Eine grenzenlose Welt – Schicksal - Sonja Roos - E-Book

Eine grenzenlose Welt – Schicksal E-Book

Sonja Roos

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Beschreibung

Vier junge Auswanderer geben nicht auf – sie kämpfen für ihr Glück und den Erhalt des Morning Herald.

Amerika 1899: Seit einem tragischen Zerwürfnis haben die junge Auswanderin Marga und ihre Cousine Rosie kein Wort miteinander gesprochen. Marga arbeitet mittlerweile als Journalistin in San Francisco, wo sie ihren Sohn Nicky allein großzieht. Doch in Gedanken ist sie immer wieder in New York – und bei Rosie. Da greift das Schicksal in ihr Leben ein: Marga erhält einen Hilferuf von Rosie, als deren Mann, der Zeitungsverleger Simon, nach einem Überfall im Koma liegt. Der Morning Herald, den Marga und Simon einst gemeinsam gegründet hatten, steht vor dem Ruin. Marga eilt nach New York, um ihrer Cousine beizustehen. Es ist ihre Chance zu kämpfen: um Vergebung, um den Morning Herald und um ihre Familie. Dabei trifft sie auch den Fotografen Nando wieder, dem schon lange ihr Herz gehört.

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Seitenzahl: 561

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Amerika 1899: Seit einem tragischen Zerwürfnis haben die junge Auswanderin Marga und ihre Cousine Rosie kein Wort miteinander gesprochen. Marga arbeitet mittlerweile als Journalistin in San Francisco, wo sie ihren Sohn Nicky allein großzieht. Doch in Gedanken ist sie immer wieder in New York – und bei Rosie. Da greift das Schicksal in ihr Leben ein: Marga erhält einen Hilferuf von Rosie, als deren Mann, der Zeitungsverleger Simon, nach einem Überfall im Koma liegt. Der Morning Herald, den Marga und Simon einst gemeinsam gegründet haben, steht vor dem Ruin. Marga eilt nach New York, um ihrer Cousine beizustehen. Es ist ihre Chance, zu kämpfen: um Vergebung, um den Morning Herald und um ihre Familie. Dabei trifft sie auch den Fotografen Nando wieder, dem schon lange ihr Herz gehört.

Weitere Informationen zu Sonja Roos

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Sonja Roos

Eine grenzenlose Welt

Schicksal

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Juni 2024

Copyright © by Sonja Roos 2024

Copyright © dieser Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: Trevillion Images / Magdalena Russocka; Bridgeman Images / Buyenlarge Archive / UIG; FinePic®, München

Redaktion: Eva Sterzelmaier

ES · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30088-3V001

www.goldmann-verlag.de

»Ich fürchte drei Zeitungen mehr als hundert Bajonette.«

Napoleon I. Bonaparte, französischer Kaiser

1

San Francisco, 1899

Irgendwelche Neuigkeiten bezüglich des vermissten Mädchens?«, rief Gunnar Lensky über die Köpfe der anderen Reporter hinweg, als Maggie die Redaktion des San Francisco Call betrat. Betrübt schüttelte sie den Kopf.

»Von Hattie Waltham fehlt jede Spur«, sagte sie, während sie zügig zu ihrem Schreibtisch lief, ihre Tasche über den Stuhl hängte und den Block mit ihren Notizen auspackte. Sie war gerade erst von ihrer Recherchereise aus Covelo zurückgekehrt, wo die sechzehnjährige Hattie Waltham seit einigen Tagen auf mysteriöse Weise verschwunden war. Zuletzt wurde sie nahe ihrem Elternhaus gesehen, von da an fehlte jede Spur. Maggie hatte sich in der Nachbarschaft umgehört und mit der Familie gesprochen, wobei sie die Verzweiflung des Stiefvaters jedoch für gespielt hielt. Der Mann verbarg etwas und betonte für Maggies Geschmack etwas zu oft, dass seine Stieftochter sehr melancholisch sei und zu Anfällen von Hysterie neige. Er hatte sie an ihren Stiefonkel Xaver Hubert erinnert. Groß, grobschlächtig, jemand, der etwas Dunkles ausstrahlte. Die Mutter hingegen wirkte wie eine welke Pflanze in ihrer bodenlosen Trauer.

Die drei Tage in Covelo hatten Maggie zugesetzt. Sie vermisste ihren Sohn Nicky und musste zudem wegen der Parallelen des Falls dauernd an ihre Cousine Rosie denken. Daran, wie sehr Rosie unter dem Missbrauch durch ihren Stiefvater Xaver gelitten hatte. Vermutlich heute noch litt, was Maggie jedoch nicht beurteilen konnte, da sie seit ziemlich genau zwei Jahren und zehn Monaten keinerlei Kontakt mehr hatten. Ein Umstand, der ihr schwer auf der Seele lag. Sie vermisste Rosie jeden Tag, denn ihre Cousine war nicht nur die einzige Familie, die sie in Amerika hatte, sie war auch ihre beste Freundin, Vertraute, Seelenverwandte gewesen. Dass sie davon in der Vergangenheit sprechen musste, war auch noch ihre eigene Schuld. Noch heute verfluchte sie diesen blöden Kuss mit Rosies Ehemann Simon, diesen einen unbedachten Moment, der alles zerstört hatte.

Sie seufzte und zwang sich, ihre Konzentration wieder auf den Artikel über Hattie Waltham zu richten. Suchtrupps hatten die ganze Gegend rund um Covelo durchkämmt, Leuchtfeuer waren aufgestellt worden, einerseits, um dem Mädchen im Dunkeln eine Orientierung zu bieten, falls es sich in dem bergigen Gelände verlaufen hätte. Andererseits, um Panther, Bären und Berglöwen fernzuhalten. Maggie war mit dem Zug nach Covelo gereist und hatte in einer Pension nahe der Ranch der Eltern gewohnt. Dort hatte sie einige Gerüchte aufgeschnappt, die ihren Verdacht erhärteten, dass der Stiefvater etwas mit Hatties Verschwinden zu tun haben könnte.

Maggies Kollege Gunnar Lensky riss sie aus ihren Gedanken. Er war neben sie an den Schreibtisch getreten und starrte auf das Foto, das sie gerade aus ihren Unterlagen gezogen hatte.

»Hübsch, die Kleine«, stellte er fest, während sein erloschener Zigarrenstummel zwischen seinen Lippen hin und her tanzte.

»Sie wird nicht umsonst die Rose vom Tal genannt«, pflichtete sie ihm bei, während sie ein leeres Papier in ihre Underwood-Schreibmaschine spannte und die Walze mit einer entschlossenen Handbewegung nach rechts schob. Gunnar lehnte sich mit seinem breiten Hinterteil an ihren Schreibtisch und kreuzte die Arme.

»Simpson hat deine Geschichte zurückgestellt, er will jetzt doch mit dem Newman-Zugunglück aufmachen.«

Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

»Simpson hat mir für Hattie die Seite eins versprochen«, presste sie zornig hervor.

»Hat er wohl vergessen.« Gunnar zuckte ratlos seine massigen Schultern.

»Das Zugunglück ist seit Tagen die Titelstory, warum also noch einmal damit aufmachen?«, bohrte sie ungehalten nach.

Gunnar blickte sich kurz um, dann beugte er sich zu ihr und sah sie aus seinen von zu viel Bourbon und zu wenig Schlaf stets geröteten Augen an, die sie an die eines Bassets erinnerten.

»Maggie-Mäuschen, du weißt, dass Ernest Simpson nicht viel von Frauen als Reporterinnen hält«, flüsterte er, damit ihn niemand an den umliegenden Tischen hören konnte.

»Nenn mich nicht Mäuschen, Gunnar«, fauchte sie und starrte ihn aufgebracht an. Auch wenn Gunnar ein alter Freund aus New Yorker Tagen war und ihr den Job hier besorgt hatte, gab ihm das nicht das Recht, herablassend zu sein. »Du weißt, dass ich die beste Schreiberin in dieser verdammten Redaktion bin«, fügte sie vehement an. Lensky machte eine beschwichtigende Geste.

»Ich weiß das, und du weißt das, aber wir treffen hier nicht die Entscheidungen. Vermutlich weiß es Simpson sogar auch, aber er ist eben ein Arschloch.« Wieder zuckte er die Schultern, als hätte er sich mit den Ungerechtigkeiten, die tagtäglich in dieser Redaktion stattfanden, längst abgefunden.

»Ein Arschloch, das zufällig der Neffe des Verlegers und deshalb Chief Editor ist«, entfuhr es Maggie eine Spur zu laut. Nigel Cunnings warf ihr über den Raum hinweg einen tadelnden Blick zu, während er mit dem Kopf nach hinten in Richtung Chefbüro deutete. Natürlich, gerade jetzt musste Simpson aus seinem Glaskasten kommen. Maggie drückte den Rücken durch und reckte ihr Kinn vor. Sie würde jetzt nicht klein beigeben. Ihr Fall wäre morgen der bessere Aufmacher. Nach mehreren Tagen – und ohne neue Erkenntnisse – hatten die Leser sich an dem Zugunglück abgearbeitet, zumal es nur zwei Todesopfer gegeben hatte. Simpson bestand trotzdem darauf, dass sie weiterhin von einem Desaster schrieben. Der Mann war ein Idiot und kostete dem San Francisco Call mit seinen dummen Entscheidungen jeden Monat mehrere Hundert Stück Auflage. Trotzdem hielt sein Onkel John D. Spreckles stur an Simpson fest. Vermutlich, weil Spreckles, der sein Geld mit Zuckerrohr gemacht hatte, nicht wesentlich mehr Ahnung vom Zeitungsmachen hatte als sein frauenfeindlicher Neffe.

Maggie wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass sie wieder unter Simon arbeiten könnte, doch diese Tür war vor mehr als zweieinhalb Jahren zugeschlagen.

Wie sehr sie ihn und den Herald vermisste, wie sehr Rosie und ihr altes Leben in New York – und natürlich Nando. Wobei, nein, sie vermisste ihn nicht nur, sie sehnte sich absolut grundlegend nach ihm. Es fühlte sich an, als hätte er damals mit seinem Fortgang ihr Herz herausgerissen, das nun außerhalb ihres Körpers existieren und schlagen musste, irgendwo fern von ihr. An der verwaisten Stelle gab es nur Sehnsucht, Leere und Traurigkeit. Der Schmerz gehörte mittlerweile zu ihr wie ihre Stupsnase und die Sommersprossen. Erneut holte Gunnar sie aus ihren Gedanken.

»Zieh dich warm an, Maggie, Simpson hat dich im Visier.« Er stieß sich von ihrem Schreibtisch ab und machte auf halbem Weg dem Chief Editor Platz, indem er sich zur Seite drehte und seinen wuchtigen Bauch einzog. Simpson beachtete ihn nicht einmal, während er wichtigtuerisch heraneilte. Der Blick seiner kalten grauen Augen lag geringschätzig auf ihr, sein Mund war zu einer schmalen, missbilligenden Linie verzogen. Als er an ihrem Platz haltmachte, verschränkte er seine dürren Arme vor seinem noch dünneren Brustkorb.

»Sind Sie mit etwas nicht zufrieden, Mrs. Steele?«, fragte er gereizt, wobei seine Brille wie immer auf seiner viel zu spitzen Nase herabrutschte. Er schob sie unwirsch an ihren Platz und starrte Maggie dann herausfordernd an.

»Es ist ein Fehler, schon wieder mit dem Zugunglück aufzumachen. Es gibt nichts Neues zu berichten, außer, dass die Särge in der Heimatstadt der beiden Frauen angekommen sind.«

»Und dass man nun ganz offiziell den Stationsagenten und den Ingenieur beschuldigt«, blaffte er sie an.

Maggie spürte, wie ihre Schläfe zu pochen begann.

»Das hatten wir gestern schon im Blatt, neu ist lediglich die Tatsache, dass es nun von Southern Pacific bestätigt wird«, gab sie nicht minder scharf zurück.

»Mrs. Steele, wenn Sie unzufrieden damit sind, wie ich diese Redaktion führe, hält Sie niemand davon ab, zu gehen. Ohnehin verstehe ich nicht, warum Sie meinen, sich unbedingt in dieser Domäne beweisen zu müssen. Gehen Sie nach Hause zu Ihrem Kind, widmen Sie dem Kleinen mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Eine Frau sollte danach streben, eine gute Mutter zu sein, nicht eine gute Reporterin. Der Junge hat doch schon den Vater verloren«, fügte er in gespielt mitleidigem Ton an. Sie schluckte hörbar. Er hatte recht, und es war ihre Schuld, dass Nicky seinen Vater nie kennengelernt hatte, auch wenn Simpson nichts davon ahnte, dass sie nicht verwitwet, sondern verlassen worden war. Einen toten Ehemann verziehen die Menschen einer alleinerziehenden Mutter, doch ein uneheliches Kind wäre ihr Ausstoß aus der Gesellschaft gewesen. Zornig schluckte sie ihre Replik herunter und nickte knapp.

»Sie haben meine Geschichte um sechs Uhr auf dem Tisch«, gab sie zwischen zusammengebissenen Zähnen klein bei.

Ein arrogantes Lächeln breitete sich auf Simpsons hageren Zügen aus. »Und bleiben Sie bei den Tatsachen, Mrs. Steele. Ich will keine wüsten Theorien, sondern Fakten – und ein bisschen Drama drum herum. Die gebrochene Mutter, der verzweifelte Vater. Das können Sie als Frau doch gut.«

»Ich kann weitaus mehr als das«, zischte sie, weil ihre Wut auf Simpson wie kochendes Wasser unter einem losen Topfdeckel brodelte.

»Sie sollten den Mund nicht so voll nehmen, Mädchen. Ich habe Ihnen die Stelle gegeben, weil Lensky sich für Sie starkgemacht hat und ich durchaus Mitgefühl für Ihre prekäre Lage habe. Es ist sicher nicht leicht, als junge Witwe allein ein Kind zu erziehen. Aber strapazieren Sie meine Empathie nicht über die Maßen. Sie können ganz ordentlich schreiben und redigieren – alles andere überlassen Sie bitte den richtigen Reportern.«

Mit dieser finalen Beleidigung stiefelte er wieder durch den engen Gang der Redaktion und verschwand türenknallend in seinem Büro. Maggie hatte Mühe, nicht vor Zorn in Tränen auszubrechen. In New York war sie eine respektierte und hoch angesehene Journalistin gewesen. Sie hatte Skandale aufgedeckt, war Simons Muckracker gewesen, eine Art Trüffelschwein, das die brisantesten Themen ausgrub, und sein bestes Pferd im Stall, wie er stets stolz zu sagen pflegte. Hier war sie eine bessere Handlangerin. Meist speiste Simpson sie mit der Berichterstattung über Hochzeiten und Feiern der oberen Schichten ab. Wenn er ihr Artikel über vermisste Tiere oder verloren gegangene Wertsachen auftrug, wertete er das schon gönnerhaft als Herausforderung für Maggie. Dabei war sie mittlerweile auch in San Francisco gut vernetzt und hatte viele Quellen. Doch immer wenn sie etwas gesteckt bekam, nahm Simpson ihr die Geschichte ab, um sie an einen männlichen Kollegen zu übertragen. Dass er sie nach Covelo hatte reisen lassen, glich einem Wunder, das nur möglich geworden war, weil alle männlichen Reporter bereits an anderen Storys arbeiteten. Der Fall barg Potenzial, Maggie hatte sauber und weitreichend recherchiert, sie kannte die Hintergründe aller Beteiligten in- und auswendig, und doch brachte er sie nun um ihren Aufmacher. Robert Allen würde sich stattdessen wieder mal die Lorbeeren mit seiner dünnen Titelstory verdienen. Dabei durfte sie beim Call nicht einmal erkennbar als Frau schreiben. Ihre Artikel waren stets nur mit M. Steele überschrieben. Einen Pen Name, wie in der Branche Pseudonyme genannt wurden, brauchte sie hier an der Westküste nicht. Anders als in New York musste sie sich und ihre Identität beim San Francisco Call nicht schützen, denn dafür waren die Reportagen, die sie schrieb, viel zu belanglos. Aber Hatties Verschwinden konnte vielleicht ein Durchbruch für sie sein. Es gab alle Zutaten, die die Leser schätzten – ein schönes, trauriges Mädchen, einen gemeinen Stiefvater, ein ganzes Dorf, das nach der »Rose vom Tal« suchte. Sie würde ihr Bestes geben, auch wenn ihre Story weder der Aufmacher sein noch lange ihr gehören würde, sollte Hattie tatsächlich tot aufgefunden werden.

Maggie ließ ihre Finger knacken und beugte sich über das leere Blatt, um sich auf einen guten Anfang zu konzentrieren. Dass sie dabei die Blicke der gesamten Redaktion in ihrem Rücken spüren konnte, machte ihr die Arbeit nicht gerade leichter. Sie wusste, dass manche Kollegen Mitleid mit ihr hatten und sie schätzten, so wie Gunnar Lensky, der sie überhaupt erst hierhergebracht hatte. Er hatte damals in New York für die World gearbeitet, war dann aber mit dem Chief Editor wegen irgendeiner Geschichte aneinandergeraten und hatte gekündigt. Maggie hatte Lensky durch Zufall getroffen, als dieser der alten Heimat einen Besuch abstattete. Sie waren zusammen etwas trinken gegangen, und er hatte von Kalifornien geschwärmt und ihr seine Karte gegeben, falls sie sich beruflich einmal neu orientieren wolle. Kurz darauf war die Sache mit dem Kuss passiert, und im Anschluss brannte der Herald. So hatte sie das Treffen mit Gunnar als Zeichen gewertet und war an die Westküste gezogen. Vermutlich fühlte er sich deshalb auch in gewissem Maße für sie verantwortlich. Andere, wie Cunnings und Allen, hielten ebenso wenig von weiblichen Reportern wie Simpson und ließen sie ihre Geringschätzung bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit spüren. Es half jedoch nichts, sich über diesen täglichen Spießrutenlauf aufzuregen, sie brauchte den Job, Nicky und sie würden sonst auf der Straße landen. Verbissen tippte sie drauflos.

Sie war gerade in ihre Notizen vertieft, als Simpson hinter sie trat und begann, ihren angefangenen Artikel über ihre Schulter hinweg zu lesen. Sie bekam eine Gänsehaut, so unangenehm war ihr seine Nähe.

»Keine haltlosen Theorien, Mrs. Steele«, tadelte er, wobei sein langer Finger von hinten an ihrem Ohr vorbeischoss, um auf die beanstandete Passage zu weisen.

»Mit Verlaub, aber das ist alles andere als haltlos, Mr. Simpson. Es deutet vieles auf den Stiefvater hin. Die Leute im Ort reden offen darüber, und sogar der Polizeichef deutete an, dass man den Mann gut durchleuchten werde, weil er eine zwielichtige Vergangenheit hat. Er ist de facto schon mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten«, verteidigte sie sich.

»Entweder, Sie schreiben es so, wie ich es sage, oder jemand anderes wird es tun«, drohte er spitz, bevor er wieder mit forschen Schritten in seinem Büro verschwand. Maggie musste mehrfach ein- und ausatmen, um sich zu beruhigen. Aber natürlich würde sie Folge leisten, er saß nun mal am längeren Hebel. Resigniert riss sie das Papier aus der Schreibmaschine und spannte einen neuen Bogen ein.

Sie war gerade fertig, als sie seine nasale Stimme durch die Redaktion donnern hörte. »Mrs. Steele, in mein Büro – sofort.« Stöhnend erhob sie sich. Was wollte er denn noch? Er hatte sie doch schon vor der ganzen Redaktion gedemütigt, hatte er vor, sie unter vier Augen weiter damit zu quälen, dass er ihr nichts zutraute?

Als sie Gunnars besorgtes Gesicht sah, kam ihr jedoch ein anderer Gedanke. Was, wenn Simpson sie unter einem fadenscheinigen Vorwand feuern würde? Dass er sie loswerden wollte, weil er sie nicht leiden konnte, war ja offensichtlich. Die Angst überfiel sie schockartig. Sie sah sich schon auf der Straße betteln oder sich wieder als Näherin oder Kellnerin für ein paar Dollar abrackern. In jedem Fall wäre ihr journalistischer Weg an der Westküste beendet, da der Call eine der wenigen Zeitungen war, die Hearst nicht gehörten. Und sie würde auf gar keinen Fall beim Evening Post, dem Examiner oder dem Chronicle anfangen, denn sie hätte es niemals übers Herz gebracht, für Simons ärgsten Feind zu arbeiten. Maggie spürte, wie ihre Beine bei jedem Schritt zitterten und ihr Puls sich beschleunigte, als sie Simpsons Büro erreichte.

Der Chief Editor thronte wie eine Spinne im Netz in seinem Glaskasten, der mit teuren Möbeln bestückt war und den Blick auf die 11th Street freigab, wo heute reger Verkehr herrschte. Passend zu ihrer gedanklichen Analogie mit der Spinne starrte er sie wie ein lästiges Insekt an, das es nicht einmal wert war, verspeist zu werden. Maggie holte tief und zittrig Luft und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Doch dann überraschte Simpson sie damit, dass er ihr ein Stück Papier entgegenstreckte, auf dem in fetten Lettern das Logo der Western Union Telegraph Company prangte.

»Für Sie, ein Telegramm«, informierte er sie überflüssigerweise. Maggie starrte auf das Blatt, auf dem ihr sofort der Name des Absenders ins Auge sprang: Mrs. Rosie Broder. Maggie spürte, wie ihr Herz aussetzte, nur um dann doppelt so schnell wieder einzusetzen. Eilig flogen ihre Augen über die wenigen Zeilen.

2

Kannst du nach New York kommen? Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich brauche dich.

Das gelbliche Papier zitterte in Maggies plötzlich schweißnassen Händen. Die Nachricht hätte nicht knapper und kryptischer sein können, und doch stand ihr Entschluss bereits fest, als sie die drei Sätze fertig gelesen hatte. Dafür hätte Rosie dem Telegramm nicht einmal die Bargeldanweisung beifügen müssen für den Kauf der Fahrkarte. Sie hätte ihr letztes Hemd veräußert, um ihrer Cousine beizustehen – wobei auch immer. Denn wenn Rosie sie nach fast drei Jahren absoluter Funkstille nun aus dem Blauen heraus kontaktierte, dann musste es ein echter Notfall sein, und sie war es ihr mehr als schuldig, der Bitte sofort nachzukommen.

Da Maggie die wenigen Urlaubstage, die man ihr zugestand, bereits genutzt hatte, würde ihr nichts anderes bleiben, als auf Simpsons Gnade zu hoffen.

»Private Korrespondenz ist in der Redaktion untersagt, Mrs. Steele. Sie kennen die Regeln«, riss er sie unsanft aus ihren Überlegungen.

»Mr. Simpson, ich brauche dringend ein paar Tage frei«, platzte sie heraus. Sein ungläubiges Schnauben erinnerte Maggie einmal mehr daran, was für ein empathieloser Kerl der Chief Editor war.

»Sie haben Ihre freien Tage aufgebraucht, als Ihr Junge krank war, Mrs. Steele. Wenn Sie verreisen wollen, dann sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass Ihre Stelle hier anderweitig besetzt wird.«

Sie blickte ihn an, als wäre sie gerade aus einer Trance erwacht.

»Wissen Sie was, Mr. Simpson? Sie können mich mal.«

Die ohnehin schon runden Augen hatten sich so sehr geweitet, dass Simpson wie ein Fisch durch seine Brille schaute, während er empört nach Luft schnappte.

»Was fällt Ihnen ein …«

Weiter kam er nicht, denn Maggie baute sich nun wie ein Racheengel vor ihm auf, die grünen Augen kampflustig auf ihn gerichtet.

»Ich kann Ihnen sagen, was mir einfällt. Mir fällt ein, dass ich unterbezahlt bin und mies behandelt werde. Mir fällt ein, dass Sie mir nie den geringsten Respekt entgegengebracht haben und mir auch nicht den Hauch einer Chance gaben, mich hier zu beweisen. Mir fällt ein, dass Sie vom Zeitungsmachen so viel verstehen wie ein Hund vom Brotbacken, und mir fällt ein, dass es schon längst überfällig ist, Ihnen meine Kündigung auszusprechen.« Sie lächelte ihn herausfordernd an und setzte noch einmal nach.

»Und außerdem ist der Fall Waltham der bessere Aufmacher. Es wird herauskommen, dass der Stiefvater etwas mit Hatties Verschwinden zu tun hat, aber bis dahin sitze ich schon im Zug nach New York, während Sie den Call erneut um einen guten Scoop bringen. Guten Tag, Mr. Simpson.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihr Gegenüber einfach stehen, dem vor lauter Entrüstung die Kinnlade heruntergeklappt war. Nie hatte sie sich besser gefühlt als in diesem Augenblick. Aufrecht und mit erhobenem Haupt schritt sie durch die mucksmäuschenstille Redaktion und begann, ihren dürftigen Besitz in ihre Handtasche zu räumen. Als sie sich anschickte, die Redaktion zu verlassen, stand Gunnar plötzlich vor ihr. Sein fleischiges Gesicht zeigte nur selten eine Regung, doch gerade breitete sich ein frohes Grinsen auf seinen Zügen aus. Er nickte anerkennend. Nach und nach standen ihre anderen Kollegen auf und zollten ihr ebenfalls mit einem Nicken Respekt, sodass sie mit roten Wangen und klopfendem Herzen die Reihen bis zur Tür abschritt. Nur Cunnings und Allen waren stoisch sitzen geblieben und starrten auf ihre Schreibtischplatten. Maggie fühlte sich nach diesem gloriosen Abgang wie berauscht. Sie trat ins Freie und holte ein paarmal tief Luft, um sich zu beruhigen. Es hatte so unendlich gutgetan, Simpson all die Ungerechtigkeiten ins Gesicht zu schleudern. Sie wollte diesen Moment noch auskosten und weigerte sich, hier und jetzt darüber nachzugrübeln, dass sich innerhalb weniger Augenblicke ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hatte – wieder einmal.

Immer noch lächelnd, nahm sie die Kabelbahn in Richtung Hafen, wo sie nahe Chinatown ein billiges Apartment bewohnte. Es war ein wundervoller Sommertag. Der Himmel über der Bucht von San Francisco war so blau, dass man am Horizont kaum ausmachen konnte, wo er endete und das Wasser begann. Auf dem Heimweg kaufte sie schnell noch ein paar Dinge für Mrs. Chung, ihre Nachbarin, die auf Nicky aufpasste, während Maggie arbeiten ging. Zum Glück begnügte diese sich als Gegenleistung damit, dass Maggie für sie Besorgungen machte und ihren Papierkram erledigte. Eine echte Nanny hätte sie sich nie leisten können. Immer wenn sie die Tür zum Hausflur aufstieß, kribbelte die Vorfreude auf ihren Sohn wie eine Horde Ameisen unter ihrer Haut. Sie liebte Nicky abgöttisch, er war ihr Sonnenschein, ihr Licht und alles, was ihr von Nando geblieben war.

Als sie in die Wohnung trat, stand er wie so oft auf einem Hocker neben Mrs. Chung und rollte Teig aus für deren Leibgericht, Wan Tan. Nicky war wohl einer der wenigen Zweijährigen, der schon Teigtaschen fertigen und sie danach mit Stäbchen verzehren konnte.

»Mommy«, rief er und sprang eilig von seiner kleinen Erhöhung. Maggie ging in die Knie und erwartete seine stürmische Umarmung mit ausgebreiteten Armen.

»Hallo, mein kleiner Liebling, wie war dein Tag?«, fragte sie, als sie ihn ausgiebig geherzt und dann auf ihre Hüfte gesetzt hatte. Seine kohlefarbenen Augen leuchteten, während er sich unwirsch eine dunkle Locke aus dem Gesicht wischte.

»Chungie macht Wan Tan«, erklärte er das Offensichtliche. Erwartungsvoll blickte er sie an. Himmel, wie sehr sie diesen kleinen Menschen liebte. Dabei fragte sie sich manchmal, ob es ein böser Streich des Schicksals oder ihr größtes Glück war, dass er seinem Vater so sehr ähnelte, dass sie Nando nicht einmal hätte vergessen können, wenn sie es gewollt hätte. Rein optisch hatte er nichts von Maggie mitbekommen, außer vielleicht den etwas helleren Hautton. Auch seine Art erinnerte sie täglich schmerzvoll an Nando. Er war klug und wissbegierig und liebte es, sich Bilder anzusehen. Und wenn er jemanden in sein Herz geschlossen hatte, dann vollkommen. Auch darin war er seinem Vater gleich.

»Hungrig, Mommy?«, wollte er wissen und begann, sich unruhig in ihrer Umarmung zu winden. Er wollte wieder auf seinen Posten klettern und den Teig rollen.

»Ein dicker Kuss noch«, flehte sie. Seine kleinen Händchen umfassten ihre Wangen und drückten sie zusammen, sodass sie nun vermutlich wie ein Karpfen aussah. Dann presste er ihr einen so feuchten Kuss auf, dass sie laut lachen musste. Sie gab ihn frei, und er lief eilig zurück zu seinen angefangenen Teigtaschen.

»Du früh heute«, stellte Mrs. Chung mit einem Blick auf die Uhr fest.

Maggie nickte erschöpft. Sie ließ ihre schwere Tasche sinken und kam zur Anrichte, wo sie sich etwas Teig abzwackte, was Mrs. Chung mit einem liebevollen Hieb auf ihre Finger quittierte.

»Nicht naschen, Mommy«, mahnte auch Nicky. Sie zwinkerte ihm zu, während sie ihr Diebesgut schnell im Mund verschwinden ließ.

»Sag, Nicky, was hältst du davon, wenn wir eine Reise machen?«, fragte sie so beiläufig wie möglich. Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.

»Wohin?«, wollte er wissen.

Sie schloss kurz überwältigt die Augen. Seit sie Rosies Zeilen erhalten hatte, waren die unterschiedlichsten Gefühle in ihr hochgekommen, allen voran jedoch ein unbändiges Heimweh.

»New York«, sagte sie dann zittrig, selbst überrascht davon, wie zwei kleine Worte so viele Erinnerungen heraufbeschwören konnten.

»Ist das am Hafen?«, erkundigte sich ihr Sohn.

»Nein, Baby, das ist auf der anderen Seite des Landes.«

»Kommt Chungie auch mit?«

Sie musste schlucken, natürlich würde er die Nachbarin vermissen, mit der er täglich viele Stunden verbrachte, während Maggie arbeiten musste.

»Chungie zu alt für Reise«, befand diese mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Wie lange bleiben wir denn?« Nicky sah sie abwartend an.

»Ich weiß es nicht, Nicky, aber es kann sein, dass wir gar nicht mehr zurückkehren. New York ist Mamis Heimat, ich habe Freunde und Familie da«, erklärte sie, doch fühlte sich bereits schlecht, weil sie die Tränen in seinen dunklen Augen schimmern sah.

»Ich hab Freunde und Chungie hier«, befand er trotzig.

Maggie blickte hilflos zu Mrs. Chung, die jedoch nur mit den Schultern zuckte.

»Chungie geht nun rüber«, sagte sie, griff im Vorbeigehen die Tüte mit den Einkäufen, die Maggie für sie besorgt hatte, und schlurfte gebeugt auf die Apartmenttür zu. Im Flur wandte sie sich noch einmal um.

»Gut, wenn du gehst, du hier nie richtig zu Hause warst.« Mit diesen weisen Worten ließ sie Maggie gleich mit mehreren Problemen zurück. Zum einen hatte sie keine Ahnung, wie man Wan Tan machte, zum anderen starrte ihr Sohn sie nun so feindselig an, dass ihrer Zuversicht die Luft ausging wie dem blauen Ballon, den sie ihm vergangene Woche auf dem Jahrmarkt gekauft hatte.

Am Ende hatte sie ein halbwegs passables Essen aus dem Teig und den Zutaten gezaubert, auch wenn es wenig chinesisch schmeckte. Nicky hatte während des Essens trotzig geschwiegen, doch als sie ihn in seinen Pyjama gesteckt und ihm seine Lieblingsgeschichte vorgelesen hatte, wurde er versöhnlicher.

Bereits morgen wollte Maggie die Fahrkarten kaufen und den Mietvertrag für das möblierte Apartment kündigen. Zum Glück zahlte sie wochenweise, sodass sie ihre Zelte hier schnell abbrechen konnte. Sie würde schon etwas anderes finden, sollten sie denn überhaupt wiederkommen. Irgendetwas sagte ihr nämlich, dass ihr Aufenthalt in New York mehr als nur ein kurzer Besuch sein würde.

Neben ihr war Nicky eingeschlafen. Seine vollen Lippen bewegten sich leicht im Schlaf, als würde er jemandem etwas erzählen. Sie streckte sich leise neben seiner winzigen Gestalt aus und zog ihn an sich, um sich in seinem kindlichen Duft zu verlieren. In solchen Augenblicken wusste sie, dass es doch noch Glück in ihrem Leben gab. Wie sehr wünschte sie sich, dass Nando seinen Sohn kennenlernen würde, damit sie dieses Glück teilen konnten, aber seit dieser verhängnisvollen Nacht damals war er wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte mehrfach versucht, etwas aus Ma Sally, seiner Mentorin, die nebenbei eine echte New Yorker Unterweltgröße war, herauszubekommen, doch Sally versicherte ihr, dass Nando jeglichen Kontakt abgebrochen hatte.

»Ich würd’s dir schon sagen, erst recht, wo unser Junge dir ’nen Braten in die Röhre geschoben hat«, hatte sie beteuert, als Maggie ihr in ihrer Verzweiflung von der Schwangerschaft erzählte. Sie erinnerte sich nur allzu gut an diese schreckliche Zeit. Nando war schon drei Monate verschwunden, als Maggie feststellte, dass ihre eine, gemeinsame Nacht nicht folgenlos geblieben war. War sie zuvor schon manisch gewesen bei ihrer Suche nach ihm, so war sie nun wie von Sinnen. Tagein, tagaus hatte sie recherchiert, doch egal, welche Quellen sie anzapfte, sie fand keine Spur. Durch den Brand hatte sie nicht einmal die Arbeit, die sie sonst ablenkte und ihren Lebensunterhalt sicherte, was zu all ihren Nöten noch die finanzielle Belastung hinzufügte. Sie bezog wie alle Reporter von Simon nur ein kleines Grundgehalt, solange der Herald nicht gedruckt werden konnte, sodass ihre Ersparnisse schneller schmolzen als der Schnee auf dem East River. Einsam, traurig und hoffnungslos, so hatte sie sich gefühlt. Trotzdem hatte sie nie auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken gespielt, sein Kind nicht zu bekommen.

Wenn wenigstens Rosie ihr vergeben hätte, doch die hatte sich weiterhin beharrlich geweigert, Maggie auch nur anzuhören. Simon hatte sie irgendwann gebeten, ihre fruchtlosen Versuche, Rosie um Verzeihung zu bitten, einzustellen. »Schon mit mir redet sie kaum. Ich kämpfe jeden Tag um ihre Vergebung, aber sie ist sehr verletzt, Maggie«, hatte er schuldbewusst gesagt, als sie wieder einmal vor dem Haus der beiden aufgetaucht war. Das war der Moment, in dem sie beschlossen hatte, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. »Ich denke, ich werde New York verlassen, Simon«, hatte sie die vage Idee atemlos in Worte gekleidet und im Stillen gehofft, dass er sie zurückhalten möge. Doch er hatte nur traurig die Schultern gezuckt. »Das wird wohl das Beste sein, ich habe keine Ahnung, ob und wann der Herald jemals wieder erscheinen wird.«

So war sie nach Hause gegangen und hatte schweren Herzens Gunnar angeschrieben, der ihr kurze Zeit später die Stelle beim Call vermittelte. Als sie in den Zug stieg, hatte sie dem Baby in ihrem Bauch versprochen, dass alles gut werden würde. Ein Versprechen, das zu ihrem persönlichen Ansporn wurde. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, obwohl diese schlecht bezahlt und undankbar war, für ihr Kind wäre sie jedoch auch durch die Hölle gegangen. Eigentlich hätte sie die Stelle aufgeben müssen, als Nicky geboren wurde. Doch zum Glück hatte sich Mrs. Chung, mit der sie sich bereits kurz nach ihrem Einzug angefreundet hatte, als rettender Engel erwiesen. Sie versprach Maggie, auf das Baby aufzupassen und sie zu unterstützen. Es waren harte Jahre, auch weil sie es hasste, ihren Sohn in die Obhut einer anderen Frau geben zu müssen. Aber mit der Zeit gewöhnte sie sich an dieses Leben, das so ganz anders war als das in New York. Sie selbst war durch die Mutterschaft eine andere geworden und fremdelte mit der alten, unbeschwerten, naiven Maggie. Vielleicht hatte sie darum niemandem aus ihrer Vergangenheit von Nickys Existenz erzählt – außer Ma Sally. Nicht einmal Mama daheim in Deutschland, mit der sie regelmäßig schrieb, wusste von ihrem Enkelkind. Sie brachte es nicht übers Herz, zu beichten, dass Nicolas zwar in Liebe, aber unehelich gezeugt worden war und wegen ihres Fehlverhaltens vaterlos aufwachsen musste.

Nicky stieß ihr im Schlaf einen Ellenbogen in die Seite. Sie zuckte kurz, bevor sie ihn sanft von sich schob, um ihn wieder zuzudecken. Der Gedanke, dass Vergangenheit und Gegenwart bei ihrer Rückkehr nach New York nun aufeinanderprallen würden, machte sie auf gute und schlechte Art nervös.

»Morgen, mein Kleiner, morgen fahren wir nach Hause«, flüsterte sie in seine dunklen Locken, bevor der Schlaf auch sie übermannte.

3

Rosie presste den Hörer des vor wenigen Wochen installierten Haustelefons so fest an ihr Ohr, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie hatte das Telegramm erst vor drei Tagen geschickt, und nun hatte ihr Butler Brooks ihr gerade mitgeteilt, dass »an der Apparatur«, wie er sich so schön steif ausdrückte, eine Telefonistin frage, ob sie ein Gespräch von einer Maggie Steele aus Chicago annehmen würde.

»Rosie?« Maggies Stimme klang vertraut, wenn auch zaghafter, als Rosie sie in Erinnerung hatte.

Sie holte tief Luft. Sie musste jetzt über ihren Schatten springen, musste die Vergangenheit ruhen lassen, es stand zu viel auf dem Spiel. Außerdem hatte sie es auch geschafft, Simon zu vergeben, dann sollte sie das Gleiche auch für ihre Cousine und ehemals beste Freundin tun können.

»Hallo, Maggie«, sagte sie darum bemüht freundlich und hoffte, dass Maggie das leichte Zittern in ihrer Stimme durch die schlechte Verbindung nicht ausmachen konnte.

»Ich habe dein Telegramm bekommen und bin gleich aufgebrochen. Der Zug der Pacific Railroad ist vor einer Stunde in Chicago angekommen. Wir haben einen längeren Aufenthalt, und als ich gesehen habe, dass es hier einen Münzfernsprecher mit einer Leitung nach New York gibt, da dachte ich, ich melde mich kurz. Wir werden gegen Abend am Grand Central Depot ankommen, sofern die Abrissarbeiten dort am Empfangsgebäude nicht für größere Behinderungen sorgen.« Maggies Plauderton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie nach der langen Funkstille verunsichert war, was Rosie ein wenig erleichterte.

»Danke, dass du dich so schnell auf den Weg gemacht hast, wirklich. Ich bin verzweifelt. Es ist etwas Furchtbares passiert, Maggie«, sagte sie und wusste, dass man ihr nun die kaum im Zaum zu haltende Panik anhören konnte.

»Das hast du geschrieben«, erinnerte Maggie angespannt.

»Jemand hat einen Anschlag auf Simon verübt. Es sieht nicht gut aus.«

Sie konnte hören, wie Maggie vernehmlich schluckte.

»Grundgütiger, Rosie, wie furchtbar. Etwa schon wieder einen Brandanschlag?«

Rosie schluchzte auf und brauchte einen kurzen Moment, bis sie sich so weit im Griff hatte, dass sie sprechen konnte. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg und versuchte, ihrer Cousine so ruhig wie möglich zu erklären, was passiert war.

»Nein, dieses Mal hat es nicht den Herald getroffen, sondern Simon.« Ihre Stimme brach kurz bei den Worten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder seinen reglosen Körper im Krankenhaus liegen. »Er hatte ein Geschäftsessen, und auf dem Heimweg wurde seine Kutsche überfallen. Der vermeintliche Dieb hatte ein Messer. Die Polizei glaubt, dass er die Tür aufgerissen und Simon das Messer gleich in den Brustkorb gerammt hat.« An diesem Punkt ihrer Erzählung musste sie benommen die Augen schließen, zu schrecklich war es, sich auszumalen, wie genau der Überfall abgelaufen war.

Maggie stieß am anderen Ende der knackenden Leitung einen erschrockenen Laut aus.

»Oh nein, Rosie, das ist ja schrecklich. Ist er … hat er es …?« Beide Fragen endeten unausgesprochen, doch Rosie wusste auch so, was Maggie hatte wissen wollen.

»Er hat überlebt, aber er liegt seither im Koma.«

Das Schweigen am anderen Ende wog bleischwer. »Nicht nur Simon wurde Opfer dieses feigen Angriffs«, fuhr Rosie nach einer kleinen Pause beklommen fort. »Stephens, sein Kutscher, wollte ihm zu Hilfe eilen, dabei wurde er so schwer verletzt, dass er noch auf der Straße verblutet ist. Zum Glück kamen Passanten vorbei. Sie haben verhindert, dass der Überfall auch für Simon tödlich endete. Der Attentäter konnte trotzdem entkommen und hat zudem noch Simons Brieftasche und seine geliebte Uhr mitgehen lassen. Simon wurde umgehend ins New York Hospital gebracht und operiert. Aber Maggie, er hat so schrecklich viel Blut verloren. Die Ärzte können nicht sagen, ob er durchkommen wird.«

Nur darüber zu sprechen, hatte sie bereits so viel Kraft gekostet, dass Rosie sich atemlos an die Wand lehnen musste. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie konnte hören, wie Maggie nun leise weinte. Sie schwiegen einige Augenblicke gemeinsam, verbunden in ihrem Schmerz trotz allem, was vorgefallen war. Maggie hatte sich als Erste wieder so weit gefasst, dass man ihrer Stimme die Tränen kaum noch anhören konnte bei ihren nächsten Worten. »Wie kommst du darauf, dass es ein gezielter Anschlag war? Es könnte genauso gut ein willkürlicher Raubüberfall gewesen sein«, stellte sie folgerichtig fest. Maggie wäre nicht Maggie, wenn sie nicht auch in dieser Situation ihren Spürsinn beibehalten hätte, schoss es Rosie durch den Kopf. Sie bewunderte die Gabe ihrer Cousine, sogar in Momenten tiefster Erschütterung einen kühlen Kopf bewahren zu können. Sie selbst war schon seit Tagen nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

»Nun ja, Simon war am Mittag noch mit Hearst im Waldorf-Astoria essen. Hearst hat erneut versucht, ihn zum Verkauf des Herald zu drängen. Simon hat natürlich nicht eingewilligt, deshalb vermuten wir, dass Hearst danach andere Wege gesucht hat, um seinen Willen zu bekommen.«

»Dieser gottverdammte Bastard, er ist damals schon mit dem Brand einfach so davongekommen. Wenn er dahintersteckt, wird er dieses Mal dafür zahlen, Rosie, das schwöre ich«, schimpfte Maggie. Ihre Trauer war in Wut umgeschlagen, sodass Rosie warm ums Herz wurde. Manche Dinge änderten sich nie, zum Beispiel Maggies Mut und ihre große Klappe. Es tat gut, ihre Sorgen wieder mit ihr teilen zu können und in ihr eine Verbündete zu haben, auch wenn Maggies Verrat nach wie vor an Rosie nagte.

»Wo hat der Attentäter zugeschlagen?«, wollte sie nun wissen.

»Unweit unseres Hauses am Ende der 82. Straße. Auch das spricht für eine gezielte Tat, Raubüberfälle sind hier in Yorkville nicht gerade an der Tagesordnung. Simon wollte wie jede Woche noch frische Blumen bei Mr. Perkins für mich kaufen, deshalb hatte er Stephens gebeten, die Kutsche anzuhalten.«

»Der Täter oder sein Auftraggeber muss davon gewusst haben«, mutmaßte Maggie.

»Du meinst, wenn er nicht wegen mir angehalten hätte, wäre vielleicht nichts passiert?«, fragte Rosie entsetzt. Daran hatte sie bislang noch gar nicht gedacht. Die Vorstellung, dass Simon angegriffen wurde, weil sie sich so über das wöchentliche Bouquet Blumen freute, ließ all ihre Dämme brechen. Rosie schluchzte hemmungslos, Tränen rannen über ihr Gesicht, und sie krümmte sich, als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen.

»Oh Rosie, das meinte ich nicht, und das darfst du auch nicht denken. Wenn Hearst es auf Simon abgesehen hat, dann hätte er ihm überall auflauern können, dich trifft wirklich keine Schuld.«

Maggies Worte taten gut, doch halfen weder, sie zu beruhigen, noch, ihre plötzlichen Schuldgefühle zu mindern.

»Es tut mir so leid, sag, was kann ich tun?«, wollte Maggie wissen.

Dankbar wischte sich Rosie die Tränen vom Gesicht. Sie hatte Maggies Reaktion allerdings auch nicht anders erwartet. So war sie eben, hilfsbereit, freundlich, mitfühlend. Leider aber auch skrupellos genug, Simon damals bei der erstbesten Gelegenheit zu küssen. Rosie schluckte immer noch schwer daran, doch die Vergangenheit durfte ihr in der jetzigen Situation nicht im Weg stehen. Es ging hier um nichts weniger als Simons Lebenswerk.

»Siehst du eine Möglichkeit, den Herald so lange zu führen, bis Simon hoffentlich wieder aufwacht?«

Maggie zögerte keine Sekunde.

»Natürlich, ich muss nur schauen, wo ich in New York unterkomme. Vielleicht hat Gundel für die erste Zeit ein Zimmer im Boarding House«, dachte sie laut nach.

»Gundel ist ausgebucht, ich war erst vergangene Woche zum Tee bei ihr«, sagte Rosie, die immer noch eine enge Freundschaft mit der alten Vermieterin unterhielt, in deren Pension Simon, Maggie, Nando und sie nach ihrer Ankunft in New York damals untergekommen waren.

»Na ja, es wird auch irgendwo andere Unterkünfte geben«, sinnierte Maggie laut.

»Unsinn. Du kannst bei uns leben, bis wir für alles eine Lösung gefunden haben«, platzte Rosie heraus, obwohl sie ihr Angebot im gleichen Atemzug bereute. Wollte sie wirklich wieder mit Maggie zusammen unter einem Dach sein nach allem, was geschehen war?

»So einfach ist das nicht, Rosie. Ich …« Maggie brach ab und schien um die richtigen Worte zu ringen. »Ich bin nicht allein«, sagte sie dann leise.

»Oh, ach so, bist du mittlerweile verheiratet?« Rosie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vorwurfsvoll klang. Sie waren immerhin Cousinen, und eine Einladung zur Hochzeit wäre trotz aller Differenzen das Mindeste gewesen, was sie erwartet hätte – egal, ob sie diese angenommen hätte.

»Nein, ich bin nicht verheiratet, ich …« Wieder brach Maggie ab. »Ich kann es dir hier am Fernsprecher nicht erklären. Alles weitere, wenn ich angekommen bin.«

Erleichterung durchflutete Rosie ebenso wie Angst vor dem Wiedersehen.

»Mit wem auch immer du vor meiner Tür stehst, ihr seid mir herzlich willkommen«, bekräftigte sie ihr Angebot erneut, auch um sich noch einmal selbst zu überzeugen. »Und nimm dir eine Mietdroschke. Ich zahle, wenn du hier bist. Unser neuer Kutscher arbeitet sich gerade erst ein«, schob sie schnell hinterher.

Doch statt auf den Vorschlag einzugehen, war Maggie wohl gerade ein neuer Gedanke gekommen.

»Woher wusstest du eigentlich, wo du mich in Frisco finden kannst?«, wollte sie plötzlich wissen, ganz die neugierige Reporterin.

»Tante Helga und ich schreiben von Zeit zu Zeit. Sie bedauert unser Zerwürfnis, auch wenn sie die Hintergründe nicht zu kennen scheint.« Ihre Antwort schien Maggie nicht zu schmecken, denn am anderen Ende blieb es still. Rosie erinnerte sich wieder daran, was ihre Tante in einem ihrer Briefe über Maggies neue Arbeit erzählt hatte. Sie wird schlecht bezahlt und schlecht behandelt dort in San Francisco. Vermutlich waren es gerade solche Details, die Maggie lieber für sich behalten hätte. Ihre Cousine hatte schon immer einen großen Stolz besessen.

Rosie überging Maggies beredtes Schweigen. »Bitte beeile dich«, flehte sie leise.

»Mach ich, ich muss ohnehin los, der Zug fährt gleich weiter. Rosie?« Maggie machte eine Pause, bevor sie leiser weitersprach. »Danke, dass du dich gemeldet hast, das hat mir viel bedeutet. Bis morgen.«

Mit diesen Worten legte sie auf.

Rosie ließ den Hörer des Wandtelefons in die dafür vorgesehene Halterung gleiten. Es war ihr erstes Gespräch mit dem Apparat, und sie fand es immer noch merkwürdig, sich mit einem Menschen zu unterhalten, der mehrere Hundert Meilen weit entfernt war. Doch diese neue Technik war auch ein Segen. So wusste sie nun sicher, dass Maggie auf dem Weg war, und konnte sich auf das Wiedersehen vorbereiten.

Seit dem schrecklichen Tag, als Simon niedergestochen worden war, fühlte sie sich unendlich erschöpft und überrollt von all den Ereignissen. Und auch wenn sie sich auf Maggie freute, würde das erste Treffen nach ihrem Zerwürfnis ihr weitere Kraft abverlangen.

Entmutigt ließ sie sich mit dem Rücken an der Wand herabgleiten, wo sie am Boden wie ein verängstigtes Kind sitzen blieb. Noch vor wenigen Tagen hätte sie jeden ausgelacht, der ihr gesagt hätte, dass sie Maggie wieder in ihr Leben lassen würde. So schnell konnten die Dinge sich ändern.

Nun, sie hätte auch nie geglaubt, dass ihre Cousine, die sogar ihre Trauzeugin gewesen war, sie so hintergehen würde, bis zu dieser verhängnisvollen Nacht vor über zweieinhalb Jahren. Natürlich hatte Rosie immer geahnt, dass auch Maggie tiefere Gefühle für Simon hegte. Doch es war von Anfang an klar gewesen, dass Simon diese nicht erwiderte. Er hatte schon auf der Überfahrt deutlich gezeigt, dass er sie, Rosie, sehr gernhatte. Ihre dunkle Vergangenheit hatte einer Beziehung aber lange im Weg gestanden, weshalb er irgendwann New York den Rücken kehrte. Und gerade als sie das Gefühl hatte, über ihn hinweg zu sein, war Simon wieder aufgetaucht. Alle alten Gefühle hatten mit Macht an die Oberfläche gedrängt. Und auch er hatte sie nicht vergessen. Sie fühlte sich damals reifer, stärker und bereit, es mit einer Beziehung zu versuchen. Sie war glücklich gewesen, als er das zweite Mal um ihre Hand anhielt. So glücklich, dass sie verdrängte, wie verkorkst sie tief im Herzen doch war. Der Start in ihre Ehe glich darum auch einer Katastrophe. Sie hatte Simon in der Hochzeitsnacht von sich gestoßen und ihn von da an auf Abstand gehalten. Es war also zumindest nachvollziehbar, dass er sich in seiner Verzweiflung Maggie zuwandte. Doch dass ihre Cousine diesen Umstand so schamlos ausgenutzt hatte, schmerzte auch heute noch wie eine schlecht verheilte Wunde. Müde legte Rosie die Stirn auf die Knie und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihre Sorge um Simon brachte sie fast um den Verstand. Sie betete stumm, dass Gott ihn ihr nicht nehmen möge. Nicht jetzt, wo sie so gute Fortschritte machte mit Dr. Fiend.

Es hatte gedauert, bis Rosie Simon seinen Fehltritt hatte vergeben können. Es war nur ein Kuss, Rosie, nur ein einziger, dummer Kuss. Es war Alkohol und eine Menge Verzweiflung im Spiel. Ich habe immer nur dich geliebt, hatte er versichert und sie angefleht, ihm zu verzeihen. Sie war danach mit ihm nach Hause zurückgekehrt, schließlich konnte sie sich nicht ewig bei der guten Johanna vor ihren Problemen verstecken. Die ältere Frau war zwar seit ihrer Ankunft damals in Amerika eine gute Freundin und mittlerweile für Rosie sogar so etwas wie ein Mutterersatz, doch wusste sie, dass Johanna auch anderweitig in ihrer großen Kirchengemeinde gebraucht wurde und nicht nur ihre Tränen trocknen konnte. Verzeihen konnte sie Simon deshalb aber noch lange nicht. Daran änderten auch all seine Bemühungen nichts. Sie war zu verletzt gewesen, um sich über die unzähligen Blumenbouquets zu freuen, zu erschüttert, um die vielen Geschenke zu honorieren, zu stur, um seinen Beteuerungen Glauben zu schenken, dass der Kuss nichts bedeutet hatte. Eines Nachts jedoch hatte er ihr einen wunderschönen Brief geschrieben und unter der Tür durchgeschoben. Ich bin nichts ohne dich. Du bist mein Licht, meine Liebe, meine Heimat, du bist alles für mich, Rosie. Ich flehe dich an, gib mir – gib uns noch eine Chance. Seine verzweifelten Worte schwarz auf weiß zu lesen, hatte die Tür zu ihrem Herzen zumindest ein kleines Stück weit aufgehen lassen. Langsam hatten sie sich wieder angenähert, aber nicht nur Maggie stand zwischen ihnen, sondern auch immer noch Rosies traumatische Vergangenheit. Sie hatte versucht, allein damit fertigzuwerden, doch Körperlichkeit konnte sie in ihrer Ehe immer noch nicht zulassen, egal, wie sehr sie Simon liebte.

Erst als sie vor einigen Monaten in einer alten Handtasche plötzlich die Visitenkarte von Dr. Jeffrey Fiend wiedergefunden hatte, war Hoffnung in ihr aufgekeimt. Sie hatte den Mann ganz vergessen, den sie in dieser unseligen Nacht getroffen hatte, als sie Maggie und Simon in flagranti erwischte und danach das Gebäude des Herald ein Raub der Flammen wurde. In den Wochen und Monaten danach hatten sie alle so viel um die Ohren, dass Rosie überhaupt nicht mehr an ihre Begegnung mit ihm dachte. Fiend war Psychiater und hatte seine Praxis mittlerweile an der Upper East Side westlich vom Central Park. Er hatte sich gleich an sie erinnert und ihr umgehend einen Termin gegeben. Anfangs hatte es sich komisch angefühlt, mit einem Fremden über ihr Privatleben zu sprechen, aber mit der Zeit merkte sie, dass die Sitzungen bei Fiend ihr halfen, besser mit dem Erlebten zurechtzukommen. Es fühlte sich an, als würde sie Stück für Stück Geröll abtragen, welches zentnerschwer auf ihrer Seele gelastet hatte. So von Teilen ihrer schweren Vergangenheit befreit, schaffte sie es sogar, etwas Nähe mit Simon zuzulassen, wenngleich es meist nicht mehr waren als kleine Umarmungen und keusche Küsse. Am Ende hatte sie sogar dieser komischen Hypnosetechnik zugestimmt. Irgendwann musste der Knoten doch einmal platzen und sie in der Lage sein, Körperlichkeit zuzulassen.

Wie gern wollte sie Simon eine richtige Ehefrau sein, ihm Kinder schenken, seine Liebe auf jeder Ebene erwidern. Dafür hätte sie alles getan.

Ihre Gedanken kehrten zu Maggie zurück, die kein Problem damit gehabt hatte, Simon zu küssen. Vielleicht konnte sie ihrer Cousine darum auch so schwer verzeihen – sie hatte Simon gegeben, wozu Rosie nicht in der Lage war.

Als sie eilige Schritte hörte und ihr Dienstmädchen Susanna mit dem Staubwedel im Wohnzimmer verschwinden sah, kam sie auf wackligen Beinen hoch. Sie wischte sich die letzten Tränen fort und holte tief und zittrig Luft. Jetzt war nicht die Zeit, egoistisch an ihren eigenen Kummer und ihre Bedürfnisse zu denken. Sie musste dafür sorgen, dass der Herald auch in Simons Abwesenheit nach seinen Wünschen und Ideen fortgeführt würde. Und das konnte sie nur garantieren, wenn sie Maggie zurückholte. Sie kannte den Herald wie kein anderer, war von Anfang an dabei gewesen und hatte mit Simon zusammen das Leitbild entwickelt. Seit Maggie und Nando fortgegangen waren, hatte es allerdings viele Hindernisse und Änderungen gegeben. So hatten sie nach dem Feuer zunächst mit der Versicherungsgesellschaft gestritten. Diese hatte sich jedoch geweigert, zu zahlen. Die Polizei hatte in ihrem Abschlussbericht die Vermutung bestätigt, dass es Brandstiftung gewesen war, und Simons Vertrag deckte diese Art von herbeigeführtem Schaden nicht ab.

Der Wiederaufbau war zeitintensiv und hatte sie viel Geld gekostet. Einige ihrer besten Reporter waren in den langen Wochen, in denen der Herald nicht produziert werden konnte, zur Konkurrenz gewechselt, obwohl Simon allen angeboten hatte, weiterhin ein Grundgehalt zu zahlen. Natürlich hatte Hearst sowohl von Simons Männern profitiert als auch von der Tatsache, dass der Konkurrent für unbestimmte Zeit vom Markt war. Nachzuweisen war ihm jedoch trotz aller Bemühungen nichts, was Simon noch entschlossener machte, wie der buchstäbliche Phönix aus der Asche zu steigen. Nach dem Wiederaufbau hatte er ein neues Team zusammengestellt und eine ganze Woche den Herald gratis an alle Haushalte in New York verteilt. Damit hatte er den Fuß wieder in der Tür. Die Auflage stieg, und es schien endlich wieder Normalität einzukehren in ihrer beider Alltag, doch dann war das Attentat geschehen …

Wenn sie nur daran dachte, bekam sie eine Gänsehaut. Die bange Frage, was wäre, wenn er sterben würde, stellte sie sich erst gar nicht. Er würde überleben, musste es einfach! Und wenn er endlich erwachte, wollte sie, dass er ganz beruhigt gesunden konnte, weil die Zeitung nach wie vor gut lief. Darum brauchte sie jetzt Maggie. Dem gerade erst frisch eingestellten Chief Editor das Ruder allein zu überlassen, war ihr zu riskant erschienen. Ennis Talbott war zwar laut Simon ein brillanter Kopf, aber noch sehr unerfahren, was den New Yorker Zeitungsmarkt anging. Zudem wusste Rosie nicht, ob er vertrauenswürdig war.

Sie sah erschrocken auf die Uhr. Schon halb zwölf, sie sollte sich umkleiden, denn sie musste sich bald auf den Weg zu Stephens’ Beisetzung machen. Der arme Mann, dachte sie voller Mitgefühl und kämpfte erneut mit den Tränen, während sie die Marmortreppe zu ihrem Schlafgemach hochstieg. Sie hatte Art Weinstein, Simons Privatsekretär, angewiesen, der Witwe des Kutschers eine großzügige Summe zukommen zu lassen, schließlich war Stephens all die Jahre in Simons Diensten gewesen und hatte nun sogar sein Leben für ihn gelassen. Es war alles so furchtbar.

Sie betrat ihren Schrank und griff nach dem schwarzen Taftkleid, das Susanna ihr am Abend zuvor für den traurigen Anlass gebügelt hatte. Im Vorbeigehen sah sie den Herald auf ihrem Sekretär liegen. Natürlich hatten Simons Reporter groß über den feigen Anschlag auf ihren Verleger berichtet und eine stattliche Belohnung für Hinweise auf den Täter ausgesetzt, aber bislang hatte es keine heiße Spur gegeben. Inspektor Muller, der damals die Ermittlungen zum Tod ihres Stiefvaters geleitet hatte, war mit dem Fall betraut worden. Obwohl seine Gegenwart sie nach wie vor nervös machte, freute sie sich trotzdem, in all dem Chaos in den ersten Stunden nach dem Attentat ein bekanntes und freundliches Gesicht zu sehen.

»Wir werden den Kerl schon dingfest machen«, hatte er ihr versichert.

Kurz blickte sie in den Spiegel, der über ihrem Schminktisch hing. Sie sah grauenvoll aus. Seit zwei Tagen hatte sie so gut wie kein Auge zugetan, die dunklen Ränder unter ihren blauen Augen zeugten davon. Sie war blass und sah abgekämpft aus, aber sie würde durchhalten – für Simon. Sie würde an seiner Seite stehen, und wenn er durchkam, das versprach sie ihrem müden Spiegelbild in diesem Moment, dann würde sie ihre dumme Angst endgültig überwinden und ihm alles von sich geben.

4

Als Rosie von der Beerdigung heimkehrte, fühlte sie sich wie durch die Mangel gedreht. Die ganze Zeit hatte sie darüber nachdenken müssen, dass es genauso gut Simon hätte sein können, den sie heute hier zu Grabe trugen. Die schreckliche Tat hatte ein untrennbares Band zwischen ihr und der Witwe des Kutschers gewoben, weshalb sie der Frau mehrfach versichert hatte, dass sie versorgt sei und sich um nichts Materielles Gedanken machen musste. Die Tatsache half vielleicht, den Alltag zu überstehen, den Mann würde es ihr natürlich nicht ersetzen.

Stephens hatte sich dem Angreifer mutig genähert und ihn von seinem Opfer fortgerissen. Doch der Kerl schien skrupellos, denn, so hatte die Polizei rekonstruiert, er musste sich bereits mit dem Messer im Anschlag umgewandt haben, um den Helfer kaltzustellen. Die Klinge hatte Stephens die Kehle durchtrennt. Rosie wurde einmal mehr übel bei dem bloßen Gedanken. Eilig durchschritt sie den Flur, um sich in Simons Arbeitszimmer mit der täglichen Korrespondenz abzulenken, die Brooks dort nach wie vor jeden Morgen fein säuberlich aufstapelte. Während Rosie sich um die häuslichen Angelegenheiten kümmerte und die privaten Briefe beantwortete, legte sie die geschäftliche Post erst einmal beiseite, was den Großteil ausmachte. Natürlich kümmerten sich Simons Anwalt Lloyd Silverstone und auch sein Privatsekretär Art Weinstein um einige Dinge, aber es wäre eine Erleichterung, wenn sie manche Fragen an Maggie abtreten könnte, von denen sie keine Ahnung hatte, wie etwa, ob der Herald den Papierlieferanten wechseln sollte. Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, verlor sich ihr Blick im Fenster, von dem aus man den wunderschönen Garten sah. Die Nachmittagssonne warf funkelnde Reflexe auf die ansonsten stille Oberfläche des kleinen Sees, an dessen Ufer ein Entenpaar brütete.

Heute Abend würde Maggie auf ihrer Schwelle stehen – das erste Mal nach mehr als zweieinhalb langen Jahren würden sie sich wiedersehen. Viel Zeit war vergangen und vieles passiert. Ob sie so einfach da anknüpfen konnten, wo sie damals geendet hatten? Maggie hatte ihr einst sehr viel bedeutet. Sie waren als Kinder sehr unterschiedlich gewesen, Maggie wild, albern und verspielt, Rosie damals schon sehr vernünftig, ruhig und überlegt. Trotzdem hatten sie sich stets gut verstanden, und sie hatte gute Erinnerungen an die Besuche in Hamburg und die Gegenbesuche im Hunsrück. Doch dann war erst ihr Vater gestorben und später ihre Mutter. Sie war zurückgeblieben mit ihrem Stiefvater, der sie als Ersatz für Mama betrachtete – in jeder Hinsicht. Den Kontakt zu Tante Helga und zu Maggie untersagte er ihr. Wie sie später von Maggie erfuhr, hatte er nicht einmal die Korrespondenz der beiden an sie weitergeleitet.

Dann waren sie zu dieser schicksalhaften Reise nach Amerika aufgebrochen, und ihre Cousine war seither stets für sie da gewesen. Maggie hatte ihr damals, nach dieser schrecklichen Nacht, in der Xaver Hubert zwar betrunken und inmitten eines Sturms, jedoch auch durch ihr Zutun in den Tiefen des Meeres versunken war, den Rücken gestärkt, sie davor bewahrt, etwas Dummes zu unternehmen, sie daran gehindert, kopflos eine Aussage bei der Polizei zu machen. Maggie hatte sie in den langen, albtraumgeplagten Nächten getröstet und ihr neuen Lebensmut gegeben. Und nun kam sie, einfach, weil Rosie und Simon sie brauchten. Die guten Dinge überwogen also bei Weitem diesen einen dummen Moment in Simons Büro.

Sie stand entschlossen auf und läutete nach Susanna, der sie auftrug, das Gästezimmer herzurichten. Danach ließ sie Phelps, den neuen Kutscher, anspannen, damit er sie zum New York Hospital bringen konnte. Sie kleidete sich sehr sorgfältig an und legte sogar etwas Schminke auf für den Fall, dass Simon aufwachen würde. Sie wollte nicht, dass er ihr gleich ansah, wie sehr sie das alles mitnahm.

Das New York Hospital befand sich nahe dem Broadway, hatte ein dreigeschossiges Haupthaus und etliche Nebengebäude. Es galt als das modernste Krankenhaus in New York und hatte schon sehr früh über Gaslicht und eine Dampfheizung verfügt. Hier arbeiteten die besten Ärzte des Landes, und Rosie wusste, dass Simon in guten Händen war. Trotzdem bangte sie jede wache Minute um ihn. Sie lief den langen Gang hinab, an dessen Ende er in einem Einzelzimmer untergebracht war.

Als sie eintrat, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Er sah weiß und eingefallen aus durch den hohen Blutverlust. Sein sonst so ordentlich gestutzter Vollbart war struppig und zu lang. Sie setzte sich auf den Stuhl, der gleich neben seinem Bett stand, und griff nach seiner Hand, die reglos auf der Decke lag. Sie glühte. Eine Schwester betrat den Raum und begrüßte sie freundlich.

»Irgendwelche Fortschritte?«, fragte Rosie hoffnungsvoll, jedoch verneinte die junge Frau. Sie maß Simon die Temperatur und trug den Wert in die Fiebertabelle ein, die an seinem Bett hing.

»Immer noch 102,2 Grad Fahrenheit, Mrs. Broder«, informierte sie, während ihr Stift über das Papier kratzte. Im Kopf rechnete Rosie auch nach all den Jahren den Wert immer noch um, sodass es einen Moment brauchte, bis sie resigniert seufzte. Das waren fast 39 Grad Celsius. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass zwar zum Glück keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren, aber die Wunde hatte sich entzündet, weil die Tatwaffe verschmutzt und rostig gewesen war. Durch den hohen Blutverlust hatte Simon zudem kaum Kraft, um gegen die Folgen dieser Infektion anzukämpfen. Beten Sie für ihn, war der weise Rat von Dr. Kelly gewesen. Rosie war zwar nicht besonders gläubig, trotzdem hatte sie Gott angefleht, ihn durchkommen zu lassen – da sie Katholikin und Simon Jude war, vorsorglich sogar mit christlichen und jüdischen Gebeten, bislang jedoch ohne Erfolg.

Sie betrachtete sein schönes Profil mit der geraden Nase, seine langen Wimpern, die auf seinen Wangen ruhten, und seinen schönen Mund, der auch im Schlaf angespannt wirkte. Sie setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, weil sie hoffte, dass er ihre Anwesenheit so wenigstens spüren würde. Hören Sie auf Ihre innere Stimme, folgen Sie Ihren Impulsen, hatte Fiend ihr in einer der Sitzungen geraten, und genau das tat sie nun, indem sie sich vorsichtig neben Simon ausstreckte. So nah war sie ihm in all den Jahren nur selten gewesen. Sie hatten immer noch getrennte Schlafzimmer und entsprechend noch nie eine Nacht zusammen verbracht. Sie legte ihren Kopf auf ihrem angewinkelten Arm ab und blickte weiter versonnen auf seine schlafende Gestalt.

»Ich liebe dich, Simon«, wisperte sie verzweifelt. »Bitte verlass mich nicht. Ich kann ohne dich nicht leben.« Kurz flatterten seine Lider, als hätte ihr leises Flehen ihn erreicht. Die winzige Regung bewirkte, dass ihr Puls aufgeregt in die Höhe schoss, auch wenn er danach wieder reglos dalag. Sollte sie es wagen? Ihr Herz und ihr Bauch sprachen ihr beide Mut zu. Sie blickte verstohlen Richtung Tür, doch die Schwester war ja gerade erst im Zimmer gewesen, sie hatte also nichts zu befürchten. Entschieden stützte sie sich auf ihren Arm, darauf bedacht, ihn nicht aus Versehen anzurempeln und ihm somit weitere Schmerzen zu bereiten. Dann beugte sie sich vor und ließ ihre Finger unendlich sanft über seine Gesichtszüge gleiten. Sie begann bei den Augenbrauen, strich dann zart über den Wangenknochen und über sein kantiges Kinn. Am unteren Rand seines Gesichts angekommen, berührte sie vorsichtig seine vollen Lippen. Stück für Stück senkte sie sich nun ganz langsam seinem Mund entgegen. Ein Prickeln durchlief ihren ganzen Körper, ein kleiner Jubel, weil sie sich endlich traute. Zwar hatte Simon sie manchmal geküsst, immer scheu und zurückhaltend, sie selbst hatte jedoch nie den Mut gefunden, den ersten Schritt zu tun, nicht ein einziges Mal in all den Jahren. Nun konnte sie nicht begreifen, was sie so lange davon abgehalten hatte. Simon war ihr Ehemann, er war einfühlsam, freundlich und rücksichtsvoll. Nie hatte er sie zu etwas gezwungen, nie sich aufgedrängt, nur still gehofft, dass sie ihm irgendwann entgegenkommen würde.

Und genau das tat sie nun. Ihre Lippen strichen über seine, behutsam und vielleicht etwas unbeholfen, doch das unglaubliche Gefühl, ihre Angst überwunden zu haben, gab ihr den Mut, weiterzumachen. Die Berührung schmeckte bittersüß, weil sie nicht erwidert wurde, trotzdem breitete sich eine wohlige Wärme in ihrem Magen und ihrer Brust aus. Zögerlich fuhr sie mit ihrer Zunge über seine vom Fieber ausgetrocknete Oberlippe. Tief in ihrem Herzen brannte die Hoffnung, ihn wie im Märchen wachküssen zu können, was natürlich nicht geschah. Ein leises Schluchzten entrang sich ihrer Kehle, als er immer noch keine Anstalten machte, aus diesem tiefen Schlaf zu erwachen. »Komm zu mir zurück, Liebster«, flüsterte sie nah an seinem Ohr, dann legte sie sich wieder neben ihn. Vorsichtig zog sie seine Hand zu sich und platzierte sie links auf ihrer Brust. »Es schlägt nur für dich, Simon, spürst du es?«, hauchte sie.

Sie musste weggenickt sein, denn das Nächste, was sie mitbekam, war das leise Lachen der Stationsschwester.

»Mrs. Broder, wachen Sie auf. Gleich kommt die Visite«, sagte sie sanft, während sie Rosie an der Schulter rüttelte. Benommen fuhr Rosie hoch, wobei ihr Blick sofort zu Simon huschte, der immer noch reglos und mit geschlossenen Augen neben ihr lag.

»Es tut mir leid«, sagte sie und versuchte, ungelenk vom Bett zu steigen.

»Aber warum denn? Ich glaube daran, dass die Patienten es hören und spüren, wenn ihre Liebsten bei ihnen sind. Vielleicht sind Sie der Anker, der ihn davon abhält, auf diesem unendlich weiten Meer davonzutreiben«, sagte die Schwester mit einem freundlichen Lächeln, bevor sie leise das Zimmer verließ.

Rosie richtete die verrutschen Stoffbahnen ihres guten Sommerkleides, dann fuhr sie sich durchs Haar. Vermutlich sah sie aus, als hätte sie gerade Liebe gemacht. Der Gedanke allein wäre ihr früher schrecklich unangenehm gewesen. Nichts an dem körperlichen Akt hatte für sie je etwas mit Liebe zu tun gehabt. Nur mit Scham, Angst und Abscheu. Doch durch Simons Geduld und die vielen Sitzungen bei Dr. Fiend hatte sich ihre Einstellung schlussendlich gewandelt. Sie hatte ihre Scheu überwunden, hatte sich Stück für Stück mit ihrem Körper ausgesöhnt, dessen männerreizendes Aussehen sie früher gehasst hatte, weil sie darin den Grund für die Übergriffe ihres Stiefvaters sah. Langsam begann sie, ihre Sehnsucht nach Simons Berührungen anzuerkennen, ja sie sogar herbeizusehnen. Sie hoffte inständig, dass es nun nicht zu spät war, es ihm zu beweisen.