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Vier junge Auswanderer suchen ihr Glück in der Neuen Welt …
Hamburg 1892: Während eine Choleraepidemie in der Stadt wütet, verlassen die junge Marga und ihre Cousine Rosie ihre Heimat für immer. Auf einem Auswandererschiff wagen sie die Fahrt nach Amerika in der Hoffnung auf ein Leben fern von Not und Armut. Während der langen Reise schließen die beiden Freundschaft mit zwei jungen Männern, Simon und Nando, die wie sie auf ein besseres Los in der Neuen Welt hoffen. Die vier beschließen, gemeinsam in New York das Glück zu suchen. Doch dann kommen Rosie und Simon einander näher. Ihre aufkeimende Liebe, aber auch dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit treiben einen Keil zwischen die Freunde, und die Gruppe droht schon bald nach der Ankunft zu zerbrechen ...
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Seitenzahl: 509
Veröffentlichungsjahr: 2024
Sonja Roos
Aufbruch
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Originalausgabe April 2024
Copyright © by Sonja Roos 2024
Copyright © dieser Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotiv: Richard Jenkins; Bridgeman Images / Arkivi UG All Rights Reserved;© FInePic®, München
Redaktion: Eva Sterzelmaier
ES · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30087-6V001
www.goldmann-verlag.de
Für alle, die mutig genug sind,
an ihren Träumen festzuhalten und
dafür zu kämpfen:
Keep on going!
Und
wie immer für meine Familie
Hamburg stank zum Himmel in diesem Sommer. Es roch nach dem fauligen Wasser aus den innerstädtischen Kanälen, den Fleeten. Es roch nach dem Chlor der Desinfektionsmittel, die großzügig von Zweimanngespannen mit Handkarren dort verteilt wurden, wo es Ausbrüche gab. Und es roch nach der Angst der Menschen, die sich bange fragten, wen die Seuche als Nächstes holen würde. Die Mittagshitze lag dabei wie ein träges, vollgefressenes Raubtier über der Stadt, ließ die Luft flirren und die wenigen Passanten, die unterwegs waren, leise stöhnen.
Das pralle Bündel Hemden, mit dem Marga Stahl sich abmühte, wog deshalb heute besonders schwer. Wie jeden Freitag hatte sie neue Wäsche bei Kreipes Schneiderei zum Ausbessern abgeholt. Mama war eine gute Näherin und konnte sie beide mit dieser Arbeit einigermaßen über Wasser halten. Marga hingegen war lange nicht so geschickt mit Nadel und Faden, doch sie versuchte anderweitig zu helfen, wo es ging. Mit solchen Botengängen zum Beispiel.
Sie blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu holen. Zum Glück hatte Frau Kreipe ihr einen Fahrschein für die Pferdebahn geschenkt. Der fast einstündige Fußmarsch zurück in die Gängeviertel wäre mit dieser Last und bei den Temperaturen kaum zu bewältigen.
Von Weitem sah sie das Gespann, das der Haltestelle entgegentrabte. Trotz ihres Gepäcks begann Marga nun zu rennen. Keuchend erreichte sie zeitgleich mit der Bahn den Haltepunkt. Der Schaffner schob die Tür auf, doch bedeutete ihr hektisch, stehen zu bleiben. Dann trugen er und der Fahrer eine junge Frau heraus. Die beiden Männer hatten sich Tücher um Mund und Nase gebunden, während einer die halb Bewusstlose unter den Armen gegriffen hatte und der andere die Beine umfasste. Das Mädchen, das kaum älter als sie selbst sein konnte, stöhnte leise. Der Fahrer brachte sie zu einer Bank, wo sich die offenkundig Kranke schwerfällig niederließ, während der Schaffner den Boden der Bahn mit einem Eimer Lysol abspülte. Die wenigen anderen Fahrgäste hatten sich so lange wartend draußen aufgestellt, bis das Wasser mit dem chlorhaltigen Desinfektionsmittel die Stufen herabtroff, dann stiegen sie ungerührt wieder ein. Von der Bank hörte man nun ein leises Wimmern. Marga ließ das Bündel Hemden sinken und wollte zu der Frau gehen, um zu sehen, ob sie helfen konnte, doch da fasste sie ein älterer Herr am Arm.
»Nicht, Fräulein«, sagte er eindringlich. Unschlüssig ließ Marga ihren Blick zwischen der Kranken und dem anderen Fahrgast hin- und herschweifen. Es fiel ihr unendlich schwer, einen anderen Menschen, ja überhaupt eine Kreatur, leiden zu sehen. Schon als Kind hatte sie jeden verletzten Vogel gesund gepflegt und jeden Streuner mit nach Hause gebracht, der ihren Weg kreuzte. Du hast ein zu großes Herz, Margalein, hatte Mama dann immer kopfschüttelnd getadelt, doch Papa hatte sie später zur Seite genommen, um ihr augenzwinkernd zu sagen, dass ein Herz gar nicht groß genug sein konnte.
Nun aber war sie zur Untätigkeit verdammt. Sie hatte Mama versprochen, auf sich achtzugeben. Ich hab doch nur noch dich. Das sagte Helga Stahl seit Ausbruch der Epidemie mehrmals täglich. Ginge es nach ihr, sie würde Marga einsperren, bis die Cholera zu Ende gewütet hatte. Die mahnende Stimme ihrer Mutter, die ihr im Hinterkopf schwirrte, hielt sie schlussendlich schweren Herzens davon ab, ihrem Impuls nachzugeben und sich um die Kranke zu kümmern.
»Sie können doch nichts tun, außer sich anstecken. Es wird gleich jemand kommen. Die Sanitätskolonnen sind den ganzen Tag in der Stadt unterwegs«, sagte der ältere Herr mit einem Schulterzucken. Dann stieg er ein, ohne der zusammengekrümmten Gestalt auf der Bank auch nur noch einen Blick zu schenken. Leider waren solche Szenen seit Ausbruch der Krankheit an der Tagesordnung in Hamburg. Wochenlang hatten die Behörden versucht, den Ausbruch zu vertuschen. Es wurde von vermehrten Fällen von Brechdurchfall gesprochen, das Wort Cholera hatte niemand in den Mund nehmen wollen. Erst seit der Pathologe Eugen Fraenkel den Nachweis des Bakteriums erbracht hatte, mussten die Hamburger auch offiziell eingestehen, dass sie der Epidemie nicht mehr Herr wurden. Die Cholera kam für ihre Opfer ohne Vorwarnung, die Befallenen konnten in der einen Minute noch gesund in eine Pferdebahn steigen und in der nächsten todkrank zusammenbrechen. Die Alltäglichkeit solcher Vorfälle ließ die Menschen abstumpften. Marga wusste nicht, ob sie dankbar dafür sein sollte, dass das Leid der anderen sie immer noch zu berühren vermochte. Die Hilflosigkeit, die sie an manchen Tagen empfand, setzte ihr mehr und mehr zu.
»Wollen Se nu mit, Fräulein?«, fragte der Schaffner ungeduldig und riss Marga damit aus ihren Gedanken. Sie balancierte das Bündel Hemden auf ihrer Hüfte, um eine Hand freizubekommen, mit der sie ihm den Fahrschein reichte. Dann holte sie noch einmal tief Luft, schob sich ihren Seidenschal über Mund und Nase und stieg in die Bahn. Zum Glück waren alle Fenster geöffnet, sodass sie nur noch einen Hauch des Lysols in der Luft wahrnahm, das ohnehin alle anderen Gerüche überdeckte. Sie wählte einen Platz gegenüber dem älteren Herrn, der sie eben davon abgehalten hatte, zu der Kranken zu eilen. Das Bündel Hemden legte sie neben sich auf den freien Sitz, weil der Boden noch feucht war. Der Fahrer war auf seinen Platz zurückgekehrt, und die durch zwei Pferde gezogene Bahn fuhr nun ruckelnd an. Erleichtert sah sie, wie ein Gespann um die Ecke bog, auf dessen Wagen das rote Kreuz prangte. Das Klinikum Eppendorf war nicht weit, und Helfer patrouillierten den ganzen Tag in der Stadt, um Infizierte schnellstmöglich ins Hospital zu schaffen. Als die Straßenbahn um eine Kurve fuhr, verlor Marga die Frau aus den Augen, doch sie sandte ein stilles Gebet nach oben, dass ihr geholfen werden konnte.
Der ältere Herr hatte die Tageszeitung aufgeschlagen, hinter der er einen großen Schluck aus einem silbernen Flachmann nahm. Es hieß, Schnaps sei gut gegen die Cholera. Mit einem Nicken hielt er ihr den kleinen Flacon hin, doch Marga lehnte mit einem freundlichen Lächeln ab.
»Ich bin erst siebzehn«, sagte sie zur Erklärung.
»Ist wie Medizin«, befand der Fahrgast und gönnte sich noch einen Schluck, bevor er den Flachmann wieder in seiner Jacke verschwinden ließ.
Marga starrte versonnen zum Fenster hinaus, wo die Häuser der Stadt jetzt kleiner und baufälliger wurden. Ihre Finger spielten wie so oft, wenn sie in Gedanken war, mit dem Stoff ihres Seidenschals. Sie liebte das kühle Material und die bunten Farben, auch wenn das Halstuch mittlerweile eine stete Erinnerung daran war, wie viel sie verloren hatte.
Papa hatte es ihr von einer seiner Reisen mitgebracht. Nur zwei Tage später war er an einem Herzinfarkt gestorben, kurz vor seinem dreiundvierzigsten Geburtstag. Marga war damals vierzehn gewesen und hätte nie geglaubt, wie grundlegend sich ihr Leben nach seinem Tod verändern würde. Sie war behütet und in relativem Wohlstand groß geworden, hatte die Schule besucht, und Papa hatte sie stets ermutigt, weiter zu lernen, um sich ihre eigene Meinung über die Dinge zu bilden. Er hatte mit seiner Begeisterung für Bücher ihre Leidenschaft für das geschriebene Wort entfacht. Seine Einstellung zum Leben, zu Bildung und der Gleichheit aller Menschen hatten sie in der Gewissheit aufwachsen lassen, dass sie auch als Frau ihren Weg in dieser Welt gehen konnte. Doch diese Gewissheit war mit ihm gestorben, die kleine Wohlstandsblase, in der sie lebten, zerplatzt. Man kam schnell von Haus und Hof, wenn der Haupternährer der Familie wegfiel. Vor allem, wenn nach dessen Tod herauskam, dass der Schritt, sich als Handelsvertreter selbstständig zu machen, um die Geschäfte seines Vaters weiterzuführen, ein großer Fehler gewesen war. Hatte er zuvor als leitender Angestellter in einer Fabrik gut verdient, so geriet er als Einzelkämpfer schnell in finanzielle Schieflage. Papa hatte viel Geld in die Textil- und Kurzwaren gesteckt, die er an den Haustüren feilbot. Doch er war zu gutmütig, verschenkte oft Muster an die Armen und schreckte davor zurück, mit minderwertigen Produkten größeren Gewinn zu erzielen. Am Ende hatte er eine Hypothek auf sein Elternhaus, in das sie nach dem Tod der Großeltern gezogen waren, aufgenommen und sich das Geld aus seiner Lebensversicherung auszahlen lassen, um seine Außenstände zu begleichen.
Als er so plötzlich starb, blieben Mutter und sie deshalb mit nichts als Schulden zurück. Mehr als die kleine Wohnung in den Gängevierteln hatten sie sich am Ende nicht leisten können, nachdem sie alles veräußert hatten, um wenigstens schuldenfrei zu sein. Trotzdem waren weder Mama noch sie bitter geworden. Papa war eben zu gutmütig, um als Geschäftsmann erfolgreich zu sein. Seine Bestimmung wäre es vielleicht gewesen, in einer Bibliothek zu arbeiten oder als Lehrer an einer Schule zu unterrichten, doch sein Vater hatte ihn schon früh dazu genötigt, ihn bei seinen Haustürgeschäften zu begleiten, damit er die Profession von der Pike auf lernen konnte. Vermutlich war er deshalb nie seinen eigenen Weg gegangen, sondern nur den Fußstapfen seines Vaters gefolgt.
Marga dachte trotzdem mit nichts als Zuneigung an ihn.
Nach seinem viel zu frühen Tod hatte sie jedoch aufgehört, von einem selbstbestimmten Leben zu träumen. Solche Träume – das hatte sie schmerzlich gelernt – waren etwas für die Wohlhabenden.
Entschlossen schob sie die trüben Gedanken zur Seite. Sie verbat es sich, selbstmitleidig zu werden, wo um sie herum so viel Elend war.
Der ältere Herr neben ihr blätterte geräuschvoll seine Zeitung auseinander und breitete sie so aus, dass Marga ohne Probleme mitlesen konnte. Jeden Tag tausend neue Kranke, titelten die Hamburger Nachrichten. Marga überflog den Artikel, in dem es einmal mehr um die Epidemie ging. Fast fünfzig Prozent der Erkrankten starben an der Cholera. Die Krankenhäuser waren überfüllt, ebenso die schnell hochgezogenen Feldlazarette und die zum Krankensaal umfunktionierten Baracken. Die Leichen stapelten sich auf abgesperrten Plätzen, bis sie zum Friedhof Ohlsdorf abtransportiert werden konnten, wo hundertfünfzig Totengräber Tag und Nacht in Schichten Massengräber aushoben.
»Und die Russen haben es uns eingebrockt«, sagte der ältere Herr mit einem Kopfschütteln mehr zu sich selbst als zu ihr. Ärgerlich faltete er seine Zeitung zusammen, um einen erneuten Schluck aus seinem Flachmann zu nehmen.
»Darf ich?«, fragte Marga und zeigte auf das zerlesene Exemplar. Der Mann setzte sein Schnapsfläschchen ab und blickte kurz mit gerunzelter Stirn auf die Zeitung.
»Es steht nur Unerfreuliches drin«, befand er dann mit einem bedauernden Lächeln, doch er half ihr, die auseinandergefallenen Blätter zu sortieren. Marga fühlte fast ehrfürchtig über das Papier. Wie lange sie keine Zeitung mehr gelesen hatte. In diesem neuen Leben gab es weder Geld noch Zeit für solchen Luxus. Begierig überflog sie die Artikel, die sich zu einem Großteil ebenso wie die Titelgeschichte mit der Epidemie befassten. Hamburgs Senator Hachmann hatte angeordnet, dass alle aus Russland eintreffenden Auswanderer am Amerika-Kai in Baracken interniert wurden. Der Arzt Robert Koch, der kurz nach dieser Anweisung die Lager besuchte, hatte der Politik insofern recht gegeben, als dass auch er die Ursache für den Ausbruch hier vermutete. Durch die anhaltenden Pogrome in Russland waren es vor allem Juden, die nun in großer Zahl nach Hamburg drängten und versuchten, auf einen der gigantischen Ozeanriesen der Hapag zu gelangen, die Richtung Amerika in See stachen. Es zeichnete sich allerdings ab, dass wegen der Epidemie bald keine Schiffe mehr den Hafen verlassen würden.
Marga wollte schon weiterblättern, als der ältere Herr plötzlich von gegenüber mit seinem gichtgekrümmten Finger auf den Artikel wies.
»Die werden die Grenzen dicht machen für die Russen, zumindest für die Armen, die nur eine Fahrkarte fürs Zwischendeck haben«, prophezeite er.
»Als ob die Cholera einen Unterschied zwischen Arm und Reich macht«, befand Marga zweifelnd, doch ihr Mitfahrer nickte energisch.
»Die Cholera mag keinen Unterschied machen, wen sie holt. Aber die Reichen können sich schützen und sich Ärzte und Medizin leisten, während die Armen krepieren.«
»Das ist alles so ungerecht.« Marga klappte die Zeitung frustriert zu.
»Sehen Sie, Fräulein, ich habe Ihnen gesagt, dass da nur Unerfreuliches drinsteht.« Er fasste sich an die Krempe seines Huts und erhob sich. Am nächsten Halt war er verschwunden.
Marga fuhr noch eine Station weiter, dann verließ auch sie die Bahn. Sie nahm ihr Bündel, das bis zum Bersten voll war mit Ausbesserungsarbeiten. Zerrissene Ärmel, offene Nähte, zerschlissene Krägen. Mama würde vermutlich wieder nächtelang bei Kerzenlicht sitzen, um den Auftrag fristgerecht zu erledigen. Wäre sie selbst nur geschickter mit den Händen, dann könnte sie sie mehr unterstützen. Doch so war sie nur als Handlanger zu gebrauchen.
Die Sonne brannte immer noch erbarmungslos von einem makellos blauen Himmel. Früher wäre sie bei solchem Wetter mit Mama und Papa hinaus zum Bramfelder See gefahren. Im Schatten der Bäume hätten sie gelesen, und sie und Papa hätten danach eine Wasserschlacht gemacht. Im Moment war wegen der Epidemie das Baden dort aber ohnehin untersagt, versuchte sie sich zu trösten. Statt Erholungssuchende karrte man nun die Toten in diese Richtung, denn der Badesee lag unweit des Ohlsdorfer Friedhofs.
Erschöpft erreichte Marga die südliche Neustadt, deren verwinkelte Twieten, wie die Hamburger die engen Gänge nannten, in labyrinthartige Hinterhöfe führten. Sie passierte die Caffamacherreihe, eine Straße, die nahe dem Dammtorwall lag und nach den Webern benannt war, die hier den typischen geblümten Samt, den Caffa, herstellten. Sie musste wieder an Papa denken, der hier das ein oder andere Mal im Lokal Von Salzen gewesen war, einem Treffpunkt für die Sozialdemokraten. Ihre Ideen für das Frauenwahlrecht und die Arbeiterrechte fand er interessant, auch wenn er sich selbst stets als unpolitisch bezeichnet hatte. Den altbekannten Schmerz in der Brust, bog sie ab in die Fuhlentwiete, wo es an diesem heißen Tag pestilenzartig nach fauligem Wasser und menschlichen Ausdünstungen stank. Marga versuchte, nicht durch die Nase zu atmen. Hilfesuchend blickte sie zu dem schmalen Streifen Himmel über den Gebäuden, von dem jedoch weder ein kühles Lüftchen, noch ein Regenschauer zu erwarten war. Ihr Blick glitt zu den Häusern rechts und links. Wie altersschwache Liebende, die sich Halt suchend aneinanderklammerten, standen die windschiefen Fachwerkbauten hier. An manchen Stellen sah es so aus, als neigten sich die Giebel wie ins Gespräch vertieft einander zu. Die Fuhlentwiete war wie die meisten Gassen in dieser Gegend trostlos und beklemmend. Schmutzige, halb verhungerte Kinder lungerten mit ihren von der Rachitis gekrümmten Beinen in den dunklen Ecken, und zerschlissene Wäsche, die schon lange nicht mehr rein wurde, spannte sich zwischen den engen Häuserreihen über das ganze Elend.
Verschwitzt und atemlos erreichte sie den Herrengraben, den sie gedankenverloren entlanglief.
Seit sie in den Gängevierteln lebten, hatte Marga oft das Gefühl, dass ihre Vergangenheit nur ein schöner Traum gewesen war, so unwirklich erschien ihr nun das schicke Einfamilienhaus in Hohenfelde, wo sie von ihrem Fenster aus auf die Gärtnerei Seyderhelm hatte blicken können, die sogar die Bismarcks in Friedrichsruh belieferte.
Immerhin wohnten sie im Brauerknechtgraben, der zumindest an die Wasserversorgung angeschlossen war und den sie jetzt endlich erreicht hatte. In anderen Straßen der beiden Gängeviertel war man mit dem Leitungsbau nicht so weit vorangekommen. Die Bewohner schöpften dort ihr Wasser aus den Fleeten. Und dort starben sie derzeit auch wie die Fliegen. Marga kochte ihr Trinkwasser trotzdem vorsorglich ab, sie hatte gehört, dass das die Bakterien tötete.
Sie blieb kurz stehen, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, der drohte, ihr in die Augen zu laufen. Sogar das Kleid klebte ihr am Körper. Immerhin hatte Frau Kreipe heute für die Näharbeiten des letzten Monats bezahlt. Mama hatte ihr aufgetragen, von dem Geld Gemüse und Suppenfleisch zu besorgen. Marga machte Halt beim Gemischtwarenladen und beim Metzger und balancierte danach schwer keuchend ihre Einkäufe sowie den Wäschesack das enge Treppenhaus hinauf, das nach angebranntem Kohl roch. Die alte Frau Michels hatte wohl wieder einmal versucht zu kochen. Marga kam sich vor wie ein Packesel, während sie ihre Last schulterte und sechzig abgetretene Stufen hinauf in den vierten Stock schleppte.
Als sie in den winzigen Flur der Wohnung trat, stellte sie überrascht fest, dass Mutter heute nicht wie sonst üblich in ihrem Sessel am Fenster saß, wo das Licht besser war, und nähte. Sie hatte stattdessen am Küchentisch Platz genommen und blickte Marga erwartungsvoll an.
»Wir haben Post«, sagte sie ohne Begrüßung. Marga stellte das Bündel Hemden im Flur ab und trug das Netz mit ihren Einkäufen in die Küche, wo sie es auf dem Tisch neben der kleinen Tasse mit kalt gewordenem dünnem Schwarztee abstellte.
»So, wer schreibt uns denn?«, wollte sie wissen, während sie sich mit ihrem Seidenschal Luft zufächelte. Erfreuliche Post bekamen sie so gut wie nie. Nur Rechnungen und Mahnungen und ab und zu Reklame.
»Dein Onkel Xaver.«
Marga verdrehte innerlich die Augen. Xaver Hubert war nicht ihr Onkel, sondern der zweite Mann ihrer Tante Gudrun und somit der Stiefvater ihrer Cousine Rosemarie. Sie mochte den grobschlächtigen Hünen nicht, der ihr mit seinem durchdringenden Blick und seinen anzüglichen Bemerkungen jedes Mal Angst einjagte, wenn sie ihn traf. Die Familie lebte in einem kleinen Dorf im Hunsrück, wo Xaver Hubert die familieneigene Fleischerei übernommen hatte, nachdem ihr richtiger Onkel vor vielen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Das letzte Mal hatte sie ihn und ihre Cousine vor einem Jahr auf Tante Gudruns Beerdigung gesehen, die dem Krebs erlegen war. Marga erinnerte sich noch genau, wie verloren und einsam Rosie gewirkt hatte. Doch als sie sie hatte umarmen und trösten wollen, war Xaver dazwischengetreten und hatte Rosie am Ellbogen gegriffen, um sie mit sich fortzuziehen. Danach hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihr allein zu sprechen. Wenigstens hatte Xaver ihnen damals eine ganze Tasche mit Dörrfleisch und Würsten geschenkt, bevor er sie nach der Trauerfeier zum Bahnhof brachte.
Marga und ihre Mutter hatten in den Wochen nach der Beerdigung versucht, mit Rosie Kontakt zu halten, doch all ihre Briefe waren ungeöffnet wieder zurückgekommen. Marga ahnte, dass dieses Ekel dahintersteckte, doch ihnen waren die Hände gebunden, denn per Gesetz war Xaver Hubert nun Rosis Vormund, die zwar wie Marga schon siebzehn, aber eben noch nicht volljährig war. Nicht einmal besuchen konnten sie die Cousine, da ihnen das Geld fehlte für die weite Reise, was ihm vermutlich nur recht war. Umso überraschender war es nun, Post von diesem Menschen zu bekommen.
»Was will er denn nach all der Zeit?«, wollte Marga wissen. Wortlos schob ihre Mutter ihr den Brief hin. Sie überflog die Zeilen und blickte dann überrascht auf.
»Nach Amerika?«
Helga Stahl nickte. Marga las den Brief ein zweites Mal. Ein sogenannter Agent war durch Kirchbach gefahren, ein Werber der Hapag, der vom großartigen Leben in den Vereinigten Staaten berichtete, Zeitungen herumreichte, in denen von Gold und fruchtbarem Land berichtet wurde und vom großen Glück, welches die Auswanderer erwartete. Weil die Fleischerei seit Tante Gudruns Tod ohnehin nicht mehr gut lief, hatte Xaver kurzerhand Haus und Laden verkauft und sich und Rosemarie Fahrkarten für eine Überfahrt gesichert. Sie baten nun darum, ein paar Tage bei den Stahls unterkommen zu dürfen, da sich durch die Choleraepidemie die Abfahrten verzögerten und es in ganz Hamburg durch den anhaltenden Strom an Auswanderern ohnehin kaum eine bezahlbare Bleibe mehr gab.
Marga ließ überrascht den Brief sinken. Ob Rosie bei dieser Entscheidung hatte mitreden dürfen? Sie bezweifelte es, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Cousine freiwillig mit diesem schrecklichen Menschen in ein anderes Land gehen würde. Immerhin hätte sie bald Gelegenheit, ihre Cousine selbst danach zu fragen.
»Rosie ist mir herzlich willkommen, aber er?« Innerlich schüttelte sie sich. »Außerdem, wo sollen wir denn noch zwei Menschen unterbringen? Und was, wenn die Stadt wirklich abgeriegelt wird, wie es in der Zeitung stand? Dann haben wir noch zwei Mäuler mehr zu stopfen und müssen hier in dieser Enge für unbestimmte Zeit zu viert klarkommen.« Sie blickte sich in der ärmlichen Behausung um, deren Tapeten so grau und trostlos waren wie der Hamburger Himmel im Winter. Farbe blätterte von Tür- und Fensterrahmen, und die Teppiche waren zerschlissen und auch mit größter Mühe nicht mehr sauber zu bekommen. Neben dem Wohnraum, zu dem auch die winzige Küche zählte, gab es nur noch ein Schlafzimmer, welches Mutter und sie teilten.
»Platz ist in der kleinsten Wohnung«, sagte ihre Mutter eine Spur zu fröhlich.
Misstrauisch ließ sich Marga ihr gegenüber auf den altersschwachen Küchenstuhl sinken.
»Warum siehst du so heiter aus? Du magst Xaver doch auch nicht?«
Helga Stahl zog den Brief zu sich und strich über das gefaltete Papier.
»Ich mag ihn nicht, aber trotzdem wird er dein Weg hier heraus sein«, sagte sie triumphierend und wedelte nun mit dem Brief wie mit einer Flagge.
Verständnislos starrte Marga ihre Mutter an.
»Ich habe ihm bereits geantwortet und darin gebeten, dass er dich mitnimmt. Es werden nicht mehr viele Schiffe den Hamburger Hafen verlassen, Marga. Das könnte deine letzte Chance sein, hier herauszukommen.«
Marga stand auf und legte eine Hand an die Stirn ihrer Mutter.
»Bist du krank? Hast du Fieber?«
Helga Stahl schüttelte den Kopf, wobei ihre grauen Locken wie bei einem jungen Mädchen hin und her flogen.
»Ich bin nicht krank, mein Kind. Aber ich habe mir seit Vaters Tod Gedanken gemacht, wie ich dir ein besseres Leben ermöglichen kann, und hier ist die Antwort.«
Marga ließ sich mit einem Stöhnen auf den Stuhl fallen. Mutter und ihre verrückten Einfälle. Das Dumme war nur, dass man Helga Stahl, hatte sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, nur sehr schwer von ihrem Vorhaben abbringen konnte.
»Mama, mal ganz abgesehen davon, dass ich dich auf keinen Fall hier allein lassen würde, hätten wir nicht einmal ansatzweise das Geld für eine Fahrkarte.«
Schwerfällig erhob sich ihre Mutter und schlurfte zu dem kleinen Schrank, der ihr weniges Hab und Gut enthielt. Kurz darauf kehrte sie mit einer Schmuckschatulle zurück. Sie klappte das Kästchen auf und hielt es Marga wie ein Geschenk hin.
»Das sind echte Süßwasserperlen. Und der Ring ist aus Gold. Ich habe beides nach Papas Tod im Pfandhaus schätzen lassen. Das Geld sollte für die Fahrkarte reichen, und in Amerika würde dir Onkel Xaver sicher erst einmal unter die Arme greifen, bis du Arbeit findest.«
Mit Tränen in den Augen berührte Marga ehrfürchtig die Kleinode, die auf blauem Samt gebettet waren.
»Mama, den Schmuck hat Vati dir zur Hochzeit geschenkt. Du hast damals gesagt, dass du dich niemals davon trennen kannst«, flüsterte sie heiser. Es war alles, was Helga Stahl aus ihrem alten Leben herübergerettet hatte, und es brach Marga das Herz, dass ihre Mutter diesen Schatz nun opfern wollte.
Helga Stahl machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Was hab ich von dem Schmuck, wenn ich dabei zusehen muss, wie mein einziges Kind hier in diesem Elend leben – oder schlimmer noch sterben muss.« Sie griff über den Tisch hinweg Margas Hand und sah sie eindringlich an, bevor sie weitersprach. »Du bist hier nicht sicher, Marga. Gerade in unserem Viertel wütet die Cholera wie ein toll gewordener Hund. Fast jeder hat schon jemanden verloren. Tu mir das nicht an. Das würde ich nicht verkraften.«
Marga sprang auf und lief unruhig in der engen Küche auf und ab. Als sie stehen blieb, hatte sich ein entschlossener Zug um ihren Mund gebildet.
»Ich werde dich auf gar keinen Fall hier alleinlassen, Mama. Damit ist die Sache erledigt.«
Doch Helga Stahl sah das anders. Erstaunlich behänd war sie ebenfalls wieder von ihrem Stuhl hochgekommen und baute sich vor ihrer Tochter auf, wobei sie hochblicken musste, weil diese sie um einen Kopf überragte. Marga fühlte sich bei der strengen Miene ihrer Mutter wieder wie das kleine Mädchen, das mit dem Nachbarsjungen Streiche ausgeheckt hatte.
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich werde Hamburg den Rücken kehren, sobald du sicher auf dem Schiff bist. Meine Cousine Herta hat schon mehrfach angeboten, dass ich zu ihr in die Pfalz kommen kann. Ich wollte warten, bis du gut verheiratet bist, aber jetzt ist keine Zeit dafür. Du musst hier weg. Mein Bauchgefühl sagt es mir.«
Marga musste kurz an die junge Frau aus der Bahn denken. Ob sie überlebt hatte? Sie bekam eine Gänsehaut. Mutter hatte schon mehrfach richtig gelegen mit ihren düsteren Prognosen. Sie hatte auch Vaters Tod kommen sehen, doch er hatte nicht hören wollen, hatte geschuftet und war rund um die Uhr auf Achse gewesen, bis sein Herz versagte. Sie sah in das geliebte Gesicht ihrer Mutter und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.
»Mama, ich will nicht ohne dich gehen. Wir finden einen anderen Weg.«
Betrübt schüttelte ihre Mutter den Kopf.
»Es gibt keinen anderen Weg. Das Geld reicht nur für eine Fahrkarte, und ich bin ohnehin zu alt, um in einem fremden Land neu anzufangen. Herta braucht Hilfe auf dem Hof, und auch in der Pfalz haben Menschen kaputte Kleidung. Da kann ich mit der Näherei noch etwas dazuverdienen.«
Marga schüttelte nun zornig den Kopf.
»Ich kann ebenso gut auf dem Hof helfen, und ich versuche, besser zu werden beim Nähen. Wir gehen zusammen in die Pfalz. Hier hält uns doch nichts mehr. Papa war es, der Hamburg so sehr geliebt hat. Wir können uns eine neue Heimat suchen.«
Ihre Mutter blieb jedoch eisern. »Hertas Haus ist winzig, und ihre beiden Töchter sind wie du noch unverheiratet. Ein Maul mehr zu stopfen ist schon schwierig. Und du hast bessere Optionen«, sagte sie eindringlich.
Marga war schwindelig von den neuen Entwicklungen. Sie lehnte sich erschöpft gegen die kahle Wand, durch deren Mauerwerk sich ein Riss wie eine alte Narbe zog.
»Niemand kann sagen, wie es wirklich in Amerika ist, Mama. Alle reden vom Eldorado, vom Land, in dem Milch und Honig fließen. Aber ich habe auch schon anderes gehört. Die Menschen werden mit Versprechungen dorthin gelockt, die unmöglich zu halten sind. Auch dort gibt es mit Sicherheit Armut und Krankheit und Tod.«
Ihre Mutter war zu ihr getreten und strich Marga eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
»Sieh dich um, Marga. Sieh, wie wir leben. Egal, was du dort vorfindest, es wird besser sein als das. Ich weiß, dass dich das Glück dort finden wird.«
Sie umfasste Margas Gesicht und zwang sie so, ihr in die Augen zu blicken.
»Ich bitte dich.« Dann ging sie zum Tisch zurück und holte das Schmuckkästchen, das sie Marga in die zitternden Hände legte. Ihre müden Augen leuchteten. »Tu es für mich, Liebes. Leb du unseren Traum von einem besseren Leben.«
Rosie schloss zum letzten Mal in ihrem Leben die Tür zur Fleischerei. Nicht dass sie darüber betrübt gewesen wäre. Im Gegenteil, sie hasste die Arbeit. Hasste es, die Tierkadaver aufschneiden und ausnehmen zu müssen. Den metallischen Geruch von Blut bekam sie den ganzen Tag nicht mehr aus der Nase. Allein der Gedanke verursachte ihr Übelkeit. Mama hatte sich etwas so viel Besseres für sie erhofft. Doch Mama war fort.
»Steh nicht rum und halt Maulaffen feil«, fuhr ihr Stiefvater sie an, dessen gereizte Stimme genügte, um sie zusammenzucken zu lassen. Sie hatte schon oft genug am eigenen Leib gespürt, wie locker seine Hand saß, wenn er übellaunig war.
Ungehalten riss er ihr den Schlüssel aus der Hand und stiefelte mit vorgeschobenem Kiefer durch den nun leeren Laden, um nach oben in die Wohnung zu gehen, die nicht minder verwaist war. Die Möbel hatten bereits einen neuen Besitzer gefunden, ebenso wie Mutters gute Vorhänge und Teppiche. Einzig ein Tisch und vier Stühle warteten in den kargen Räumen auf neue Bewohner. Im Flur standen ihre Koffer, in denen sich das Wenige befand, das sie mitnehmen würden. Der Agent, der Xaver beraten hatte, war sehr deutlich geworden, als es um das Thema Gepäck ging: nur das Allernötigste. Rosie hatte den Mann nicht gemocht. Er wirkte zu glatt, zu freundlich, hatte auf alle Fragen eine Antwort, und wenn nicht, lenkte er so geschickt ab, dass man die Frage im nächsten Augenblick selbst wieder vergessen hatte. Xaver jedoch war der Idee, nach Amerika auszuwandern, nach dieser Begegnung völlig verfallen. Vor allem das Gold lockte ihn. Reichtum und die Aussicht auf ein Leben in Luxus. Natürlich fragte er sie nicht nach ihrer Meinung. Er entschied einfach, dass er genug von der Fleischerei und dem Leben in Kirchbach hatte. Mit seinem Entschluss, ihr Elternhaus zu verkaufen, hatte er Rosie vor vollendete Tatsachen gestellt und die letzten Wurzeln zu ihrem alten Leben gnadenlos gekappt. Sie musste an das Schreiben vom Landratsamt denken, in dem man ihrer Auswanderung zugestimmt hatte – seither besaß sie nicht einmal mehr eine Staatsbürgerschaft.
Xaver hatte geflucht über die vielen Steuern und Gebühren, die zu entrichten waren und die ein großes Loch in seinen Geldbeutel gerissen hatten. Jedoch konnten nur die Ärmsten der Armen das Land heimlich verlassen. Der Verkauf all ihres Besitzes hatte zu viel Aufmerksamkeit erregt, um Kirchbach fluchtartig den Rücken kehren zu können. Das restliche Geld war für den Kauf der Fahrkarten bestimmt. Diese wollte ihr Stiefvater beim Umstieg in Koblenz bei einer Agentur besorgen, die ihre Dienste in der Auswandererzeitung anbot, die der Agent ihnen dagelassen hatte. Was dann noch übrig war, würde hoffentlich reichen, um in Amerika Wagen und Pferde zu erstehen, sodass sie sich nach Kalifornien aufmachen konnten. Dort war das Land angeblich noch billig, und mit Glück konnte man ganze Felder mit Nuggets abernten. Das hatte ihnen zumindest der zwielichtige Reisevermittler vorgeschwärmt.
Rosie war ihrem Stiefvater ins obere Geschoss gefolgt und blickte sich um, wobei sie feststellte, dass sie nichts vermissen würde. Seit Mamas Tod war es ohnehin kein Zuhause mehr für sie.
Nicht zum ersten Mal durchstreifte sie die Wohnung aus Sorge, etwas Wichtiges vergessen zu haben. In ihrem ehemaligen Zimmer machte sie halt. An der Tapete waren immer noch die Striche zu sehen, die Papa gemacht hatte bis zu ihrem fünften Geburtstag. Je Kerbe immer ein paar Zentimeter mehr. Danach endeten die Striche und auch das Ritual, denn Papa hatte einen Unfall mit dem Gespann gehabt und war gestorben. Wehmütig strich sie über die Markierungen.
Xaver Hubert, der damals als Fleischergeselle bei ihnen arbeitete, hatte nicht lange gebraucht, um ihre Mutter davon zu überzeugen, dass sie einen neuen Mann an ihrer Seite benötigte, um alles am Laufen zu halten. Er übernahm die Fleischerei und den freien Platz im Ehebett, doch die Rolle des Vaters hatte er nie ausgefüllt. Im Gegenteil. Von Anbeginn an hatte er Rosie spüren lassen, dass sie unerwünschter Ballast war. Das hatte sich erst geändert, als sie älter und Mama krank wurde. Ein Frösteln durchlief sie, obwohl die Wohnung jetzt im August stickig und überhitzt war. Sie rieb sich ihre Arme, als er plötzlich hinter sie trat.
»Kalt?« Seine Stimme klang nun anders, freundlich, verführerisch. Rosie spürte, wie ihr übel wurde, als er seine großen, schwieligen Hände auf ihre legte. Schnell trat sie von ihm fort und schüttelte den Kopf. Seine Miene verdüsterte sich.
»Erkält’ dich jetzt nur nicht. Ich will nicht wegen dir die Überfahrt verpassen.«
Er griff in eine offen stehende Tasche und warf ihr einen Schal hin. Wunderschöne Häkelarbeit. Mama hatte ein Talent für so etwas besessen. Rosie warf sich das Tuch über die Schultern und glaubte für einen winzigen Moment, Mamas Geruch darin wahrzunehmen. Doch das war unmöglich. Sie war schon über ein Jahr tot, und statt nach ihr roch es wohl eher nach Mottenkugeln und dem Holz der Kommode, in der es seither gelegen hatte.
»Herr Hubert?« Die Stimme des Maklers drang von der Rückseite des Hauses her zu ihnen herauf, wo sich der Hintereingang der Fleischerei befand.
»Herr Brauer, hier oben.« Ihr Stiefvater setzte sein bestes Lächeln auf und lief die Treppe hinunter, um den Mann zu begrüßen, der den Verkauf der Immobilie geregelt hatte. Rosie folgte ihm, beladen mit ihrem wenigen Gepäck. Wortlos ging sie an den beiden Männern vorbei um das Haus herum, damit sie einen letzten, melancholischen Blick auf die Fassade werfen konnte. Der ursprüngliche Name der Fleischerei war auf dem verwitterten Schild an der Hauswand immer noch lesbar, obwohl ihr Stiefvater nach Papas Tod den Familiennamen Pauls durchgestrichen und seinen eigenen darübergemalt hatte.
Die Schlüsselübergabe war kurz und schmerzlos, und nur wenig später stand Rosie neben ihrem Stiefvater an dem kleinen Bahnhof von Kirchbach. Sie mussten mit dem Zug nach Koblenz fahren, wo er die Fahrkarten besorgte. Dann nahmen sie einen weiteren Zug, um nach Hamburg zu gelangen. Rosie war jedoch schon erschöpft, als sie den Zwischenhalt erreichten. Die Reise in der Regionalbahn war anstrengend gewesen, das Abteil überfüllt, die Holzbänke hart und unbequem. Immerhin hatten sie ab Koblenz Fahrkarten für die zweite Klasse. Die Bänke hier waren gepolstert, und sie ergatterte sogar einen Sitz am Fenster. Xaver neben ihr rückte sich, sobald der Zug anfuhr, seinen Hut ins Gesicht und begann wenig später, leise zu schnarchen.
Rosie starrte blicklos in die vorbeifliegende Landschaft und wünschte sich nicht zum ersten Mal, jemand anderes zu sein. Verstohlen beobachtete sie die Mitreisenden. Schräg gegenüber saß eine junge Mutter mit vier Buben, die vergeblich versuchte, das muntere Gespann auf den Sitzen zu halten. Sie schien trotz ihrer strengen Ermahnungen eine liebevolle Frau zu sein, die den Jüngsten auf dem Schoß hielt, während sie den anderen einen Apfel schnitt, um die Kinder wenigstens für einen Moment ruhigzustellen. Als die Frau mit ihrer Rasselbande einen Halt später ausstieg und einem glücklich strahlenden Mann um den Hals fiel, sah Rosie schnell fort. Das Bild der kleinen Familie erinnerte sie allzu schmerzhaft daran, was sie alles verloren hatte. Ihr Blick fiel auf eine alte Dame weiter vorn, die entspannt und zufrieden aussah im Schlaf. Ihr Gesicht zeigte Spuren eines harten Lebens, doch ihr Mund lächelte im Traum.
Rosie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie das letzte Mal gelächelt oder gar von Herzen gelacht hatte. In dem Moment, in dem ihr Stiefvater in ihr Leben getreten war, hatte sich ein großer dunkler Schatten über sie gesenkt, der alles Gute auslöschte. Und sie wusste nicht, wie sie diesen dunklen Schatten jemals wieder loswerden sollte. Xaver Hubert führte ein strenges Regiment. Er überwachte jeden ihrer Schritte. Sie durfte sich nicht mit Gleichaltrigen treffen, hatte die Schule abgebrochen, um ihm den Haushalt zu führen und im Laden zu helfen, und musste ihm schlussendlich in jeder Beziehung die Ehefrau ersetzen. Nur dass sie sich ihm niemals freiwillig hingegeben hätte. Rosie starrte auf seine großen, schwieligen Hände, die er im Schlaf in seinem Schoß wie zum Gebet gefaltet hatte. Sie wusste, wie schnell diese Hände zu Fäusten wurden, wenn sie ihm irgendetwas verweigerte. Sie schluckte schwer, bevor ihr Blick wieder leer und haltlos auf der am Fenster vorbeifliegenden Landschaft hängen blieb.
Nach einer guten Stunde fuhr ihr Stiefvater mit einem Grunzen aus dem Schlaf. Er schob seinen Hut aus der Stirn und wühlte in dem Korb, der zu ihren Füßen stand. »Hunger?«, fragte er und hielt ihr auffordernd ein paar Würste hin. Rosie wusste, dass es nur wieder mühsame Diskussionen geben würde, wenn sie nicht aß. Also griff sie eine und biss lustlos davon ab.
»Braves Mädchen, du willst doch für mich schön bei Kräften bleiben.« Er zwinkerte, was ihr, gepaart mit seinen zweideutigen Worten, Übelkeit verursachte. Sie rückte ein wenig von ihm ab, gerade genug, dass er nicht wütend wurde, aber ihre Arme sich nicht mehr berührten.
Vielleicht sollte sie versuchen, in einem unbeobachteten Moment aus dem fahrenden Zug zu springen. In Büchern trauten sich die Helden so etwas schließlich auch. Aber Rosie war noch nie ein mutiger Mensch gewesen. Zudem neigte sie dazu, die Dinge noch schwärzer zu sehen, als sie ohnehin schon waren. Sogar wenn sie nur fantasierte, so wie jetzt. Denn gleich spann sie die Geschichte weiter, wie sie vielleicht verletzt und hungrig durch die Wälder irrte und am Ende von den Wölfen geholt wurde. Und selbst wenn sie es schaffte, wo sollte sie hin? Sie hatte kein Geld, keine Freunde, keinerlei Erfahrung mit der Welt da draußen. Die einzigen Verwandten waren Tante Helga und Cousine Margarete, die sie nun besuchen würden. Mutlos schloss sie die Augen. Sie war eine leere Hülle, in der es nicht einmal mehr Tränen gab. Das gleichmäßige Rattern des Zuges sorgte immerhin dafür, dass sie ihren finsteren Gedanken im Schlaf für wenige Stunden entkam, auch wenn sie wie üblich von schlechten Träumen geplagt wurde.
»Wach auf, wir sind gleich da.« Seine stets gereizt klingende Stimme weckte Rosie unsanft. Müde rieb sie sich die Augen. Aus dem Zugfenster heraus konnte sie die Türme der Stadt ausmachen. Onkel Heiner hatte ihr vor Jahren bei einem Besuch erklärt, wie die Kirchen hießen: Sankt Nikolai, Sankt Petri, Sankt Jakobi und der anmutige Michel, wie ihr Onkel den sakralen Bau nannte. Der Zug überquerte nun die Süderelbe, und der Hafen kam in Sicht. Unzählige Schiffe lagen dort, ihre schwarzen Rümpfe glänzten in der Sonne, während die Möwen über den Decks kreisten. Kräne und Schornsteine streckten sich dem Himmel entgegen, der verdeckt wurde von einem gelbgrauen Dunst, der wie eine alte, schmutzige Decke über dem Wasser hing. Hier würden sie in wenigen Tagen einen dieser schwimmenden Kolosse besteigen und in eine ungewisse Zukunft fahren. Wobei eines gewiss war: Xaver Hubert würde dafür sorgen, dass er Teil dieser Zukunft sein würde.
Der Altonaer Bahnhof kam in Sicht. Als sie vor vielen Jahren ihre Familie hier das erste Mal besuchten, hatte Rosie geglaubt, geradewegs auf Schienen in ein Schloss einzufahren. Mit großen Türmen und halbrunden Fensterfronten erinnerte der klassizistische Bau tatsächlich eher an den Wohnsitz eines Königs als an einen Bahnhof. Sie schluckte schwer bei der Erinnerung – damals war ihre Welt noch in Ordnung gewesen.
Sie vermied es, den Mann neben sich anzusehen, der nichts als Unglück über sie gebracht hatte. Als der Zug sich mit kreischenden Bremsen zum Halt anschickte, konnte Rosie bereits die schlanke Silhouette ihrer Cousine ausmachen. Margarete, die alle nur Marga nannten, stand am Gleis und umklammerte ihren Hut, der ihr durch den Luftzug der einfahrenden Bahn vom Kopf zu fliegen drohte. Während die Waggons langsam zum Stehen kamen, hatte Rosie Zeit, Marga zu beobachten. Wie hübsch und sorglos sie wirkte mit ihren blonden, zu zwei Schnecken geflochtenen Haaren, der kleinen Stupsnase und den Sommersprossen, auch wenn sie vielleicht ein wenig zu dünn war, um schon weiblich zu wirken. Ihre grünen Augen glitten suchend über die Fenster, bis sie Rosie ausgemacht hatte und mit einem Lächeln aufgeregt winkte. Rosie erwiderte den Gruß, wobei ihr Blick an ihrem eigenen Spiegelbild im Glas hängen blieb. Sie sah deutlich älter aus als ihre Cousine, obwohl sie beide gerade erst siebzehn geworden waren. Rosie hatte ihr langes dunkles Haar zu einem lockeren Dutt hochgesteckt, der ihre hohen Wangenknochen hervorhob und ihren vollen Lippen schmeichelte. Sie wusste, dass die Menschen sie schön fanden, vor allem die Männer. Nach den Maßstäben, die an eine Frau gesetzt wurden, war sie es vermutlich auch. Sie hatte ein üppiges Dekolleté und Kurven an genau den richtigen Stellen. Aber die blauen Augen, die ihr nun unverwandt aus der Scheibe entgegensahen, hatten in den vergangenen Jahren jeden Funken Leben eingebüßt.
»Los, beweg dich, wir sind da«, sagte Xaver, während er bereits die Koffer aus dem Gepäckfach herunterholte. Obwohl sie beide beladen waren, griff er nach ihrem Arm, um sie durch die Menge zu dirigieren, als fürchtete er, sie könnte ihm auf diesem kurzen Stück abhandenkommen. Rosie wollte sich umwenden und ihn bitten, seinen Griff zu lockern, als ein junger Mann vor ihr in den Gang trat. Zunächst stand er mit dem Rücken zu ihr, weil er ebenfalls dabei war, sein Gepäck aus den Stauräumen über den Sitzen zu zerren. Aber dann drehte er sich um.
Rosie starrte ihn einen Moment lang überrascht an. Nie zuvor war ihr ein Mann attraktiv erschienen, was daran liegen mochte, dass sie außer ihrem Stiefvater kaum anderen Männern begegnete. Doch dieser hier hatte etwas Anziehendes an sich. Dabei war er nicht einmal im eigentlichen Sinne schön. Er trug abgewetzte Kleidung, einen Dreitagebart und sein dunkles Haar war eine Spur zu lang. Doch sein Gesicht war gut geschnitten mit einer geraden Nase, einem Grübchen im Kinn und warmen graublauen Augen, die sie nun bewundernd betrachteten. Ein Lächeln breitete sich auf seinen sympathischen Zügen aus.
»Hallo«, sagte er, und seine Stimme kitzelte Rosie tief in ihrem Bauch. Bevor sie antworten konnte, hatte sich Xavers Griff jedoch noch einmal verstärkt, sodass sie, statt das Lächeln zu erwidern, die Zähne aufeinanderbiss.
»Sie stehen im Weg«, herrschte er den jungen Mann an, der entschuldigend mit den Schultern zuckte, bevor er sich zwischen die Sitze presste, um Rosie und ihren Stiefvater durchzulassen. Rosie konnte seinen Blick noch auf sich spüren, bis sie den Zug verlassen hatte, wo ihr Marga mit der für sie üblichen, fröhlich-ungestümen Art um den Hals fiel.
Simon Broder starrte der Schönheit hinterher, die eben wie aus dem Nichts im Gang des Zuges vor ihm aufgetaucht war. Dabei war es nicht einmal ihr Äußeres, das ihn so fasziniert hatte, sondern der Ausdruck in ihren tiefblauen Augen. Er hatte selten solche Traurigkeit gesehen. Simon verrenkte sich den Hals, doch sie war mit dem hünenhaften Kerl, der locker ihr Vater hätte sein können, sich aber wie ein eifersüchtiger Liebhaber benahm, aus seinem Sichtfeld verschwunden.
Er nahm sein Gepäck und ließ sich von dem Strom der Reisenden, der unablässig durch den engen Durchgang der zweiten Klasse floss, in Richtung Tür treiben. Als er ausstieg, sah er sie wieder. Sie unterhielt sich auf dem Bahnsteig mit einem jungen blonden Mädchen, das wie ein übermütiges Fohlen aufgeregt auf und ab sprang, während der finstere Begleiter dicht im Kreuz der dunkelhaarigen Schönheit stand und nur mit dem Mund lächelte. Seine Augen blieben kalt.
Simon passierte die drei auf seinem Weg zum Ausgang des Bahnhofs. Als hätte sie seine Blicke gespürt, wandte sie sich um. Es war kein Lächeln, aber es war, als hätte sein Anblick etwas in den blauen Tiefen ihrer Augen zum Leben erweckt. Für einen Moment schien sie ihm mehr von sich zu zeigen, als hätte sie ihr Visier einen Spaltbreit geöffnet. Dann legte sich jedoch wieder dieser traurige Schleier über das Blau, und das kleine Licht erlosch. Nach einem letzten, fast entschuldigenden Blick drehte sie sich zu ihren Begleitern um. Zu gerne wäre er stehen geblieben und hätte sie nach ihren Namen gefragt. Danach, wohin sie unterwegs war, und ob dort jemand auf sie wartete. Doch der Hüne hatte ihren Blickwechsel bemerkt und starrte ihm nun so finster hinterher, dass Simon eine Gänsehaut im Nacken bekam. Schweigend verließ er das Gebäude. Vor dem prächtigen Altonaer Bahnhof setzte er seine Reisetasche ab und zog den handgeschriebenen Stadtplan von Hamburg heraus, den der Hapag-Agent ihm mitgegeben hatte. Danach angelte er nach seiner Taschenuhr, die ein Abschiedsgeschenk seines Vaters war. Simon ließ den Deckel aufspringen und blickte liebevoll auf die Gravur. Erinnere dich, erblickst du mich. Als ob er Papa jemals vergessen würde. Er schloss den Deckel und rieb gedankenverloren über die glatte Metallfläche des Gehäuses, bevor er die silberne Uhr wieder in seiner Brusttasche verschwinden ließ. Eine Welle Heimweh nach seinen Eltern erfasste ihn. Er hatte sie zurückgelassen. Hatte seinen Traum über alles gesetzt. Ich kann dich verstehen, Sohn. Was erwartet dich hier schon?, hatte sein Vater mit traurigen Augen gefragt. Kommt doch mit, hatte Simon vorgeschlagen, doch Papa wollte davon nichts hören. Die Leute bauen auf mich, hatte er nicht ohne Stolz angemerkt und mit ausgestrecktem Arm durch die Werkstatt gezeigt, in der unzählige Uhren in einer Kakofonie von unterschiedlich schnellen Zeigerbewegungen vor sich hin tickten. Er verkniff sich die Anmerkung, dass die Geschäfte alles andere als gut gingen in der neuen Heimat. Simon und seine Eltern hatten Russland nach dem Attentat auf Zar Alexander II. vor etwa zehn Jahren wegen der wachsenden Judenfeindlichkeit den Rücken gekehrt und sich nahe Königsberg niedergelassen, wo sie jedoch auch nicht willkommener waren. Überall wuchs der Antisemitismus.
Als ein Werber der Hapag ins Dorf gekommen war und von Amerika schwärmte, wo alle Menschen gleich waren, egal, woher sie kamen oder woran sie glaubten, hatte Simon all seinen Mut zusammengenommen und Papa darum gebeten, ihn ziehen zu lassen. Ich wäre ohnehin nie ein guter Uhrmacher geworden, hatte er angemerkt, und Papa hatte ihm mit einem traurigen Lächeln zugestimmt. Nein, das wärst du nicht. Simon hatte all sein Erspartes genommen und dazu das Geld, das Papa für ihn zur Seite gelegt hatte, doch es reichte immer noch nicht für die Fahrkarte. Himmel, die Überfahrt kostet mehr, als ein Mann in einem ganzen Jahr verdient!, hatte Mama aufgebracht gerufen, als er ihr sagte, wie viel der Agent für eine Fahrt im Zwischendeck haben wollte. Gut, dass sie nicht wusste, wie teuer das ganze Unterfangen geworden wäre, hätte er in einer Kabine reisen wollen. Am Ende lieh ihm sein Onkel Jakob, der in Königsberg Bankdirektor war, den Rest.
Ich werde ihm alles bis auf den letzten Groschen zurückzahlen, schwor Simon sich.
Am Tag seiner Abreise hatte Mama geweint und ihm ein Proviantpaket zugesteckt, in dem sie Brot, Wurst und Äpfel verstaut hatte. Papa überreichte ihm die Uhr, die er selbst gefertigt hatte, und ein in Leder gebundenes Tagebuch. Da kannst du deine Abenteuer aufschreiben, hatte er gesagt und ihn dann an sich gedrückt, wie man jemanden drückt, den man nie wieder sehen wird. Mit einem letzten Blick auf das alte Backsteingebäude, in dem er nie richtig zu Hause gewesen war, hatte Simon seine Reisetasche gegriffen und war die lange, staubige Straße durch das Dorf hinaus einem neuen Leben entgegengelaufen.
Ihm wurde es schwer ums Herz bei der Erinnerung. Einmal mehr schwor er sich, dass er als gemachter Mann heimkehren und seine Eltern nachholen würde. Er blickte sich um, weil der handgemalte Plan in seiner Hand ihm wenig Aufschluss gab. Als er glaubte, sich orientiert zu haben, schlug er den Weg über die Admiralitätstraße zum Hafen ein.
Simon ging auf die Brooksbrücke zu, die wie das Tor zu einer anderen Welt anmutete. Sie führte von der Straße Bei den Mühren über den Zollkanal nahe dem Binnenhafen hinüber zum Brook auf dem Kehrwieder. Während Simon die Brücke passierte, kam es ihm vor, als wäre er versehentlich in einen Ameisenhaufen geraten. Überall waren Menschen, manche mit Gepäck, andere mit Kisten und Säcken beladen. Jeder schien ein Ziel und eine Aufgabe zu haben, so unübersichtlich, wie dieses Treiben hier auch war. Als er das Ende der Brücke erreicht hatte, blieb er überwältigt stehen. Das also war der berühmte Hafen. Statt nach Abenteuer und Fernweh roch das Wasser am Kai nach faulem Fisch und Exkrementen. Vor ihm breitete sich die Speicherstadt aus, die, wie er gelesen hatte, neu angelegt worden war, um den wachsenden Bedürfnissen der Händler nachzukommen. 20 000 Menschen hatten dafür umgesiedelt werden müssen. Wo all diese Menschen geblieben waren, das wusste niemand, und da es die Ärmsten der Armen waren, interessierte es vermutlich auch keinen. Der rötliche Backstein der Gebäude spiegelte sich im Kehrwiederfleet, es roch nach den Abwässern, aber auch nach etwas anderem, Exotischem, das Simon nicht genau zuordnen konnte, bis er einen Arbeiter sah, der einen aufgeplatzten Sack auf einen Karren lud, um danach gelbliches Pulver aufzukehren. »Scheiß Curry«, hörte er den Mann fluchen, der mehrfach niesen musste. Es musste ein fremdländisches Gewürz sein, schließlich wurden hier Waren aus der ganzen Welt ausgeladen, gelagert, gewogen, taxiert, verpackt und zur Weiterreise umgeladen. Ein riesiges Warenhaus, eine Stadt in der Stadt, in der jedoch niemand lebte, nur gearbeitet wurde hier.
Simon war so in Gedanken, dass er fast vor ein Pferdefuhrwerk gelaufen wäre. Mit einem beherzten Sprung rettete er sich zur Seite, nur um in einer trüben gelben Pfütze zu landen. Der Wind hatte das Gewürz bis hierher getragen, wo jemand einen Putzeimer ausgeschüttet zu haben schien. Seine guten Lederschuhe bekamen Flecken, ehe er aus der Lache treten konnte. Seine Mutter hätte ihm die Ohren langgezogen.
Barkassen, Ewer und Schuten lagen zum Löschen und Beladen der Waren am Sandtorkai, an dem sich die Kräne wie einarmige Riesen dem Himmel entgegenreckten.
»Platz da«, bellte ihn ein Arbeiter an und deutete mit dem Kinn nach oben, wo gerade eine Palette mit Waren von einem der Kräne herabgelassen wurde. Schnell wich Simon zurück und presste sich mit dem Rücken an die Fassade einer Lagerhalle.
»Können Sie mir sagen, wo ich den Hafenmeister finde?«, rief er, während der Arbeiter von unten dirigierte, wo der Kranführer die Ware ablassen sollte. Ohne ein Wort zeigte der Mann auf ein rötliches Gebäude, dessen Fenster den ganzen Hafen überblickten. Simon eilte darauf zu, doch wurde er von einem bärtigen älteren Mann aufgehalten, bevor er die Treppe erklimmen konnte.
»Moin, hier gibt’s nix zu kieken«, sagte der Mann und zog Simon zurück.
»Ich will zum Hafenmeister«, sagte er und erklärte dem Mann sein Anliegen.
»Der bin ich.«
Erleichtert hielt Simon dem Bärtigen seine Papiere und seine Fahrkarte hin.
»Russe«, stellte dieser nach einem kurzen Blick auf Simons Pass abschätzig fest.
»Wir leben nahe Königsberg – seit mehr als zehn Jahren«, versuchte Simon zu erklären, doch der Hafenmeister machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
»Egal, du gehst wie die anderen russischen Juden erst einmal in Quarantäne.«
»Ich muss morgen auf das Schiff. Ich habe eine gültige Fahrkarte«, sagte er eindringlich und eine Spur verzweifelt, doch das schien den Hafenmeister wenig zu interessieren.
»Wir haben die Cholera wegen euch Russen hier. Du fährst erst einmal nirgendwo hin. Du kommst mit den anderen Auswanderern da hinten in die Baracken am Amerika-Kai, bis feststeht, dass ihr keine Krankheit aufs Schiff einschleppt. Vermutlich wird sich die Sache eh in ein paar Tagen erledigt haben. Hab gehört, dass jetzt, nachdem der Hachmann dem amerikanischen Konsul kleinlaut gestehen musste, dass es doch die Cholera ist, bald ohnehin keine Schiffe mehr auslaufen werden. Die wollen Hamburg dichtmachen.«
Simon spürte, wie sich Verzweiflung in ihm breitmachte. Er musste auf dieses Schiff. Wenn die Fahrkarte verfiel, hatte er nichts mehr. Nicht einmal genug Geld, um wie ein geprügelter Hund nach Hause zurückkehren zu können.
»Danke, ich finde den Weg«, sagte er und nahm dem Hafenmeister vorsichtig die Papiere ab, die dieser immer noch umklammert hielt.
»Nichts da, Jungchen, ich bring dich schön dahin, wo du hingehörst. Sonst machst du dich am Ende noch dünne.«
Der Hafenmeister bedeutete ihm voranzugehen. Simon blieb nichts anderes übrig, als seiner Aufforderung Folge zu leisten. Mit einem Seufzer steckte er seine Dokumente ein und griff nach seinem spärlichen Gepäck, als es plötzlich ohrenbetäubend schepperte. Simon und der Hafenmeister verrenkten sich die Köpfe, um zu sehen, was passiert war. Der Arbeiter von eben lag nun unter der Palette, sein Bein eingeklemmt, während seine Schmerzensschreie Simon das Trommelfell zu zerreißen drohten. Sein Puls schnellte in die Höhe bei dem furchtbaren Anblick.
»Gott, Wilke«, brüllte der Hafenmeister und hatte Simon völlig vergessen, während er zu dem verletzten Arbeiter rannte. Simon blickte sich verstohlen um. Niemand nahm von ihm Notiz. Mit einem letzten, mitleidigen Blick auf den Verletzten ergriff er die Gunst der Stunde und floh. Wohin, das wusste er allerdings nicht. Ohne die Bestätigung des Hafenmeisters, dass er die Quarantäne abgesessen hatte, würde man ihn vermutlich morgen nicht auf das Schiff lassen. Seine fleckigen Stiefel trommelten übers Pflaster, während er den Hafen immer weiter hinter sich ließ, um im wilden Treiben des Hamburger Nachtlebens eine Lösung zu finden – oder Vergessen.
Marga lag dicht gedrängt an ihre Mutter auf der alten, mit Stroh gestopften Matratze, die eine Nachbarin ihnen für die Zeit des Besuchs geliehen hatte. Ihre Gäste schliefen in der kleinen Kammer, die sie sich sonst teilten. Ein milchiger Vollmond lugte durch das Fenster und ließ die grauen Strähnen in Mamas Haar silbrig glänzen.
»Du wirst mir fehlen«, flüsterte Mama kaum hörbar. Marga griff nach ihrer Hand wie nach einer Rettungsleine. Sie hatte das Gefühl, die Worte würden ihr das Herz zerreißen.
»Dann lass mich bleiben. Ich kann versuchen, das Geld für die Fahrkarte beim Kontor zurückzubekommen.« Beklommen dachte sie an den horrenden Preis, den Mutter für die Zweite-Klasse-Kabine bezahlt hatte, die Marga mit Onkel Xaver und Rosie teilen würde, ganz zu schweigen von den vielen Gebühren für den Auswanderungsprozess.
Mama schnaubte leise. »Dafür ist es zu spät, Margalein, ihr fahrt ja morgen bereits ab – und ich will dich an Bord dieses Schiffes sehen. Wie heißt es noch gleich?«
»Bohemia«, erinnerte Marga ihre Mutter wenig enthusiastisch.
»Das klingt edel. Bestimmt ist schon die Kabine luxuriöser als unsere Wohnung.«
»Das ist mir egal. Ich will dich nicht verlassen. Wegen mir könnten wir auch in einer Höhle hausen«, entfuhr es Marga, die spürte, wie ihr einmal mehr die Tränen kamen. Ihre Mutter streichelte sanft Margas Haar wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
»Kind, ich bin erst beruhigt, wenn ich dich an Deck dieses Schiffes stehen und winken sehe.«
»Mir kann auch in Amerika etwas zustoßen«, erinnerte Marga finster. Doch ihre Mutter hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass ihr einziges Kind hier in Hamburg in größerer Gefahr wäre als anderswo.
»Ich diskutiere das nicht«, war die kategorische Antwort. Marga seufzte. Gegen Mutters Sturheit war sie noch nie angekommen. Doch schon jetzt schien es ihr unmöglich, den einzigen Menschen, der ihr auf der Welt geblieben war, in Deutschland zurückzulassen.
»Ich finde, Rosie hat sich sehr verändert«, wechselte ihre Mutter geschickt das Thema. »Sie ist so still und in sich gekehrt seit Gudruns Tod. Sie scheint ihre Mutter schmerzlich zu vermissen. Deine Gesellschaft wird ihr sicherlich guttun.«
Marga starrte an die dunkle Zimmerdecke, auf der sich getrocknete Wasserflecken im Licht des Vollmondes abzeichneten. Das Dach war schon seit Langem undicht, und der Speicher über ihnen wurde bei Regenwetter immer wieder nass, weshalb sich bereits der Schimmel durch die Tapeten fraß. Gut lebte es sich hier wirklich nicht, so viel musste sie Mama zugestehen. Trotzdem schien es ihr grundfalsch, Mutter allein zu lassen, während sie in einem fremden Land ein neues Leben beginnen sollte.
»Denkst du nicht?«, bohrte Mama nach, und Marga versuchte, sich zu erinnern, was das Thema gewesen war. Ein leises Husten im Nebenzimmer half ihrer Erinnerung auf die Sprünge: Rosie, genau. Mutter war es also auch aufgefallen. Sie war freundlich, jedoch selbst zu ihr und Mama distanziert, ihr Lächeln erreichte nicht ein einziges Mal ihre Augen. Auch schien sie sich vor Xaver Hubert zu fürchten, der sie wie ein Wachhund immer im Auge behielt. Ein unsympathischer Zeitgenosse. Und ausgerechnet mit ihm musste sie nun reisen.
Na ja, vielleicht hatte Mutter recht und sie würde Rosie aus der Reserve locken. Es wäre schön, wieder wie früher mit ihr zu lachen und Geheimnisse auszutauschen.
»Ich hoffe, dass ich sie aufheitern kann«, befand sie leise, was Mama lächeln ließ.
»Wenn das jemand schafft, dann du, Margalein.«
Eingehüllt in die Liebe und das Zutrauen ihrer Mutter fiel sie schlussendlich in einen unruhigen Schlaf.
Viel zu früh kam der nächste Morgen und damit der Tag der Abreise. Marga hatte ihren guten Rock und die weiße Bluse angezogen, dazu trug sie ihren einzigen Hut und ihre besten Stiefel. Den Rest ihrer wenigen Kleidung hatte sie in der alten Reisetasche verstaut, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Der unruhige Schlaf steckte ihr in den Knochen, sie fühlte sich müde, zerschlagen und mutlos, trotzdem versuchte sie noch einmal, ihre Mutter mit leiser Stimme umzustimmen, doch Helga legte ihr schon nach wenigen Worten den Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf.
»Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Für uns beide nicht. Und das ist gut so.«
Xaver und Rosie standen bereits mit ihrem Gepäck im Flur, wobei sein Fuß ungeduldig auf und ab wippte, während er darauf wartete, dass Helga sich anzog. Jetzt, wo es ernst wurde, schien auch ihre Mutter es nicht mehr ganz so eilig zu haben. Sein genervtes Schnauben trieb sie jedoch zur Eile, sodass sie schlussendlich zu viert die kleine Wohnung verließen. Ein dicker Kloß machte sich in Margas Kehle breit. Auch wenn es eher eine Behausung als ein Zuhause gewesen war, war es doch alles, was Heimat für sie bedeutete – allein wegen Mama. Sie wischte sich schnell eine Träne aus dem Augenwinkel. Weinen würde sie gleich noch genug.
Draußen erwartete sie erneut ein warmer Tag. Die Sonne hatte sogar schon zu dieser frühen Stunde die Stadt aufgeheizt. Ihre Strahlen würden spätestens am Mittag die Straßen und engen Gassen der Gängeviertel in einen Glutofen verwandelt haben. Überall hatten die Menschen wegen der Hitze ihre klapprigen Fensterläden zugezogen, sodass es aussah, als hätten die Häuser ihre Augen für ein Nickerchen geschlossen. Marga ging neben Rosie her, die stur geradeaus blickte.
»Nervös?«, fragte sie, doch ihre Cousine zuckte nur die Schultern.
Also gut, sie würde wohl die Gesprächsführung übernehmen müssen.
»Ich bin froh, dass ich mit euch kommen kann. Allein hätte ich mich das nie getraut.« Ein Nicken war die Antwort.
»Weißt du schon, was ihr tun werdet, wenn wir ankommen? Ich will mir eine Arbeit suchen und Geld sparen, um Mama nachzuholen. Aber sag ihr das nicht, sonst muss ich mir wieder anhören, dass man einen alten Baum nicht mehr verpflanzt.« Sie lachte leise – und allein, denn Rosie zeigte immer noch keinerlei Regung. Nun gut, Marga war niemand, der leicht aufgab.
»Vielleicht kann ich sogar zurück zur Schule gehen. Papa hat immer gesagt, Bildung öffnet einem alle Türen. Natürlich muss ich erst einmal die Sprache lernen. Ein wenig kann ich schon. Hello, how are you? What’s your name? My name is Marga.«
Sie wusste, dass sie plapperte, aber Rosies Schweigsamkeit schien bei ihr das genaue Gegenteil zu bewirken. Außerdem wollte sie ihre Cousine aus der Reserve locken und hoffte auf eine Reaktion.
»Schön, dass du noch Träume hast.«
Rosie war so abrupt stehen geblieben, dass Marga den leise geäußerten Satz fast überhört hätte. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie ihre Cousine einen abfälligen Blick in Richtung ihres Stiefvaters warf, der mit Helga bereits ein paar Schritte vorausgegangen war.
Sie ging zu Rosie zurück und hakte sich unter. Langsam folgten sie den beiden Erwachsenen.
»Weißt du, du kannst über alles mit mir reden«, flüsterte sie, um sicherzugehen, dass ihr Onkel sie nicht hören konnte. Rosies Blick war fest auf das Pflaster des Gehwegs geheftet.
»Es gibt nichts zu sagen«, war alles, was sie nach einer längeren Pause resigniert auf das Angebot erwiderte. Marga betrachtete im Gehen Rosies schönes Profil. Sie wünschte, sie könnte verstehen, was ihre Cousine so traurig und bitter gemacht hatte. Aber sie hatte nun mindestens vierzehn Tage Zeit, das herauszufinden.
Am Hafen ging es zu wie in einem Taubenschlag. Menschen kamen und gingen. Massen strömten zu den Schiffen, um sich anzustellen und dann um Punkt zehn Uhr, wenn die Hapag-Angestellten die Tür vor der Zugangsbrücken öffneten, den schmalen Gang hochzustreben. Für die Mutigen begann ab dort ein Abenteuer und für die Verzagten eine Reise ins Ungewisse. Marga griff nach ihrem Hut, der von einer frischen Brise gepackt wurde. Ein aufgeregtes Kribbeln hatte sie erfasst. Hier standen so viele unterschiedliche Menschen mit Träumen, mit Hoffnungen, mit einer Vergangenheit und einer Idee von der Zukunft. Menschen sind wie Bücher, Marga, jeder hat eine Geschichte zu erzählen, hatte Papa immer gesagt und sich bei Ausflügen und langen Wartezeiten mit ihr entsprechend etwas über jeden ausgedacht, der ihnen begegnete. Gerade jetzt vermisste sie ihn mehr, als sie sagen konnte.