bescheid, die alte Dame hat nicht mehr viel Zeit und wartet auf eine Antwort.«
Mit diesen Worten drückte er Johannes weg und schnitt weiter an der Paprika, auch wenn ihm irgendwie der Appetit vergangen war.
Straßburg, 1942
»Bist du völlig verrückt? Wir haben so schon nicht genug, um alle satt zu kriegen, und da schleppst du noch den Bastard von einem Boche an, merde, Sabine.«
Ihr Vater riss wütend seinen altersschwachen Rollstuhl herum und fuhr in die Küche, wo ihre Mutter geschäftig in einem Topf wässriger Gemüsesuppe rührte. Sabine seufzte und presste Issy an sich, die in ihrer kleinen rosafarbenen Decke schlief. Es war eine absolut impulsive Entscheidung gewesen. Natürlich hätte sie das Verschwinden der Mutter melden und das Kind an die Behörden übergeben müssen, aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht.
»Was, wenn die Mutter zurückkehrt, Sabine? Was, wenn sie ihr Kind holen will und es verschwunden ist? Das ist eine Straftat.«
Ihr Vater war immer lauter geworden, und auf seinen unrasierten Wangen zeigten sich nun hektische rote Flecken. Sabine schluckte. Natürlich hatte sie sich auch diese Gedanken gemacht. Doch es war klar, dass die Mutter nicht mehr wiederkehren würde. Sie hatte einen Brief dagelassen. In einer wunderschönen, geschwungenen Handschrift und an zwei Stellen verwischt, wo ihre Tränen sich mit der Tinte vermischt hatten.
An wen auch immer,
ich hatte keine Wahl, mein Leben wäre am Ende und das meines Mädchens ebenso, würde ich sie mitnehmen. Sorgt gut für meine Kleine, und möge Gott die Hände stets schützend über sie halten.
Unterzeichnet war das Schreiben mit drei X. Sabine hatte es schnell in ihre Schwesterntracht gesteckt und das Baby aus seinem Bettchen geholt. Die Kleine hatte sie mit forschenden Augen angesehen und sich dann hungrig über ihr süßes Mündchen gestrichen. Da war der Plan, das Kind zu sich zu nehmen, in ihr gereift. Sie konnte dieses bezaubernde Wesen doch nicht in ein Heim geben. Sabine war danach zu Martine Baillot gegangen und hatte ihr den Brief überreicht. Nachdem die Ältere das Schreiben gelesen hatte, war sie aufgesprungen und lief, für ihre massige Erscheinung erstaunlich behände, den kleinen Raum im Schwesternzimmer zwischen Tisch und Spindreihe auf und ab. Martine war offensichtlich erbost darüber, dass auf ihrer Station eine Wöchnerin verschwunden war.
»Das wird Dr. Keller gar nicht gerne hören.« Wie immer, wenn sie aufgebracht war, strich sie sich mehrfach von unten nach oben über ihr Doppelkinn und fingerte danach fahrig am Kragen ihrer Tracht.
»Hör zu, Martine, es muss keiner erfahren. Ich nehm sie. Dann sagen wir einfach Dr. Keller, dass Mutter und Kind auf eigenen Wunsch am Morgen entlassen wurden nach einer komplikationslosen Geburt.«
Martine Baillot begann wieder auf und ab zu gehen, wobei ihre großen Brüste unter der engen Schwesterntracht leicht von einer Seite zur anderen wogten. »Warum, um Himmels willen, willst du dir diesen kleinen Bastard aufhalsen? Hast du mit deinem Sohn, deinen invaliden Eltern und deiner bescheuerten Schwester nicht genug am Hals?«
Martine Baillot war eine gemeine, boshafte Schachtel, und Sabine hätte ihr gerne ein paar passende Worte in das von einem leichten Damenbart bedeckte Gesicht geschleudert. Aber sie musste die Stationsschwester irgendwie milde stimmen, wenn sie das hier durchbekommen wollte. »Schau, du weißt, ich kann keine weiteren Kinder kriegen, und der kleine Wurm hier kann doch auch nichts dafür, dass ihn keiner will.«
Martine ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, auf dem sie zuvor Krankenakten geprüft hatte. Dieser ächzte unter ihrem Gewicht. »Ich weiß nicht. Wenn das rauskommt, komm ich mit dir in Teufels Küche.«
Sabine spürte den nachlassenden Widerstand der Älteren. »Stell dir erst mal vor, was hier los sein wird, wenn Dr. Keller kommt. Er ist so auf den guten Ruf des Hospitals bedacht. Eine verschwundene Mutter und ein ausgesetztes Kind, zudem noch der Bastard eines Wehrmachtsoffiziers – das gibt Gerede. Vielleicht taucht sogar die Zeitung auf, um darüber zu berichten.« Sabine strich sich nach diesen Worten grübelnd über den Mund. »Ja, das könnte wirklich Wellen schlagen«, setzte sie gespielt nachdenklich hinterher.
Martine hatte nach Sabines kleiner Ansprache entsetzt ihre wasserblauen Augen aufgerissen. Die Vorstellung, bei Dr. Keller in Ungnade zu fallen, behagte ihr absolut nicht. Sie blickte sich gehetzt nach allen Seiten um. »Also gut, nimm das Kind, aber ich warne dich! Wenn das auffliegt, dann werde ich leugnen, davon gewusst zu haben. Das badest du allein aus.«
»Robert, lass gut sein, nun ist es eh geschehen.«