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Hanne, Mone und Jessy wurden schon früh von ihrem Vater verlassen – und damit auch von ihrer Mutter, die in tiefe Depressionen fiel und kaum noch für ihre Kinder sorgen konnte. Auf sich gestellt gaben die Schwestern einander Halt und wurden ein eingeschworenes Team. Doch Jahre später haben sie sich auseinandergelebt, und nur das sonntägliche Mittagessen bei Hanne verbindet die Familie. Das ändert sich, als bei Hanne eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird. Ein Weckruf für Jessy und Mone, endlich ihre Probleme in den Griff zu bekommen, um für Hanne da sein zu können. Doch wird es den Sonntagsschwestern gelingen, ihren alten Zusammenhalt wiederzufinden, bevor es zu spät ist?
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Seitenzahl: 506
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hanne, Mone und Jessy wurden schon früh von ihrem Vater verlassen – und damit auch von ihrer Mutter, die in tiefe Depressionen fiel und kaum noch für ihre Kinder da sein konnte. Auf sich gestellt gaben die Schwestern einander Halt und wurden ein eingeschworenes Team. Doch Jahre später haben sie sich auseinandergelebt, und nur das sonntägliche Mittagessen bei Hanne verbindet die Familie. Das ändert sich, als bei Hanne eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird. Ein Weckruf für Jessy und Mone, endlich ihre Probleme in den Griff zu bekommen, um für Hanne da sein zu können. Doch wird es den Sonntagsschwestern gelingen, ihren alten Zusammenhalt wiederzufinden, bevor es zu spät ist?
Sonja Roos
Roman
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Originalausgabe Dezember 2023
Copyright © Sonja Roos 2023
Copyright © dieser Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotiv: © GettyImages / Dariusz Banaszuk / 500px; Arcangel / Maria Heyens; FinePic®, München
Redaktion: Eva Sterzelmaier
ES · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30955-8V002
www.goldmann-verlag.de
Für Uli
Du fehlst!
Jessy stand in der Tür zum Wohnzimmer und betrachtete die Silhouette ihrer schlafenden Mutter auf dem Sofa. Im Halbdunkel konnte sie weder die Falten noch den bereits ergrauten Haaransatz ausmachen. Jessy ließ ihren Blick über den Raum gleiten. Vor der abgewetzten Couch lag eine leere Weinflasche, daneben häuften sich Zigarettenstummel in einem Aschenbecher. Die Luft roch schal und abgestanden wie in einer Kneipe.
»Mama?«, flüsterte Jessy.
Die Gestalt zuckte kurz, sodass die alte Wolldecke herunterrutschte und einen Blick auf den knochigen Körper freigab.
»Mama?«, fragte Jessy etwas lauter.
»Lass sie schlafen«, hörte sie plötzlich die Stimme ihrer älteren Schwester Mone hinter sich.
»Aber ich hab den Bus verpasst«, sagte Jessy und starrte auf ihre kaputten Turnschuhe.
»Ich fahr dich«, sagte Mone und zog Jessy aus dem Zimmer. Jessy folgte ihrer Schwester, die sich im Vorbeigehen eine Jeansjacke vom Wandhaken angelte und die Schlüssel zu ihrem Roller aus einer Schale klaubte, die auf dem Flurschrank stand.
»Ich wollte eh mal mit dir reden«, rief Mone ihr bedeutungsschwer zu, während sie bereits im schummrigen Hausflur stand, in dem eine einzelne, defekte Neonröhre ähnlich panisch flackerte wie Jessys Herz in diesem Augenblick. Sie schluckte mehrmals, bevor sie ihren Schulrucksack griff und leise die Wohnungstür schloss. Dabei blieb ihr Blick an dem Namensschild hängen, das Hanne, die älteste der drei Schwestern, damals nach dem Umzug geschrieben hatte. »Sturm«, stand da der Familienname in Hannes schönster Mädchen-Handschrift, wobei der Zustand ihrer kleinen Familie nach Papas Fortgang eher dem glich, was ein Tornado zurückließ.
»Jessy, du träumst schon wieder«, hörte sie Mones gereizte Stimme. Jessy riss ihren Blick los und begann eilig, die vier Stockwerke hinter Mone herzulaufen, die bereits einen guten Vorsprung hatte. An der Haustür holte sie ihre Schwester ein. Mone war stehen geblieben und betrachtete Jessy aus zusammengekniffenen Augen.
»Du weißt, dass du der Sache jetzt mit dem Brief die Krone aufgesetzt hast?«, fragte sie gereizt. Jessy spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach.
»Mensch, Jessy, ich bin nicht mal mehr auf der Schule, aber jeder hat es mitgekriegt. Ich meine, es war schon peinlich genug, dass du den Kerl aus der Ferne angehimmelt hast, aber dass du ihm nun auch noch so einen Brief schreiben musstest.«
»Der Brief war ja nicht wirklich für ihn bestimmt. Ich hab ihn geschrieben, weil, weil …«
Jessy stockte, weil sie nicht einmal sagen konnte, weshalb sie ihre Gefühle zu Papier gebracht hatte. Sie hatte einfach ein Ventil gebraucht. Sie war so unglücklich, weil Lukas Danko sie nicht liebte. Nein, nicht nur, dass er ihre Gefühle nicht erwiderte, er mied sie, wechselte die Straßenseite, wenn sie ihm entgegenkam, und in jüngster Zeit reagierte er sogar abweisend, wenn er sie in seiner Nähe bemerkte. Und trotzdem – obwohl sie ihn nur aus der Ferne lieben konnte, löste er ein warmes Gefühl in ihr aus, fast wie die Geborgenheit, die sie zu Hause so schmerzlich vermisste. Ihn jeden Morgen in der Schule zu sehen gab ihr Halt. Doch Lukas stand kurz vor dem Abitur und würde danach aus Deutschland fortgehen, und sie hätte dann nichts mehr außer ihrem armen, geschundenen Herz. Dieser Gedanke bereitete ihr panische Angst. All das hatte sie ihm geschrieben und natürlich auch, dass sie sich mehr als alles andere wünschte, er würde sie endlich bemerken und irgendwann ihre Gefühle erwidern.
Sie hatte nie vorgehabt, ihm diesen Brief zu geben, doch vorige Woche, als sie ihre Bücher in den Schulspint legte, musste der Brief wohl herausgefallen sein, ohne, dass sie es bemerkte. Am nächsten Morgen hatte jemand ihre Zeilen vervielfältigt und überall in der Schule ausgehangen. Die größten Lästermäuler hatten ein gefundenes Fressen, liefen mit ihren Worten über den Schulhof und lasen vor, was für niemandes Ohren bestimmt gewesen war. Jessy wäre am liebsten auf der Stelle gestorben. Doch noch schlimmer war, dass Lukas ihr an diesem Tag plötzlich gegenüberstand und sie wütend anfunkelte. Er hob an, etwas zu sagen, besann sich dann aber eines Bessern, drehte sich um und stapfte kopfschüttelnd davon. Jessy liefen die Tränen, während sie sich zunächst in der Schultoilette einsperrte, um sich nach der Pause im Sekretariat krankzumelden und nach Hause zu fliehen. Ein paar Tage konnte sie Mone vormachen, dass es ihr tatsächlich schlecht ging, doch seit gestern musste sie wieder zur Schule, und es war die Hölle.
Ihre Mutter bekam von alldem nichts mit. Schon seit Jahren erzogen die Schwestern sich untereinander. Hanne hatte sich als älteste um die beiden jüngeren gekümmert. Seit sie zum Studium fortgegangen war, hatte Mone die Rolle übernommen. Und sie nahm die Sache sehr ernst.
»Herrgott, Jessy, komm drüber weg. Werd endlich erwachsen. Du bist jetzt siebzehn, und dieser Unsinn geht schon wie lange? Drei Jahre?« Sie schüttelte den Kopf und öffnete nun die Haustür, durch deren unebenen Glaseinsatz sich ein langer Riss zog. Eilig lief Mone zu ihrem Roller, doch Jessy war wie immer, wenn es Richtung Schule ging, wie gelähmt.
»Nun mach, ich komm zu spät. Du weißt, dass mein Chef gerade bei den Auszubildenden keinen Spaß versteht.«
Während Mone sich ihren Helm über die blonden Locken zog, schlurfte Jessy ihr nach, wobei sie sich fühlte wie ein Verurteilter, der zum Schafott geführt wurde. Mone drückte ihr den zweiten Helm in die Hand und wartete, bis Jessy diesen aufzog und sich hinter ihr auf den Sitz des Rollers fallen ließ. Zwanzig Minuten später hielten sie vor der Schule. Jessy starrte das Schulgebäude widerwillig an.
»Los, Jessy, wegen dem Umweg bin ich eh schon knapp dran.«
Jessy beeilte sich abzusteigen und blickte ihrer Schwester nach, die schnell nur noch ein kleiner Punkt am Horizont war. Schweren Herzens trat sie durch das schmiedeeiserne Schultor, in Gedanken noch ganz bei dem Gespräch mit Mone, sodass sie sein Rufen erst beim dritten Mal hörte.
»Hey, Jessy, nun warte doch mal!«
Sie drehte sich ungläubig zu der Stimme um. Tatsächlich stand Lukas Danko neben ihr. Jessy schaute misstrauisch in sein Gesicht, das ihr so vertraut und doch so fremd war. So lange schon war sie in diesen Jungen verliebt, dass sie gar nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte, ihn nicht zu lieben. Ihr Herz hämmerte nun so laut, dass sie glaubte, er könne es ebenfalls hören. Unsicher blickte sie ihn an.
»Hast du mich gerufen?«, fragte sie, eine Spur zu barsch vielleicht, weil sie es nicht gewohnt war, mit ihm zu reden. Er holte Luft, und sie glaubte schon, er würde wie die anderen über sie spotten, doch dann legte er den Kopf schief und schenkte ihr ein überraschendes Lächeln.
»Ich wollte mich entschuldigen, dass ich neulich so sauer war. Es tut mir leid. Im Grunde war es ein netter Brief.«
Jessy blieb buchstäblich der Mund offen stehen. Sie brachte keinen Laut heraus. Er räusperte sich.
»Tja, vielleicht hast du ja nach der Schule mal Bock abzuhängen?«
Jessys Augen weiteten sich, ihr Herz stolperte in ihrer Brust, und sie spürte, wie sich eine brennende Röte über ihre Wangen zog. Sie konnte nicht sprechen, weil ihr Mund zu trocken war, darum nickte sie nur.
»Okay.« Er schenkte ihr wieder dieses Lächeln, das ihre Knie weich werden ließ. »Morgen im Park, so um drei?«
Jessy nickte erneut wie benommen. Dann ging er, jedoch nicht, ohne ihr vorher noch einmal zuzuzwinkern. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, und ließ sich auf eine kaputte Bank am Rand des Schulhofs fallen, damit sie nicht zu Boden ging. Das musste ein Traum sein, ganz sicher. Nie, nicht ein einziges Mal, seit Lukas ihre Verliebtheit bemerkt hatte, war er auch nur freiwillig in ihre Nähe gekommen. Und jetzt das. Den Schultag über bewegte sich Jessy wie in einer Blase. Sie bemerkte kaum etwas um sich herum, zu beschäftigt war sie mit der Frage, was diese neue Entwicklung zu bedeuten hatte. Konnte es tatsächlich der Brief gewesen sein? Hatten ihre Worte etwas in ihm berührt? Sie war so in ihrer eigenen Welt gefangen, dass sie die hämischen Blicke seiner Freunde nicht sah und das Gekicher hinter ihrem Rücken schlichtweg überhörte.
In dieser Nacht fand Jessy kaum Schlaf. Sie blätterte stattdessen in ihrem Tagebuch, las die Einträge, die sie über die Jahre hinweg gemacht hatte, von dem Tag an, als Lukas Danko das erste Mal in ihr Leben getreten war, bis zu dem furchtbaren Moment, als sie den Brief verloren hatte. Was nur sollte sie von dieser überraschenden Wendung halten? Zu gern hätte sie jemanden um Rat gefragt, doch Mones Antwort dazu kannte sie bereits, Hanne hatte seit dem Studium andere Probleme, und ihre Mutter lebte in ihrer eigenen Welt, seit ihr Vater auf und davon war.
Irgendwann schlief sie im Schein ihrer Nachttischlampe ein, sodass sie am Morgen, als der Wecker anging, geblendet die Augen zukneifen musste, weil das Licht immer noch auf sie gerichtet war. Jessy stand auf und huschte ins Bad. Heute wollte sie sich besonders zurechtmachen – egal, was dieser Tag bringen würde. Doch als sie ihr Spiegelbild betrachtete, wurde ihr schlagartig bewusst, dass es fast unmöglich für sie war, auch nur annähernd hübsch auszusehen. Mit ihren siebzehn Jahren hatte Jessy immer noch keine Kurven. Ihre Figur war knabenhaft, fast hager, mit winzig kleinen Brüsten. Dazu hatte sie mausbraunes Haar, das stets strähnig aussah, egal, wie oft sie es wusch. Eine hartnäckige Akne und die Zahnspange, die sie erst im kommenden Sommer loswerden würde, machten die Sache nicht besser. Daran änderten auch eine Dusche und ein Abdeckstift nichts. Zudem gab ihr Kleiderschrank kaum Brauchbares her, da Jessy sich bislang am liebsten unter weiten Jungssachen versteckt hatte. Sie besaß etliche Jeans, schlabberige T-Shirts, Converse und Basecaps, jedoch kein einziges Kleid, keinen Rock und schon gar keinen BH. Stattdessen trug sie immer noch Tops, wie sie sie bereits mit vierzehn getragen hatte. Am Ende entschied sie sich für eine etwas engere Jeans und ein Shirt, auf dem Bob Marley abgebildet war. Um nicht allzu unförmig zu wirken, knotete sie den schwarzen Stoff auf Hüfthöhe, so wie sie es bei den anderen Mädchen gesehen hatte.
Da Wochenende war, hatte Mone die Wohnung bereits früh verlassen. Sie half samstags in einem Blumenladen aus, um ihr mageres Azubi-Gehalt aufzubessern. Mama schlief wie immer noch, wobei der Fernseher lief und irgendeine Reality-Dokusoap über den Bildschirm flimmerte. Jessy machte sich Frühstück, räumte auf, stellte ihrer Mutter Toast und eine Kanne Kaffee hin und ging dann einkaufen.
Endlich war es Nachmittag, und sie machte sich mit flatterndem Herzen auf den Weg in den Park. Jessy war viel zu früh und saß zappelig auf einem Brückengeländer, unter ihr floss der Mühlbach, der im Sommer kaum Wasser führte und außerdem wie eine Kloake roch. Auf dem Boden lagen Hinterlassenschaften diverser Vierbeiner, die deren Besitzer – trotz der vielen Hundekottütenspender – geflissentlich übersehen hatten. Kein allzu romantischer Ort, schoss es ihr durch den Kopf, doch Lukas hatte den Vorschlag gemacht, und so blieb sie tapfer dort sitzen. Er kam mit Verspätung, doch lächelte sie so freundlich an, dass sie es ihm nicht mal übelgenommen hätte, wenn er sie Jahre dort hätte warten lassen.
»Kaugummi?«, fragte er und hielt ihr eine Packung Extra hin. Sie fischte eins heraus und steckte es sich in den Mund. Dann ging er los, und Jessy sprang unaufgefordert vom Geländer herunter, um ihm nachzulaufen. Immerhin drehte er sich nach einigen Schritten um und wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte.
Schweigend schlenderten sie nun ein Stück den kleinen gepflasterten Weg durch den Park entlang, und Jessy überlegte krampfhaft, wie sie ihn in ein Gespräch verwickeln konnte.
»Hast du…«, begannen sie zeitgleich und mussten lachen. Lukas drehte sich zu ihr.
»Du zuerst«, sagte er nun und blieb stehen.
»War nicht wichtig, was wolltest du sagen?«, erwiderte sie hastig und sah ihn erwartungsvoll an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wusste nicht, wie man so fühlen konnte für jemanden, den man eigentlich kaum kannte. Er zuckte kurz verlegen mit den Schultern und lächelte wieder, sodass sich Grübchen auf seinen Wangen zeigten. Jessy schmolz dahin.
»Du magst mich also?«, fragte er unvermittelt. Jessy stockte der Atem. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er sie so direkt darauf ansprechen würde. Betreten blickte sie zu Boden und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Vielleicht ist es dann an der Zeit, dass wir uns besser kennenlernen«, sagte Lukas und begann weiterzulaufen. Jessy jedoch war stehen geblieben, weil ihre Beine sich wie Pudding anfühlten. Als er bemerkte, dass sie ihm nicht nachkam, ging er wieder zu ihr zurück.
»Jessy? Was ist? Findest du die Idee blöd?« Er klang irgendwie verletzt, sodass Jessy schnell den Kopf schüttelte, obwohl in ihr eine leise Stimme flüsterte, dass das hier zu schön war, um wahr zu sein.
»Gut, jetzt, wo das geklärt wäre, können wir ja noch ein Stück gehen, oder warten deine Eltern auf dich?«
Jessy merkte, wie sich bei der Frage kurz ihr Innerstes zusammenzog.
»Mein Vater hat uns verlassen, als ich noch klein war. Ich erinnere mich kaum an ihn. Und meine Mutter leidet seitdem an Depressionen. Mich vermisst zu Hause also niemand.«
Lukas’ Blick wurde weicher, Mitleid schimmerte durch das kleine Halblächeln, das er ihr schenkte.
»Davon wusste ich nichts«, sagte er leise.
»Woher solltest du auch.«
Es hatte locker klingen sollen, doch selbst in Jessys Ohren hörte sich ihre Stimme resigniert und traurig an.
»Meine Mutter ist auch abgehauen, ist mit ihrem Lover durchgebrannt«, bekannte Lukas plötzlich. Sie blieben stehen und sahen sich an, beide überrascht, dass etwas sie verband. Danach schlenderten sie noch ein wenig durch den Park und redeten über belangloses Zeug wie Kinofilme, Schulfächer und blöde Lehrer. Jessy begann, sich ein klein wenig in seiner Gegenwart zu entspannen. Sie lachten viel, und die Atmosphäre war gelockert. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam sie sich weder fehl am Platz noch tölpelhaft vor. Als er sie am Ende zu ihrem Fahrrad zurückbrachte, konnte sie fast glauben, dass er es ernst mit ihr meinte. Vermutlich willigte sie deshalb ein, als er sie fragte, ob sie am kommenden Wochenende mit ihm zu seiner Abiturfeier gehen wollte. Doch dann wurde sie stutzig.
»Moment, ich dachte, du bist mit Rina zusammen?« Obwohl Jessy sich während des Spaziergangs immer sicherer gefühlt hatte, konnte sie ihm bei der Frage nun nicht ins Gesicht sehen.
»Oh, das ist nichts Festes, wir treffen beide auch andere Leute. Wenn du aber lieber nicht willst …«
Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen, und Jessy merkte, wie Panik in ihr aufstieg.
Während sie fieberhaft versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, starrte sie bemüht auf ihre alten Converse, auf die sie aus Langeweile im Unterricht mit Kugelschreiber kleine Herzchen gemalt und seine Initialen geschrieben hatte. Immer noch auf eine Antwort wartend wandte Lukas sich ab und ging ein paar Schritte weiter. »Du musst dich ja nicht gleich entscheiden«, sagte er über die Schulter hinweg.
Sie wollte ihre Chance nicht vertun und holte eilig zu ihm auf. »Okay, ich bin dabei.«
Wenn er sich über ihre Zusage freute, vermochte er es gut zu verbergen. Seine Miene war neutral, als er ihr eine Einladung in die Hand drückte, auf der die Adresse der Grillhütte stand.
Sie hatten nun Jessys altes Fahrrad erreicht, das sie mit einer rostigen Kette an einen Baum angeschlossen hatte.
»Dann bis nächste Woche«, sagte sie unsicher und versuchte sich an einem schüchternen Lächeln.
»Ja, bis dann.« Er klang seltsam flach und konnte ihr nicht in die Augen sehen, was bei Jessy ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend aufkommen ließ. Sie war schon ein Stück losgeradelt, als er ihr noch einmal nachrief. »Vielleicht sollten wir doch einen anderen Tag ausmachen.«
Sie bremste ab und sah ihn fragend an. Dann dämmerte es ihr. »Wenn es dir peinlich ist, dass deine Freunde uns dann zusammen sehen …«
Er machte erneut ein paar Schritte auf sie zu. Seine Wangen schienen zu brennen, so als hätte sie ihn auf frischer Tat bei irgendetwas ertappt. Allerdings schien Lukas Danko jemand zu sein, der seine Emotionen schnell wieder einfangen konnte. Als er vor ihr stand, war sein Lächeln so überzeugend wie seine sich anschließenden Worte. »Hätte ich dich gefragt, wenn dem so wäre?«
Sie schüttelte zögerlich den Kopf.
Die Tage bis zur Abiturfeier zogen sich elend lang dahin. In ihrer Aufregung hatte Jessy Mone eingeweiht, die wie erwartet nicht viel von dieser Einladung hielt.
»Jessy, das kommt doch alles viel zu plötzlich, meinst du nicht? An deiner Stelle würde ich da nicht hingehen, im Leben hat er das nicht ernst gemeint.«
Verletzt starrte Jessy ihre Schwester an. »Du kannst einfach nicht glauben, dass ein Typ wie Lukas auch mal ein Mädchen wie mich fragen würde, stimmt’s?«
»Jessy.« Mone klang betrübt und resigniert. »Hier geht es doch nicht um dein Aussehen.«
»Doch, natürlich, nur darum. Wenn ich ein bisschen mehr wie du oder Hanne wäre, dann würde sich niemand darüber wundern, dass er mich zur Abifeier eingeladen hat. So aber muss ja gleich irgendwas Gemeines dahinterstecken.«
Wütend stieß Jessy Mones Hand weg, die versucht hatte, ihr eine Strähne hinters Ohr zu schieben.
»Lass mich. Ich bin alt genug und weiß selbst, was ich tue.« Auch wenn Jessy zugeben musste, dass sie die Bedenken ihrer Schwester teilte, hätte sie nun im Leben keinen Rückzieher mehr gemacht. Sie würde dort hingehen und sehen, was der Abend brachte. So schlimm konnte es doch nicht werden, und vielleicht, ja nur vielleicht, mochte er sie wirklich ein kleines bisschen.
Endlich war der Samstag gekommen, und Jessy stand nervös im Badezimmer. Sie hatte sich von ihrem mageren Taschengeld ein rotes, tief ausgeschnittenes Kleid und einen BH gekauft. Außerdem war sie im Einkaufszentrum in der Parfümerie gewesen, wo sie sich gratis hatte schminken lassen.
»So willst du doch nicht gehen?« Mone klang entsetzt, als Jessy aus dem Bad kam und sie abwartend ansah.
»Warum nicht?«, fragte Jessy angriffslustig.
»Jessy, manchmal ist weniger mehr. Du hast ein hübsches Gesicht, warum kleisterst du es so zu?«
Jessy blickte ihre Schwester verächtlich an. »Ich bin hübsch? Das hörte sich neulich noch ganz anders an.«
Jessy wäre ihrer Schwester gern weiter böse geblieben, doch im Moment hatte sie nicht die Zeit und Energie dazu. Niedergeschlagen ließ sie sich aufs Bett fallen. Mone kam zu ihr und legte ihr die Arme um die schmalen Schultern.
»Jessy, du bist hübsch«, sagte sie mit Bestimmtheit und strich ihr liebevoll über die Wange. »Aber so siehst du nicht mehr aus wie du selbst. Das Kleid, das Make-up, das ist zu dick aufgetragen. Ich könnte dir mein schlichtes dunkelblaues Wickelkleid leihen, das können wir bei dir etwas enger binden. Und vielleicht etwas weniger Make-up? Ein bisschen Mascara und Lipgloss reichen doch vollkommen aus.«
Jessy drückte sich aus Mones Umarmung und sprang mit neuer Entschlossenheit auf.
»Weißt du, Mone, vielleicht bist du einfach nur neidisch, weil endlich mal etwas Gutes in meinem Leben passiert und nicht bloß in deinem. Und zwar ohne dein Zutun.«
»Das glaubst du?«, fragte Mone verletzt. Jessy nickte wütend. Mone schwieg und ließ sie ziehen. Jessy empfand bei ihrem traurigen Gesicht zum Abschied eine gewisse Genugtuung, was albern war, denn am Ende des Tages sorgte sich Mone nur um sie. Doch für diese Einsicht war sie gerade zu aufgebracht.
Sie eilte hastig die vielen Stufen hinunter und band ihren Drahtesel los. Sie wusste, dass sie einen kuriosen Anblick bot, wie sie in dem schicken Kleid auf dem rostigen alten Fahrrad balancierte, aber für den Bus hatte ihr Geld nicht mehr gereicht. In Gedanken war sie schon bei der Feier. Vielleicht würde es wider Erwarten ein schöner Abend, trotz der ganzen anderen Idioten, die da sein würden und die ihr bereits ihre ganze Schulzeit lang das Leben schwer gemacht hatten.
Schon von Weitem hörte Jessy die Musik und die Stimmen. Sie stellte ihr Rad am Rand der Einfahrt an den Pfahl einer Laterne und kettete es aus Gewohnheit fest, was unnötig war, denn niemand wäre auf die Idee kommen, diesen Haufen Schrott auf zwei Rädern zu stehlen. Sie zog ihr Kleid wieder richtig und fasste an ihren Kopf, um zu fühlen, ob die vorhin kunstvoll hochgesteckten Haare noch saßen. Dann atmete sie noch einmal tief durch und ging in Richtung der Feier.
Die Hütte war zum Bersten voll. Das Licht kleiner bunter Scheinwerfer wurde von der silbrigen Oberfläche einer Discokugel an die ansonsten kahlen Holzwände geworfen. Der DJ, ein Typ mit zum Zopf gebundenen langen Haaren und einer Sonnenbrille, drehte die Musik noch einmal lauter. Sie stand am Rand der Tanzfläche und beobachtete die anderen. Pärchen tanzten sich an, ein paar ältere Jungs headbangten zu einem alten AC/DC-Song, Haare und Schweiß flogen, die Luft war so dick, dass man sie in Scheiben hätte schneiden können. Jessy ließ ihren Blick über die vielen Köpfe gleiten, doch ihn sah sie nicht. Ihre Stirn zog sich vor Konzentration in kleine Falten, und sie kniff die Augen zusammen, um durch die flackernden Lichtblitze nicht die Übersicht zu verlieren. Da kam plötzlich Lukas’ Freund Micha auf sie zu. Er grinste sie merkwürdig freudlos an, fast gehässig, während er dicht vor ihr zum Stehen kam. Sein Atem roch nach Bier, und er lallte etwas, als er sie nun ansprach. »Suchste dein Date?«
Sie nickte, da die Musik ohnehin zu laut war und ihr Hals zu trocken für eine Antwort.
»Draußen auf der Terrasse«, brüllte Micha gegen den Lärm an und deutete mit seinem Daumen auf die Tür. Jessy ließ ihn wortlos stehen und drängte sich durch die Tanzenden, die sie auf ihrem Weg ins Freie anrempelten und anstießen wie eine Flipperkugel. Endlich war sie im Freien. Sie brauchte einen Moment, um ihn in der Menge auszumachen, doch ihr über Jahre geschulter Blick funktionierte in puncto Lukas Danko wie ein eingebautes Radar. Schnell hatte sie ihn unter den vielen dunklen Anzügen ausgemacht. Auch er trug Schwarz, darunter ein weißes Hemd, das am Kragen zwei Knöpfe offen hatte. Im Gegensatz zu vielen Altersgenossen wirkte Lukas lässig und völlig mit sich im Reinen statt nur verkleidet. Jessys Blick huschte kurz an ihrer auffälligen Erscheinung herunter. Zwar trugen die anderen Mädchen auch Ballkleider, jedoch schien ihre Aufmachung in der Menge der vielen Designermodelle billig und viel zu gewagt. Mone hatte recht gehabt. Jetzt war es allerdings zu spät, um daran noch etwas zu ändern. Sie schluckte nervös. Lukas winkte und kam auf sie zu. Jessy spürte, wie ihre Knie schon wieder weich wurden. Er blieb vor ihr stehen, während kurz so etwas wie Bedauern über seine ebenmäßigen Züge flackerte.
»Hallo, ich dachte eigentlich, du kommst nicht.« Er klang fast vorwurfsvoll. Ein ungutes Prickeln schlich sich ihren Nacken hinauf, wie kleine Ameisen, die dort hochliefen.
»Aber du hast mich doch eingeladen«, platzte es aus Jessy heraus. Es klang wie eine Frage. Panisch suchte sie in seinem Gesicht nach einem Hinweis, dass er sie hier haben wollte. Doch Lukas war nun derjenige, der zu Boden blickte. Obwohl er durch die Geste kleiner wurde, überragte er sie immer noch fast um einen Kopf, seine Schultern waren breit und seine Haare eine Spur länger, als es eigentlich angesagt war. Aber Jessy fand sie perfekt. Sie hätte alles dafür gegeben, hineinzugreifen und ihre Finger hindurchgleiten zu lassen. Rückblickend erinnerte sie sich an jede Kleinigkeit in diesem Augenblick. An den Wind, der leicht vom See herüberwehte, an die Abendsonne, die den Himmel in ein sanftes Orange tauchte, an die Musik – Alex Clare mit »Too Close«, der gerade sang I don’t wanna hurt you, but I need to breathe. Sie bekam eine Gänsehaut. Die Zeile klang plötzlich wie eine Warnung.
»Jessy, geh! Schnell!«, raunte Lukas ihr da leise, aber drängend zu, doch es war zu spät. Wie aus dem Nichts stand seine Clique um sie herum. Die Musik war verstummt, sodass man Michas Stimme nun umso lauter hören konnte.
»Lukas, das muss der Neid dir lassen, du hast die Wette echt gewonnen, Alter.« Anerkennend klopfte er Lukas auf die Schulter, der es nun vermied, Jessy anzusehen. »Du hast das mit Abstand hässlichste Date überhaupt aufgetrieben und zur Party gebracht. Ich wollte eigentlich die bucklige Putzfrau fragen, aber selbst die hätte wie Heidi Klum ausgesehen neben der da.«
Micha hielt Lukas eine Flasche billigen Prosecco hin, die dieser jedoch nicht anrührte. »Dein Preis, Danko«, sagte er feixend und grinste Jessy hämisch dabei an. Weil Lukas seinen Gewinn nicht annahm, drehte Micha den Schraubverschluss auf und nahm einen tiefen Zug. Dann gab er die Flasche an einen seiner debilen Freunde weiter. Das verhaltene Gelächter der anderen begleitete ihn, während er nun auf Jessy zukam. Sie spürte, wie sich eine Mischung aus Scham und Erkenntnis auf ihrem Gesicht ausbreitete. Die Tränen, die ihr in die Augen schossen, ließen sich nicht mehr aufhalten, sie konnte fühlen, wie sie Spuren in ihrem viel zu dick aufgetragenen Make-up hinterließen.
»Och, musst du jetzt heulen, Vogelscheuche? Hast du echt geglaubt, dass Lukas mit dir ausgehen wollte? Mit dir?«, schob er noch einmal abfällig nach, und Jessy sah, dass er schwankte, was darauf schließen ließ, dass der Alkohol vorab in rauen Mengen geflossen war. Die Menge begann zu grölen, während ihr speiübel wurde. Sie wollte nur fort von hier, doch die anderen hatten einen Kreis um sie gebildet, sodass nirgendwo ein Entkommen war. Jemand drückte Micha eine Rolle Klopapier in die Hand, und Jessy beobachtete schockstarr und mit aufgerissenen Augen, wie dieser auf sie zuging und ihr damit eine Art Schärpe um die Schulter drapierte.
»Wie hat doch der große Harald Schmidt einst gesagt? Ein Gesicht wie eine Kloschüssel, oder so ähnlich? Damit passt diese herrliche Schärpe wie die Faust aufs Auge, oder besser gesagt wie Arsch auf Eimer.«
Wieder grölten die anderen. Jessy zitterte nun unkontrolliert. Sie spürte, wie ihr etwas aus der Nase lief, und Micha starrte sie angeekelt an.
»Boa, nimm deine Schärpe, und mach das weg, das ist widerlich.«
Er bewarf sie mit dem Rest der Klopapierrolle. Als wäre das ein geheimes Startzeichen für die anderen, fingen sie an, leere Plastikbecher und Zigarettenkippen auf Jessy zu werfen. Lukas stand abseits. Sie sah die kleine Bewegung, hoffte, dass er dem gemeinen Spiel der anderen ein Ende setzen würde, doch dann versperrten ihr zwei breite Rücken die Sicht auf ihn. Sein Kopf tauchte irgendwann zwischen den beiden Kerlen auf, und Jessy starrte Hilfe suchend in seine Richtung, während ihre Lippen ein stummes »Bitte« formten. Er sah beschämt aus, doch rührte sich nicht vom Fleck. Niemand unternahm etwas. Er nicht und auch sonst niemand. Nicht, als jemand sie anspuckte, und auch nicht als ein anderer sein Bier über sie goss.
Verzweifelt versuchte sie, sich an irgendeiner Stelle aus dem Kreis der Umstehenden zu drängen, doch egal, wo sie es versuchte, jemand schubste sie zurück in die Mitte, wo ihre Peiniger noch nicht genug von diesem perfiden Spiel hatten. Lukas hatte sie völlig aus den Augen verloren. Die Gaffer im Kreis schubsten und schoben sie, bis sie das Gleichgewicht verlor und vor Micha zu Boden fiel. Er stand vor ihr, wankend wie jemand, der bei hohem Seegang auf einem Schiffsdeck steht. Sein Blick ging durch sie hindurch, plötzlich beugte er sich vor und erbrach sich gleich neben ihr ins Gras. Die anderen lachten oder machten angeekelte Geräusche, während er sich bückte, um sich den Mund an ihrem neuen Kleid abzuwischen.
»Dafür ist der Fetzen doch immerhin gut«, lallte er unter dem Gegröle der anderen.
»Komm, Micha, lass die jetzt«, sagte ein Mädchen, das wohl wenigstens einen Funken Mitleid hatte. Ohne Jessy anzusehen, zog die Unbekannte ihren Peiniger endlich von ihr fort. Mit einem Mal löste sich die Menge auf, so plötzlich, wie sie sich formiert hatte. Die Musik ging wieder an, und die meisten strömten zurück ins Innere der Hütte, um zu tanzen und zu feiern.
Jessy hatten sie zurückgelassen, zitternd und gedemütigt. Lukas war den anderen nicht nach drinnen gefolgt. Wie aus dem Nichts tauchte er neben ihr auf. Sein Blick schwankte zwischen Entsetzen und Mitleid. Er wollte ihr aufhelfen, doch sie stieß seine Hand fort, während sie selbst wacklig auf die Füße kam. Schwer atmend standen sie sich nun gegenüber. Jessy brauchte keine Worte mehr, sein betroffener Blick sprach Bände. Micha hatte die Wahrheit gesagt, Lukas hatte sie hergelockt, damit die anderen ihren Spaß mit ihr haben konnten.
Er rieb sich verzweifelt durchs Haar, schien etwas sagen zu wollen, doch da tauchte Rina neben ihm auf und legte besitzergreifend den Arm um seinen Nacken.
»Vielleicht begreifst du jetzt endlich, dass du Lukas in Ruhe lassen sollst. Als ob er mit jemandem wie dir was anfangen würde. Hast du mal in den Spiegel geschaut? Er spielt in einer komplett anderen Liga, Mädchen. Lass ihn in Ruhe, und hör auf, ihm nachzustellen.« Ihre Stimme schnitt wie ein Messer durch die angespannte Stille, die sich zuvor zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
Lukas sah seine Freundin bestürzt an, die jedoch gleichgültig mit den Schultern zuckte. »Was denn, das war doch Sinn und Zweck dieser Aktion, oder? Ihr zu zeigen, wo sie hingehört«, sagte sie honigsüß. Er hatte wenigstens den Anstand zu erröten, während er sich aus Rinas Klammergriff wand. Jessy hatte den Eindruck, dass er endlich etwas sagen würde, doch seine Freundin war noch nicht fertig.
»Das Kleid ist ja ein echter Hingucker. Hast du das beim Discounter um die Ecke geklaut oder gleich aus dem Rotkreuzcontainer geholt?«
Sie lachte aufgesetzt, während sie demonstrativ über den seidig fließenden Stoff ihres Designerkleides strich. »Komm, Schatz, lass uns reingehen, hier stinkt es erbärmlich.« Sie strebte voran, wobei sie sich aufreizend durch ihre rotblonde Lockenmähne fuhr.
Lukas rieb sich mit einer verzweifelten Geste den Nacken, schien hin- und hergerissen, doch als er einen zögerlichen Schritt auf sie zumachte, hob Jessy abwehrend die Hände. Sie hatte genug von diesem Abend. Ihr war übel, und sie hatte ein Klirren in den Ohren, als könnte sie förmlich hören, wie ihr Herz in tausend Stücke brach. Blind und taumelnd drehte sie sich um und stolperte in die Dämmerung, wo irgendwo ihr Fahrrad sein musste. Doch selbst davor hatten sie nicht haltgemacht. Jemand hatte die Räder abmontiert und verbogen. Das nackte Metallgerippe lehnte nutzlos am Laternenpfahl. Hilflos sank sie neben ihrem zerstörten Rad auf den feuchten Boden.
Als irgendwann der Schock nachließ und die Musik und die Stimmen aus der Hütte zu ihr durchdrangen, rappelte sie sich auf und rannte in Richtung der Straße davon. Hauptsache weg von diesen Monstern. Die Sonne war inzwischen untergegangen und der Weg menschenleer. Die Nacht hatte sich abgekühlt, ebenso wie ihre Gefühle – die panische Angst, die bittere Enttäuschung, die rot glühende Scham, die Erkenntnis, dass er sie niemals gemocht hatte. Sie fühlte sich taub, wie abgestorben, fremd in ihrem eigenen Körper. Sie wusste nicht, wie lange sie durch die Dämmerung gelaufen war, wusste auch nicht, wie sie die Haustür aufschloss und durch das Treppenhaus nach oben ging. Am Ende stand sie plötzlich in dem winzigen, unaufgeräumten Badezimmer und hielt die Klingen aus Mones Damenrasierer in der Hand …
»Was machst du denn? Du willst doch jetzt nicht schon gehen?« Seine Stimme klang hoch, wie die eines kleinen Mädchens, wenn er wie jetzt empört war. Jessy fragte sich, warum ihr das vorher nicht aufgefallen war.
»Jenny, komm wieder her, ich bin noch nicht fertig mit dir.« Er ließ seine Augenbrauen in einem Versuch, witzig zu sein, hin und her wackeln, was aber nur albern aussah. Sie verdrehte die Augen.
»Jessy, ich heiße Jessy.«
Sie zog die Jeans über ihren nackten Körper und schlüpfte in das Sweatshirt. Ihre Turnschuhe lagen unter dem Bett. Als sie sich danach bückte, fasste er ihr von hinten an die Hüften. Seine Hände waren feucht, sein Griff fest und schmerzhaft. Sie schlug ihm auf die Finger wie eine Mutter einem vorwitzigen Kind, das sich ungefragt am Bonbonglas bedient. Überrascht ließ er sie los, und Jessy sprang vom Bett. Er war nicht ihr Typ, untersetzt, mit schütterem Haar und fahler Haut. Immerhin hatte er nette Augen, blau, mit langen Wimpern. Und er war selbstsicher aufgetreten vorhin in der Kneipe. Hatte ihr ein paar Getränke ausgegeben. Das Gespräch allerdings war schnell ins Stocken geraten. Außer über seine Arbeit bei einer Logistikfirma hatte er nicht wirklich etwas zu erzählen gehabt. Und trotzdem war sie am Ende des Abends mit zu ihm nach Hause gegangen. Jessy fragte sich nicht zum ersten Mal, was mit ihr eigentlich nicht stimmte. Mone, die gern Hobbypsychologin spielte, würde vermutlich sagen, dass sie unbewusst Männer wählte, die nicht ihr Typ waren, weil so nicht die Gefahr bestand, dass Jessy Gefühle investieren musste. Und Mone würde mit dieser Analyse wieder mal ins Schwarze treffen.
»Mach’s gut …« Sie stockte kurz und stellte fest, dass sie nicht besser war als er, denn sein Name war ihr ebenfalls entfallen.
Mit einem Schulterzucken griff sie nach ihrem Handy, dem Portemonnaie und den Zigaretten und ging Richtung Wohnungstür.
»Gibst du mir wenigstens deine Nummer?«, rief er hinter ihr her. Doch Jessy tat, als hätte sie ihn nicht gehört, während sie in den Hausflur trat und hastig die Tür hinter sich ins Schloss warf. Ihre Schritte hallten durch das menschenleere Treppenhaus. Als sie nach draußen trat, umfing sie die Dunkelheit. Sie schaute auf die Uhr im Display ihres Handys. Kurz nach halb drei. Heute war Sonntag. Sie hatte noch ein paar Stunden, bevor sie da sein musste. Ein paar Stunden, in denen sie ohnehin keinen Schlaf mehr finden würde.
Also ging sie Richtung Fluss und ließ sich dort auf eine Bank fallen. Die Nacht war mild, die Mücken tanzten im Licht einer flackernden Straßenlampe. Sie zündete sich eine Zigarette an und scrollte durch ihre Nachrichten.
Jessy, denk dran, du wolltest dich um den Salat kümmern. Hanne, ihre große Schwester.
Kommst du, Jessy? Lass mich nicht allein da, ich dreh sonst durch. Diese Nachricht war von Mone.
Bringst du jemanden mit? Wieder Hanne.
Sie hatte keine Lust zu antworten. Zum einen, weil ihre Familie die Antworten ohnehin schon kannte, zum anderen, weil ihre Schwestern mit einem Blick auf die gesendete Uhrzeit nur unnötige Fragen stellen würden. Wie etwa, wo sie gewesen war und warum sie nicht wie jeder andere Mensch nachts um drei schlafend in ihrem Bett lag. Ihre Zigarette war heruntergebrannt. Sie schüttelte eine neue aus der Packung und zündete sie an der alten an. Dann stand sie auf und schlenderte ein Stück den schmalen Pfad am Fluss entlang. Jessy mochte es, um diese Zeit hier spazieren zu gehen. Selten kam ihr in solchen Nächten jemand entgegen, höchstens mal ein Pärchen auf dem Heimweg von einem schönen Abend oder ein einsamer Hundebesitzer, dessen Vierbeiner sich noch einmal erleichtern musste. Manchmal lagen auch Stadtstreicher auf den Bänken am Flussufer. Ihre schmutzigen Füße schauten unter einem Haufen Zeitungen heraus, während ihre Arme die bereits leere Kornflasche umklammerten. Jessy sah diese Menschen, doch hatte das Gefühl, dass keiner dieser Fremden sie je wirklich wahrnahm. In solchen Nächten suchte sie ihren Schatten auf dem Boden, nur um sicher zu sein, dass sie noch da war.
Als sich die ersten Boten des heranbrechenden Tages über dem Fluss zeigten, trieb die Vernunft sie Richtung nach Hause. Ihr Kopf war angenehm leer und ihre Augen schwer. Vielleicht konnte sie dem neuen Tag doch noch ein paar Stunden Schlaf abtrotzen, bevor sie zu dem obligatorischen Sonntagsessen zu ihrer großen Schwester aufbrechen musste.
Heute begegnete ihr niemand auf dem Heimweg. Die Dämmerung spuckte sie irgendwann in den viel zu hell beleuchteten Hausflur. Der Fahrstuhl war schon lange kaputt, und so nahm sie wie immer die Treppe, vier Stockwerke, bis sie vor ihrer Wohnung stand. Zwei Zimmer, eine Küche, ein Bad ohne Tageslicht und Badewanne, dafür mit Stockflecken und einer nicht funktionierenden Belüftung. Sie sah sich kurz um. Die Möbel waren allesamt Erbstücke ihrer Schwestern. Der viel zu klobige Flurschrank, der blaue Korbstuhl, das Bettsofa mit dem zerschlissenen pinkfarbenen Bezug. Nichts von dem gehörte wirklich ihr. Und nichts passte wirklich zusammen. Auch wenn sie es sich nicht gern eingestand, so war die Wohnung doch ein Spiegel ihres Lebens.
Jessy ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Es gab eine halb leere Flasche Weißwein, ein Päckchen Margarine, ein Glas mit grünem Pesto, angebrochen, und eine Packung Gouda, der schon weißlichen Belag angesetzt hatte. Mit diesen Zutaten würde sie keinen Salat hinbekommen. Sie musste Mone anrufen, doch noch war es zu früh. Mit diesem Gedanken ging sie in den Flur und ließ sich in den blauen, unbequemen Stuhl sinken, wo sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf fiel, in dem die Vergangenheit in all ihrer Düsternis lauerte.
Blut, viel Blut, nachdem sie die Klinge angesetzt hatte. Die Schreie ihrer Schwester, die Tränen ihrer Mutter. Die Ärzte, die Klinik, die Psychiaterin, die Medikamente. Nervenzusammenbruch, labile Persönlichkeit, Minderwertigkeitskomplexe. Der frühe Verlust des Vaters, die Demütigungen. Sie müssen das alles zulassen, sonst wird es Sie zerfressen. Die Stimme der Psychiaterin in der Klinik. Jessy wurde von ihrem eigenen Schrei wach.
Ihr Herz raste, und in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie rutschte vom Stuhl herunter zu Boden, wo sie auf den Knien aufkam und sich dann wie ein Kind umschlang, um sich selbst zu beruhigen. Es half. Nach einigen Minuten waren ihre Atmung und ihr Puls wieder normal. Sie stand auf und ging in das kleine Badezimmer. Dort über dem Waschbecken starrte Jessy aus dem Spiegel ihr blasses Gesicht entgegen. Ihre Augen wirkten riesig. Sie ließ das eiskalte Wasser über ihre vernarbten Handgelenke laufen. Danach trocknete sie sich ab und betrachtete wieder ihr Spiegelbild. Schon lange gab es dort nichts zu sehen, woran Jessy etwas hätte aussetzen können. Ihre Haut war durch die Antibabypille glatt und rosig. Dank der Zahnspange waren ihre Zähne genau in der Position, in der sie ebenmäßig und gerade standen. Ihr Haar war mittlerweile blond gesträhnt und umrahmte ein Gesicht, das nach den ganz allgemeinen Regeln von Form und Symmetrie als hübsch galt. Trotzdem fühlte sie sich immer noch genauso unattraktiv und wenig begehrenswert wie mit siebzehn. Jessy seufzte und streifte sich die Sachen ab, in denen noch die Gerüche der vergangenen Nacht hingen: Alkohol, Rauch und billiges Aftershave. Dann schlüpfte sie in die enge Duschkabine, wo sie unter dem heißen Wasserstrahl stand, bis ihre Haut krebsrot war und brannte.
Mone schreckte hoch, als das Telefon klingelte. Sie schob seinen Arm weg und lehnte sich zum Nachttisch, auf dem ihr Handy lag. Im Display erkannte sie Jessys Bild.
»Lass mich raten, du hast mal wieder vergessen einzukaufen«, begrüßte sie ihre kleine Schwester am Telefon.
»Hast du was da für einen Salat?«, fragte diese überflüssigerweise, denn Mone war immer auf solche Fälle vorbereitet.
»Ich mach einen Nudelsalat, willst du hier vorbeikommen und mich abholen? Dann kann ich wenigstens etwas trinken«, sagte Mone. In diesem Moment nieste der Mann neben ihr. Am anderen Ende des Telefons war es sehr still geworden.
»Jessy?«, fragte Mone, während sie ihm einen bösen Blick zuwarf. Entschuldigend hob er die Schultern und suchte in seiner Hose, die vor dem Bett lag, nach Taschentüchern.
»Sag mir nicht, dass das mit euch immer noch geht«, zischte Jessy plötzlich mit einer Schärfe, die Mone sonst nur von Hanne kannte.
»Das geht dich nichts an, hörst du«, schoss Mone zurück, doch ihre Stimme zitterte und verriet, dass sie sich ertappt fühlte.
»Du bist alt genug, und ich bin wahrscheinlich die Letzte, die sich über irgendwen ein Urteil erlauben darf. Aber ihr tut auch anderen Menschen weh.«
Mone rollte die Augen. Jessys Worte trafen sie, doch das würde sie keinesfalls zugeben.
»Hol mich nachher einfach ab, okay?«, sagte sie barscher als beabsichtigt, dann drückte sie das Gespräch weg. Sie ließ sich in das noch warme Bett zurückfallen und starrte an die Decke. Auch er hatte sich wieder hingelegt und zog sie zurück in seine Arme, während seine Hand besitzergreifend ihre nackte Brust bedeckte.
»Ich muss gleich gehen«, flüsterte er. »Zum Frühstück muss ich zu Hause sein.«
Sie schluckte. Sie hasste den Gedanken, wieder allein zu sein, aber Jessys Worte hatten sie auch an ihr schlechtes Gewissen erinnert, das sie sonst erfolgreich verdrängte. Sie hatte kein Anrecht auf den Mann, der in ihrem Bett lag. Er gehörte einer anderen Frau – präziser, ihrer großen Schwester.
Sie blickte ihrem Schwager unsicher in die Augen. »Ich weiß nicht, ob wir weitermachen sollten.«
Er schlang spielerisch eine ihrer Locken um die Finger.
»Ich weiß es auch nicht. Aber es fühlt sich zu gut an, um es zu beenden«, befand er nach einer kleinen Ewigkeit und ließ die Locke nun über seine Handfläche gleiten.
»Ich hasse es, ihr jeden Sonntag gegenüberzusitzen und so zu tun, als wären wir eine ganz normale, glückliche Familie.«
Er sah zur Wand und schwieg. Mone drehte sich von ihm fort und seufzte. Allein schon deshalb könnte sie sich nie in Joachim verlieben. Er war ein netter Kerl, aber er hatte kein Rückgrat. Er hatte weder den Mut, seine Familie zu verlassen, noch zu ihr zu stehen. Auch vermutete Mone, dass ihr Schwager noch immer Gefühle für ihre Schwester hegte. Das Wort Trennung war nie gefallen. Und Hanne war ja auch eine tolle Ehefrau und Mutter. Ihr Haus war immer perfekt aufgeräumt und sauber bis in die kleinste Ecke. Morgens hingen sowohl Joachims Anzüge als auch die Sachen der Jungs schon gewaschen und gebügelt zum Anziehen bereit, während in der Küche frisches Obst, Saft, selbst gebackenes Brot und selbst gemachte Marmelade warteten. Allerdings, so hatte ihr Joachim anvertraut, war die Leidenschaft irgendwann auf der Strecke geblieben. Für Hanne drehte sich alles nur noch um die Kinder. Sie hatte damals, bei ihrer ersten Schwangerschaft, ihren Job als Innenarchitektin aufgegeben, um sich mit ganzem Herzen der Mutterschaft zu widmen. Wenn Joachim abends von der Arbeit kam, gab es für ihn nicht mehr viel zu tun. Das Essen stand bereit, das Haus war ordentlich, die Kinder schliefen – und Hanne meist mit ihnen.
Eines Tages, als Mones Mann Robert wieder auf einem Auslandseinsatz war, hatte Joachim sie nach einem Sonntagsessen nach Hause gefahren und sich alles von der Seele geredet.
»Ich habe nicht eine Windel gewechselt in all den Jahren, und nicht, weil ich es nicht wollte. Es war nicht nötig. Hanne wollte immer alles allein hinbekommen und hat meine Hilfe abgelehnt«, hatte er Mone sein Herz ausgeschüttet. So sei er immer weiter an den Rand dieser kleinen, heilen Welt gerutscht und hätte dabei nicht nur seine Gefühle für Hanne verloren, sondern auch jegliche Bindung zu den Jungs.
Mone hatte ihm still zugehört. Seine Worte hatten eine Stelle in ihrem Herzen berührt, an der sie ihre eigene Einsamkeit verschlossen hielt, und so hatte sie sich aus einem Impuls heraus zu ihm hinübergebeugt und ihn geküsst. Damit hatte alles angefangen.
Mones Gedanken wanderten zu ihrem Mann. Robert war Personenschützer bei der Bundeswehr und befand sich im Moment einmal mehr im Ausland. Sein siebter Einsatz, seit sie vor achteinhalb Jahren geheiratet hatten. Dieses Mal war er in Kabul stationiert. Sie skypten ein paar Mal die Woche. Sie konnte in seinen Augen sehen, dass er ausgebrannt war. Sie waren leer und straften seine Worte Lügen, dass es ihm gut gehe und alles in Ordnung sei. Wenn er zwischen den Einsätzen zu Hause ankam, war er fahrig und nervös. Ein Spaziergang mit ihm glich einem Tanz über ein Minenfeld. Seine Augen suchten jeden Zentimeter Weg im Vorhinein ab, seine Hand schnellte zu seiner Hüfte, nahm er eine für ihn nicht einzuordnende Bewegung wahr. Griff sie dort ins Leere, traten Schweißperlen auf seine Stirn. Nachts hatte er Albträume und warf sich unruhig hin und her. Nähe konnte er schon lange nicht mehr zulassen, aber Hilfe lehnte er ab. Über viele Dinge durfte er ohnehin nicht mit ihr reden, weshalb er sich immer mehr abkapselte. Und so breitete sich das Schweigen zwischen ihnen aus. Mone verstand deshalb sehr gut, wie Joachim sich fühlte. Es tat weh, wenn der eigene Partner einen aus seinem Leben ausschloss.
In einer Woche würde Robert heimkehren. Sie wären wieder wie zwei Tiger, die man in einen Käfig gesperrt hatte, bis zu seinem nächsten Einsatz. Wie lange das noch so gehen sollte, wusste Mone nicht. Zwar liebte sie Robert noch, aber das reichte nicht mehr aus. Möglicherweise hätte sie ihn verlassen, wenn Joachim ebenfalls diesen Schritt wagen würde. Sie waren nicht perfekt füreinander, doch es war besser, als allein zu sein. Aber das würde nicht geschehen. Und so nutzten sie die wenigen Wochen, in denen Robert fort war, um sich gegenseitig Trost und etwas Ablenkung zu geben. Mehr war es nicht, obwohl sie sich manchmal wünschte, dass er einen Funken in ihrem Inneren entfachen und zum Leuchten bringen könnte.
Das hatte aber bislang nur Robert geschafft, auch wenn diese Zeiten für immer vorbei zu sein schienen. Sie betrachtete Joachim nun aus dem Augenwinkel. Er lag neben ihr und starrte blind an die Decke. Grundsätzlich war er ein attraktiver Mann, wenn er auch nicht wirklich Mones Typ war. Dazu war er zu weich, seine Gesichtszüge hatten fast etwas Feminines. Er war deutlich kleiner als Robert und auch weniger muskulös. In seinem dunklen Haar zeigten sich erste graue Strähnen, und er hatte in den vergangenen Jahren einen leichten Bauchansatz bekommen. Hanne mit ihrer burschikosen Schönheit passte perfekt zu ihm, schoss es Mone durch den Kopf. Beim Gedanken an ihre Schwester verspürte sie erneut ihr schlechtes Gewissen. Es verursachte ein Flattern in ihrer Magengrube, als würde sich ein lebendiges Wesen darin zu befreien versuchen.
»Geh besser, dann kannst du gleich Brötchen für euer Frühstück holen und die Jungs wecken«, schlug sie vor und drehte sich von ihm fort.
»Ist gut, wir sehen uns ja nachher.«
»Ja, wie an jedem verdammten Sonntag«, sagte sie bitter.
Jessy starrte noch einige Sekunden lang auf das Telefon, das nun stumm in ihrer Hand lag. Ihre Schwester hatte einfach aufgelegt. Sie schnaubte kurz und überlegte, ob sie noch einmal anrufen sollte. Doch was hätte das gebracht? Mone und Joachim waren erwachsen, und auf sie, die kleine Schwester, würde ohnehin niemand hören. Sie stand auf und fing an, in einem Wäscheberg nach noch halbwegs passabler Kleidung zu wühlen. Ihre Gedanken wanderten dabei zu Hanne. Dort würden sich gleich alle gegenübersitzen. In ihrem wunderschönen Garten, der ihr wunderschönes altes Bauernhaus mitten in der grünen Vorstadtidylle umgab. Jessy fühlte sich stets eingeschüchtert von der Perfektion dort. Hannes Welt war so fern von ihrer, als würden sie einer anderen Spezies angehören. Bei Jessy gab es nur ihr stets unaufgeräumtes kleines Apartment. Ihr Kühlschrank hatte an den meisten Tagen nicht mehr zu bieten als heute, und ihre Lust, sich die eigene Unvollkommenheit im strahlenden Schein der Makellosigkeit ihrer Schwester vor Augen führen zu lassen, tendierte wie immer in letzter Zeit gen null.
Allerdings war das sonntägliche Essen eine Tradition, ein Fixpunkt in der wöchentlichen Routine und eigentlich alles, was sie als Familie noch verband. Da ihre Mutter durch die Depressionen und die Alkoholabhängigkeit kaum noch am Leben teilnahm, war es Hanne wichtig gewesen, den Schwestern Halt und Wärme zu geben, als sie – mit schlechtem Gewissen – damals für ihr Studium auszog. Die ersten Familienessen hatten in ihrer Ein-Zimmer-Studentenbude stattgefunden. Sie saßen auf alten Stühlen, die Hanne vom Flohmarkt hatte, und benutzten das wild zusammengewürfelte Geschirr. Trotzdem hatten Jessy und Mone die Sonntage geliebt. Sie redeten und aßen und hatten für ein paar Stunden das Gefühl, eine Einheit zu sein. Selbst ihre Mutter hatte sich für die Sonntage aufgerafft, geduscht und sich mit dem Trinken zurückgehalten. Auch wenn sie meist still und gedanklich scheinbar abwesend dabeisaß.
Später, nach Hannes Heirat, verlagerten sie die Treffen. Sie und Joachim hatten einen alten Bauernhof in einem kleinen Dorf in der Provinz gekauft, etwa eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Die Welt hier war so anders als Jessy sie aus der grauen, von Beton und Stein dominierten Großstadt kannte. Endlose Felder schmiegten sich in die hügelige Landschaft, im Sommer summten die Bienen, und die Vögel sangen, es roch nach Klee, Heu und Erde. In dem kleinen Dorf kannte jeder jeden, und noch bevor Hanne und Joachim den Schlüssel zu ihrer neuen Immobilie in den Händen hielten, hatten sie schon diverse Einladungen zu den Nachbarn oder zum jährlichen Weinfest bekommen. Die beiden hatten das Haus aufwendig renoviert und mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet. Bei schönem Wetter fanden die sonntäglichen Treffen draußen an einer langen Tafel statt, die Hanne im Innenhof des U-förmig angeordneten Gehöfts aufbaute. Bei Regen saßen sie im Wintergarten, der den Blick auf den angrenzenden Wald freigab, von wo aus man sogar manchmal Rehe und Hasen beobachten konnte.
Aber dann war Mones Ehe in Schieflage geraten, und auch bei Hanne und Joachim schien es nicht gut zu laufen, sodass den wöchentlichen Familientreffen plötzlich etwas Gezwungenes, Aufgesetztes anhaftete. Und dann hatte Jessy vor ein paar Wochen Mone und Joachim quasi in flagranti erwischt. Sie hatte jemanden zum Reden gebraucht und war zu Mone gefahren, von deren Apartment sie einen Schlüssel besaß. Weil Jessy wusste, dass ihr Schwager Robert auf Auslandseinsatz war, nahm sie an, dass auch Mone nichts gegen etwas Gesellschaft haben würde, und so hatte sie sich, beladen mit Schokolade und Rotwein, selbst hineingelassen. Sie sah heute noch die entsetzten Gesichter von Mone und Joachim, die ineinander verschlungen auf dem Sofa gelegen hatten. Jessy hatte Mones panische Rufe ignoriert und fluchtartig die Wohnung verlassen. Am nächsten Tag war ihre Schwester zu ihr gekommen und hatte gestanden, dass sie seit Längerem ein Verhältnis hatten. Jessy war zunächst wütend gewesen und hatte Mone für ein paar Tage gemieden, doch außer ihrer mittleren Schwester hatte sie niemanden auf der Welt, der ihr nahestand. Ihre Mutter wurde immer absonderlicher, und zu Hanne hatte sie nie eine so enge Bindung gehabt. Sie war mehr Mutterersatz als Schwester oder Freundin, und seit ihre Neffen auf der Welt waren, drehte sich bei Hanne ohnehin alles um die Kinder. Deshalb hatte sie sich mit Mone versöhnt, obwohl sie die Affäre immer noch missbilligte und inständig hoffte, die beiden würden zur Vernunft kommen und es beenden. Die Sonntage blieben von diesen Spannungen natürlich nicht verschont, trotzdem brachte es niemand übers Herz, mit dieser Tradition zu brechen.
Jessy blickte auf die Uhr. Vor lauter Grübelei hatte sie die Zeit vergessen. Sie musste Mone mit dem Salat abholen, von dem ohnehin jeder wusste, dass sie ihn nicht zubereitet hatte. Sie zog einen Sweater und eine Jeans aus dem Wäschehaufen, sie hatte beides nur zwei Mal auf der Arbeit angehabt, einmal Tragen würde noch gehen. Sie schnappte sich ihre Tasche, zog die Wohnungstür hinter sich zu, rannte die Stufen hinab und stürmte ins Freie. Nur nicht wieder zu spät kommen, dachte sie, während sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte. Im Wagen blickte sie auf die Uhr. Gut, sie hatte noch Zeit. Doch als ihr alter Renault mit einem Schnaufen zum Leben erwachte, stellte sie genervt fest, dass die Tankanzeige bereits auf Reserve stand. Das rote Warnlicht leuchtete, und ihr fiel ein, dass das auch gestern schon der Fall gewesen war. Mit dem Rest Treibstoff würde sie nicht sehr weit kommen. Langsam ließ sie ihre Stirn auf das abgegriffene Lederlenkrad sinken. Wieder einmal würden alle darin bestätigt, dass Jessy selbst mit Ende zwanzig ihr Leben nicht im Griff hatte. Nicht einmal pünktlich konnte sie sein. Und dummerweise lieferte sie diesen Vorurteilen immer wieder aufs Neue Nahrung.
Jessy fuhr fluchend mit rot leuchtender Warnanzeige los und musste zunächst die andere Richtung ansteuern, um zu einer Tankstelle zu gelangen. Als sie die nächstgelegene erreichte, schlug sie erleichtert das Lenkrad ein und ließ ihr klappriges Gefährt auf dem Hof vor der Zapfsäule ausrollen. In Gedanken schon bei dem gezwungenen Beisammensein, welches ihr bevorstand, griff sie nach der Zapfpistole. Mechanisch hob sie den Kopf, um auf der Anzeige die Literzahl zu kontrollieren, doch dann fiel ihr Blick auf ihn. Er stand auf der anderen Seite der Zapfsäule vor einem schwarzen Audi und hatte gerade den Tankdeckel zugedreht.
Der Schock hätte nicht größer sein können, wenn der Teufel persönlich vor ihr aufgetaucht wäre. Ihr Körper reagierte sofort: Herzrasen, weiche Knie und ein Gefühl, als würde jemand einen Eisenring um ihre Eingeweide spannen. Sie keuchte und versuchte, ihren zitternden Händen Einhalt zu gebieten. Sie konnte spüren, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, sogar ihre Lippen fühlten sich blass und leer an.
Jessy hatte ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Seit dieser Nacht. Sie starrte ihn immer noch fassungslos an. Er sah, falls das überhaupt möglich war, noch besser aus als damals, stellte sie verdrossen fest. Sie hatte insgeheim gehofft, er wäre mittlerweile übergewichtig und kahlköpfig. Stattdessen waren seine weizenblonden Haare dicht und modisch kurz geschnitten. Um seine beeindruckend blauen Augen herum wurden langsam ein paar Fältchen sichtbar, was ihn reif, jedoch nicht alt aussehen ließ. Sie wusste, dass er damals nach dem Abitur ins Ausland gegangen und dortgeblieben war. Sie war deshalb nicht darauf vorbereitet, ihn zu sehen, leibhaftig, nah, real.
»Hey, Mädchen, da läuft ja alles daneben.«
Erst, als sie die fremde Stimme eines hinter ihr wartenden Autofahrers vernahm, bemerkte sie, dass ihr das Benzin über die Hände floss. In diesem Moment sah er sie auch. Seine Augen waren von der Pfütze Treibstoff unter ihr hochgewandert und hingen nun an ihrem Gesicht. Es dauerte einen Moment, seine Stirn zog sich überlegend in winzige Furchen; dann sah sie die Erkenntnis wie eine Kerze aufflackern. Auch er schien nun erschrocken. Seine Pupillen weiteten sich einen Augenblick, sein Atem schien kurz zu stocken. Doch dann hatte er seine Fassung wiedergefunden.
»Mensch, bist du das, Jessy?«, rief er, eine Spur zu heiter.
Sie konnte nichts sagen, ihre Stimmbänder waren wie gelähmt. Sie starrte ihn nur an, immer noch in der Pfütze Benzin stehend, immer noch die blöde Zapfpistole in der Hand. Er räusperte sich.
»Wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt.«
Er beäugte sie, unsicher, abwartend. Jessy rührte sich nicht. Plötzlich kam jemand von hinten und nahm ihr den Schlauch aus der Hand.
»So, Mädchen, falls du das hier noch nie gemacht hast. Das Ding steckt man wieder in die Halterung, dann geht man in dieses Gebäude und muss dann noch bezahlen, kapiert?«
Dem Mann hinter ihr war wohl der Geduldsfaden gerissen.
Dieses eine Mal war sie allerdings froh über die Ungeduld ihrer Mitmenschen, immerhin hatte dieser Fremde sie so aus ihrer Schockstarre befreit. Sie fühlte sich zwar immer noch wie in einem schlechten Traum gefangen, schaffte es aber wenigstens, sich zum Auto zu drehen, mit zittrigen Fingern die Geldbörse aus ihrer Handtasche zu fischen und ihren unwilligen Körper in Bewegung zu setzen. Da er sich noch nicht vom Fleck gerührt hatte, würde sie allerdings an ihm vorbeigehen müssen. Wieder begann ihr Herz zu rasen, und Adrenalin peitschte durch ihre Adern. Du kannst das, sprach sie sich in Gedanken Mut zu. Mit festem Blick auf die automatische Eingangstür der Tankstelle legte sie die wenigen Meter zurück, die ihr wie eine Marathonstrecke vorkamen. Dabei war sie mühsam darauf bedacht, ihn nicht noch einmal anzusehen. Als sie endlich das Innere erreicht hatte, merkte sie, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte, die sie nun mit einem kleinen Keuchen ausstieß. Sie bezahlte, wobei ihre Hände immer noch flatterten wie nervöse Vögel. Zum Glück hatte sie genug Bargeld dabei, ihre Geheimnummer in das kleine Display einzugeben wäre ihr in diesem Moment nicht möglich gewesen.
Das leise Rauschen der sich öffnenden Schiebetür kündigte einen weiteren Kunden an. Sie brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um ihn hinter sich zu spüren. Seine Präsenz füllte immer noch den Raum, jedenfalls für sie. Selbst sein Geruch war ihr noch vertraut. Mit stur geradeaus gerichtetem Blick wollte sie an ihm vorbeimarschieren, als er sanft nach ihrem Ellbogen griff.
»Warte, Jessy, wir haben uns ewig nicht gesehen. Ich …« Unsicher brach er ab. Jessy starrte nun auf seine Hand, die immer noch ihren Arm umschlag, wie auf ein giftiges Insekt. Als er ihren Blick bemerkte, ließ er sie sofort los und trat einen Schritt zurück.
»Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich wollte einfach wissen, wie es dir so ergangen ist in den letzten Jahren.«
Jessy schwieg, sie hätte ohnehin keinen Laut herausgebracht. Statt zu antworten, stürmte sie zum Ausgang, wobei sie ihn mit der Schulter kurz rammte, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Kurz nahm sie den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht wahr, doch sie blieb nicht stehen. Sie erreichte ihren alten Renault, knallte die Tür hinter sich zu, drückte den Knopf herunter, fingerte fieberhaft nach dem Schlüsselbund, der in ihrer Hosentasche steckte, und schaffte es endlich, nach mehreren erfolglosen Versuchen, das Zündschloss zu treffen. Der Motor heulte auf, und der Wagen machte einen Sprung vorwärts, so krampfhaft drückte ihr Fuß auf das Gaspedal. Als sie vom Gelände der Tankstelle fuhr, sah sie ihn noch einmal im Rückspiegel, wie er etwas verloren vor der Tür des Kassenraums stand und ihr nachdenklich hinterherblickte.
»Jessy, hast du mal auf die Uhr geschaut?« Mone wartete bereits mit finsterer Miene im Hausflur, unter dem Arm eine pinke Tupperdose, in der sich vermutlich der Salat befand.
»Ich habe wirklich keine Lust, mir gleich wieder vorhalten zu lassen, dass wir mit unserer Unpünktlichkeit den Tag vermasselt haben. Warum schaffst du es nicht ein Mal, frühzeitig loszukommen, so langsam müsstest doch auch du erwachsen werden. Ich …« Sie stockte. »Was ist denn mit dir los, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen?«
Jessy starrte an ihr vorbei. »Er ist zurück, ich hab ihn eben getroffen.«
Mone brauchte einen Moment, bis Jessys Worte einen Sinn für sie ergaben, doch dann dämmerte ihr, wen ihre Schwester meinte.
»Komm her«, sagte sie leise. Weil sie immer noch die Salatschüssel in den Händen hielt, lehnte Jessy sich nur leicht an ihre Schulter, doch Mone spürte trotzdem, wie sehr sie zitterte. Mistkerl, schoss es ihr durch den Kopf. Damals, nach dem schrecklichen Zwischenfall, war Mone aufgebracht und erschüttert zu Lukas Dankos Haus gefahren und hatte im wahrsten Sinne Sturm geklingelt. Lukas war an der Tür erschienen, blass und mit unsicherem Blick. Er kannte Mone, die zwei Jahre vor ihm ihr Abitur gemacht hatte, und wusste natürlich, dass sie Jessys Schwester war.
»Du mieses Schwein, sie hat heute Nacht versucht, sich umzubringen wegen dem, was du und deine Freunde ihr angetan habt. Bist du jetzt zufrieden?«
Sie hatte ihn geschubst, zweimal, dreimal, bis sie ihn in den Hausflur zurückgedrängt hatte. Seine Augen waren weit aufgerissen und blickten sie verständnislos an. »Was?«, hatte er tonlos gefragt, nachdem sie von ihm abließ.
»Du hast richtig gehört. Sie hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ich würde dich am liebsten anzeigen, aber Jessy hat mich angefleht, niemandem den Grund zu sagen, warum sie es tun wollte. Ich habe es ihr versprechen müssen. Dafür wirst du mir jetzt versprechen, ihr nie wieder zu nahe zu kommen. Nie wieder!«