Die Legende von Gold und Jade 2: Himmel und Erde - Mia Jacoba - E-Book + Hörbuch

Die Legende von Gold und Jade 2: Himmel und Erde E-Book und Hörbuch

Mia Jacoba

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Beschreibung

Sie ist freiwillig gestorben. Doch wie es ihr versprochen wurde, findet Noa in ein neues Leben. Darin muss sie sich ihrer brutalen Vergangenheit stellen, die finden, die sie liebte und nach einer neuen Wahrheit suchen. Eine Reise, die sie nicht nur in die Abgründe des Landes führt, sondern auch zu dem Schicksal derer, die ihre Zukunft erneut zerstören wollen.

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Mia Jacoba

***

Die Legende von Gold und Jade

Teil II

Himmel und Erde

Copyright © 2020 Mia Jacoba

Grafik: Katharina Jung

Verlag: Jacoba Publishing

www.jacoba-publishing.com

eISBN 978–3–949817-07-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Das nächste Leben

Wairoa

Der Mann im Himmel

Heimat

Zwischen den Bergen

Die Farbe der Wolken

Dem Himmel so nah

Freunde und Feinde

Traum und Wirklichkeit

Das erste Mal in diesem Leben

Der Ewige Garten

Alte Freunde

Die Lieder der Toten

Der Mann im Turm

Himmel und Erde

Das Ende von Silber

Der Glanz des Mondes

Die zweite Wahrheit

Das Streben nach Freiheit

Das nächste Leben

Das Fenster klapperte mehrmals gegen die Wand und der Wind scheute sich nicht, die größte Aufmerksamkeit zu erlangen. Kleine Blätter und Blüten, die gerade erst gewachsen waren, mussten ihren sicheren Platz an der Baumkrone verlassen und machten sich auf dem Holzboden breit.

Ayla saß schon ein paar Minuten auf dem Sofa, doch anstatt das Fenster zu schließen, um noch mehr Schaden von dem hübsch eingerichteten Zimmer fernzuhalten, genoss sie das Schauspiel des Windes. Bevor die Blätter zu Boden sanken, drehten sie sich mehrmals um sich selbst, als ob sie miteinander tanzten oder das Spiel spielten, wer schneller das dunkle Holz erreichte. Für das kleine Mädchen war es aufregend mitanzusehen, wie etwas wie der Wind, den man weder sehen noch greifen konnte, ein solches Theater veranstaltete.

»Oh, nicht doch!«, rief der alte Pozhman, der zur Tür hereinkam und überblickte, welches Chaos die Natur angerichtet hatte.

Zwei der vorbereiteten Teebecher auf dem Tisch, die nur halb gefüllt und damit nicht schwer genug waren, waren zu Boden gefallen, wodurch seine Schuhe beim Betreten des Zimmers in einer Pfütze aus Pfefferminze badeten.

Schnell ging der Mann zum Fenster und schloss die Läden. Er stemmte seine Fäuste in die Hüfte, während er auf dem Küchentresen nach einem Handtuch suchte.

Ayla nippte langsam an ihrer heißen Schokolade, einer zuckerhaltigen Ausnahme, die sie an diesem Tag bekommen hatte, denn es war ihr Geburtstag.

»Na, zum Glück bist du nicht auch noch weggeflogen«, sagte der alte Pozhman und gab ihr ein schelmisches Lächeln.

Obwohl er sich nun mit seinem betagten Rücken bücken musste, war er keinesfalls sauer, sondern warf der Kleinen einen zweiten Lappen zu – eine Geste, die sie aufforderte, ihm zu helfen.

Danach zündete Pozhman den Kamin an, der nicht nur mehr Licht in den Raum brachte, sondern auch die nötige Wärme, und blieb davor stehen, bis die Flamme groß genug war. Kurz verlor er sich in Gedanken, atmete ganz langsam und fast vergaß er, dass noch jemand mit ihm in diesem Zimmer war.

»Fangen wir gleich an?«, fragte Ayla, während sie den Tisch abwischte und die Tassen mit einer neuen Portion füllte, was den alten Pozhman zusammenzucken ließ und aus seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit holte.

»Drei, vier, fünf, wir brauchen noch eine – Marla möchte heute dabei sein«, fügte Ayla hinzu und tippte mit dem Finger über die Tassen.

»Marla möchte sich meine Geschichten anhören? Das ist mir neu«, sagte Pozhman. »Aber selbstverständlich freue ich mich. Hast du ihr erzählt, worum es geht? Viel Zeit für eine Wiederholung haben wir nicht.«

»Ja, ich habe versucht, sie zu überzeugen, dass es heute weitergeht. Sie glaubt nicht daran, dass sich Noa oder die anderen erinnern werden«, sagte Ayla.

»Und? Glaubst du daran?«, fragte Pozhman.

»Sehr sogar! Eric und Ceddi, ich meine Cedric, haben schon Wetten abgeschlossen. Der Verlierer muss einen Tag in der Spülküche helfen«, sagte sie lachend.

»Wetten? Worauf?«, fragte Pozhman.

»Darauf, ob Noa es schaffen wird, ihren Onkel davon abzuhalten, das Land zu zerstören. Ich persönlich hoffe ja, dass Taron ihr danach endlich einen Antrag macht. Dann kannst du uns von ihrer Hochzeit erzählen, und wie dabei hundert weiße Möwen durch die Luft fliegen.«

Ayla hopste auf das Sofa, legte das schmutzige Tuch neben sich und sank gemeinsam mit ihrer Fantasie noch tiefer in die Kissen.

»Eins nach dem anderen«, sagte der Mann, während er beobachtete, wie das Mädchen in Gedanken versunken schmunzelte.

Im selben Moment ging die Tür auf und die fehlenden fünf Kinder stürmten ins Zimmer.

Eric und Cedric stritten sich um den einzigen Platz in einem gemütlichen, kleinen, braunen Sessel, die anderen setzten sich zu Ayla auf das Sofa und nippten heimlich an ihrer Schokolade.

Der alte Pozhman unterbrach die streitenden Jungen, die sich letztendlich darauf einigten, sich eng aneinander gequetscht den Sessel zu teilen. Er rückte sich einen kleinen Hocker zurecht, dessen Beine gerade einmal so lang waren wie seine Unterarme.

»Ich würde euch gerne etwas fragen. Wie glaubt ihr, geht es weiter?«, begann Pozhman und klopfte einmal zart in die Hände.

Er blickte in die zunächst schweigenden Gesichter der Kinder, bis seine Augen die des kleinen Erics trafen. Eric war ein redelustiger Junge, der normalerweise keine Gelegenheit ausließ, sich anderen mitzuteilen – besonders dann, wenn andere Kinder dabei waren.

»Imor kommt als halb toter Vogel mit nur einem Auge aus der Asche und fängt an Feuer zu speien wie ein Drache«, sagte Eric und ließ damit die Meute in Gelächter ausbrechen.

»Interessanter Gedanke, aber nein«, sagte Pozhman, der selbst schmunzeln musste, da er eine solche Antwort von Eric erwartet hatte. »Andere Ideen?«

»Lyath hat doch als Einziger überlebt – vielleicht hat er es allein geschafft«, sagte Cedric selbstsicher, als wäre seine Antwort die einzig Richtige.

Stolz blickte er zu den anderen Kindern, jedoch schüttelte der alte Pozhman leicht den Kopf.

»Lyath hatte ein schönes Leben, jedoch ohne Kämpfe und ohne jemals wieder seinem Onkel begegnet zu sein. Nachdem Omar ihn aus seinem Schrecken geholt hatte, gingen die beiden zu dem Leuchtturm am Meer. Sie verbrachten ein paar Wochen dort, doch Omar war oft weg, denn wie ihr erfahren habt, war er als Donheri in einem ganz besonderen und schrecklichen Leben gefangen. Ein Leben, das Freiheit und Glück nicht kannte. Daher war Lyath oft ganz allein in dem Turm, und nachdem er jede Möwe des Meeres kannte, sehnte er sich nach Normalität und einer Familie. Eines Tages ging er dann den Fluss abwärts, denselben Weg, den er schon einmal gegangen war, bis er zu dem kleinen Fischerhaus kam, in dem er ein neues Zuhause fand.«

»Was ist dort?«, fragte Marla, die bei der letzten Geschichte nicht dabei gewesen war.

»Oh, das hatte ich vergessen zu erzählen. Er ist bei Reeta und Vince. Die beiden haben ihm geholfen, nachdem seine Mutter gestorben ist. Aber eigentlich waren es die Eltern von … Moment, wie war sein Name?«, fragte Ayla.

»Raik!«, sagte Eric lauthals.

»Richtig«, sagte Pozhman. »Er ging also zurück zu denen, bei denen er glaubte, eine Familie gefunden zu haben. Die beiden Fischer empfingen ihn, wie ihr erahnen könnt, mit den offenen Armen, aus denen sie ihn hatten gehen lassen. Natürlich dauerte es ein paar Jahre, aber Lyath wurde tatsächlich glücklich. Zwar begleitete ihn das Geschehene, bis er erwachsen war, doch mit jedem Tag, der verging, konnte er die Vergangenheit ein Stück weiter hinter sich lassen. Aber eine Sache hat er nicht vergessen.«

»Das Buch!«, riefen drei der Kinder gleichzeitig.

»Marla, er hatte von seiner Schwester die Aufgabe bekommen, das Buch der ewigen Wahrheit an einen Ort zu bringen, wo nur sie es finden würde«, erklärte Pozhman und beugte sich zu dem Mädchen.

Sie blickte Pozhman schüchtern an und er war sich nicht sicher, ob sie gerade hier sein wollte.

»Und wo ist das?«, fragte Marla leise.

»Das erfahrt ihr gleich. Zunächst einmal müssen wir wissen, was mit unserer Freundin Noa passiert ist«, sagte Pozhman.

»Was? Ich dachte, sie ist bei dem Berg gestorben. Zusammen mit den anderen«, sagte Marla, die noch nicht ganz verstand, wie sich das Leben immer einen eigenen Weg suchte.

»Ich habe dir doch gesagt, dass Zoyah ihnen helfen wird und ihnen wieder das Leben schenkt. Das ist ihre Aufgabe«, sagte Ayla und wirkte fast genervt davon, dass Marla ihr nie zuhörte.

Der alte Pozhman lächelte. Oftmals waren die Kinder nicht sonderlich daran interessiert, die Geschichten eines alten Mannes zu hören, aber bei dieser blühten sie förmlich auf.

»Wie könnte Zoyah nach all dem, was Noa für sie getan hatte, ihr Versprechen brechen? Sie gab ihnen das Leben zurück. In einer neuen Welt, in einem neuen Land und bereit für eine neue Zukunft. Doch Zoyah ließ viele Jahre vergehen. Sehr oft sollte die Sonne erneut im neuen Leben von Noa aufgehen, bevor sie dazu bereit war, sich zu erinnern«, erzählte Pozhman.

»Warum wartet sie so lange damit?«, fragte Cedric.

»Um die Aufgaben zu meistern, die das Leben ihnen geben wird, benötigt es mehr als nur aus den Kinderschuhen herausgewachsen zu sein. Sie musste Entscheidungen treffen, sich Dingen stellen, die all ihre Tapferkeit verlangten, und die notwendige Erfahrung, um diesen Mut aufrechtzuerhalten. Vielleicht – oder sagen wir sehr wahrscheinlich – musste sie bereit sein, jemanden zu töten, wenn es notwendig war. So etwas würde sicher niemand von einem Kind oder einer Heranwachsenden verlangen. Daher wartete Zoyah, beobachtete Noa still aus dem Schatten, stellte sicher, dass es ihr gut ging, und als sie der Meinung war, dass die Zeit gekommen war, tauchte sie auf als der Geist, der sie nun mal war.«

In den Gesichtern seiner Zuhörer konnte der Mann einvernehmlich auf Zustimmung setzen. Zwar hörten sie sich liebend gerne die Geschichte ihrer Heldin an, mit ihrem Leben tauschen wollten sie jedoch sicher nicht.

»Ein Geist?«, fragte Marla. »Du hast nie etwas von einem Geist erzählt, Ayla.«

»Nun ja, sie ist nicht wirklich ein Geist. Wenn sie da ist, sieht sie so aus wie ein ganz normaler Mensch. Es ist nur, wenn sie kommt und geht. Auf einmal ist sie da, und dann blinzelt man kurz mit den Augen, und schon ist sie wieder weg. Wie … wie der Wind oder eine Brise. Und dann sieht man sich um und fragt sich – wo kamst du her und wo willst du hin?«, erklärte Ayla.

Pozhman hörte dem Mädchen leicht nickend zu, denn er selbst hätte es nicht besser erklären können. Zumindest nicht so, um es den Kindern begreiflich zu machen. Als sie fertig war, fuhr Pozhman fort.

»Noa lebte in ihrem nächsten Leben in einem Land unweit ihrer alten Heimat. Dort gab es die höchsten Berge, die man sich vorstellen konnte. Manche waren mit grüner Wiese bedeckt und manche waren so steinig, dass man an ihnen wie an einer Leiter hochklettern konnte. Doch man durfte sie nicht unterschätzen, denn hunderte Male wurden sie schon zum Grab von Übermütigen.

Die Hauptstadt Retea erstreckte sich über den gleichnamigen Berg, dessen Gipfel sich als Einziger im Land nicht spitz nach oben zum Himmel streckte, sondern flach wie ein abgeholzter Stamm war. Vom Tal sah es so aus, als hätten die Götter auf mittlerer Höhe den Gipfel abgesägt, um es für die Menschen möglich zu machen, eine Siedlung darauf zu bauen. Auf den Dächern dieser Stadt fühlte man sich, als ob man auf den Schultern der Welt stünde, von denen man das ganze Land überblicken konnte.

Im Gegensatz zu Kathalea, pflegte das Volk in diesem Land keine Traditionen, die die Opferung von Menschen als ihr heiligstes Ritual ansahen. Ganz im Gegenteil – das Leben dort war ungewöhnlich friedlich. Zwar hatten die Menschen einen Glauben, jedoch basierte dieser auf dem Schutz der Götter und nicht deren Ehrung durch Blut und Tod. Die große Bergstadt bildete das Zentrum des Landes und wurde vom Kondor geführt, einem ungleichen Zwilling des Adlers. Auf dem Wappen dieses Reiches trat der silberne Kopf des mächtigen Vogels auf einer dunkelblauen Decke in Erscheinung und zierte in allen Städten die Straßen und Häuser. Der Kondor war in den dichten Wolken kaum sichtbar, doch trotzdem war er heilig, denn die Menschen dort glaubten, von ihm beschützt zu werden, selbst wenn er so unnahbar war.

In diesem Land stand die Natur im Vordergrund, gemeinsam mit den Werken und dem Wissen, das man aus ihr schöpfen konnte. Es war das Land von Kunst, Musik, Mythen, Geschichten und einer tief verankerten Kultur des Vertrauens. Noa kehrte in ein Land zurück, in dem schon viele Seelen vor ihr gelebt hatten, denn es war das Älteste der drei Länder östlich der roten Wüste.«

»Wie heißt sie dort?«, fragte Ayla. »Noa meine ich. Sie hat doch bestimmt einen neuen Namen.«

Der alte Pozhman schmunzelte.

»Nun ja, du hast recht damit, dass sie ein neuer Mensch war, jedoch half das Leben ihr dabei, nicht alles zu verlieren, was sie ausmachte. Das gilt im Übrigen auch für die, die sich ebenfalls erinnern sollten. Noa wurde an einem Ort groß, der …«

Pozhman musste kurz innehalten, um seine Worte richtig zu wählen. »… der so ähnlich war wie dieser hier.«

Während er seinen Satz beendete, hob er seine Arme in die Luft und zeigte, dass er das Heim meinte, in dem er mit den Kindern saß, die dort groß wurden.

»Dort kam eines Tages eine Frau vorbei, die den Menschen, die dort arbeiteten, einen ganz besonderen Namen sagte, der von diesem Tag an auch der des kleinen, elternlosen Kindes war. In diesem Land kannten die Menschen diesen Namen, denn dort wurde in einer alten Sprache ein Wort benutzt, um einen ganzen Satz auszudrücken. In Noas Fall war es das Wort, das eine Ausstrahlung von Ruhe, Trost und Gelassenheit beschrieb. Wie eine Art Mitgefühl, das man ausdrückte, wenn jemandem ein schlimmes Schicksal widerfahren war.«

»Oh! Oh!«, sagte Eric hektisch und schnipste mit den Fingern.

»Ich weiß, wo das ist! Shelor hatte es einmal erwähnt. Das Land, in dem Noa jetzt lebt. Man nennt es …«

Wairoa

Früh am Morgen wurde sie von den Ziegen geweckt, die mit ihren Hörnern gegen das Holztor des Stalls klopften, um darauf aufmerksam zu machen, dass es Zeit war, gefüttert zu werden. Zwischen dem Stall und dem kleinen Wohnhaus war bloß ein handbreiter Spalt, wodurch es sich anfühlte, als würden die Tiere ihr direkt an den Hinterkopf klopfen, während sie zwischen den Kissen lag und gerade erst aus dem Schlaf gefunden hatte.

Schon am Vorabend hatten sich die Wolken zusammengezogen, und als sie das Tor öffnete und die Ziegen auf die Wiese stürmten, spürte sie die ersten, kleinen Tropfen auf ihrer Stirn. Im Gegensatz zu ihr störte das die Tiere recht wenig, denn diese grasten die grüne Wiese ab, als würde sie am nächsten Morgen für immer verschwinden. Nach einem kleinen Frühstück, bestehend aus einem schwarzen Kaffee und einem Zimtplätzchen, welches sie am Vortag von einer befreundeten Bäckerin geschenkt bekommen hatte, ging sie zu den Hühnern, deren Gehege etwas abgelegener lag. Die Ausbeute an diesem Tag belief sich auf gerade einmal vier Eier.

Mit enttäuschter Miene suchte Noa das Gehege noch einmal ab, doch fand sie kein Einziges mehr. Zwar waren vier besser als kein Ei, jedoch nicht genug, um neben dem eigenen Bedarf welche zu verkaufen.

Solange der Regen noch nicht überhandnahm, wollte sie die Pferde auf die Koppel lassen und ein paar Runden um den Hof reiten. In der Stadt benutzten die Leute einen Sattel, in dem sie auf dem Rücken der Pferde einen sicheren Halt und die Kontrolle über das Tier fanden. Auf dem Hof der jungen Frau gab es so etwas nicht, denn es war ihrer Meinung nach viel schöner, das Tier in seiner natürlichen Erscheinung auszureiten. Die jahrelange Übung und das Vertrauen machte es ihr sogar möglich, sich mit den Füßen oder den Knien auf das Pferd zu stellen und im Traben die Balance zu halten.

Es passierte bisher nur ein einziges Mal, dass sie dabei zu Boden fiel, was jedoch nicht ihrem scheinbar fehlenden Talent, sondern einer Biene geschuldet war, die das Tier in den Hals gestochen hatte. Dabei brach sich Noa mehrere Knochen – einen im Arm, zwei Finger und eine Rippe.

Doch an diesem regnerischen Tag war es ihr nicht möglich, solche artistischen Kunststücke zu vollführen, denn eines der Pferde litt an einer nässenden Wunde am Bauch, die von Tag zu Tag größer wurde.

Während sie draußen im Nieselregen standen, legte Noa ein Ohr auf den dunkelbraunen Hals des Pferdes und versuchte herauszuhören, ob sein Herz im normalen Takt schlug.

»Ach Edie, was mache ich nur mit dir?«, flüsterte sie, während das Tier mit trüben Augen ins Leere starrte.

Um herauszufinden, in welchem Zustand das Pferd tatsächlich war, prüfte sie das Fell, einzeln jeden Huf und das Verhalten, wenn sie dem Pferd einen Apfel vor die Schnauze hielt. Ein zögerlicher Griff zum Futter war das deutlichste Zeichen, dass das Tier von Schmerzen oder dem Instinkt zu sterben eingeholt wurde.

Noa löste die hellgrüne Kordel um Edies Hals, mit der sie sie auf die Koppel geführt hatte, und schlug sich diese um den Nacken. Dabei verwickelte sie sich mit ihrer Halskette, die aus dem gleichen Material angefertigt war, nämlich einem alten Fischernetz, das sie noch gut erhalten in einem See gefunden hatte. An ihrer Kette hing ein kleiner runder Anhänger aus Kupfer. Angefertigt hatte ihn ein Mann namens Sergio, ein guter Freund und einer der wenigen, für den Noa bereit war, den Weg in die Stadt zu finden. Unter anderem, weil er ein kleines Atelier besaß, in dem sich Noa stundenlang aufhalten konnte. Der Anhänger glänzte, obwohl die Sonne sich hinter den Wolken versteckte, und wenn man ihn leicht zur Seite drehte, konnte man darauf Noas Namen erkennen.

Zurück im Haus suchte sie gerade ihre Schränke nach schmerzlindernden Mitteln ab, als eine Frau zur Tür hereinkam. Dabei ertönte das Klingeln eines kleinen Holzspiels, das Noa absichtlich am oberen Rand der Tür befestigt hatte, um keinen Kunden zu verpassen.

»Bereit für den Gipfel?«, fragte eine vertraut fröhliche Stimme, deren Besitzerin sich sofort ihren dünnen Schal etwas fester um den Hals zog, als sie das Haus betrat. »Puh, warum ist es bei dir immer so kalt? Mach doch endlich mal den Kamin an!«

»Thea«, sagte Noa, während sie den Schrank wieder schloss. »Ich komme gleich. Ich wollte noch nach einer Arznei gegen Schmerzen suchen. Hast du zufällig noch welche zu Hause?«

»Nein, ich glaube nicht. Was hast du? Kannst du doch nicht mit klettern heute?«, fragte Thea.

»Doch, aber … es ist Edie. Sie hat immer noch diese Wunde und ich glaube, es geht bald zu Ende. Nur würde ich es ihr gerne ein wenig leichter machen, verstehst du?«, fragte Noa.

Ihre Freundin blickte sie mitleidig an, denn sie wusste, wie sehr Noa an ihren Pferden hing, immerhin ersetzten sie gewissermaßen eine Familie, die Noa nicht hatte.

»Oh, tut mir leid«, sagte Thea. »Ich könnte Oliver fragen, ob er …«

»Nein!«, schoss es aus Noa heraus, bevor Thea ihren Vorschlag zu Ende sprechen konnte.

Oliver war Theas Verlobter, der, wenn er nicht in der Schmiede seiner Eltern arbeitete, gerne jagen ging. Jeder seiner Schüsse war treffsicher, daher wurde er in den vergangenen Jahren des Öfteren von Leuten beauftragt, alten Tieren, die bloß noch vor sich hinfristeten, ihr Leid zu nehmen.

»Nein«, wiederholte Noa, jedoch dieses Mal zart und leise. »Ich gehe später etwas kaufen. Der Markt hat ohnehin noch geschlossen und bis dahin könnte ich sowieso ein wenig Ablenkung gebrauchen.«

Mit ihren Worten ging Noa auf eine kleine Kammer zu, nahm einen großen Beutel heraus, der ein schweres Tau eingerollt und fest verknotet in sich trug, und nickte zur Tür, um Thea zu zeigen, dass sie bereit zum Aufbruch war.

Noa hatte in der Stadt nicht viele Freunde, da es zwar sehr viele Kinder und im Verhältnis erstaunlich viele alte Menschen gab, jedoch wenige in ihrem Alter.

Doch Thea kannte sie seit vielen Jahren. Eigentlich hieß sie Theodora, aber die meisten hatten Schwierigkeiten, ihren Namen in der richtigen Betonung auszusprechen, also stellte sie sich ausschließlich mit einer verkürzten Variante ihres Namens vor. Sie verbrachte ihre Zeit oft bei Noa auf dem Hof, half ihr ab und zu mit den Pferden und teilte die Leidenschaft, klettern zu gehen. Einen kurzen Ritt entfernt von Noas Hof ragte ein gewaltiger Berg in den Himmel, den die Menschen in Wairoa Kapene nannten.

Den Gipfel konnte man über zwei Wege erreichen. Entweder man ging nördlich um den Berg herum und wanderte auf den grünen und nicht allzu steilen Wegen schlangenförmig zwischen Kiefern nach oben oder man wählte den direkten Weg an einer steilen Granitwand, die nahezu senkrecht in den Himmel ragte.

Um sich vor Abstürzen zu schützen, hatte es eine Gruppe von Kletterern vor vielen Jahren geschafft, in kurzen Abständen Metallstäbe in die Felswand zu schlagen, an denen sie sich mit ihren Seilen, die um ihre Hüften befestigt waren, sichern konnten. Seit einem tragischen Unfall, bei dem ein Mann ums Leben kam, wurde der Berg bloß noch selten für ein Kletterabenteuer genutzt.

Doch Noa und Thea suchten, wie so oft, auch an diesem Tag nach dem großartigen Gefühl, den Gipfel auf diese Art zu erreichen.

»Wenn du später hoch in die Stadt gehst, könnten wir bei Oliver vorbeischauen. Er arbeitet bis heute Abend in der Schmiede und ich wollte ihm noch etwas vorbeibringen«, sagte Thea mit schwerem Atem, während sie am Felsen hochkletterte und nach einer geeigneten Kuhle suchte, in der sie ihre fast blutenden Finger ablegen konnte.

»Sicher. Allerdings muss ich zuerst die Arznei besorgen. Der alte Kerl schließt seinen Stand immer so früh, als hätte er keine Zeit mehr«, sagte Noa, die sich ebenfalls an kleinen Felsspalten nach oben zog.

Nach ein paar Metern war sie jedes Mal neugierig, wie die Welt unter ihr aussah, doch bevor Noa ihren Kopf Richtung Boden drehen konnte, ermahnte Thea sie.

»Na! Wir haben doch gesagt, erst wenn wir oben sind. Heb dir das Beste bis zum Schluss auf, Noa. Es ist viel schöner, vom Gipfel aus nach unten zu sehen und zu erleben, wie hoch man über der Welt steht.«

Noa blickte wieder nach vorn, wo sich nur einen Fingerbreit von ihrer Nase entfernt die Felswand befand. Sie hakte das Tau, das fest um ihre Beine und ihren Bauch geschnürt war, in einen der Metallstäbe und ließ ihren Körper über dem Abgrund in der Luft schweben.

Manchmal fragte sie sich, welche Kühnheit sie besaß, ihr Leben in die Stärke eines Seils zu legen und darauf zu vertrauen, dass es sie halten würde.

Doch Noa schenkte ihr Vertrauen weder dem Seil noch ihrer Fähigkeiten zu klettern. Es war der Berg, dem Noa ihr Leben anvertraute – niemand anderem.

»Mal ganz davon abgesehen, dass der alte Händler nicht mehr da ist«, sagte Thea, die sich ebenfalls mit den Füßen am Felsen abstützte und in der Luft baumelte.

»Kein Arzneihändler? Na super«, sagte Noa enttäuscht.

»Oh, du wirst dich freuen, denn jemand anderes hat den Stand übernommen. Ein junger Kerl. Sieht ziemlich gut aus. Habe ihn neulich gesehen, als er das erste Mal in der Stadt war. Denke, er wird dir gefallen«, sagte Thea und legte ein verschmitztes Lächeln auf.

»Nein, danke. Ich bin mit meinem Hof mehr als beschäftigt. Mich jetzt noch um einen Mann zu kümmern, passt nicht in mein Leben«, sagte Noa.

»Wer sagt hier, dass du dich kümmern musst?«

»Ach, du kennst doch die Traditionen hier. Alle wollen sich direkt verloben, heiraten und schnellstmöglich ein paar Kinder zur Welt bringen. Aber dafür bin ich noch nicht bereit«, sagte Noa.

»Warum nicht?«, fragte Thea.

»Weiß ich nicht. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass es da draußen noch etwas gibt, das ich vorher erledigen muss, bevor mein Alltag gefüllt ist mit dreckigen Windeln und weinenden Kindern, die Zähne bekommen. Versteh‘ mich nicht falsch. Ich liebe Kinder – über alles sogar. Aber mich um eines zu kümmern, löst so eine Schwere in mir aus, von der ich selbst nicht weiß, woher sie kommt.«

Mit diesen Worten begann Noa wieder nach oben zu klettern und hielt kein einziges Mal an, bis sie mit Thea den Gipfel erreichte.

Nachdem Noa das Seil von ihren Hüften abgelegt hatte, griff sie in ihren Rucksack, nahm neben einer Karaffe Wasser ein dünnes Seidentuch heraus und legte es sich um die Schultern. Die Sonne hatte wenig Chancen, sich durch die dicke Wolkendecke zu kämpfen. Und am Gipfel spürte Noa, wie die kühle Luft ihre ganze Freiheit genoss.

Die beiden starrten ein paar Minuten wortlos in die Ferne und saugten die Schönheit der Aussicht sowohl mit ihren Augen als auch mit den Herzen auf. Doch so gerne Noa den ganzen Tag dort verbracht hätte, musste sie sich unweigerlich von dem schönsten Ort des Landes trennen.

Um zurück zum Grund zu gelangen, nahmen Noa und Thea immer den seichten Weg auf der anderen Seite, den sie an manchen Tagen in einem Wettlauf nach unten liefen. Thea war zwar immer die Erste, die den Gipfel über die Granitwand erreichte, doch so stark ihre Arme auch waren – mit Noas Tempo im Laufen hatte sie noch nie mithalten können.

Noa sah hoch in den Himmel, konnte nur erahnen, wo sich die Sonne in diesem Moment befand und schätzte, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, bis die Märkte öffnen würden. Daher beschleunigte sie ihren Schritt auf dem Rückweg zu ihrem Hof.

»Also dann – treffen wir uns später oben? Ich wollte mir noch etwas anderes anziehen, bevor ich zu Oliver gehe«, sagte Thea mit einem verliebten Grinsen.

»Kein Problem«, sagte Noa und verabschiedete sich von ihrer Freundin.

Als sie zur Tür hineinging, warf sie den Beutel mit dem Tau in die Ecke, ohne das Seil vorher ordentlich zusammenzulegen. Dann ging sie zu dem kleinen Becken in der Küche, in dem noch ein wenig Wasser schwamm und öffnete einen kleinen Riegel, der darüber hing.

Derjenige, der diesen Hof vor vielen Jahren gebaut hatte, verwirklichte eine brillante Idee, wie man das Wasser des Regens, der sich in Wairoa fast täglich über dem Land ergoss, an der Seite des Hauses auffangen konnte, um es dann über ein Bambusrohr nach innen zu leiten. Darüber hinaus erfand er ein Ventil, das man entweder auf- oder zudrehen konnte, wodurch das Wasser nicht ungehindert in das Haus lief, sondern in eine Steinwanne auf der Anrichte der Küchenschränke.

Die Menschen in der Stadt nutzten einen Brunnen, der in die Tiefe des Berges führte, aus dem sie ihr Wasser schöpften. Und jeder, der diesen Hof betrat, wunderte sich über diese außerordentlich schlaue Methode, sauberes Wasser zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben.

Noa faltete die Hände zu einer Schale, ließ das kalte Wasser hineinfließen und warf es sich ins Gesicht, das von dem Morgen am Berg leicht rosig schimmerte. Dann steckte sie ihr Haar nach oben, zog die vom Schweiß und Regen durchtränkte Kleidung aus und schlüpfte in ein dunkelblaues Kleid, das sie sich selbst genäht hatte. Um damit reiten zu können, hatte sie die Seiten des Saums bis über die Knie aufgeschlitzt, wodurch jedes Mal die Haut ihrer Beine hervorblitze, wenn sie damit die Straße entlang ging.

Zwar war Wairoa ein Land, in dem es öfter regnete als irgendwo anders, allerdings war die Luft angenehm und warm, sodass die nassen Straßen in kürzester Zeit wieder trockneten.

Noa bereitete einen Korb vor, schrieb auf, was sie alles auf dem Markt dort hineinfüllen wollte und rechnete im Kopf aus, was es sie kosten würde. Gerade kramte sie nach den Kupfermünzen, die sie in einer Schublade versteckt hatte, als sie erneut das Holzspiel ihrer Tür hörte.

Eine Frau kam herein, die kurz zögerte und dann ihre nackten Füße an einem Stück Stoff abrieb, das vor dem Eingang lag.

»Hallo. Jemand sagte mir, dass Sie einen Hofladen führen und es auch selbst genähte Kleidung zu kaufen gibt?«, fragte die Fremde und blickte sich zaghaft um.

Noa war ganz irritiert von der Tatsache, dass sich bei dem regnerischen Wetter jemand auf den Weg zu ihr gemacht hatte. Der Hof lag weit außerhalb der Stadt unterhalb eines Hügels, über den man obendrein zunächst auf und dann wieder absteigen musste. Sicher war die Lage des Hofes einer der Gründe, warum sie kaum Kunden hatte, denn die Leute zogen es vor, in der flachen Stadt zu bleiben.

»Ja, die gibt es! Kommen Sie herein!«, sagte Noa.

Sie war glücklich darüber, ihre erste Kundin zu begrüßen, denn das Geschäft ihrer eigenen Näherei hatte sie erst vor ein paar Tagen in der Stadt publik gemacht. Zwar wollte Noa so schnell es ging die Arznei kaufen gehen, denn sie hatte nicht vor, ihr Pferd länger als nötig leiden zu lassen, jedoch kostete diese viel Geld, und die Kundin könnte dafür sorgen, dass Noa nicht ihre letzten Münzen dafür ausgeben musste.

»Erzählen Sie mir, was Sie sich vorstellen, und ich nehme dann gleich Ihre Maße. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder ein paar Plätzchen?«

Sie wurde fast hektisch vor Euphorie und wollte alles richtig machen. Immerhin sollte es sich später in der Stadt herumsprechen, dass aus ihrer Blitzidee etwas wirklich Gutes entstanden war.

»Danke, keinen Kaffee«, sagte die Frau.

»Ich bin übrigens Noa. Und Sie sind meine erste Kundin. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würden, dass mich das kein bisschen nervös macht.«

Sie lachte. Dann sah Noa zu der nassen Kleidung, die sie wie den Beutel mit dem Tau, einfach in die Ecke des Zimmers geworfen hatte.

»Entschuldigen Sie, ich kam soeben erst nach Hause. Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie, während sie mit dem Fuß ihre schmutzigen Kleider um die Ecke schob.

»Danke«, sagte die Frau, während sie mit den Händen vor dem Bauch verschränkt mitten im Raum stand und sich nicht mehr bewegte. »Ein wirklich schöner Name, den Sie da tragen.«

»Danke«, sagte Noa und streifte sich verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr. Dann nahm sie eine Kordel aus einer Schublade, auf der in Abständen von vier Fingern kleine orangefarbene Kugeln befestigt waren.

»Wenn Sie die Arme neben sich zur Seite strecken, dann kann ich Ihre Maße nehmen. Und währenddessen verraten Sie mir ihre Vorstellungen.«

Noa begann die Taille, die Schultern und den Rücken der Frau auszumessen, ohne sie zu berühren.

»Mitgefühl«, sagte die Frau, nachdem es einen langen Moment der Stille zwischen den beiden gegeben hatte.

»Was?«, fragte Noa irritiert.

»Ihr Name«, sagte die Frau. »Er bedeutet so etwas wie Mitgefühl – zumindest in diesem Teil der Welt.«

»Ja, das stimmt. Und Sie? Kommen Sie aus einem anderen Teil der Welt?« Noa schmunzelte, als sie die Worte sprach.

»Das kann man so sagen. Ich komme von überall und nirgendwo.«

Ihre Kundin drückte sich seltsam aus, jedoch war sie mehr als sympathisch.

Noa notierte die Maße und rechnete im Kopf schon die Angaben für die Stoffe aus. Heraus kam dabei eine wilde Kritzelei, die keiner außer sie selbst entziffern konnte. Sie musterte die Frau noch einmal, um sicherzugehen, dass sie auch nichts vergessen hatte. Dabei fiel ihr das zarte gelbe Kleid auf, das wie ein langes Tuch über den Schultern lag und mit zwei Broschen verziert war.

»Oh, Sie müssen doch frieren. Entschuldigen Sie, in meinem Haus ist es immer so kalt. Soll ich Ihnen etwas zum Überziehen geben?«, fragte Noa und zeigte auf die Garderobe neben der Haustür, die mit vielen langen, bunten Tüchern geschmückt war.

»Nicht nötig. Wo ich herkomme, sind die Sonnenstunden unendlich. Frische und kühle Luft ist daher eine Wohltat«, antwortete die Frau, was Noa ein wenig aus der Fassung brachte.

Jemand, der sagte, »da, wo ich herkomme«,statt einfach den Namen des Ortes zu nennen, wollte ihn für gewöhnlich geheim halten.

»Und Sie führen diesen Hof ganz allein? Das ist sicher sehr viel Arbeit«, bemerkte die Frau und sah sich in den Räumlichkeiten um.

Da das Haus nicht sonderlich groß war, musste Noa ihren Wohnraum mit den Regalen und Ständen ihrer Waren teilen. Ein großzügiger dunkler Tisch in der Mitte des Raumes gab dem Zimmer die nötige Trennung von Geschäft und privater Nutzung. Links davon war ein recht breiter Kamin in der Wand, auf dessen Sims Noa selbstgemachten Schmuck ausstellte, da sie den Kamin nur selten benutzte und er daher stets sauber war. Eine kleine Sitzecke direkt neben der Tür wirkte wie eine Einladung für die Kunden, es sich bequem zu machen. Allerdings musste Noa diese Polster am Abend zum Schlafen nutzen, da kein Platz mehr für ein richtiges Bett war.

»Ja, das tue ich. Es ist viel Arbeit, das stimmt, aber ich genieße es, außerhalb der Stadt zu wohnen, umgeben von der Natur, und Tag für Tag mit diesen wundervollen Tieren meine Zeit zu verbringen. Ich bin sehr dankbar für mein Leben. Immerhin hätte es mich auch schlechter treffen können«, sagte Noa.

»In der Tat. Sie würden sich wundern, wie sehr man sein Leben selbst steuern kann. Arm geboren zu sein bedeutet nicht, arm zu sterben – und umgekehrt übrigens auch«, sagte die Frau in Gelb.

»Da haben Sie recht. Ich habe schon früh damit angefangen, mich weniger auf andere, sondern mehr auf mich selbst zu verlassen. Bisher hat das gut funktioniert. Also habe ich den Hof, so gut es geht, zu einem Zuhause gemacht und kümmere mich selbst um die Tiere«, erklärte Noa, bevor sie nach einer günstigen Gelegenheit suchte, ihre erste Kundin hinauszubitten, ohne sie zu vertreiben, denn sie hatte an diesem Tag noch andere Dinge zu erledigen. »Also ein Kleid soll es sein. Erzählen Sie mir, was Sie sich vorstellen?«

»Der Stoff soll in einem dunklen Grün strahlen. Ähnlich wie der Stein von Jade. An den Schultern möchte ich ein paar goldene Broschen, die ich ansehen kann, wenn ich meinen Kopf zur Seite neige. Und ich möchte damit lange Spaziergänge machen, also sollte es luftig und leicht wie die Federn eines Vogels sein«, sagte die Frau.

Noa konnte sich gedanklich genau ausmalen, welche Vorstellung ihre Kundin beschrieb.

»Sehr gut. Ich denke, ich werde etwa fünf Tage brauchen, um es fertigzustellen. Sie können es gerne hier abholen, jedoch wäre ich ebenso erfreut, es Ihnen vorbeizubringen, wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen«, schlug Noa vor.

»Das ist nicht nötig. Ich komme wieder, wenn es an der Zeit ist«, sagte die Frau.

Noa versuchte, die Skepsis nicht in ihrem Gesicht zu zeigen. Diese Frau war ebenso geheimnisvoll wie das Meer.

»In Ordnung. Hören Sie, ich muss noch einmal hoch in die Stadt, bevor die Märkte für die Mittagspause schließen. Mein Pferd hat eine Wunde und mir ist die Medizin ausgegangen.«

»Eine Wunde? Warum geben Sie ihm kein Elbkraut?«, fragte die Frau.

»Das würde ich gerne, aber das wächst leider hier nicht. Und bis ich an dem Ort bin, wo ich vermute, es zu finden, ist es vielleicht schon zu spät für sie, also kaufe ich es lieber.« In Noas Stimme fand sich statt der üblichen Leichtigkeit ein Hauch von Traurigkeit. »Sie kennen sich gut mit Heilkräutern aus«, bemerkte sie noch. »Haben Sie das gelernt? Dort, wo Sie herkommen?«

Noa betonte ihre Frage absichtlich, um mehr über die Frau zu erfahren.

»Nun, über die Jahre lernt man viel darüber, was die Natur zum Leben erwecken kann«, sagte die Frau.

»Ja, schon verrückt, dass die meisten Leute die Hälfte ihrer Münzen für etwas hergeben, das man problemlos im Wald finden kann«, sagte Noa.

Dann sah sie aus dem Fenster und beobachtete die wehenden Blätter im Wind.

»Oder, wissen Sie was? Das Wetter ist grausam zurzeit und Sie sind absolut falsch gekleidet. Bitte warten Sie gerne hier, ich brauche nicht lange.«

»Sind Sie sicher?«, fragte die Frau.

»Ja, absolut«, sagte Noa mit aufrichtiger Stimme.

Wie eine Diebin sah die Frau auf keinen Fall aus, mal ganz davon abgesehen, dass sie spätestens zu diesem Zeitpunkt gemerkt haben musste, dass es in Noas Zuhause nichts gab, das sich zu stehlen lohnte.

Die Frau blickte eindringlich auf ihre Hände und zog sich schließlich etwas vom Finger.

»Danke für Ihr Vertrauen. Hiermit möchte ich ihnen meines schenken«, sagte sie und gab Noa einen silberglänzenden Ring, dessen hellblauer Stein durch einen matten ovalen Kranz verziert war.

»Ist der für mich?«, fragte Noa und erkannte das seltene Metall. »Meine Güte! Ist das echtes Silber? Um Himmels willen, der ist sicher ein Vermögen wert! Das kann ich unmöglich annehmen.«

»Nein, bitte, ich bestehe darauf. Nehmen Sie ihn. Als Gegenleistung für das Kleid«, sagte die Frau.

»Wenn Sie den auf dem Markt verkaufen würden, könnten Sie sich nicht nur zehn Kleider, sondern zwei ganze Geschäfte kaufen.« Noa lachte. »Aber, ich muss sagen, wenn ich ihn trage, werden mich die Feilscher auf dem Markt vielleicht endlich respektieren und aufhören zu denken, dass ich eine arme Bäuerin bin, die sich ohnehin nichts leisten kann«, sagte Noa und steckte sich den Ring an den mittleren Finger ihrer rechten Hand.

»Ich bin mir sicher, er wird so einige daran erinnern, mit wem sie es zu tun haben«, sagte die Frau und zog die geschlossenen Lippen nach oben.

Noa wickelte sich einen breiten, dunkelbraunen Schal um die Schultern und steckte ein paar Münzen in die Tasche ihres Kleides.

»Ich bin gleich zurück. Brauchen Sie noch etwas, das ich Ihnen mitbringen kann?«, fragte sie.

Aus Höflichkeit hätte sie gerne den Namen der Frau erwähnt, doch noch kannte sie ihn nicht.

»Nein, danke«, sagte die Frau. »Und Zoyah. Ich bin Zoyah.«

Noas Sinn für Etikette war erleichtert darüber, nicht selbst danach fragen zu müssen.

»Zoyah«, sagte Noa zart und wiederholte den Namen danach ein weiteres Mal still für sich in ihren Gedanken.

»Ein besonders schöner Name«, fügte sie lächelnd hinzu und verschwand nach draußen in den Nieselregen, der sie mit dem Wind auf den Berg trug.

***

Noa ging nicht sonderlich gern in die Stadt. Nicht etwa, weil der Weg dorthin ausgesprochen anstrengend war. Sie mochte es nicht, wie sich die vielen Menschen in den viel zu engen Gassen durch die Marktstände drängten, oftmals ohne darauf zu achten, auf welche Füße sie dabei traten. Die meisten kamen nicht in diese Straßen, um etwas Bestimmtes zu besorgen, sondern um über den Markt zu schlendern, alles anzufassen und Schmuck und Kleidung zu betrachten, die sie sich nicht leisten konnten. Zwar war Retea im Vergleich zum Rest des Landes eine reiche Stadt, aber wie der alte Manuelo, ein Mann, der zu Noas einzigen Stammkunden gehörte, einst zu sagen pflegte, kann jede Henne goldene Eier legen – sie bleibt dadurch trotzdem ein Huhn. Doch vielleicht kamen die Menschen, so dachte Noa, um sich für einen Moment wie die zu fühlen, denen Geld keine Sorgen bereitete.

Es war offensichtlich zu beobachten, denn wenn ihnen beispielsweise ein Kleidungsstück gefiel, schauten sie erst auf den Preis und hatten sich damit schon entschieden, es nicht zu kaufen. Trotzdem nutzten sie die Gelegenheit, es in den kleinen Kammern hinter einem Vorhang anzuprobieren, um sich kurz damit im Spiegel zu betrachten. Dann schlugen sie den Vorhang voller Freude wieder auf, zeigten sich der belebten Straße und genossen die Blicke der vorbeigehenden Menschen. Selbst wenn sie sich nicht kannten und auch sehr wahrscheinlich nie wieder sehen würden, so war es wie Honig für die Seele, sich für einen kurzen Moment reich zu fühlen.

In der Stadt drehte sich alles um die neusten Waren, die Arbeit und welchen Stand die Leute in der Gesellschaft hatten. Doch es waren Gespräche, an denen Noa kein Interesse hatte.

»Na, hältst du Ausschau nach einem Ehemann?«, fragte Thea ironisch, als sie Noa in der Menge sah und sich zu ihr stellte.

»Nein, ich halte Ausschau nach dem Mann, der Arznei verkauft. Heute sind es bloß Birnen und damit werde ich nicht viel anfangen können«, sagte Noa, hob eine Frucht nach oben und legte sie dann wieder zu den anderen.

»Genau den meinte ich doch«, flüsterte Thea leise, während sie ihre Lippen leicht zu Noas Ohren lehnte und schelmisch lächelte. Dann fuhr sie über ihr zusammengebundenes braunrötliches Haar und drehte es ein paar Mal um ihren Finger.

Im Gegensatz zu Noa trug Thea ausschließlich lockere Hosen und weite Hemden, die vermutlich von Oliver waren. Ihre muskulösen Arme konnte man unter dem Stoff trotzdem gut erkennen, was Noa jedes Mal daran erinnerte, dass Thea öfter und wesentlich besser kletterte als sie selbst.

»Habt ihr euch eigentlich schon einen Tag ausgesucht?«, fragte Noa. »Für die Hochzeit meine ich.«

Thea blickte verträumt zum Himmel, wodurch ihr langes, eingebundenes Haar wie der Schweif eines Pferdes hin und her baumelte.

»Sobald Oliver ein paar Tage freinehmen kann. Wir würden gerne direkt nach der Trauung eine Reise machen. Wohin, wissen wir noch nicht. Außerdem brauche ich noch ein Kleid«, sagte Thea und blickte verlegen zu Noa.

»Sag das doch gleich. Ich kann dir eins nähen. Ja, ich brauche nur deine Maße und wir suchen einen schönen Stoff aus«, sagte Noa, worauf Thea freudig ihre Hände in kleinen Schlägen zusammenklatschte.

»Genau das wollte ich hören!«

Doch bevor Noa in ihren Gedanken Theas Traumkleid entwarf, hatte sie in der Menge des bunten Marktes das Schild gefunden, das auf den Stand des Arzneihändlers hinwies.

»Oh, da ist er! Also, dann bis später«, sagte Noa und verabschiedete sich von ihrer Freundin.

»Vielleicht hat Amor ja doch noch einen Pfeil für dich übrig«, rief Thea ihr nach und imitierte mit den Fingern eine Bewegung, als ob sie einen kleinen Bogen in der Hand hielt, dessen Pfeil sie in Noas Richtung schoss.

Grinsend schüttelte Noa den Kopf und blickte auf die Waren, die der Händler sorgfältig an seinem Stand drapiert hatte. Jedes Mittel war in Behältern aus Glas ausgestellt und mit einem dünnen Holzstück beschriftet. Noa fiel die Veränderung des Standes sofort auf, denn der alte Händler hatte seine Waren stets durcheinander in eine übergroße Schale geworfen und man war gezwungen, darin zu wühlen, bis man endlich fand, was man suchte.

Der junge Mann stand mit dem Rücken zu ihr gewandt und kramte in verschiedenen Holzkisten, um den Stand aufzufüllen, sodass man sehen konnte, welche Tränke, Kräuter und heilende Öle er verkaufte. Es war der Moment, in dem er sich umdrehte, als Noas Herz einen Satz nach unten machte. Noch an diesem Tag hatte sie gesagt, dass ein Mann in ihrem Leben gerade keinen Platz hatte, doch da stand der Schönste von ihnen direkt vor ihr. Wie es aussah, hatte Amor seinen Schuss doch nicht verfehlt.

Der Mann war viel jünger als sein Vorgänger, hatte hellbraunes kurzes Haar und einen sehr dezenten Bart, der überwiegend den Rand seines Kiefers bedeckte.

»Die Dame«, sagte er. »Wie kann ich helfen?«

Noa räusperte sich kurz und konzentrierte sich darauf, nicht in ihren Gedanken abzuschweifen.

»Haben Sie Elbkraut oder ein anderes starkes Schmerzmittel?«, fragte Noa.

Allein sein Anblick ließ sie verlegen zu Boden blicken.

»So schlimm?«, fragte er. »Wenn Sie Elbkraut bräuchten, würden Sie sicher nicht so bezaubernd vor mir stehen.« Er zog eine Seite seiner Lippe nach oben und blickte sie genauso schüchtern an, wie sie sich in seiner Gegenwart fühlte.

»Ist nicht für mich«, sagte Noa hastig und tat so, als würde sie zwischen den ausgestellten Fläschchen etwas suchen, um ihn dabei nicht anzusehen.

»Na, da bin ich aber froh. Leider habe ich keins mit, könnte aber für morgen welches mitbringen, wenn Sie möchten«, sagte er.

»Ich brauche es heute«, betonte Noa. »Aber danke. Ich nehme einfach das Stärkste, was Sie haben.«

Der Mann deutete auf eine Tinktur, die Noa bereits an der dunkelblauen Farbe erkannte – eine beliebte Mischung bei herkömmlichen Bauchschmerzen oder wenn man mal nicht gut einschlafen konnte.

»Das reicht nicht«, sagte sie. »Es ist für mein Pferd.«

»Oh, hätten Sie das gleich gesagt! Ein Bekannter von mir ist Jäger, er könnte …«

»Nein, danke!«, unterbrach Noa ihn forsch, bevor noch jemand anbieten konnte, ihr Pferd mit einem Pfeil töten zu lassen. Der junge Mann war beschämt von seinem Vorschlag, räusperte sich verlegen und klopfte sich mit der Faust gegen das Bein.

»Ich nehme dann zwei davon, oder nein, lieber drei. Was macht das?«, fragte Noa.

Der Mann packte die Fläschchen zusammen und legte sie in Noas Korb, den sie in der Beuge ihres Armes trug und der noch leer war.

»Acht«, sagte er, womit er die Anzahl an Kupfermünzen meinte, die Noa daraufhin in ihrer Rocktasche zusammensuchte.

Er beobachtete sie dabei und folgte ihren leuchtend grünen Augen, die von ihren Lidern bedeckt wurden, in der Hoffnung, er würde sie gleich wiedersehen.

»Oder ein Abendessen«, sagte er zurückhaltend und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

Noa hörte augenblicklich auf, in ihrer Tasche zu wühlen und verharrte kurz in ihrer Position. Unter anderen Umständen hätte sie sich sicher über diese Möglichkeit gefreut. Allerdings musste sie sich um den Hof kümmern und da wartete auch noch diese Frau in ihrem Haus, durch deren Kundschaft sie sich diese Arznei überhaupt leisten konnte. Zumindest dann, wenn sich Noa entschieden hätte, den Ring an ihrem Finger zu verkaufen.

»Tut mir leid«, sagte Noa schließlich und gab dem Mann die acht Münzen, die er verlangt hatte.

Absichtlich langsam öffnete er seine Hand unter ihrer Faust, in die sie die Münzen fallen ließ. Sofort fiel auch ihm der Ring an ihrem Finger auf und sein Kopf zog sich bei dem Anblick ein wenig nach vorne, um näher hinzusehen. Noa hätte die Hand des Mannes am liebsten berührt, doch stattdessen zog sie ihre zurück und trat einen Schritt nach hinten.

»Danke«, sagte sie, hob kurz den Ellenbogen, an dem der Korb hing, um zu zeigen, dass sie die Arznei meinte, nicht die Einladung zum Abendessen.

Sie konnte nicht anders, als noch einmal zurückzublicken, bevor sie sich zwischen den dicht gedrängten Menschen wieder verlor. Es fühlte sich schön an, zu sehen, dass er dasselbe tat.

Am Ende der langen Marktstraße stand Noa vor einem unscheinbaren Haus, dessen große Halle auf der Höhe der Straße die Ausstellung eines begabten Künstlers und guten Freundes war.

Sergio war ein paar Jahre jünger als Noa und hatte eine kleine Galerie, in der er Kunst ausstellte, die ausschließlich aus gebranntem Holz bestand. Meist schlug er breite Stämme ab, schliff die Platten zu einer geraden Fläche und brannte mit verschiedenen Formen glühend heißen Metalls in die Rinde, wodurch er wie mit einem Kohlestift darauf seine Bilder verewigen konnte.

Noa öffnete die breite Tür und ebenso wie bei ihr auf dem Hof machte ein klirrendes Holzspiel am oberen Ende des Türrahmens auf ihr Kommen aufmerksam. In einer Ecke saß Sergios Mutter, die alle Floz nannten. Ob es ihr richtiger Name war, wusste Noa nicht. Beide hatten sie sich schon so oft gesehen, dass sie sich mit einer freundlichen Umarmung begrüßten. Kurz danach schoss Sergio hinter einem dünnen Vorhang am Ende des Raumes hervor und zog seine Lederhandschuhe aus.

»Hallo, Noa! Ich arbeite gerade an einem neuen Bild. Komm mit nach hinten, ich zeig es dir!«, sagte Sergio mit vollem Enthusiasmus, endlich jemanden an diesem Tag zu sehen, der außer seiner Mutter seine Kunst zu schätzen wusste.

Noa hatte ihm in der Vergangenheit viele Bilder abgekauft, sie in ihrem eigenen kleinen Laden ausgestellt und jeden Kunden, der ihr nur ein paar Eier abkaufte, darauf aufmerksam gemacht.

Wairoa galt als das Land, in dem die Kunst geboren wurde. Nicht nur die Häuser und Straßen waren voll von kreativen Eigenwerken, auch die Körper vieler Bewohner wurden von Zeichnungen geschmückt, die ein Leben lang auf der Haut blieben.

Noa selbst hatte keine dieser Malereien auf dem Körper, obwohl Sergio schon mehrmals vorgeschlagen hatte, ihr ein Bild zu stechen.

In dem kleinen Zimmer hinter seiner Ausstellung, das er als eine Art Werkstatt nutzte, roch es nach verbranntem Holz. Die Luft war nicht so durchsichtig wie die Welt draußen und der Kamin brachte eine enorme Hitze, die durch kein geöffnetes Fenster entweichen konnte.

Noa nahm eines der dünnen Holzbretter vom Tisch und wedelte sich erfrischende Luft ins Gesicht. Zwar war es nicht die Wohltat, die Noa sich erhofft hatte, doch war es die einzige Möglichkeit, es in dem Zimmer auszuhalten, in dem sie sich fühlte wie das Brot in einem Ofen.

»Wie kannst du hier den ganzen Tag arbeiten?«, fragte Noa und löste ihren dünnen Schal von den Schultern.

Dann blickte sie in den Kamin, der fast doppelt so groß war wie der, den sie selbst in ihrem Haus hatte. Dementsprechend groß waren auch die Flammen, denen Noa stets mit einem unguten Gefühl begegnete. Es war nicht die Wärme, sondern der Anblick des Feuers, der Noa dazu brachte, sich nicht allzu nah daran aufzuhalten, auch wenn die Wärme in so manchen kalten Nächten in Wairoa das Einzige war, was sie suchte.

»Ich bin manchmal so im Fluss von Ideen, da vergesse ich die Hitze«, antwortete Sergio und ging zu einer Holzplatte, die er mit dicken Seilen an der Wand befestigt hatte. »Hier, sieh mal! Es ist noch nicht fertig, aber wenn es so weit ist, werde ich es direkt vorne an der Straße ausstellen.«

»Es ist wunderschön!«, staunte Noa. »Darf ich?«

Sie hob den Finger und deutete damit an, das Kunstwerk anfassen zu wollen.

»Nur zu«, sagte Sergio und trug seinen Stolz von den Lippen bis zu den Lidern.

Noa fuhr über die penibel eingebrannten, dunklen Linien auf dem hellbraunen Holz. Dabei dachte sie an eine Frau, die es sich damals zur Aufgabe gemachte hatte, jungen Menschen beizubringen, wie man musizierte. Sie war von Geburt an blind, hatte die Welt noch nie in ihren Farben gesehen, doch durch die Musik konnte sie sich ihre eigene Welt bunter machen. Durch Sergios Kunst würde sie vielleicht ebenso erfahren, wie wunderschön seine Werke waren, denn während Noa mit dem Finger über das Holz fuhr, ließ sich jede Linie und jeder kleinste Punkt mit der Berührung erkennen. Das Werk ergab in seiner Gänze das Bild eines Waldes, aus dem ein Tempel ragte, der doppelt so hoch war wie die Bäume, die ihn umgaben.

»Wie lange arbeitest du schon daran? Es muss Wochen dauern. Jede einzelne Linie ist so fein. Hier, diese wiederholen sich«, sagte Noa.

»Das habe ich auch gedacht. Ich hatte immer wiederkehrende Muster, und statt sie einzeln zu brennen, habe ich mir überlegt, dass es mehr Sinn ergibt, mit Stahl eine Vorlage zu meißeln, sie dann im Feuer zu erhitzen und wie eine Art Stempel in das Holz zu brennen. Sieh mal hier, die Baumkronen – ich hätte Jahre gebraucht, um jedes Blatt einzeln ins Holz zu brennen«, sagte Sergio.

»Es ist wunderschön«, sagte Noa. »Sicher, dass du es verkaufen willst? Es ist viel zu kostbar, um bei einem Fremden im Wohnzimmer zu verstauben.«

»Irgendwie muss ich mir meine Arbeit leisten können. Die meisten Münzen verdiene ich durch Körperstechen. Von der Holzkunst allein könnte ich nicht leben«, erklärte Sergio.

Das Körperstechen nannte man in Wairoa die Kunst des Tiburi. Es wurde nach einem Mann benannt, der die menschliche Haut wie eine Leinwand nutzte. Doch egal welche wunderschönen Malereien er den Menschen schenkte, wenige Tage später sah niemand mehr, was für ein großer Künstler er war. Also suchte er nach einer Möglichkeit, dass die Malereien für immer auf der Haut sichtbar waren. Durch einen mit schwarzer Kohle gefärbten Dorn begann er, tief in die Haut zu stechen, sodass die Farbe, nachdem die Wunden abgeheilt waren, dort in den Narben haften blieb und ein Kunstwerk auf der Haut entstehen ließ, das sich weder mit Wasser noch mit einem langen Bad im See abwaschen ließ.

Die meisten Malereien auf den Körpern der Menschen waren wellenförmige Symbole, Spiralen oder Kränze aus allen möglichen geometrischen Formen, die aussahen wie Speerspitzen und sich einmal um das Bein, den Arm oder sogar den Hals schlangen.

In Wairoa, besonders in der Hauptstadt, war es eine alte Tradition, die Berufe, die Stellung oder den Glauben nicht nur im Herzen, sondern auch symbolisch für jeden erkenntlich auf der Haut zu tragen. Dies diente jedoch nicht dem Zweck der Klassifizierung oder einer hierarchischen Rangordnung. Vielmehr war es ein Zeichen dafür, mit seinem Land, seiner Kultur und jeder Seele dieses Volkes eins zu sein, egal wie arm, wie reich oder gebildet man war. Uralte Stämme hatten traditionsgemäß ihre eigenen Symbole, die nur von den Nachkommen getragen werden durften.

In den Siedlungen wurde die Verzierung der Haut bei jungen Erwachsenen mit einem Fest gefeiert, denn mit der Malerei gingen sie eine lebenslange Verpflichtung ein, sich für ihren Stamm einzusetzen und ihn zu schützen.

»Also?«, fragte Sergio und riss Noa aus der Faszination seiner Kunst. »Wie läuft dein Geschäft?«

Noa war bis zu seinen Worten entspannt und in seine Kunst vertieft gewesen. Doch die Frage nach ihrem Hof erinnerte sie daran, dass dort jemand auf sie wartete.

Von der eigenen Vergesslichkeit beschämt, fasste sich Noa mit beiden Händen gegen die Stirn und griff hastig nach ihrem Korb.

»Tut mir leid, ich muss los. Da wartet jemand auf mich. Meine Güte, wie konnte ich das vergessen?«

»Alles in Ordnung?«, fragte Sergio. »Du wirkst so anders.«

»Ich …«, stammelte Noa und blickte ein letztes Mal zu dem Bild des großen Tempels statt in Sergios Augen. »Ich weiß auch nicht, was los ist. Mein Kopf ist nicht ganz bei mir heute. Ich denke, ich sollte mich ein wenig ausruhen.«

Als sie sich von Sergio und seiner Mutter Floz verabschiedete, versprach sie ihm, bald wiederzukommen. Dann sicher mit mehr Zeit und hoffentlich mehr Münzen, um Sergio auch in seiner Arbeit unterstützen zu können.

»Wünscht mir Glück!«, sagte sie, während sie nach draußen ging und den beiden zum Abschied winkte.

»Merji«, sagte Floz und neigte ihren Kopf ein wenig nach unten.

Dieses eine Wort brachte Noa dazu, am Türrahmen zu erstarren, bevor das Holzspiel am oberen Ende erklingen konnte.

»Was?«, fragte sie zaghaft.

»Oh, das sagte man früher hier in Wairoa, wenn man viel Glück wünschte – eine uralte Tradition«, erklärte Floz mit einem breiten Grinsen.

Noa erwiderte das Lächeln, bedankte sich bei Floz und ging zur Tür, verwirrt und in Gedanken über dieses eine Wort, das Noa zwar fremd war, aber etwas in ihr ausgelöst hatte. Und während sie darüber grübelte und den Laden verließ, hörte sie nicht einmal mehr den Klang der Hölzer, die im Wind der Tür miteinander tanzten.

***

Als Noa zurück auf dem Hof war, öffnete sie die Tür bereits mit einer Entschuldigung dafür, dass es etwas länger gedauert hätte, doch niemand saß mehr am Tisch, der ihre Worte hörte.

Wo ist sie? Hat sie es sich doch anders überlegt? Vielleicht ist sie in den Ställen oder im Tal, dachte Noa.

Immerhin hatte der Regen nachgelassen und unter der dicken Wolkendecke blitzten die ersten Strahlen der Sonne auf das Gras. Ohne nach Zoyah zu suchen, bereitete Noa die Arznei vor und ging sofort zur Koppel, um nach Edie zu sehen.

In den Stunden, in denen sie weg war, hatte sich der Zustand der Stute erheblich verschlechtert. Noas Gedanken kreisten permanent um das Leid des Tieres, dessen Tod ihr schwerer fallen würde als jeder andere. Sie tröpfelte die Tinktur aus der ersten Flasche auf ein Bündel getrocknetes Gras und reichte es dem Pferd, das sich vehement davon wegdrehte.

»Bitte Edie, nimm sie – lass mich dir helfen«, flüsterte Noa.

Das Pferd drehte erneut den Kopf zur Seite, dann nach unten und pustete schließlich ein paar Mal schwerfällig die Luft durch die Nasenlöcher. Es war, als würde sie ihr damit sagen: Nein, du hilfst mir, indem du mich gehen lässt.

»Es ist in Ordnung«, sagte Noa. »Ich bin dir nicht böse. Du kannst loslassen.«

Über ihre Wangen kullerten die ersten Tränen, die von dem Heu in ihrer Faust aufgefangen wurden, als sie sich mit dem Handrücken über die Wange wischte.

Nach fünf weiteren, gescheiterten Versuchen, dem Pferd die Arznei zu geben, schaffte Noa es letzten Endes nur, indem sie den Kopf der kleinen Flasche direkt an Edies Maul ansetzte und mit Nachdruck den Kiefer öffnete.

Die Tinktur schien zu wirken – jedenfalls hoffte Noa das, denn Edie beruhigte sich, bewegte sich kaum noch und atmete wieder normal und nicht so schwer wie am Morgen. Aber die Beine des Pferdes zitterten, wurden schwacher und drohten in sich zusammenzufallen, wodurch Noa ihr half, den Weg nach unten zu finden. Sie legte den Kopf seitlich auf Edies Hals und versuchte, den eigenen Herzschlag mit dem von Edie in Einklang zu bringen.

Die Wolken über ihnen verboten der Sonne erneut, ihr Licht zu geben und färbten sich dunkelgrau. Nachdem die ersten Tropfen gefallen waren und auf Noas Gesicht nicht mehr zu erkennen war, welche aus dem Himmel und welche aus ihren Augen kamen, gab das Herz unter ihr den letzten Ton von sich.

***

Ein paar Tage vergingen, in denen Noa sich von Edie verabschieden konnte. Thea hatte Besuch von Oliver und die beiden waren bereit, Noa damit zu helfen, den Kadaver zu verbrennen. Oliver machte mehrere spitze Bemerkungen, warum sie das Fleisch nicht verkaufte oder selbst nutzte, immerhin lebte sie von den Tieren. Für Thea war es sichtlich unangenehm, dass ihr Verlobter so wenig Empathie zeigte, doch Noa wusste, dass er eigentlich recht hatte. Edie war groß und trotz der Trägheit am Ende ihres Lebens, hatte sie noch genug Substanz am Körper.

Oliver schlug vor, sie nach Pine zu bringen, denn Pferdefleisch sei dort sehr beliebt gewesen. Doch allein die Vorstellung, dass sich dickbäuchige, alte Männer betrinken, dabei diese gute Seele verspeisen und dann ihre abgegessenen Knochen einfach über die Schulter auf einen Haufen werfen würden, war zu grotesk, um sie sich auszumalen.

»Nein, ich werde sie hier nach alter Tradition bestatten«, sagte Noa.

Mit der alten Tradition meinte sie, den Körper zu verbrennen, bis bloß noch ein kleiner Haufen Asche übrig blieb, der in die Schale von zwei Händen passte. Diese Asche wurde dann an dem Ort verstreut, der dem Verstorbenen am liebsten war und zu dem er im nächsten Leben gerne zurückkehren möchte.

Normalerweise wurden ausschließlich Menschen auf diese Weise bestattet – bei Tieren war ein solcher Weg des Abschieds eher unüblich. Sie wurden schlichtweg als Nahrung für andere Tiere zur Verfügung gestellt und dazu im Wald ausgesetzt, sodass wilde Hunde und Raubkatzen sich über ihre Kadaver hermachen konnten. In der Stadt sagte man, es würde die Tiere davon abhalten, sich ihre Nahrung in den Straßen zu suchen, doch eigentlich machte es sie nur neugierig darauf, was sich noch alles dort oben verbarg.

Thea und Oliver blieben an diesem Tag zum Abendessen, von dem Noa selbst nur wenig in den Magen bekam. Danach war es schon zu spät, um zurück in die Stadt zu gehen, also übernachteten sie in Noas Haus.

Noa stellte ihnen das Sofa mit der Kissenlandschaft zur Verfügung und bestand darauf, dass es ihr nichts ausmachen würde, im Stall zu schlafen. Das tat es tatsächlich nicht, denn der Geruch und das Gefühl des weichen Heus erinnerte sie an frühere Zeiten, in denen sie von der Einsamkeit beherrscht wurde und bei ihren Tieren nach Gesellschaft suchte.

Das Feuer brannte noch bis zum Morgen und Noa füllte das, was die Glut ihr von Edie gelassen hatte in eine kleine Holzschachtel. Thea wollte ihre Freundin zu den Felsen begleiten, aber Noa hatte das Bedürfnis, an diesem Tag allein zu gehen.

»Oliver muss doch morgen wieder arbeiten. Genießt ihr euren Tag, ich komme klar«, sagte sie, um sich zu entschuldigen.

Bis zu dem Berg, an dem Noa und Thea für gewöhnlich an der steilen Wand vom Boden bis zur Spitze stiegen, war sie den halben Vormittag unterwegs. Unter anderen Umständen waren sie mit den Pferden dorthin geritten, wodurch sie in wenigen Minuten dort waren und die Tiere an einen Pfahl am Grund festschnallten.

An diesem Morgen ging Noa allein und nur in Begleitung eines Stoffbeutels auf ihrem Rücken, in dem sie die kleine Holzschachtel verstaut hatte. Sie war all die Jahre immer nur auf Pferden unterwegs, sodass ihr zum ersten Mal auffiel, wie schön es sein konnte, selbst zu laufen. In der Tat genoss sie es. Denn von den eigenen Füßen getragen zu werden, bedeutete für sie ein Stück mehr Unabhängigkeit. Eine Freiheit, die sie sich über die Jahre aufgebaut hatte und nicht mehr missen wollte.

Oben am Gipfel bekam Noa jedes Mal weiche Knie. Und obwohl sie schon unzählige Male dort war, fühlte es sich bei jedem Mal anders an – als hätte sich der Berg in der Zeit verändert.

Jeden Morgen bildete sich dichter Nebel, der teilweise bis in den späten Nachmittag wie ein Schleier zwischen den Bergen hing, als ob er einfach dazu gehörte und die Gipfel wie eine Mutter beschützte oder sich wie ein Schild zwischen Himmel und Erde stellte. Noa sah darin manchmal einen Wasserfall, doch waren es Wolken und dichter Nebel, die von den Gipfeln entzweit wurden und sich ihren Weg ins Tal suchten, um dort wieder eins zu werden. Immer wieder teilte sich die Luft trotz der Felsen zu einem kühlen Strom, der sich angenehm auf die Haut legte.

Noa saß eine Weile hoch oben auf dem Plateau und ließ die Beine über dem Abgrund vor und zurück baumeln. Manchmal bröckelten kleine Steine ab, die sich ihren Weg nach unten suchten und einen fast unmöglich zu hörenden Ton nach oben schallten. Ihr Haar wehte von einer zur anderen Seite und an ihren Armen bildeten sich von der kühlen Luft kleine Erhebungen auf der Haut, die die winzigen Härchen aufrichteten.