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Ein Schicksalsschlag stürzt drei deutsche Auswanderer in eine Krise, doch die Freunde kämpfen für ihr Glück …
New York 1904: Eine Tragödie versetzt die Stadt in Aufruhr und verändert das Schicksal der vier deutschen Auswanderer, die sich in New York ein neues Leben aufgebaut haben: Als beim Untergang eines Ausflugsdampfers zahllose Menschen im East River ertrinken, ist unter den Opfern auch die Auswanderin Rosie. Während ihr Mann Simon in eine tiefe Krise stürzt und sich kaum noch um sein Lebenswerk, die Zeitung Morning Herald kümmert, vergräbt sich Rosies Cousine Marga in ihre Arbeit als Journalistin. Mit verbissenem Ehrgeiz will sie den Herald retten, worüber schließlich sogar ihre Ehe mit dem Fotografen Nando zu zerbrechen droht. Werden die drei es schaffen, ihren Herzen zu folgen, um am Ende doch noch ihr Glück zu finden?
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Seitenzahl: 503
Veröffentlichungsjahr: 2024
New York 1904: Eine Tragödie versetzt die Stadt in Aufruhr und verändert das Schicksal der vier deutschen Auswanderer, die sich in New York ein neues Leben aufgebaut haben: Als beim Untergang eines Ausflugsdampfers zahllose Menschen im East River ertrinken, ist unter den Opfern auch die Auswanderin Rosie. Während ihr Mann Simon in eine tiefe Krise stürzt und sich kaum noch um sein Lebenswerk, die Zeitung Morning Herald kümmert, vergräbt sich Rosies Cousine Marga in ihre Arbeit als Journalistin. Mit verbissenem Ehrgeiz will sie den Herald retten, worüber schließlich sogar ihre Ehe mit dem Fotografen Nando zu zerbrechen droht. Werden die drei es schaffen, ihren Herzen zu folgen, um am Ende doch noch ihr Glück zu finden?
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Sonja Roos
Zukunft
Roman
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Originalausgabe August 2024
Copyright © by Sonja Roos 2024
Copyright © dieser Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Richard Jenkins; ullstein bild / Süddeutsche Zeitung; FinePic®, München
Redaktion: Ele Zigldrum
ES · Herstellung: ik
Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30089-0V001
www.goldmann-verlag.de
»Wo Liebe ist, wird das Unmögliche möglich.«
Buddha
New York, 15. Juni 1904
Die Hitze staute sich an diesem Morgen in den engen Gassen der Lower East Side wie in einem Brutofen. Rosie war bereits nass geschwitzt. Ihr gutes Kleid klebte ihr unangenehm am Rücken, und unter ihren Armen hatten sich Schweißflecken auf dem taubenblauen Seidenstoff gebildet. Ihr schweres Haar kräuselte sich zudem in ungebändigten Locken unter der Krempe ihres modischen Strohhuts hervor. Sie hätte alles dafür gegeben, jetzt in ihrem schönen Haus in Yorkville zu sein, eine kühle, von Mrs. Taylor selbst gemachte Limonade zu schlürfen und dabei in einer Zeitschrift zu blättern. Doch sie hatte Johanna versprochen, auf diesen Ausflug mitzukommen, weshalb sie nun in aller Herrgottsfrühe hinter ihrer alten Freundin und Vertrauten herlief.
Ausgerechnet eine Bootstour. Während Rosies Füße in den hohen Schnürstiefeln bei jedem Schritt wie Feuer brannten, war es in ihrem Herzen bei dem Gedanken daran, auf ein Schiff gehen zu müssen, eiskalt. Schon als sie vor so vielen Jahren auf dem Auswandererschiff Bohemia nach New York gekommen war, hatte sie eine Abneigung dagegen entwickelt, auf dem Wasser sein zu müssen. Das hing auch mit den Umständen zusammen, unter denen ihr verhasster Stiefvater damals ums Leben gekommen war. Noch heute bereitete ihr diese verfluchte Nacht Albträume. Xaver Hubert hatte sie nach dem Tod ihrer geliebten Mutter misshandelt und missbraucht, hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht und ihr auf der Überfahrt an Deck in einer sturmumtosten Nacht offenbart, dass er gedachte, sie in der Neuen Welt zur Frau zu nehmen. Rosie hatte sich mit Händen und Füßen gegen ihn gewehrt, sodass er während des Gerangels über Bord ging. Jahrelang hatte sie sich Vorwürfe gemacht und sich die Schuld gegeben. Nur langsam hatte sie akzeptieren können, dass er das Unglück selbst herbeigeführt hatte, betrunken und gewalttätig, wie er nun mal gewesen war. Trotzdem riefen Schiffe all die Dämonen, die sie so sorgfältig in einer dunklen Ecke ihres Herzens versperrt hielt, an die Oberfläche.
Sie seufzte schwer, was Johanna, die neben ihr herlief, als ob die Sonne nicht erbarmungslos auf ihr schwarzes Taftkleid brennen würde, missinterpretierte.
»Nun stöhn’ nicht so, wir sind gleich da«, sagte sie und schenkte ihr ein Lächeln, das zwischen Mitleid und Tadel angesiedelt war. Ihrem forschen Gang nach zu urteilen, machte ihr die Hitze wohl wirklich nichts aus. Vielleicht aber war es auch die Tatsache, dass Johanna Reverend George Haas nicht warten lassen wollte, den sie glühend verehrte.
Fay zappelte unruhig an Rosies Hand und riss sie damit aus ihren Gedanken. Im Gegensatz zu ihr freute sich ihre Tochter schon seit Tagen auf den Ausflug, der sie zum Erholungspark Locust Grove am Long Island Sound bringen sollte, wo ein großes Picknick geplant war.
»Siehst du es schon, Mommy? Das Schiff, siehst du es schon?«, fragte Fay aufgeregt und beschirmte die Augen mit ihrer kleinen Hand, um vielleicht einen Blick auf den altehrwürdigen Raddampfer zu erhaschen. Eine fast schmerzhafte Welle der Liebe durchströmte Rosie beim Anblick ihrer Kleinen, die sie so heftig erfasste, dass sie sich unbewusst ans Herz griff. Wie bezaubernd Fay war mit ihren sturmgrauen Augen, die sie von Simon geerbt hatte, ihrem herzförmigen Gesichtchen und den dunklen Locken, die Rosie ihr mitgegeben hatte.
»Liebling, das hier ist die Bowery, wir sind gerade erst an Johannas Kirche vorbeigekommen, noch kann man nicht einmal den East River sehen«, erklärte sie liebevoll, was Fay mit ernstem Nicken anerkannte.
»Jetzt rennt’s halt net so, desch is doch kei Wettlauf«, schnaufte Gundel hinter ihnen und sprach damit aus, was Rosie dachte. Die Freundin hatte heute zur Feier des Tages die Küche in ihrem Boardinghaus geschlossen, um Rosie, Fay und Johanna begleiten zu können. Rosie hatte die alte Vermieterin damals bei ihrer Ankunft in den Staaten gleich ins Herz geschlossen – und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Sie warf Gundel ein verschwörerisches Zwinkern zu, was diese mit einem grimmigen Blick gen Johanna quittierte. Diese blieb jedoch gnadenlos.
»Pünktlichkeit ist eine Tugend Gottes, Gundel, und wir machen diesen Ausflug auch zu Ehren des Herrn«, befand sie spitz und legte noch eine Spur zu, sodass ihre langen Röcke nicht nur raschelten, sondern auch eine dicke Staubwolke aufwirbelten, während sie eilig die Straße überquerte. Fay kam mit ihren kurzen Beinen kaum hinterher, weshalb Rosie stehen blieb, um sich ihre Vierjährige auf die Hüfte zu setzen, damit sie mit Johannas vorgegebenem Tempo Schritt halten konnten. Sie passierten die 14th Street, wo endlich ein kühler Wind vom Wasser her wehte und der Fluss am Ende der Straße in Sicht kam. Johannas Schritte beschleunigten sich noch einmal, um rechtzeitig am Ufer des East Rivers anzukommen, wo die General Slocum am 3rd Street Pier auf sie wartete. Der Schaufelraddampfer der Knickerbocker Steamship Company war 1891 vom Stapel gelaufen und galt damals als das größte und glanzvollste Ausflugsboot New Yorks. Mittlerweile war die General Slocum in die Jahre gekommen, die Teppichböden verblasst und abgetreten, der Samt, mit dem die Stühle bezogen waren, verschlissen, und das Holz des 76 Meter langen und 1300 Tonnen schweren Kolosses vom Wasser des East River malträtiert und nur notdürftig mit Farbe überpinselt, um den Anschein des vergangenen Luxus aufrechtzuerhalten. Trotzdem hatte es die St. Marks Church 350 Dollar gekostet, das Boot für den jährlichen Ausflug zum Sonntagsschuljahresende für die Gemeindemitglieder zu chartern.
»Schau, Mommy, eine Möwe«, sagte Fay und wand sich in ihrem Arm, um besser in den wolkenlosen Himmel sehen zu können, der sich stahlblau über den East River spannte. Atemlos nickte Rosie, die mittlerweile völlig außer Puste war. Am Pier wimmelte es bereits von Menschen. Johanna hatte ihr erzählt, dass es in diesem Jahr 1388 Anmeldungen für den Ausflug gegeben hatte. Da es ein Mittwochmorgen war, hatten sich vornehmlich Frauen und Kinder eingefunden, die meisten, wie sie selbst, im guten Sonntagsstaat mit schweren Röcken, hohen Stiefeln und Hüten, die vor der erbarmungslos niederbrennenden Sonne schützen sollten. Kinder wuselten umher, spielten Fangen und Verstecken zwischen den ausladenden Kleidern ihrer Mütter und Großmütter. Gelächter und Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr. Rosie spürte, wie trotz ihrer Anspannung ein Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte. Die aufgeregte Vorfreude, die die Gemeinde erfasst hatte, übertrug sich nun trotz allem ein wenig auf sie. Sie blieb kurz stehen, um Fay abzusetzen, die wie ein Gummiball neben ihr auf und ab hüpfte, während sie staunend den riesigen Raddampfer in Augenschein nahm. Auf dem Fluss herrschte wie immer reges Treiben. Schuten, Leichter, Tender und Schlepper waren bereits mit Fracht, Mann und Maus unterwegs, während die Slocum, benannt nach einem berühmten Südstaatengeneral, noch auf Passagiere wartete.
»Und uns kann sicher nichts geschehen auf dem Schiff?«, fragte Fay plötzlich beklommen. Ihr Kinn zitterte und ihre kleine Hand schob sich ängstlich in Rosies große. Bevor sie antworten konnte, war jedoch Johanna wieder neben ihnen aufgetaucht.
»Mein Täubchen, Reverend Haas hat uns versichert, dass Kapitän William Van Schaick ein ganz erfahrener Seemann ist, der die Slocum seit ihrer Jungfernfahrt führt. Erst kürzlich wurde er dafür ausgezeichnet, dass er schon 35 Millionen Passagiere befördert hat. Außerdem ist der liebe Gott mit uns.« Mit diesen Worten ließ sie Rosie und Fay stehen, weil sie den Reverend ausgemacht hatte, der an der Zugangsbrücke stand und eifrig Hände schüttelte. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte Rosie, deren Griff um Fays Hand sich noch einmal verstärkte, damit ihr ihre Tochter in dem Gedränge nicht fortgerissen wurde. Gundel hatten sie in diesem Wirrwarr bereits gänzlich aus den Augen verloren. Viele Passagiere standen schon an Deck und winkten denjenigen, die noch am Pier warteten, um sich in die Schlange einzureihen, die auf den Dampfer führte.
Neben ihr zappelte Fay weiter unruhig herum.
»Mommy, hast du Onkel Nando und Nicky schon entdeckt?« Fragend blickte Fay zu ihr auf. Obwohl Rosie der Schweiß nun in Bächen lief, bückte sie sich und hob ihre Tochter erneut auf, die auf ihren kurzen Beinchen nicht mehr als den Stoff der vielen Kleider hatte sehen können.
Nando war zwar der Mann ihrer Cousine Maggie, trotzdem war er für Fay stets Onkel Nando und Maggie Tante Maggie. Maggies und Nandos Sohn Nicky war zudem so etwas wie Fays Held. Sie liebte ihn und sah zu ihm auf, auch wenn Nicky die ihm zugeteilte Rolle nicht mochte und es meist lästig fand, mit der drei Jahre jüngeren Fay spielen zu müssen. Weil Nando sich die Arbeit in seinem neu eröffneten Fotostudio im Gegensatz zu seiner Frau frei einteilen konnte, hatte er sich ihnen heute zusammen mit seinem Sohn anschließen wollen. Gemeinsam überblickten sie nun die Menge, doch weder Nandos breites Kreuz stach irgendwo heraus noch Nickys schlaksige, kleine Gestalt. Maggie, ganz die leidenschaftliche Reporterin, hatte wegen einer wichtigen Pressekonferenz ebenso auf den Ausflug verzichtet wie Simon. Rosie seufzte leise beim Gedanken an ihren Mann, der zwar die Liebe ihres Lebens war, den sie aber seit jeher mit seiner anderen großen Liebe, der Zeitung, hatte teilen müssen. Simon war Verleger mit Leib und Seele. Alles drehte sich für ihn um den Morning Herald, den er vor acht Jahren gekauft hatte. Binnen dieser kurzen Zeit hatte er mit Leidenschaft und dem Geld, das er nach einem glücklichen Goldfund in Alaska besaß, aus dem heruntergewirtschafteten Blatt die dritterfolgreichste Tageszeitung von New York gemacht – mit Maggies Hilfe, die Reporterin der ersten Stunde war. Die beiden gingen so sehr auf in ihrem Beruf, dass Rosie nicht selten eifersüchtig war. Zumal Simon und Maggie auch einmal die Linie der Freundschaft überschritten hatten. Doch dieser Kuss war lange her, und Rosie ermahnte sich einmal mehr, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Um sie herum begannen die Leute nun, zu schieben und zu drängeln. Die Slocum sollte eigentlich pünktlich um 9.30 Uhr ablegen, doch noch immer standen Wartende an Land. Endlich waren auch Rosie und Fay über die wacklige Zugangsbrücke an Bord gegangen, wo das sachte Schaukeln Rosie daran erinnerte, wie ungern sie den festen Boden unter den Füßen verlor. Mit zehnminütiger Verspätung legten sie endlich ab. Die mitgereiste George-Maurer-Kapelle spielte »Ein feste Burg ist unser Gott« an, während die ersten Mitreisenden sich Bier, Limonade, Eiscreme oder eine Schale Muschelsuppe aus dem sich an Bord befindlichen Speiselokal holten. Der salzige, fischige Geruch, der vom East River aufstieg, begann, sich mit dem der Speisen zu vermischen, was in Rosie leichte Übelkeit auslöste.
»Kann ich auch ein Eis haben?«, bettelte Fay, und Rosie nickte abwesend. Obwohl es ein so warmer Tag war, hatte sie eine Gänsehaut bekommen. Sie wünschte sich von Herzen, dass Johanna sie nicht zu dieser Bootstour überredet hätte, doch nun war es zu spät, das Ufer entfernte sich immer weiter. Rosie schalt sich selbst für ihre Ängste. Sie straffte die Schultern und reckte ihr Gesicht kurz der Sonne entgegen. Es würde schon alles gut gehen, versicherte sie sich, während sie mit Fay an der Hand an Deck stehen blieb, um nach dem langen Fußmarsch den kühlen Luftzug zu genießen, der vom Wasser hochstieg. Sie spürte, wie sie sich etwas zu entspannen begann, als Fay neben ihr irgendwann quengelig wurde. »Ich hab’ Hunger und Durst«, jammerte sie verdrossen. Rosie blickte kurz auf die hübsche Armbanduhr, die Simon ihr zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte, und stellte überrascht fest, dass sie schon 20 Minuten auf dem Wasser waren.
»Dann lass uns mal unter Deck gehen und schauen, ob wir ein Eis für dich bekommen. Vielleicht finden wir da auch Onkel Nando und Nicky.«
Sie waren gerade aus dem gleißenden Licht der Sonne in das schummrige Schiffsinnere getreten, als Rosie die aufgeregte Stimme eines kleinen Jungen hörte. »Mommy, da drüben raucht es ganz schlimm.« Alarmiert sah sie in die Richtung, in die das Kind deutete. Tatsächlich, dunkler Qualm drang unter der Tür eines Laderaums hindurch. Hektische Betriebsamkeit setzte ein, mehrere Mitglieder der Crew drängten sich mit Schläuchen an ihnen vorbei, doch als der Erste die Tür aufstieß, griffen die Flammen bereits wie fordernde Hände nach den holzgetäfelten Wänden des alten Dampfers. Rosie starrte durch die geöffnete Tür in den Laderaum, in dem neben Ölfässern und alten Farbeimern auch Strohballen lagerten. Ein Funke hatte vermutlich gereicht, um all das zu entzünden. Jemand gab das Kommando »Wasser marsch!«, doch mit Entsetzen registrierte Rosie, dass die Schläuche wohl alt und morsch waren, denn sie platzten, und das Wasser sickerte nutzlos durch die mit altem Teppich ausgelegten Holzdielen. Panisch blickte sie sich um, weil sie durch das Knistern und Knacken der Flammen kaum etwas hören konnte.
»Bringt Decken und Sand«, brüllte jemand neben ihr, während andere kopflos mit bloßen Händen Wasser aus den kaputten Schläuchen in den Laderaum schaufelten, das sofort verdampfte. Rosies Herz begann zu rasen. Sie griff Fay, hob sie in ihre Arme und versuchte, zurück an Deck zu kommen, doch Schaulustige versperrten ihr den Weg. Der Rauch brannte bereits in ihrer Lunge, und die Hitze fraß an den winzigen Härchen auf ihrer Haut und in ihrer Nase. Ihre Augen begannen zu tränen, sodass sie kaum ausmachen konnte, wohin sie stolperte. Fay hatte zu weinen begonnen, ein ängstliches Wimmern, das von trockenem Husten unterbrochen wurde.
»Raus, alle raus an Deck«, bellte ein Matrose, was Bewegung in die träge Menge brachte, die schockstarr dem Schauspiel beigewohnt hatte. Rosie spürte, wie sie von der Masse mitgerissen wurde. O lieber Gott, lass uns heil hier rauskommen, flehte sie stumm, während sie versuchte, mit Fay im Arm das Gleichgewicht zu halten. Endlich trat sie wieder ins Freie, wo sie gierig frische Luft in ihren schmerzenden Brustkorb sog. Fay klammerte sich an sie wie die Affenjungen, die sie erst vergangene Woche im Brooklyn Zoo bewundert hatten.
Die Nachricht von dem Feuer hatte sich ebenso schnell ausgebreitet wie die Flammen, sodass auch an Deck von der entspannten Atmosphäre nichts mehr zu spüren war. Angstvoll blickten die Mitreisenden ins Innere des Schiffes, wo die Besatzung weiter einen aussichtslosen Kampf gegen das Feuer ausfocht. Johanna tauchte plötzlich neben ihr auf, gefasst, jedoch umklammerte sie ihre Bibel so krampfhaft, als würde sie sich schon auf das Schlimmste vorbereiten.
»Alles wird gut, ich glaube fest daran, dass Gott uns beschützt«, sagte sie monoton, was ihre zuversichtlichen Worte Lügen strafte. Erste Schreie wurden laut, Kinder weinten, Mütter begannen zu beten, während andere über die Reling gebeugt ins Wasser starrten, vermutlich, um zu überlegen, ob ein beherzter Sprung in voller Montur Rettung oder Untergang bedeuten würde. Rosie schluckte um den dicken Kloß in ihrer Kehle herum. Sie konnte nicht schwimmen, hatte es im Gegensatz zu Maggie nie gelernt. Sie war darauf angewiesen, dass das Schiff schnellstmöglich anlandete. Doch gerade befanden sie sich in dem Abschnitt des East River, den die New Yorker auch Hell Gate, also Höllentor, nannten. Eine Flussenge, in der es viele Untiefen und Stromschnellen gab, weshalb es hier immer wieder zu Schiffsunglücken kam, auch ohne dass erschwerend noch ein Feuer zu bekämpfen war. Mit einem Heulen beschleunigte das Schiff mit einem Mal, sodass Rosie ins Straucheln kam und gegen ein paar Umstehende stieß. Das Deck war jedoch mittlerweile so überfüllt, dass sie wenigstens nicht hinfiel. Angstvoll blickte sie sich nach allen Seiten um, weil sie sehen wollte, ob es Johanna gut ging, doch die Freundin war schon wieder irgendwo in der aufgeregten Menge, die sich um sie herumdrängte, verschwunden.
»Der Kapitän hat Befehl gegeben, zu beschleunigen, damit wir schnellstmöglich North Brother Island erreichen«, rief ein älterer Matrose über die Köpfe der schaudernd aneinandergedrängt stehenden Menschen hinweg. Gemurmel wurde laut, teils hörte es sich hoffnungsvoll an, teils ungläubig.
»Das ist noch über eine Meile, warum landen wir nicht hier an?«, fragte eine ältere Dame, die ihren Rosenkranz nervös durch ihre dünnen Finger gleiten ließ. Rosie blickte zum Ufer, das mit Öltanks gesäumt war.
»Ham’se keine Augen im Kopf, Lady?«, fuhr der Matrose die alte Dame schroff an und eilte dann mit einem Arm voll Seile zum anderen Schiffsende. Rosie sah gerade noch, wie die Dame sich bekreuzigte, bevor sie ohnmächtig zusammenbrach. Erschrocken wollte sie zu der Frau eilen, doch die anderen Mitreisenden standen wie eine Wand vor ihr. Die arme Frau würde ersticken oder am Ende totgetreten werden, wenn ihr niemand aufhalf.
»So tut doch was!«, schrie Rosie. Ein Schrei, der in der Kakophonie der anderen Angstbekundungen ungehört unterging.
»Grundgütiger, ist Van Schaick wahnsinnig geworden? Wenn er weiter die 15 Knoten hält, wird der Fahrtwind aus dem Feuer ein Inferno machen«, prophezeite ein Mann neben ihr, der seine Arme um die schmalen Schultern einer jungen Frau gelegt hatte, die sich die Lippe blutig biss in dem Versuch, Fassung zu bewahren.
Jemand tippte Rosie an und hielt ihr eine Schwimmweste hin. Dankbar wollte sie danach greifen, doch eine etwas ältere Frau vor ihr war schneller und riss ihr die Weste fort.
»Ich kann nicht schwimmen«, blaffte sie, was Rosie ungläubig schnaufen ließ.
»Ich auch nicht, ebenso wenig wie meine kleine Tochter«, fuhr sie die Dame an, die nur mit den Schultern zuckte und sich mit ihrer Beute durch die Menge drängelte. Tränen der Verzweiflung schossen Rosie in die Augen.
»Machen Sie sich nicht allzu viel daraus, der Kork in den Westen ist brüchig, ebenso die Verschlussbänder, sie tragen ohnehin nicht, sehen Sie.« Wieder der Mann neben ihr, der nun mit blassem Gesicht ins Wasser deutete, wo die ersten Menschen Rettung suchten, doch nicht fanden. Der schwere Stoff der Kleider zog sie in die Tiefe, wo ihre Schreie vom Wasser verschluckt wurden. Die nutzlosen Westen trieben wie zum Hohn auf der Oberfläche, nachdem ihre Last abgeladen war.
»Was ist mit den Beibooten?«, fragte Rosie und starrte auf die bunt gestrichenen Rettungsboote am Rumpf der Slocum hinunter.
»Die meisten gehen nicht ab, sind lackiert worden, um den Dampfer aufzuhübschen, dabei wurden sie aber versehentlich festgeklebt.« Ihr allwissender Begleiter klang mittlerweile so hoffnungslos, dass Rosies Panik sich in blanken Horror verwandelte.
»Woher wissen Sie so viel über das Schiff?«, stieß sie zwischen hektischen Schluchzern aus.
»Bin hier Matrose, hab’ heute meinen freien Tag und wollte meine Verlobte ausführen.«
Die junge Frau in seinem Arm hatte nun doch zu weinen begonnen, ihre aufgebissene Lippe bebte.
Die Prognose, dass der Fahrtwind ein Inferno entfachen würde, erwies sich als korrekt, die Flammen leckten mittlerweile überall an dem alten Holz, der Hauptmast brach und begrub schreiende Menschen unter sich, während die Funken Kleider, Hüte und Haare in Brand setzten.
»Auf drei«, sagte der Mann, dann griff er seine Verlobte und warf sie ins Wasser.
»Springen Sie, das ist Ihre einzige Chance«, raunte er Rosie zu, bevor er selbst sprang und untertauchte, um seine Liebste aus den sumpfbraunen Tiefen zu holen. Rosie starrte ihm nach, wobei sich ihr Griff um Fay noch einmal verstärkte. Der Matrose hatte recht. Die Slocum würde es nicht mehr bis North Brother Island schaffen. Sie würden alle bei lebendigem Leib verbrennen. Im Wasser hatte sie vielleicht noch eine Chance. Eine seltsame Ruhe hatte sie erfasst. Ihr Griff um Fay hatte sich kurz gelockert, damit sie sich vorbeugen und ihrer Tochter in das von Ruß und Tränen verschmierte Gesichtchen sehen konnte.
»Mein Schatz, wir müssen auch springen. Du musst dich an mir festhalten und darfst mich auf keinen Fall loslassen. Hast du verstanden?«
Fays sturmgraue Augen starrten sie glasig an, doch sie nickte.
Rosie trat auf die Reling zu und suchte das Wasser nach einer Stelle ab, die vielleicht weniger tief und gefährlich aussah. Doch egal, wohin sie blickte, sah sie offene Münder und rudernde Arme in den fordernden Wellen verschwinden. Da machte sie plötzlich ein Stück Mast aus, an das sich bereits einige Frauen und Kinder klammerten.
»Siehst du den Mast? Da müssen wir hin«, entschied sie und drängelte sich an den Passagieren vorbei, die neben ihr die Reling immer noch unentschlossen säumten. Wieder knackte es, und die Schreie wurden noch einmal lauter, dann ging ein Ruck durch das gesamte Schiff, der Rosie und die anderen Hilfesuchenden ins Straucheln brachte. Während ihre eine Hand Fay umklammerte, griff sie schnell nach dem Holz der Reling, um auf den Beinen bleiben zu können. Die altersschwache Slocum war in der Mitte auseinandergebrochen. Es gab kein Zurück mehr, an Bord würden sie ohnehin sterben. Ein letztes Mal wanderten ihre Augen suchend über die Umstehenden, doch sie konnte weder Johanna noch Gundel ausmachen. Sie spürte, wie Verzweiflung sie übermannen wollte, aber der Gedanke an Fay gab ihr Kraft. Ihre Tochter an sich gepresst, kletterte sie ungelenk über das Geländer, wo sie sich noch einen Augenblick festhielt. Mit einem tiefen Atemzug, der Rußpartikel und Rauch in ihre Lunge katapultierte, sprang sie. Der Aufprall war merkwürdig gedämpft durch ihren Reifrock, der sich jedoch schnell mit Wasser vollsog und sie in die Fluten zerrte.
Fay umklammerte ihren Hals zudem so fest, dass sie kaum Luft bekam. Panisch begann Rosie, mit den Armen zu rudern. Wasser spritzte ihr ins Gesicht, lief ihr in Mund, Nase und Ohren, während ihr Kopf unter die Oberfläche geriet und wieder nach oben kam. Sie keuchte und hustete, spuckte Flusswasser, bevor sie erneut untertauchte. Irgendwie schaffte sie es trotzdem, dem Mast näher zu kommen. Verzweifelt strampelte sie, kämpfte mit all ihrer Kraft gegen ihre Angst, ihre Erschöpfung, gegen die nasse Kleidung und gegen die Schmerzen in ihrer Brust und in ihrem linken Bein, mit dem sie unter Wasser gegen etwas Hartes, Spitzes gestoßen war. Entsetzt merkte sie, wie sich Fays Griff um ihren Hals lockerte.
»Halt durch, halt dich fest«, befahl sie, eisern mit allen Elementen und dem Schicksal ringend.
Irgendwie bekam ihre Hand das Holz des Mastes zu greifen. Eine Frau streckte den Arm aus, war jedoch zu weit entfernt, um Rosie oder Fay zu erreichen.
»Helfen Sie meinem Kind«, schrie sie mit letzter Kraft, wobei sie schon Fays schmalen Arm mit der freien Hand griff und aus der Umklammerung lockerte.
»Mommy«, wimmerte Fay und wollte sich wieder an sie krallen, doch Rosie schüttelte den Kopf. Noch einmal holte sie alle Reserven aus sich heraus und schleuderte Fay von sich, die strampelnd den Mast erreichte. Die Frau hatte sich langsam zu ihr vorgearbeitet, griff Fay am Rücken ihres guten weiß-blauen Matrosenkleidchens und zog sie weiter auf das Holz.
Ihr Kind war in Sicherheit. Rosie formte erleichtert ein tonloses Danke, bevor ihr Kopf endgültig in den gierigen Schlund des East River sank.
15. Juni 1905 Genau ein Jahr später
Maggie betätigte ungeduldig den löwenkopfförmigen Türklopfer, doch von innen waren immer noch keine Schritte zu hören. Sie wusste, dass Simons Butler Brooks ein paar Tage freigenommen hatte, um am Begräbnis seines Bruders in Minneapolis teilzunehmen. Und weil es noch vor zehn Uhr war, waren vermutlich weder das Hausmädchen Susanna noch die Köchin Mrs. Taylor schon zum Dienst erschienen. Doch Simon sollte daheim sein, denn er hatte bereits in aller Frühe im Herald angerufen und Ennis wissen lassen, dass er heute nicht in die Redaktion kommen würde. Mit Blick auf das Datum waren natürlich alle Alarmglocken bei Maggie angegangen. Sie hatte mehrfach versucht, ihn ans Telefon zu bekommen, doch ihre Anrufe waren unbeantwortet geblieben.
»Fahr besser und sieh nach ihm. Er klang gar nicht gut eben«, hatte Ennis ihre Sorge noch befeuert, sodass sie alles hatte stehen und liegen lassen und mit einer Mietdroschke nach Yorkville geeilt war. Hier war sie nun und schlug mit dem protzigen Türklopfer vor Sorge fast ein Loch in das Holz.
»Simon, ich weiß, dass du da bist«, rief sie und schüttelte ihre Hand aus, die müde geworden war von der hämmernden Bewegung. Doch nichts als Stille antwortete ihr.
Was, wenn …?
Panisch schob sie den Gedanken beiseite. Er hatte Fay, er würde sich nichts antun, er konnte seine Tochter nicht zur Waise machen. Endlich hörte sie, wie über ihr ein Fenster geöffnet wurde. Fays blasses Gesicht erschien in der Öffnung.
»Hallo, Tante Maggie«, sagte sie leise.
Erleichterung durchflutete sie. »Hallo, Engelchen, wo ist dein Daddy?«, fragte sie und bemühte sich, heiter zu klingen. Doch Fay hatte feine Antennen, ihre junge Stirn zog sich sofort in Falten, während ihre Augen sich verdunkelten.
»Er hat gesagt, er will schlafen, aber er schläft jetzt schon lange. Denkst du, dass er noch mal aufwacht?« Die monoton geäußerte Frage schickte Maggie eine Gänsehaut über die Arme. Ihr Herzschlag beschleunigte sich akut. »Sicher, Schätzchen, sicher, aber nun komm herunter und lass mich rein.« Maggie versuchte gar nicht mehr, ihre aufkeimende Panik in Schach zu halten. Das Fenster schloss sich leise, dann hörte sie eine Zeit lang nichts, bis sich plötzlich der Schlüssel in dem schweren Schloss drehte und die Tür knarzend aufgezogen wurde. Es zerriss Maggie das Herz, als sie Fays schmale Gestalt so verloren und unschlüssig in der weitläufigen Halle der Stadtvilla stehen sah. Sie schien sich heute selbst angekleidet zu haben, denn die Schürze über ihrem Hauskleid war schief gebunden, und ihre dunklen Zöpfe waren ungekämmt. Die weißen Bänder an jedem Ende hatte sie verknotet, statt sie zu Schleifen zu binden. Maggie trat ein und strich ihrem Patenkind sanft über den Schopf, bevor sie den Blick durch den Flur wandern ließ.
»Wo ist dein Daddy?«, fragte sie, nachdem außer Fays flachem Atem kein weiteres Lebenszeichen im Haus zu hören war. Die Kleine wies mit ausgestrecktem Arm auf die große Flügeltür, die Halle und Salon trennte.
»Ich werde mal nachsehen, du wartest hier«, befahl Maggie mit zitternder Stimme. Sie holte tief Luft, um sich zu wappnen, dann schob sie die Türen auf und starrte in den verdunkelten Raum. Die abgestandene, sauer riechende Luft traf sie wie ein Faustschlag. Als ihre Augen sich an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, machte sie ein Paar Schuhe am Boden aus, die hinter dem wuchtigen Ledersofa hervorlugten.
»Ich hab’ eben versucht, ihn zu wecken, aber er hat die Augen gleich wieder zugemacht.« Fay war ihr trotz der Anordnung gefolgt. Sie klang nun so ängstlich, wie Maggie sich fühlte.
»Fay, warte im Flur auf mich«, flehte Maggie erneut, doch das Kind schob mit Tränen in den Augen das Kinn nach vorn, während ihre unordentlichen Zöpfe bei ihrem vehementen Veto hin und her flogen. Geschlagen nickte Maggie. Sie strich Fay kurz über die Wange, dann umrundete sie das Sofa und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Simon lag lang ausgestreckt auf dem teuren Perserteppich. Die eine Hand umklammerte eine herausgerissene Zeitungsseite, die andere eine leere Flasche Bourbon. Sein Kopf war zur Seite gefallen, Speichel und Erbrochenes verklebten seinen ohnehin ungepflegten Bart, der Rest seines Mageninhalts hatte einen trüben See auf dem bunt gemusterten Teppich gebildet. Fay schluchzte kaum vernehmlich hinter ihr. Maggie fuhr herum und zog die Kleine eilig in ihre Arme. Der Anblick ihres Vaters musste mehr als verstörend für sie sein. Das arme Kind, als ob es im vergangenen Jahr nicht genug mitgemacht hätte. Wut stieg in Maggie auf und überdeckte die Sorge. Es war nicht so, dass sie Simons Trauer nicht verstand. Im Gegenteil, sie spürte sie ebenso, Tag für Tag. Ein Schmerz, der nie abebbte, der immer irgendwo lauerte, selbst wenn sie kurz vergaß, dass einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben nicht mehr da war. Aber er hatte eine Tochter, die ihn brauchte. Er konnte sich nicht so feige und gedankenlos aus dieser Verantwortung stehlen. Sie zog Fay mit sich, bis sie wieder im Flur standen, wo Maggie einen tiefen Atemzug nahm, weil der Geruch im Wohnzimmer ihr Übelkeit verursacht hatte.
»Ich kümmere mich jetzt um deinen Daddy, mein Schatz. Geh du in die Küche. Mrs. Taylor kommt sicher gleich. Sie soll einen starken Kaffee aufbrühen und dir ein gutes Frühstück machen.« Sie drückte der Kleinen einen Kuss auf das dunkle Haar, das sie so sehr an Rosie erinnerte, dann schob sie Fay vor sich her Richtung Küche, wo sich gerade glücklicherweise die Hintertür öffnete und damit das Kommen der Köchin ankündigte.
»Schau, da ist sie schon«, befand sie fröhlich. Fay ging zwar gehorsam auf die Küche zu, aber anhand ihrer steifen Haltung konnte Maggie sehen, dass der Vorfall sie zutiefst erschüttert hatte. Kein Wunder, die Kleine hatte das Trauma mit dem Schiffsunglück immer noch nicht verarbeitet. Wie auch, sie alle hatten zwar ihren Alltag wieder aufnehmen müssen, doch der Schock saß tief.
Maggie erinnerte sich an diesen furchtbaren Tag, als wäre es erst gestern gewesen. Immer noch konnte sie die bodenlose Angst fühlen, die sie ergriffen hatte, als ihr Kollege Declan Tully mit der Nachricht in die Redaktion des Herald geplatzt war, dass ein Ausflugsdampfer auf dem East River Feuer gefangen hatte. Noch am Morgen hatte sie mit Nando deshalb gestritten. Er hatte sie gebeten, ein paar ihrer zahlreichen Überstunden einzufordern und Simon allein zu dieser vermaledeiten Pressekonferenz gehen zu lassen. Doch Maggie war stur geblieben.
»Ich bin seit Wochen an dem Fall mit der mysteriösen Toten im St. Regis Hotel dran. Ich wusste, dass da was faul ist, aber Commissioner McAdoo hat geblockt. Jetzt werde ich sicher nicht Dec oder Simon das Feld überlassen, um auf einem überfüllten Dampfer den East River entlangzuschippern«, hatte sie ihn angefahren.
»Mach, was du willst, Maggie, aber manchmal glaube ich, dass diese gottverdammte Zeitung dir mehr bedeutet als Nicky und ich.«
Sie hatte ihn wütend angefunkelt. »Red keinen Unsinn, du weißt, wie sehr ich Nicky liebe.«
Ihn hatte sie mit dieser Aussage absichtlich ausgeschlossen, und der verletzte Ausdruck in seinen kohlefarbenen Augen hatte sie mit einer dummen Genugtuung erfüllt.
Hätte sie geahnt, dass sie nur Stunden später um sein Leben bangen würde, sie hätte sich ihm an Ort und Stelle in die Arme geschmissen, hätte Pressekonferenz Pressekonferenz sein lassen und ihn genötigt, den Rest des Tages mit ihr und Nicky im Bett zu verbringen.
Doch so hatte sie ihren Mann einfach stehen lassen. Hatte nach ihrer Tasche gegriffen und das kleine Haus in Flatbush mit dem vernehmlichen Schließen der Haustür hinter sich gelassen, ohne sich auch nur noch einmal umzuwenden. Die vorausgegangenen Wochen und Monate waren natürlich nicht unschuldig an diesem Streit. Nando hatte viel mit der Eröffnung seines Fotostudios zu tun, sodass sie oft aneinander vorbei lebten und sich erst abends sahen, beide zu müde und erschöpft, um überhaupt ein Wort miteinander zu wechseln, geschweige denn, sich nahezukommen. Immer öfter zankten sie miteinander – meist wegen dummer Kleinigkeiten –, sodass diese Auseinandersetzung sich für Maggie zunächst in die lange Reihe der anderen Zwiste einreihte, bis die Nachricht in ihr beschauliches Dasein platzte, dass die General Slocum Feuer gefangen hatte und dann gesunken war.
Blind vor Furcht war sie Simon gefolgt, der um Rosie und Fay bangen musste, die ebenfalls auf den Ausflug der Kirchengemeinde hatten gehen wollen. Während sie im Inneren der Droschke durchgeschüttelt wurden, weil Simon seinen Kutscher Phelps zu solcher Eile antrieb, dass dieser die Pferde fast die ganze Strecke im Galopp voranpeitschte, hatte Declan sie mit den wenigen Informationen versorgt, die er bekommen hatte.
»Derzeit reihen sie die Toten am Pier nahe der 23rd Street auf, allerdings sind noch lange nicht alle Leichen geborgen. Es wird vermutlich Wochen dauern, bis keine leblosen Körper mehr vom Fluss ans Land gespuckt werden.«
Simon hatte Dec böse angefunkelt, der während seiner Erzählung scheinbar völlig vergessen hatte, dass unter den Opfern auch Menschen sein konnten, die den beiden anderen Insassen der Kutsche die Welt bedeuteten. Kleinlaut hatte Dec sich entschuldigt, bevor er fortgefahren war: »Es haben nach ersten Erkenntnissen rund 300 Menschen überlebt, es gibt also Hoffnung«, hatte er versucht, die verfahrene Situation zu retten.
Noch immer bekam Maggie eine Gänsehaut, wenn sie vor ihrem inneren Auge die lange Reihe der Toten abschritt, fast ausnahmslos Frauen und Kinder, die Gesichter notdürftig mit fadenscheinigen Leinentüchern abgedeckt. Rauchgeruch hatte sich mit dem bereits süßlichen Duft vermischt, den der Tod, befeuert durch die drückende Mittagshitze, umso schneller aussandte. Sie hatte panisch die wenigen männlichen Leichen begutachtet, aber weder Nicky noch Nando ausmachen können. Angesichts der Tatsache, dass an Bord fast 1400 Menschen gewesen waren, lag allerdings nur ein Bruchteil der Opfer hier, sodass sie es nicht wagte, Hoffnung zu schöpfen. Um sie herum war das Leid der Menschen so greifbar, dass es sie wie ein Bleigewicht niederdrückte und ihr jeden Schritt erschwerte. Simon neben ihr hatte plötzlich einen erstickten Laut von sich gegeben. Er ging auf die Knie und hob ein Tuch an, dann fuhr seine Hand zu seinem Mund. Maggie hatte auf das schwarze Taftkleid gestarrt, das sie überall erkannt hätte.
»Johanna«, stieß sie entsetzt aus, wobei sich ihre Stimme seltsam fremd und blechern in ihren Ohren anhörte. Nur wenige Meter hinter Johannas leblosem Körper waren sie dann auf Gundel gestoßen. Immer mehr Angehörige waren am Ufer des East River eingetroffen, Wehklagen und Schreie vermischten sich zu einem tieftraurigen Klagelied, welches die gespenstische Szenerie untermalte. Sie sah ihren guten Freund Franz unter den Angehörigen. Ihm gehörte der Bierpavillon, in dem sie früher gekellnert hatte. Er hatte seine Frau Dottie und seine beiden Söhne William und John an diesem grauenvollen Tag verloren. Sie entdeckte Emil Behr, der mit Frau und zwei Töchtern in der Orchard Street über Johanna gelebt hatte, wie er weinend den noch nassen Körper seiner Frau umklammerte. Überall erblickte sie Bekannte, verbunden in ihrem Leid, doch allein mit ihrem Schmerz. Sie konnte es kaum ertragen.
Nach über einer Stunde, in der sie blind und panisch durch die zahllosen Reihen gestolpert waren, wollte schon so etwas wie Erleichterung in ihr aufkeimen, als sie Simons gequältes »NEIN!« vernahm. Er war vor ihr auf die Knie gesunken, sein ganzer Körper hatte gebebt, während er das Tuch von Rosies wunderschönem Gesicht gezogen hatte.
Sie sah aus, als würde sie schlafen. Er hatte sich auf sie geworfen und ihre blassen Wangen mit Küssen bedeckt. Sein sich leise wiederholendes, beschwörendes »Komm zurück zu mir« klang ihr noch heute in den Ohren. Sie selbst hatte sich wie betäubt gefühlt. Es musste ein Albtraum sein, ganz bestimmt würde sie gleich mit einem Schrei erwachen, würde ihre tränennasse Wange auf Nandos starker Brust betten und sich von ihm trösten lassen. Vermutlich reagierte sie darum auch zunächst nicht, als sie seine Stimme hörte. Erst beim dritten Rufen fuhr sie zusammen und wandte sich um. Da stand er, die Liebe ihres Lebens, unversehrt, wenn auch ähnlich erschüttert wie sie selbst. Ein nicht identifizierbarer Laut brach aus ihr heraus, während sie auf ihn zustolperte und sich in seine Arme warf. Sie hatte sich wie eine Ertrinkende an ihn geklammert und so schlimm gezittert, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und ihre Zunge aufbissen.
»Es ist gut, Maggie, es ist alles gut. Nicky und ich haben die Hochbahn verpasst, wir waren zu spät am Schiffsanleger. Er war so enttäuscht.« Ungläubig schnaubte er. »Ich habe die Bahn verflucht, dabei hat sie uns vermutlich das Leben gerettet.«
»Wo ist er?«, hatte sie gestammelt, ihr Glück immer noch nicht fassend.
»Bei Emmeline und Alfred. Wir haben eben erst von seinem Mitarbeiter Evan erfahren, was hier geschehen ist.«
Er zog Maggie noch enger an sich und drückte ihr einen Kuss auf das Haar.
»Rosie« war alles, was sie schluchzen konnte. Erst da hatte Nando Simon entdeckt, der den schlaffen Körper seiner Frau an sich presste und ihn hin und her wiegte wie ein Kind, das man nach einem Nachtschreck beruhigen musste.
»Oh mein Gott«, stieß er leise aus und presste sie noch etwas fester an sich. Es hatte noch Stunden gedauert, bis sie Fay fanden. Sie war zwar unverletzt, aber so unter Schock, dass sie keinen Ton von sich gab. Ein Zustand, der noch Monate nach dem Unglück anhalten sollte. Die Frau, die sie auf den abgebrochenen Mast gezogen hatte, hatte sich ihrer angenommen. Sie war trocken und in eine Decke gehüllt, doch als Simon sie verzweifelt an sich riss, war sie stocksteif geworden und hatte wie eine Holzpuppe in seinen Armen gehangen. Erst langsam hatte sich das Kind von diesem schrecklichen Unglück und dem Tod seiner Mutter erholt.
Ein Grunzen holte Maggie aus ihren Gedanken. Simon hatte sich zur anderen Seite geworfen, war aber nicht aufgewacht. Maggie ließ sich vor ihm nieder und schüttelte ihn. Als er keinerlei Reaktion zeigte, versetzte sie ihm ein paar leichte Ohrfeigen, was aber ebenso erfolglos blieb. Erst als sie ihm schließlich ordentlich eine langte, flogen seine Augen erschrocken auf. Seine eine Hand ließ die zerknüllte Zeitungsseite los und schnellte an seine Wange, wo ihr Handabdruck vermutlich brannte.
»Spinnst du?«, fragte er und lallte dabei leicht.
»Das müsste ich dich fragen, mein Lieber. Es ist nicht einmal zehn Uhr morgens. Du hast Fay zu Tode erschreckt, du Idiot. Wie kann sich ein erwachsener Mann nur so zurichten.« Mit diesen Worten fasste sie ihn an den Händen und zog ihn in eine sitzende Position, was ihn aufstöhnen ließ.
»Kopfschmerzen?«, fragte sie, und er nickte mit geschlossenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht.
»Erwarte bloß kein Mitleid«, sagte sie, während sie ihm weiter dabei half, aufzustehen. Er taumelte und musste sich am Sofa abstützen, blieb aber immerhin aufrecht. Mrs. Taylor erschien mit einem wissenden Gesicht und einer dampfenden Tasse Kaffee im Türrahmen.
»Sir?«, fragte sie leise, wobei sie das Heißgetränk einladend zu ihm hinstreckte.
Weil Simon keine Anstalten machte, sich zu bewegen, ging Maggie, um der Köchin die Tasse abzunehmen.
»Sagen Sie Susanna, dass sie Fay ordentlich anziehen und dann zu einem Ausflug in den Park mitnehmen soll. Sie können den beiden ein kleines Picknick zubereiten. Ich kümmere mich um das Problem hier.«
Das Problem erbrach just in diesem Moment den allerletzten Rest Würde mit dem wenigen, was sein Magen noch hergab, auf seine Schuhe. Mrs. Taylor seufzte, nickte dann aber ergeben. Sie war solche Szenen mittlerweile gewohnt, ebenso wie alle anderen im Hause Broder.
Maggie kehrte mit dem Kaffee zu Simon zurück und rümpfte die Nase. Immerhin hatte er den Anstand, betreten fortzuschauen, während er nach der Tasse griff und ein paar Schlucke nahm. »Vielleicht möchtest du heiß duschen, du riechst nicht besser als die Stadtstreicher, die nachts in den dunkelsten Ecken der Bowery rumlungern.«
Er seufzte. »Und wozu?« Die Frage war so leise gewesen, dass Maggie sie vermutlich überhört hätte, wären die Worte nicht so deutlich an seinen Lippen abzulesen gewesen.
»Simon, dein Selbstmitleid hilft keinem weiter. Wir haben auch so schon genug, womit wir uns herumschlagen müssen. Hearst hat die Auflage des Journal noch einmal erhöht. Hinzu kommt, dass dein Erzrivale sich wie immer nicht scheut, uns auf jede nur erdenkliche Weise Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Erst heute Morgen lag schon wieder eine Kündigung auf deinem Schreibtisch. Swift. Dabei hat der Junge wirklich Talent. Und was das mit Fay macht, wenn sie dich so sieht, will ich mir erst gar nicht vorstellen.«
Sie holte Luft, weil sie wusste, dass ihre nächsten Worte grausam waren. Aber es musste sein. »Wenn Rosie dich so sehen würde, sie wäre schockiert. Sie würde dich dafür ebenso ohrfeigen wie ich eben, was du ihrem geliebten Mädchen antust.«
Sein Blick schnellte bitter und voller Wut zu ihr, doch Maggie ließ sich so rasch nicht einschüchtern.
»Wir alle vermissen sie, Simon. Jeden Tag. Sie war wie eine Schwester für mich, auch ich muss mit dieser Leere klarkommen. Aber es hilft mir zu wissen, dass da Menschen sind, die mich brauchen. Außerdem habe ich einen Job, der sinnstiftend ist und mich erfüllt. So gelingt es mir, jeden Morgen aufzustehen und weiterzumachen. Ich bin davon überzeugt, dass du das auch kannst.« Sie hatte nun viel milder gesprochen und am Ende beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm gelegt, die er jedoch abschüttelte wie eine lästige Fliege.
»Du hast keinen blassen Schimmer davon, wie es in mir aussieht, was ich an diesem gottverdammten Tag verloren habe, Maggie«, fuhr er sie an, griff sich aber sogleich an die Schläfe.
Maggie stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor sie sich zur Tür wandte. »Man kann mir wenigstens nicht nachsagen, ich hätte es nicht versucht«, sagte sie über die Schulter in seine Richtung. Sie hörte neuerliches Grunzen, was wohl spöttisch gemeint war, aber klang, als hätte er sich verschluckt.
»Ich werde Fay mitnehmen. Du bist derzeit nicht in der Lage, für sie zu sorgen. Wenn du wieder bei Sinnen bist, kannst du sie abholen. Du weißt ja, wo wir wohnen.«
Sein eisiges Schweigen begleitete sie auf ihrem Weg in die Halle. Schon mehrfach hatte sie damit gedroht, das Kind mitzunehmen, dieses Mal jedoch war das Maß wirklich voll. Sie setzte Mrs. Taylor von der Planänderung in Kenntnis und bat das Hausmädchen, einen Koffer mit Fays Sachen zu packen. Während sie unten auf ihre Großcousine wartete, die wie eine Tochter für sie war, entknitterte sie die Zeitungsseite, die Simon eben in seinem Delirium umklammert hatte. Kurz machte ihr Herz einen erschrockenen Sprung, bevor der altbekannte Schmerz sich in ihrer Brust ausbreitete. Der Artikel beleuchtete den Jahrestag des Unglücks. Das Journal hatte Rosies Gesicht groß in der Mitte der Titelseite platziert, als eine der Prominentesten unter den Ertrunkenen. Umgeben wurde sie von den winzigen Fotos der anderen 1021 Opfer. Ein Jahr nach dem Unglück: Wir gedenken der Toten der General Slocum las sie die Schlagzeile. In diesem Moment konnte sie Simon nur allzu gut verstehen, sie hätte gerade ebenfalls alles gegeben für ein großes Glas Bourbon.
Simon hörte, wie die Haustür zuschlug. Ein Geräusch, das sich in seinem Kopf anfühlte, als würde dort jemand mit einem Vorschlaghammer wüten. Vermutlich hätte er ihr nachlaufen, sich für seine Tochter stark machen sollen. Aber Maggie hatte ja recht. In seiner derzeitigen Verfassung konnte er sich kaum um sich selbst kümmern, geschweige denn um Fay. Vage kam die Erinnerung hoch, wie ihre kleinen Hände seine von Tränen und Alkohol schweren Lider anlupften und ihr dünnes Stimmchen neben seinem Ohr ein ängstliches »Simon« ausstieß. Simon, es klang so distanziert, so fremd, wenn sein eigenes Kind ihn beim Vornamen nannte. Doch vermutlich merkte bereits eine Fünfjährige, dass er derzeit den Titel Daddy nicht verdiente. Seit sie vor ein paar Monaten endlich zögerlich wieder mit dem Sprechen begonnen hatte, war er Simon für sie gewesen.
Simon seufzte und stellte den Kaffee ab, der bitter schmeckte und bereits abgekühlt war. Müde ließ er sich aufs Sofa fallen, wobei er seinen eigenen Geruch unschön wahrnahm. Schweiß und Alkoholausdünstungen, die sich mit dem säuerlichen Aroma von Erbrochenem vermischten. Kurz stieg erneut die Übelkeit seine Kehle hinauf, zusammen mit den wenigen Schlucken Kaffee, doch er zwang beides wieder hinunter. Er sollte dringend duschen und sich rasieren, sollte zur Arbeit gehen und dann Fay nach Hause holen, durchaus Aufgaben, die unter normalen Umständen zu bewältigen waren. Er fühlte sich jedoch momentan nicht einmal dazu in der Lage, die Augen offen zu halten. Er war nicht einfach nur müde, er war lebensmüde. Wieder einmal brannten Tränen hinter seinen Lidern, doch er hielt sie eisern zurück. Er hatte in der Nacht und am Morgen schon wieder genug davon vergossen. Kurz dämmerte er weg, doch Rosie suchte ihn wie so oft in seinen Träumen heim, blass und aufgedunsen vom Flusswasser, die leeren Augen vorwurfsvoll auf ihn gerichtet, während ihre nassen, von Schilf und Algen verklebten Haare sich um ihr einstmals schönes Gesicht wanden wie schwarze Schlangen. Sie schien zu wissen, was für ein Versager er geworden war, wie sehr er Fay im Stich ließ.
Mit einem erstickten Schrei fuhr er hoch, nur um erneut von seinem hämmernden Schädel daran erinnert zu werden, dass zu viel Bourbon zwar für den Moment half, den Schmerz auszublenden, im Nachgang aber alles nur noch schlimmer machte. Sein Blick wanderte zur gegenüberliegenden Wand, an der das Porträt hing, welches der bekannte Maler Benjamin Curtis Porter kurz vor dem Unglück von Rosie und Fay angefertigt hatte. Es hatte ein Vermögen gekostet. Porter war ein gefragter Mann in den Kreisen der oberen 400 in New York. Er hatte unter anderem Vanderbilts Tochter Emily und Caroline Astors Nichte Helen porträtiert. Man musste ihm allerdings auch attestieren, dass er wirklich Talent besaß. An dem Tag, als Rosie für ihn gesessen hatte, hatte sie ein cremefarbenes Tageskleid mit einem züchtigen Dekolleté und passenden Handschuhen getragen, in Farbe und Schnitt so zurückhaltend und bescheiden, dass der Betrachter nicht umhinkam, sich in ihrem bezaubernden Gesicht zu verlieren. Das dunkle Haar war kunstvoll aufgesteckt, ihre blauen Augen strahlten, befeuert durch das warme Rot ihrer Wangen und Lippen, die leicht geöffnet waren, als wolle sie gerade anheben, etwas zu erzählen. Porter hatte Rosies Essenz eingefangen auf dem Gemälde. Ihre freundliche Güte, ihre unübersehbare Schönheit, ihre stille Art zu lieben. Ihr Blick ruhte zärtlich auf Fay, die zu ihren Füßen saß und völlig selbstvergessen in eine Aprikose biss – das Ebenbild ihrer Mutter.
Simon drehte eilig den Kopf zur Seite, weil der Schmerz über den Verlust seiner Frau ihn wie immer traf wie ein Faustschlag. Dabei hatte er nach dem Unglück wirklich versucht weiterzumachen. Er hatte für Fay da sein wollen, allein schon Rosie zuliebe. Doch der Schmerz hatte keine Ruhe gegeben. Er hatte sich Simon mit all seinen hässlichen Fratzen offenbart, konnte roh und ungefiltert sein, pochend, höhnisch, fordernd, leise, dumpf. Vor allem aber hartnäckig und ausdauernd – es gab keine Möglichkeit, ihm zu entkommen, außer, er ertränkte ihn an den langen, einsamen Abenden kurzzeitig im Alkohol. Dann gab dieser Quälgeist Ruhe, zumindest bis zum nächsten Morgen. Ein paar Monate lang hatte er so nach außen den Schein wahren können, dass er irgendwie klarkam, doch je näher der Jahrestag der Schiffskatastrophe rückte, desto schlimmer wurde es. Gestern hatte er eine dreiviertel Flasche Bourbon gebraucht, um es ertragen zu können. Als er dann am frühen Morgen einem Zeitungsjungen die Frühausgabe des konkurrierenden Journal abgekauft hatte – noch immer in den gleichen, stinkenden Kleidern, die er bereits am Abend getragen hatte, was für abfällige Blicke sorgte, als er die Stufen zu seiner Villa, einer der schönsten in Yorkville, hochstieg –, hatte ihn Rosies Antlitz von der Titelseite angelächelt. Der Schock hätte nicht größer sein können.
Natürlich war ihm klar gewesen, dass alle Zeitungen der Stadt das Thema aufgreifen würden. Auch der Herald hatte den Untergang der Slocum thematisiert. Simon wusste, dass die Frühausgabe ein Bild des ausgebrannten Wracks auf dem Titel hatte, ebenso wie ein Foto von Kapitän William Van Schaick, den man im Anschluss eilig als Schuldigen ausgemacht hatte und nun als Sündenbock vor Gericht stellen wollte. Ennis Talbott, Simons Chefredakteur, hatte der Berichterstattung einen Kommentar zur Seite gestellt, in dem er einmal mehr forderte, die Direktion der Reederei, insbesondere Frank A. Barnaby, zur Verantwortung zu ziehen, statt mit Van Schaick ein Bauernopfer für die Öffentlichkeit darzubringen. Schließlich hatte die Knickerbocker Steamship Company sich lieber die Taschen voll Geld geladen als mit Investitionen in ihre altersschwache Flotte für die Sicherheit von Besatzung und Passagieren zu sorgen.
Doch sein Team hatte auf Simons ausdrückliche Anweisung hin darauf verzichtet, den Schmerz der Hinterbliebenen noch einmal damit anzufachen, dass man auf die unzähligen Opfer einging. Auch so schon war das Leid, das seit der Katastrophe über Little Germany hereingebrochen war, kaum zu ertragen. Fast jede Familie hatte jemanden verloren. Ganze Schulklassen waren ausgelöscht, es gab keinen Frauenchor mehr, und der deutsche Turnverein strich die Damenabteilung, weil es an Mitgliedern mangelte. Läden mussten schließen, weil ihnen die Verkäuferinnen fehlten. Die Selbstmordrate war in die Höhe geschnellt, denn Ehemänner und Väter, so wie er, kamen mit dem Verlust nicht klar. Wer konnte, kehrte der Lower East Side den Rücken, weil hier das Epizentrum der Tragödie lag, die St. Marks Church an der East 6th Street, die nun kaum noch weibliche Mitglieder und keinen Pastor mehr besaß. Es war, als hätte die deutschstämmige Bevölkerung New Yorks vor einem Jahr die Luft angehalten und seither nicht mehr ausgeatmet. Es war still in dem Rund 40 Blocks umfassenden Bereich, wo einst das deutsche Leben und die deutsche Kultur geblüht hatten – totenstill.
Ein Klopfen riss Simon aus seiner Grübelei. Einmal mehr hielt er sich seinen schmerzenden Schädel, während er ein brummiges »Herein« von sich gab.
Brooks trat wortlos in den Salon, sein treuer Butler. Offenbar war er von seiner Reise zurück. Ohne auch nur eine Regung zu zeigen, ging er mit steifen Schritten durch den abgedunkelten Raum und zog die Vorhänge auf. Simon stöhnte, als das Licht der gleißenden Junisonne durch die deckenhohen Fenster fiel, die Brooks nun gnadenlos nacheinander aufriss, um frische Luft hereinzulassen.
Als der Butler sich umwandte und die Bescherung erblickte, die Simon vor dem Sofa auf dem guten Perserteppich angerichtet hatte, schnellte seine linke Augenbraue für den Bruchteil einer Sekunde missbilligend in die Höhe. Danach war sein Gesichtsausdruck wieder neutral. Er ging und kehrte mit einem Eimer zurück, um die Bescherung aufzuwischen. Simon wandte beschämt den Blick ab. Als Brooks seine Säuberungsaktion beendet hatte, blieb er vor dem Sofa stehen, auf dem Simon zwischenzeitlich wieder Platz genommen hatte.
»Man teilte mir mit, dass Miss Fay mit Mrs. Keitel fortgegangen ist.«
Der Satz war geschickt formuliert, eine neutrale Aussage, die Vorwurf und Frage zugleich enthielt. Simon räusperte sich verlegen.
»Maggie war der Meinung, dass Fay derzeit bei ihr besser aufgehoben sei«, sagte er mit brüchiger Stimme.
»Sir, ich stehe schon viele Jahre in Ihren Diensten, und es obliegt mir natürlich nicht, Ihre Entscheidungen zu kritisieren, jedoch gestatten Sie mir die Anmerkung, dass Miss Fay genug durchgemacht hat. Sie sollte einen verlässlichen Erwachsenen an ihrer Seite wissen, am besten ihren Vater.«
Simon rieb sich müde über sein Gesicht. »Brooks, ich bin mir selbst kein verlässlicher Erwachsener mehr. Sie ist im Moment bei Nando und Maggie besser aufgehoben«, gestand er leise.
Brooks’ Miene verfinsterte sich. Er blickte kurz zu dem Ölgemälde hin, dann ruhten seine braunen Augen wieder auf Simon. »Sir, Mylady würde es das Herz zerreißen, wenn sie wüsste, dass Sie Ihre Tochter so einfach aufgeben wollen.«
Simon duckte sich unter dem Gewicht der Worte fort. Brooks war schon der Zweite heute, der es für nötig hielt, ihn mit seinem schlechten Gewissen zu quälen. Er holte tief und zittrig Atem, schon versucht, seinen Butler in die Schranken zu weisen, als er einen Zettel auf dem Wohnzimmertisch entdeckte. Stirnrunzelnd griff er nach dem Papier und faltete es auseinander. Fay hatte ihm etwas gemalt. Ein Strichmännchen mit langen Beinen, dem der Hals fehlte. Seine spinnenartigen Hände hielten die eines kleinen Strichwesens, das schwarze Zöpfe trug und einen roten Rock. Gemeinsam standen die Bleistiftmenschen vor ein paar krakeligen Bäumen – mit viel Fantasie konnte das der Central Park sein, in dem sie vor ein paar Wochen einen Spaziergang gemacht hatten. Daddy und ich, stand darüber. Ein gequälter Laut presste sich durch seine ohnehin geschundene Kehle. Daddy – das Wort, das Fay ihm seit Monaten vorenthielt. Hier hatte sie ihm eine Tür geöffnet, hatte ihre Hoffnung zu Papier gebracht, dass er irgendwann vielleicht noch einmal zu Recht diesen Titel tragen könnte. Plötzlich war es ihm wichtiger als alles andere, sie nicht mehr zu enttäuschen.
»Brooks, lassen Sie mir ein Bad ein und bereiten Sie das Rasierwasser. Mrs. Taylor soll mir ein Frühstück machen und noch einen Becher dieser schwarzen Höllenbrühe aufgießen. Ich habe etwas zu erledigen.«
Brooks nickte knapp. Nur an seinen glänzenden Augen konnte man sehen, wie sehr er sich freute.
Maggie betrachtete stumm das Profil ihres Patenkindes. Fay-Margaret war ihrer Mutter Rosie wie aus dem Gesicht geschnitten. Manchmal durchlief Maggie ein Schauder, der irgendwo zwischen Schock und Freude angesiedelt war, wenn sie ihre Cousine in jedem Gesichtszug, aber auch im Wesen des Kindes fand.
»Nicky wird ganz aus dem Häuschen sein, wenn er hört, dass du bei uns wohnen wirst«, log sie und erntete einen skeptischen Seitenblick. Natürlich wusste auch Fay, dass Nicky derzeit gern betonte, zu alt zu sein, um mit einem Kleinkind zu spielen.
»Er mag es nicht, wenn ich mit seinen Soldaten spiele«, sagte sie ernst, was Maggie lächeln ließ.
»Er wird lernen zu teilen«, versprach sie, was Fays Stirn zum Runzeln brachte.
»Wann kann ich wieder nach Hause?«
Maggie stach sich an der Frage wie an einer Rose. Es war schön, dass Fay Simon und ihr gewohntes Umfeld vermisste. Doch Maggie hatte sie zu ihrem eigenen Wohl dort herausreißen müssen.
»Weißt du, es geht deinem Daddy gerade nicht sehr gut. Sobald es ihm besser geht, wird er hereilen, um dich wieder bei sich zu haben.«
Fay spitze missbilligend ihre Lippen. »Simon ist froh, wenn ich fort bin. Dann muss er mich nicht ansehen.«
Maggie musste schlucken bei den Worten des Kindes. Wie klug Fay für ihre fünf Jahre war. Sie hatte erkannt, was manch Erwachsenem womöglich verborgen blieb: Simon sah ebenso Rosie in seiner Tochter, und der Anblick schmerzte ihn so sehr, dass er sein Kind unbewusst auf Abstand hielt.
Die Mietdroschke hielt in Flatbush vor ihrem Haus. Maggie bat den Fahrer zu warten und brachte Kind und Koffer zum Haus. Nicky hatte sie bereits kommen sehen und riss freudig die Tür auf.
»Mommy, du bist schon zurück? Wollen wir gemeinsam mit Daddy was unternehmen?«
Maggie ging in die Hocke, um mit ihrem Sohn auf Augenhöhe zu sein.
»Mein kleiner Liebling, es tut mir leid, aber ich muss zurück zur Arbeit. Ich habe dir aber jemanden zum Spielen mitgebracht.«
Nickys Blick fiel auf Fay, die er jetzt erst zu bemerken schien, und er rümpfte seine sommersprossige Stupsnase. Seine kohlefarbenen Augen blieben enttäuscht auf Maggies Gesicht liegen.
»Fay?« Das eine Wort schwang vorwurfsvoll zwischen ihnen hin und her.
»Sie wird einige Zeit bei uns wohnen«, fuhr Maggie unbeirrt fort, was Nicky mit einem Seufzen quittierte. Er wusste, dass es nur zwei Schlafzimmer in dem kleinen Häuschen gab, und dass er seines würde teilen müssen – ebenso wie seine Spielsachen. Die Aussicht überschattete sein Gesicht wie eine Gewitterwolke.
»Na toll«, maulte er leise, trat gegen einen kleinen Stein und drehte sich dann abrupt um. Maggie stand auf und versuchte, den unglücklichen Auftakt für Fay mit einem umso helleren Lächeln wieder wettzumachen, was ihr misslang. War Nicky die Gewitterwolke, so gab Fay nun den Donner. Ihre sturmgrauen Augen funkelten, während ihr Kinn bebte.
»Keiner will mich!«, spie sie aus und rannte fort. Maggie setzte ihr nach und hatte Fay mit wenigen Schritten eingeholt, bevor diese die Straße erreichte. Erleichtert hob sie ihr Patenkind auf den Arm und presste es fest an sich.
»Unsinn. Nicky ist ein kleiner Esel, er wird sich freuen, dass nun jemanden zum Spielen da ist. Und Nando und ich, wir lieben dich, Fay. Du hast immer ein Zuhause bei uns.«
Sie strich der Kleinen beruhigend über den Rücken. Langsam löste sich die wütende Anspannung in Fay, und die Tränen kamen. Maggie trug ihre fragile Fracht wieder auf die noch offenstehende Haustür zu, als Nando ihr entgegenkam. Sie setzte Fay ab und schob sie liebevoll in den Flur.
»Geh schon hoch, du weißt ja, wo Nickys Zimmer ist. Und lass dich nicht von seiner finsteren Laune abschrecken. Er tut gern schon groß, aber am Ende findet ihr doch meist ein Spiel, das euch beiden Freude macht«, schickte sie dem Mädchen mit auf den Weg, das nun widerwillig die Treppe zum Obergeschoss erklomm. Nando sah Maggie ebenso vorwurfsvoll an wie sein Sohn eben.
»Warum ist Fay mit einem Koffer hier?«
Maggie seufzte, dann erzählte sie ihm alles. Er rieb sich müde die Stirn.
»Lynette ist angeblich erneut krank, das dritte Mal in diesem Monat. Ihre Krankheit hat vermutlich mehr damit zu tun, dass ihr neuer Freund, dieser hünenhafte Matrose, schon wieder Landgang hat. Ich muss bereits Nicky mit zur Arbeit nehmen und nun auch noch Fay?« Gereizt schob er sich eine seiner unbändigen Locken aus der Stirn.
»Was hätte ich denn tun sollen? Sie dalassen? Du hast ihn nicht gesehen, Nando. Er hatte sich furchtbar zugerichtet.«
Beim Thema Simon wurden Nandos dunkle Augen noch eine Spur schwärzer. »Was hast du erwartet? Heute ist der Jahrestag. Es war anzunehmen, dass er sich noch mehr zulaufen lässt als sonst.«
Maggie funkelte ihn wütend an.
»Etwas mehr Mitgefühl würde dir nicht schaden, mein Lieber«, schoss sie ihn scharf an.
»Etwas weniger würde dir guttun«, gab er nicht minder heftig zurück. Und wieder einmal war eine an sich harmlose Kleinigkeit zur Munition mutiert. Maggie spürte, wie eine Ader an ihrer Schläfe zu pochen begann. Sie liebte Nando auf eine absolut einzigartige und allumfassende Art, aber er konnte sie auch zur Weißglut treiben wie kein anderer. Es wäre klug gewesen, an dieser Stelle den Rückzug anzutreten, aber Maggie konnte genauso hitzköpfig sein wie ihr Mann.
»Was soll das jetzt schon wieder heißen?«, fragte sie bissig.
»Es heißt, dass Simon sich, statt im Selbstmitleid zu suhlen, um sein Kind kümmern sollte.«
»Was, wenn es mir zugestoßen wäre? Wenn ich an dem Tag ertrunken wäre? Würdest du dann auch so überlegene Reden schwingen?« Sie war so laut geworden, dass Mrs. Shipmann, ihre Nachbarin, am Fenster erschien und etwas davon murmelte, dass Flatbush auch nicht mehr das war, was es früher mal gewesen sei.
Nandos Miene wurde weicher, auch wenn er immer noch die Arme verschränkt hielt.
»Es hätte mir das Herz zerrissen, Maggie. Aber für Nicky hätte ich versucht, irgendwie weiterzumachen.«
»Man hat immer leicht reden, wenn man nicht in den anderen Schuhen steckt«, konterte sie und hörte ihn seufzen. Sie wusste, wie sensibel das Thema Simon für Nando war. Schon immer war er eifersüchtig auf ihn gewesen. Nicht ganz zu Unrecht, wie sie zugeben musste, denn Maggie hatte lange Zeit geglaubt, Simon zu lieben. Es hatte sie furchtbar verletzt, als klar wurde, dass er sich für ihre Cousine interessierte, und die beiden schließlich heirateten. Doch dann war die Ehe gleich zu Beginn so schwierig gewesen, dass Simon immer mehr arbeitete und sich bei Maggie Rat und Trost suchte, bis eins zum anderen führte und sie sich küssten. Erst da hatte sie begriffen, dass ihr dummes, blindes Herz schon lange Nando gehörte.
Allein die Erinnerung daran, dass sie Nandos Liebe damals durch diesen unbedachten Augenblick mit Simon aufs Spiel gesetzt hatte, reichte aus, um ihre Wut verpuffen zu lassen. Sie trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die verschränkten Arme.
»Lass uns nicht wieder streiten. Du hast ja recht, aber ich musste Fay heute Morgen da rausholen.«
Er atmete tief ein und aus und nickte dann einlenkend.
»Gut, ich werde die zwei mit ins Studio nehmen, aber wir brauchen eine Lösung, Maggie. Wenn wir beide im Beruf nicht zurückstecken wollen, brauchen wir eine zuverlässige Betreuung für Nicky – und derzeit wohl auch für Fay«, schloss er mit einem Blick nach oben, wo gerade ein Streit darüber entbrannt war, wer mit Nickys Buntstiften malen durfte.
»Ich werde mich nach jemand anderem umsehen. Vermutlich wird es ohnehin nicht mehr lange dauern, bis Lynette kündigt, weil sie eigene Kinder zu versorgen hat«, pflichtete Maggie ihm bei. Dann beugte sie sich vor und legte ihre Lippen auf seine. Sie waren warm und weich und trugen einen Hauch Ahornsirup von den Pfannkuchen mit sich, die Nando für sich und Nicky am Morgen zubereitet hatte. Endlich lockerten sich seine verschränkten Arme und fuhren um sie herum. Was als kleiner Versöhnungskuss begonnen hatte, wurde schnell leidenschaftlicher. Maggie spürte, wie Nando sie hungrig an sich presste, was ihr ein kleines Stöhnen entlockte. Niemand sonst hatte so eine Wirkung auf sie, konnte sie mit einem Blick, einer Berührung, einem Wort so schnell die ganze Klaviatur der Gefühle entlangtreiben.
Im Nachbarhaus vernahmen sie Mrs. Shipmanns verächtliches Schnauben. »So ein Sodom«, giftete sie, bevor sie eilig das Fenster schloss, um diese lasterhafte Welt da draußen auszuschließen.