Die Legende von Gold und Jade 5: Anfang und Ende - Mia Jacoba - E-Book + Hörbuch

Die Legende von Gold und Jade 5: Anfang und Ende E-Book und Hörbuch

Mia Jacoba

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Der Anfang vom Ende - das Ende vom Anfang. Während Noa alles versucht, um Zoyahs Leben zu schützen, rückt Ilios Armee immer näher. Doch eine letzte Begegnung bringt Noas Welt dazu, für immer zu zerfallen. Vereint in dem Traum eines Lebens, das bestimmt ist von falschen Entscheidungen und dem Beginn eines Krieges mit der eigenen Vergangenheit. Doch wenn das vergessene Leben der Schlüssel des Sieges ist, wird aus den Kämpfen der Zukunft eine Illusion.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 516

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:11 Std. 11 min

Sprecher:Rebecca Veil

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
LivSalt

Gut verbrachte Zeit

Der letzte Teil folgt
00



Mia Jacoba

***

Die Legende von Gold und Jade

Teil V

Anfang und Ende

Copyright © 2020 Mia Jacoba

Grafik: Katharina Jung

Verlag: Jacoba Publishing

www.jacoba-publishing.com

eISBN 978–3–949817-10-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Die Lebenden und die Toten

Fluch und Segen

Der einsame Zwilling

Der sichere Hafen

Der blaue Schleier

Das Tal der Tränen

Die Auserwählten

Die Rose der Venus

Hammond

Der Anfang von Silber

Der Krieg der Brüder

Erinnerungen

Die Zeichen der Zeit

Die Stille des Lebens

Anfang und Ende

Die Mutter der Sonne

Der Glückspilz

Der weite Weg der Hoffnung

Gold und Jade

Die Lebenden und die Toten

Dachte Noa an Chaos, so erschien ihr das Bild von Gewalt, Krieg, lauten Schreien der Verzweiflung und dem vollkommenen Verlust jeglicher Kontrolle. Doch wahres Chaos war nicht laut – wahres Chaos, das einen zerfrisst und einem die Sinne raubt, herrschte, wenn alles um einen herum verstummte. Wenn die Gedanken nicht von der Welt im Außen abgelenkt wurden und die Gelegenheit hatten, sich auszubreiten, zu vergrößern und einen Sturm an Gefühlen entstehen zu lassen.

So wie er vor ihr stand, schien es, als ob keine Sekunde vergangen war. Eine wunderschöne, orangefarbene Robe umhüllte seinen Körper und das hellbraune Haar hatte er zu einem kleinen Knoten gebunden. Das Gold an seinen Armen fehlte, ebenso wie die Stärke in seinen Augen.

Shelor ließ Noa einen Moment der Stille, denn er bestand darauf, dass sie es war, die das Recht hatte, als Erste zu sprechen. Der einzige Mensch im Raum, der bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden hatte, welche Person am Nabel der Welt auf sie gewartet hatte, war Taron. Shelor blickte ihn kurz an und lächelte. Der einstige König von Kathalea erkannte das Gesicht, das eines der letzten war, das Shelor, vor Ilios Versuch, ihn zu töten, gesehen hatte. Und auch wenn er keine Ahnung hatte, was seitdem mit Taron passiert war, so glaubte er, das Wohlergehen seiner Familie diesem Mann zu verdanken – einem Mann, der sich nicht erinnerte, wer er einmal war.

Zoyah, die die ganze Zeit wusste, dass dieser Moment kommen würde, wirkte angespannt und verdächtig teilnahmslos. Stille beherrschte den Raum. Stille, die durch ein leises Schluchzen beendet wurde.

»Vater?«, fragte er zart.

Henry lief auf den Mann zu, den er geglaubt hatte, für immer verloren zu haben. Shelor fiel auf die Knie, breitete seine Arme für den Jungen aus und ließ ihn, nachdem die Liebe von Vater und Sohn zurückgekehrt war, nicht mehr los.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Shelor. »Ich habe dich im Stich gelassen. Als du mich am dringendsten brauchtest, habe ich dich verlassen. Das werde ich mir niemals verzeihen.«

Teilnahmslos sah Noa dabei zu, wie sich Shelor und Henry in den Armen lagen. Ihr Blick glich dem einer in Trance verlorenen Frau, die nichts als Leere in ihrem Herzen spürte.

»Wieso bist du hier?«, flüsterte sie für sich, während Shelor und Henry das Wiedersehen feierten. »Wie lange bist du schon hier?«

Shelor hatte ihre zarten Worte vernommen, löste sich von Henry und blickte Noa wehmütig an.

»Schon sehr lange. Der Nabel der Welt hat mich beschützt, nachdem mein Bruder damals versucht hatte, mich umzubringen«, erklärte Shelor.

»Was?«, fragte Noa ungläubig. »Sprichst du bei dem Wort damals etwa von deinem Leben in Kathalea? Du bist also nie gestorben?«

»Bitte hege keinen Groll gegen mich«, flehte er.

»Groll?«, fragte Noa erbost.

»Komm schon, Noa. Du weißt es besser. Es ist nicht mehr wichtig, was passiert ist oder was hätte passieren können, wenn ich nicht hiergeblieben wäre. Es wird Zeit, über meinen Bruder zu sprechen«, sagte er.

»Nein! Natürlich ist es wichtig! Es wird Zeit, darüber zu sprechen, dass du nichts getan hast, um deine Familie zu beschützen!«, wetterte Noa. »Wusstest du, was Ilio vorhatte? Sei ehrlich – wusstest du, welchen Krieg er mit mir und unserem Land führen wollte?«

»Ich wusste es«, gab Shelor zu. »Ich ließ Ilio diesen Tempel bauen, wissend, welches Ziel er verfolgte. Ich ließ zu, dass dieses Fest zur Hölle für dich wird und ich ließ zu, dass mein Bruder dich bis in den Tod verfolgte.«

»Der Grund dazu muss wirklich bedeutend sein, findest du nicht?«, fragte Noa.

»Ich tat es, um dich zu schützen. Um dir einen anderen Weg zu zeigen, den du damals nie verstanden hättest«, sagte Shelor.

»Um mich zu schützen?«, brüllte Noa.

Dann ging sie zielgerichtet auf Shelor zu. Kurz bevor sie ihn erreichte, griff sie an die Tischkante und warf diesen gegen die Wand, wodurch das Holz in zwei Teile zerbrach.

»Wann hast du uns beschützt? Dein Sohn musste seine tote Mutter eine Klippe hinunterwerfen, dein Bruder hat uns bis in den Tod gejagt und während ich versucht habe, einen Weg zu finden, ihn aufzuhalten, hat er unser Zuhause zerstört! Und du? Du warst die ganze Zeit hier und hast dabei zugesehen!«

»So ist es nicht gewesen!«, wetterte Shelor.

»Wie ist es denn gewesen? Habe ich dich nicht angefleht, die lang ersehnte Veränderung nach Kathalea zu bringen? Keines deiner Worte konntest du halten! Und wenn schon nicht für mich, der – so wie ich viel zu spät erfuhr – Tochter deines Feindes, dann wenigstens für ihn!«, brüllte Noa.

Ihr Finger deutete auf Henry, ohne ihren Blick von Shelor abzuwenden. Shelor schwieg. Seinen Kopf senkte er zur Brust und versuchte, die zitternden Hände hinter seinem Rücken zu verstecken. Dann drehte er sich um und verließ die Halle über einen Nebeneingang, der hinter ihm lag. Noa zögerte nicht, ihm hinterherzugehen.

»Jetzt läufst du wieder weg! Siehst du, genau das unterscheidet uns beide voneinander. Deshalb bin ich froh, dass ich nie deine Tochter war. Weißt du, was ein Vater tut, der seine Tochter beschützen will? Er wird freiwillig zum Donheri und lebt eine Ewigkeit in der Hölle, nur um ihr zu helfen! Was Omar für mich getan hat, hättest du nie getan! Du konntest nicht einmal ein dämliches Fest absagen, weil dein Stolz es dir verboten hatte!«

Ihre Worte schlugen auf Shelor ein wie kleine Blitze, die ihn mitten ins Herz trafen. Noch immer lief Shelor durch die Hallen und Korridore des Palastes, und noch immer verfolgte Noa ihn und begleitete ihre stampfenden Schritte mit zynischen Worten. Henry, Taron und Zoyah schritten langsam hinter den beiden her.

»Sollte sie nicht froh sein, ihren Vater zu sehen?«, fragte Taron flüsternd und richtete sich an Zoyah.

Diese schüttelte leicht den Kopf. Nicht um seine Frage damit zu beantworten, sondern um Taron mitzuteilen, dass dieser Moment nicht der richtige für ausführliche Erklärungen war.

»Jetzt rede schon mit mir!«, brüllte Noa Shelor entgegen, der daraufhin endlich stehen blieb.

Er drehte sich zu ihr um und wandelte damit ihren Blick von Wut zu Trauer.

»Du kannst nicht schon wieder einfach davonlaufen, wenn ich dich brauche«, sagte Noa mit müder und zittriger Stimme.

»Ich bin noch nie weggelaufen«, sagte Shelor stolz. Kurz darauf traf sein Blick den von Zoyah.

Noa entging der flüchtige Austausch nicht und sah ebenfalls hinter sich zu der Frau, die mehr Antworten kannte, als sie preisgeben wollte.

»Ach nicht? Dann sag! Was hast du die letzten achtzig verdammten Jahre getan?«, fragte Noa zornig.

»Ich war hier«, sagte Shelor.

In diesem Moment schritt Zoyah nach vorne und stellte sich zwischen die beiden.

»Noa, er hat alles getan, was er konnte«, sagte sie.

Noa schwieg. Sie dachte darüber nach, welchen Grund Zoyah hätte haben können, sie anzulügen, wo sie doch kurz davor waren, diesen Krieg zu beenden. Sie dachte daran, dass sie vielleicht die Wahrheit sprach und Shelor wirklich mehr getan hatte, als sie bislang ahnte.

»Ist das wahr?«, fragte sie zart und richtete sich damit an Shelor. »Hast du wirklich alles getan, was in deiner Macht stand?«

Shelor wandte sich schließlich von Noa ab und sah in die Ferne des langen Korridors, in dem sie standen. Die beiden Jaguare standen nah beieinander, blickten ihn hochmütig an und ließen sein Herz wild pochen. Abwechselnd sah er erst in die Augen des einen und dann in die des anderen. Als der Panther mit den goldgelben Augen blinzelte und zu Noa sah, wandte sich Shelor von den Tieren ab und begann seine Geschichte zu erzählen.

***

Nach acht Jahren der Ungewissheit, was mit seinem Bruder passiert war, kehrte Ilio von Kathalea an diesem Tag aus Onzar zurück. Ein paar Stunden waren seit seinem Wutanfall vergangen und die Angestellten waren noch dabei, die restlichen Scherben aufzusammeln, die durch seinen Zorn die Böden der Flure bedeckten, in denen keine Vasen mehr standen. Shelor ließ die Zimmer für seinen Bruder herrichten und wies wahllos Herumstehende an, Essen zuzubereiten, frische Säfte zu servieren und saubere Laken zu bringen. Shelor wollte die Rückkehr seines Bruders an diesem Tag mit einem großen Fest feiern, doch am Abend saß er allein an der großen Tafel.

Die kleine Noa hatte sich seit ihrer Begegnung mit ihrem Onkel in ihrem Zimmer verkrochen und ließ niemanden außer den Jaguar, der sie auf Schritt und Tritt begleitete, herein. Ilio selbst wollte niemanden sehen und ließ Shelor durch einen Angestellten mitteilen, dass er durch die Stadt gehen wollte, um sich abzulenken. Daher saß Shelor ohne seine Familie am Tisch und trank mehrere Becher Wein, die seinen Durst nach einer harmonischen Familie stillen sollten.

Die orangefarbenen Vorhänge wehten im Wind der Nacht. Shelor sah ihnen dabei zu und versank in Gedanken. Diesen Tag hatte er sich wahrlich anders und bedeutender vorgestellt. Jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wurde, blickte Shelor erwartend zu den Zargen und freute sich auf seinen Bruder oder seine Tochter. Doch bei jedem Klicken des Türschlosses trat jemand hinein, der der Meinung war, den König nach seinem Befinden fragen zu müssen. Betroffen und frustriert schickte Shelor jeden, der ihn in seiner Einsamkeit störte, hinaus.

Ohne einen Grund blickte er auf den unscheinbaren Vorhang am hinteren Ende des Saals, hinter dem sich ein kleiner Raum verbarg, der das Gebilde eines Rades an der Wand trug, das Shelor vergötterte wie die Namen der vergangenen Herrscher.

Als er die Hoffnung aufgab, dass sein Bruder oder seine Tochter ihm Gesellschaft leisten würden, stand Shelor auf und ging in den Raum der Destia. Er betrachtete das Gebilde, das schon dort hing, als der erste König dieses Land regierte. Die Trance, die der Wein ihm zu dieser späten Stunde schenkte, bescherte ihm die wildesten Fantasien darüber, wie diese Wand vor ihm entstanden war.

Schließlich, als Shelor sich mit einer Hand an der Destia abstützte, sah er, wie jemand, den er im Palast noch nie gesehen hatte, den Raum betrat.

»Was willst du?«, fragte er forsch.

»Ich bin hier, um Euch ein Geheimnis zu verraten, von dem ich denke, dass es eines Tages von Bedeutung sein wird«, sagte Zoyah.

»Wer bist du?«, fragte Shelor weiter. »Los, verschwinde! Ich sagte doch, ich möchte niemanden sehen.«

»Ich bin auch nicht irgendjemand«, sagte Zoyah mit einer erhöhten Stimme. »Ich bin das Leben.«

Mit der Überzeugung, dass es an der Zeit war, den Wein aufzugeben, blickte Shelor in seinen leeren Becher.

»Das Leben«, wiederholte er und lachte.

Dabei wich er mit seinem Blick nicht von dem Krug in seiner Hand ab. Dann blickte Shelor zu seinem Gegenüber, lehnte sich gegen den Fensterrahmen und setzte den Krug erneut an seine Lippen, um den letzten Tropfen auf seiner Zunge zu spüren.

»Und welches Geheimnis willst du mir verraten? Etwa wie ich diesen Palast in zwei Teile spalten kann, um meinen Bruder glücklich zu machen, der nicht mit mir oder meiner Tochter leben möchte?«, fragte Shelor.

»Irgendwann«, begann Zoyah. »Ich weiß noch nicht, wann die Zeit so weit sein wird, da wird Eure Loyalität auf die Probe gestellt werden.«

Shelor begann herzhaft zu lachen. Dann stellte er den Krug mit einem lauten Knall auf die Fensternische, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich weiter gegen die Mauern.

»Los, sprich weiter«, bat er seinen ungebetenen Gast erhaben.

»Auch wenn es nicht meine Absicht ist, mich in das Leben in diesem Land einzumischen, so möchte ich, dass Ihr wisst, dass es einen Ort gibt, an dem der ewige Frieden herrscht«, sagte Zoyah zart.

Erneut begann Shelor laut zu lachen.

Zoyah räusperte sich, wodurch der König verstummte. »Wenn man der Sonne bis zu ihrem Ende folgt, gibt es einen Ort, an dem der Flieder die Felsen berührt«, sagte Zoyah. »Eure Tochter soll wissen, wo dieser Ort zu finden ist.«

»Meine Tochter?«, fragte Shelor.

»Ja, Eure Tochter. Mein Bruder und ich sind an diesem Ort zu Hause. Wir teilen uns einen Palast, so wie Ihr diesen hier mit Eurem Bruder teilt.«

Dann ging Zoyah auf das Gebilde der Destia zu.

»Wahrlich sind unsere heiligen Hallen ähnlicher, als Ihr glaubt, König Shelor«, fügte sie hinzu und ließ die Finger über die Ornamente gleiten. »Es ist schön, einen Bruder zu haben, nicht wahr? Ilio ist heute …« Sie stockte. »… unerwartet zurückgekehrt. Mein Bruder hingegen kehrt nur sehr selten zu mir zurück. Er bevorzugt es, in einer anderen Welt zu leben. Er ist wahrlich das Gegenteil von mir. Sein Name ist Hammond.«

Shelor horchte auf. Er kannte diesen Namen. Wochenlang hatte er vor acht Jahren im ganzen Land nach dem Träger gesucht. Und nun stand jemand mitten in der Nacht vor ihm, der ihn kannte. Ilios Zorn am Nachmittag hatte Shelor gezeigt, dass sein Bruder noch immer mit den Folgen der Tragödie zu kämpfen hatte. Denjenigen zu finden, der Antworten auf die Frage nach der Wahrheit über den Unfall an den Klippen hatte, würde – so dachte Shelor – seinen Bruder endlich dazu bringen, Frieden zu schließen.

»Wo ist dieser Hammond? Ich will ihn sehen!«, befahl Shelor.

»Das würde ich Euch nicht empfehlen«, sagte Zoyah. »Ihr seid noch so jung. So früh will man dem Tod noch nicht ins Auge sehen.«

Shelor zog die Brauen zusammen, als hätte er sich verhört, fragte jedoch zunächst nicht nach einer Erklärung.

»Hammond ist meine ganze Familie«, bestätigte Zoyah. »Doch wir sind wie Sonne und Mond. Seine Ziele sind nicht die meinen und umgekehrt. Daher habe ich mich entschieden, heute hierherzukommen. Um Euch zu sagen, was mit Eurer Tochter geschehen muss, falls mein Bruder bereit ist, ihr etwas anzutun.«

»Der Tod will meine Tochter?«, fragte Shelor.

»Der Tod will so vieles, das ihm nicht zusteht«, betonte Zoyah. »Aber wie dem auch sei – Ihr wisst nun, wo der Frieden zu finden ist. Vielleicht kehrt ihr eines Tages dorthin und findet mich – findet das Leben und findet Frieden.«

Mit ihren Worten ging Zoyah aus dem Raum und verschwand hinter dem wallenden Vorhang.

Shelor zögerte nicht und ging ihr hinterher, immerhin lagen noch viele Fragen auf seiner Zunge. Doch als er die große Speisehalle betrat und nach der Fremden suchte, war sie verschwunden. Weder hatte er die Tür ins Schloss fallen hören noch vernahm er schnelle Schritte. Lediglich die Gardinen bewegten sich im Takt des Windes und flatterten, ebenso wie Shelors wirre Gedanken, einfach umher. Über der Brüstung des Balkons hatte Shelor einen zarten Hauch grauen Rauches wahrgenommen, daher lief er sofort dorthin und blickte hinunter auf die menschenleeren Straßen seiner Stadt.

Am nächsten Morgen wachte Shelor nach wenigen Stunden Schlaf auf und ertappte sich dabei, sich die Frage zu stellen, ob die vergangene Nacht und deren Begegnung wirklich passiert waren. Er war unsicher, ob die Frau, die im Schatten der Nacht verschwunden war, nur Teil eines Traums war.

Das Frühstück nahm er wieder allein im großen Saal ein, da sich Noa und Ilio weiterhin nicht blicken ließen. Noch mit seiner warmen Tasse in der Hand ging Shelor in das Nebenzimmer und blickte auf die Destia.

Die Sonne schien auf seinen Rücken und wärmte ihn mit ihren Strahlen. Shelor drehte sich um, schloss die Augen und lauschte dem morgendlichen Trubel der Stadt. Der König, der nur selten seinen Palast verließ, spürte, wie seine Wangen erröteten und sich über die seltene Begegnung mit der Sonne freuten. Er lächelte.

Plötzlich erregte ein leiser Ton von brechendem Stein seine Aufmerksamkeit. Shelor drehte sich um und sah, wie ein kleiner Brocken der Destia zu Boden gefallen war. Neben diesem stand ein kleiner Junge, kaum älter als seine Tochter, und blickte den König schüchtern und ängstlich an. In seiner Hand hielt er einen Meißel und einen Hammer, den er den Arbeitern draußen entwendet haben musste.

Normalerweise wäre Shelor sofort aus der Haut gefahren, dass jemand es gewagte hatte, seine heiligen Hallen ungefragt zu betreten und auch noch dafür verantwortlich war, diese zu beschädigen. Doch der Junge, der eindeutig beschämt über sein Verhalten war, erinnerte Shelor an die Unschuld seine Tochter.

Daher ging er auf ihn zu, kniete sich zu Boden und half dem Jungen, die Brocken wieder aufzusammeln.

»Hast du dich verirrt? Du bist der Sohn des Bildhauers, habe ich recht?«, fragte der König.

Der kleine Taron nickte schüchtern und blickte auf das Gebilde an der Wand.

»Was ist das?«, fragte er.

»Das ist etwas Besonderes«, sagte Shelor. »Ein wenig zu früh, um es zu verstehen, würde ich meinen. Na los, geh spielen, herumtoben oder was auch immer man in deinem Alter macht, wenn einen die Sorgen nicht wie ein Schatten begleiten.«

Der Junge legte die kleinen Steine, die von der Wand gebröckelt waren, in Shelors Hand und nickte. Der König hingegen warf die kleinen Brocken von einer Hand in die andere und lächelte bei dem Geräusch, das sie verursachten, sobald sie sich berührten.

»Los, geh schon. Die Gärten sind schöner als diese Halle. Dort gibt es mehr zu entdecken als einen Haufen Stein, zusammengepresst zu dem Glauben einer Zukunft«, sagte Shelor.

Taron blickte an die Wand.

»Sie ist wunderschön«, sagte er freundlich.

Shelor folgte den Augen des Jungen und antwortete ihm still.

»Ja, das ist sie.«

Doch sprach Shelor nicht von dem Gebilde an der Wand, sondern ihrer unschuldigen Zukunft.

Bereits am nächsten Tag hatte er die Begegnung der Nacht und den unverblümten Traum vergessen. Jahre vergingen, in denen er nie wieder von ihr träumte, ihren Namen wiederholte oder das Gesicht der Fremden vor Augen sah.

Als Ilio sich mit der Zeit den Bedingungen im Palast gefügt hatte und entschied, bei seinem Bruder zu bleiben, bemühte sich Shelor, es ihm recht zu machen.

Er gab ihm seine Gemächer, die größer, schöner und aufwendiger geschmückt waren. Zudem ließ er neue Bürger im Palast anstellen, die ausschließlich für Ilios Wohl zuständig waren und dafür bezahlt wurden, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Und an dem Tag, an dem Shelor Ilio sogar zum ersten Mal wieder lachen sah, beschloss der König den Namen von Zoyahs Bruder auch nie wieder zu erwähnen. Er wollte keine Wunde aufreißen, die gerade erst zu einer wunderschönen Narbe gewachsen war und das gebrochene Herz Ilios zusammenhielt.

Shelor tat dies bis zu dem Tag – viele Jahre später – an dem sein Bruder das getan hatte, von dem er hoffte, dass es nie sein Schicksal werden würde. Er hatte dem Tod ins Auge gesehen.

In der Nacht der Rebellion als Shelor in einer Zelle aufgewacht war und begriffen hatte, dass seine Welt im Krieg versank, da dachte er an den einzigen Ort, an dem er seine Familie in Sicherheit wusste – da, wo der Flieder die Felsen berührt.

Und in einem Moment, in dem Shelor nicht mehr wusste, welche Entscheidung die Richtige war, hinterließ er die Nachricht bei dem Mann, der damals dabei war, als die Vision seiner Zukunft zu bröckeln begann.

***

Als Shelor von der Klippe fiel, über die ihn sein eigener Bruder gestoßen hatte, landete er im Wasser und wurde sofort von dem starken Strom mitgerissen. Die kurzzeitige Trance nach dem Aufprall verschwand und Shelor strampelte mit seinen Armen um sein Leben. Immer wieder ließ das schwere Eisen an seinen Beinen und Armen ihn untertauchen, doch der Wille, gegen den Tod zu kämpfen, war stärker als jede Kette.

Shelor war sich sicher, früher oder später in den Fluten zu ertrinken, doch wollte er dem Tod nicht den Gefallen tun und frühzeitig kapitulieren. Er trieb so lange im Wasser, bis ein breiter Ast seinen Weg abschnitt und die Ketten an seinen Armen sich daran verkeilten.

Sekunden später rief jemand, der schützend in seinem Kanu saß, dem König strenge Worte zu, die in einem Echo an den Klippen des Silberstroms widerhallten.

Das Wasser ließ die Angst in ihm aufheulen wie ein einsamer Wolf, der der Dunkelheit sein Leid klagte. Er nahm das Ruder und streckte es Shelor hin, damit dieser danach greifen konnte.

»Majestät, haltet Euch fest!«

Der dem König fremde Mann zog Shelor aus dem Wasser, legte diesen auf ein Kiesbett und schob sein Kanu unmittelbar daneben, damit es von dem Strom nicht mitgezogen wurde.

Shelor hatte die Augen geschlossen, doch seine Brust bewegte sich langsam auf und ab. Der Mann, der ihn gerettet hatte, beugte sich über den gefallenen König und schlug ihm ein paar Mal gegen die Wange.

Zu zärtlich waren seine Mühen, ihn damit zu wecken.

Während der König sich nicht rührte, erschien eine hellgraue Wolke über dem Kiesbett, aus der eine Frau trat, die jedem, selbst denen, die die Augen geschlossen hatten, bekannt war.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte Isidor leise, als er neben dem König kniete und auf dessen Gesicht sah. »Wir sollten uns doch nicht einmischen!«

Zoyah sah ihn verständnisvoll an. Doch in ihren Augen sah Isidor, dass sie das Gefühl hatte, keine andere Wahl zu haben.

»Ich weiß«, sagte sie und biss sich auf die Lippe. »Warum hat er das getan? Warum bist du nicht tot?«, fügte sie flüsternd hinzu, als sie Shelor betrachtete.

»Er lebt also?«, fragte Isidor zaghaft.

»Ja«, entgegnete Zoyah.

»Los, Isidor, geh jetzt!«, befahl sie.

Isidor erschrak. Er kannte Zoyah nun sein halbes Leben. Noch nie hatte sie ihre Stimme in seiner Gegenwart derartig erhoben.

»Warum wollt Ihr, dass ich gehe?«, fragte Isidor.

»Du sollst nicht sehen, was nicht für deine Augen bestimmt ist«, sagte Zoyah.

Sofort stand Isidor auf und brüstete sich vor dem Leben.

»Ich bin Isidor von Yara und ich bin der Bote der ewigen Fünf!«, wetterte er.

In seinem Rausch bekam er nicht mit, wie Zoyah ihre Finger auf die Wange des Königs legte, wodurch dieser langsam die Augen öffnete. Sofort richtete Shelor sich auf, hustete die Tropfen des Flusses aus seiner Lunge und blickte sich panisch um, unwissend, wo er war.

»Ich muss ihn aufhalten«, krächzte Shelor.

Nach seinen Worten fasste er sich gegen seine Brust und seinen Bauch, auf dem eine große Wunde klaffte.

Zoyah versuchte, ihn mit sanften Worten zu beruhigen, doch Shelor, der sich in Panik verlor, verstummte nicht.

»Du schon wieder«, sagte Shelor, als er Zoyah anblickte. »Träume ich? Bin ich tot?«

Dann dachte Shelor an einen Traum, den er vor vielen Jahren gehabt hatte.

»Zoyah«, flüsterte Shelor. »Du?«

»Keine Sorge, Shelor. Alles wird gut werden«, besänftigte Zoyah ihn. »Ilio denkt, Ihr seid tot. Lasst uns die Chance nutzen.«

Shelor blickte in den wolkenlosen Himmel. Auf dem Kiesbett war es trocken und schattig, doch die Felsen, die hinter ihm lagen, verrieten ihm, wozu sein Bruder an diesem Tag bereit gewesen war.

»Er wollte mich töten. Er hat es tatsächlich getan. Nach all den Jahren«, flüsterte er. »Bringt mich fort von hier! Los! Bringt mich einfach fort!«

Zoyah und Isidor tauschten unsichere Blicke miteinander. Dann sah Isidor zu dem Kanu, das er auf das Kiesbett geschoben hatte, um es nicht in der Strömung des Flusses zu verlieren.

»Wohin sollen wir ihn bringen?«, fragte er und sah zu Zoyah, die ihre Hände auf Shelors schmerzende Brust gelegt hatte.

»Ich bringe ihn fort«, sagte sie schnell. »Du solltest dich ebenfalls in Sicherheit bringen, Isidor.«

»Nein!«, wetterte Isidor. »Ich werde sie suchen! Ich werde ihr sagen, was zu tun ist!«

»Nein!«, brüllte Zoyah. »Wir dürfen uns nicht einmischen! Das hast du selbst gesagt!«

Dann blickte sie zu Shelor, der den Schmerz seines Körpers im Gesicht trug. Ein dunkelgrauer Nebel begann sich langsam um ihren Körper zu schlingen, der auch den König wie ein schützender Umhang ummantelte.

»Wohin bringt Ihr ihn?«, fragte Isidor panisch.

Seine Frage wurde von niemandem beantwortet – weder von Zoyah noch von seiner Fantasie.

»Bring dich in Sicherheit«, sagte Zoyah erneut, bevor sie schließlich mit dem König verschwand und den Boten der ewigen Fünf allein am Ufer des Silberstroms zurückließ, unwissend, was er tun oder unterlassen sollte.

***

»Wo sind wir hier?«, fragte Shelor, als ein heller Schein vor seinen halb geschlossenen Augen verschwand und er auf dem Boden einer einsamen Halle lag. Sein Kopf lehnte auf der ersten Stufe einer hellweißen Treppe, deren Stein so glatt wie Glas war und im Sonnenlicht glitzerte.

»Am Nabel der Welt«, sagte Zoyah. »Wo der Flieder den Felsen berührt, schon vergessen?«

»Nein, bring mich zurück! Ich muss zurück in meinen Palast, bevor mein Bruder etwas macht, das ihm noch leidtun wird!« Shelor war wutentbrannt.

»Ihr könnt nicht mehr zurück!«, sagte Zoyah. »Es ist bereits geschehen. Die Sonnenfinsternis war vor wenigen Minuten. Ilio hat meinen Bruder getötet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich seine Macht nimmt. Wir müssen vorbereitet sein.«

»Warum?«, fragte Shelor.

»Ist der eine bereit zu gehen, muss der andere ihm folgen«, sagte Zoyah.

Shelor blickte sie ratlos an.

»Irgendwann wird sich das Gerücht verbreiten, dass Ilio den Tod gerufen und ihm ins Auge gesehen hat. Doch das stimmt nicht. Hammond hat selbst entschieden zu gehen. Hammond wollte sterben. Er wollte, dass Ilio tut, was er getan hat. Er hatte es provoziert – all die Jahre. Und Hammond wusste, welche Regeln unsere Existenz rechtfertigen. Wenn der eine bereit ist zu gehen, muss der andere ihm folgen. Jetzt, da Hammond tot ist, ist auch meine Zeit gekommen. Keiner kann allein stehen in der Welt von Sonne und Mond.«

In seinen Gedanken verloren griff sich Shelor gegen die Schläfe und nahm nur die Hälfte von Zoyahs schnellen und eindringlichen Worten wahr.

»Was hat das mit meiner Familie zu tun?«, fragte er irritiert.

»Du bist sein Zwilling. Und somit der Einzige, der uns jetzt noch helfen kann. Doch der Preis ist hoch. Majestät, seid Ihrbereit, ihn zu zahlen?«, fragte Zoyah.

»Ich würde alles tun, um meinen Bruder am Galgen hängen zu sehen!«, wetterte Shelor.

»Dann schwört mir, beim Leben Eurer Kinder, alles zu tun, was ich Euch sage«, entgegnete Zoyah.

»Das tue ich«, sagte Shelor selbstsicher, doch so leise, dass Zoyah ihm beinahe nicht glaubte.

Langsam stützte er sich an der Kante der weißen Treppe ab und erhob sich vom Boden. Die Wände und die Decke der Halle waren bunt geschmückt. Es roch nach einer frischen Brise. Der Duft brachte Shelor dazu, sich wohlzufühlen, den Zorn beiseitezulegen und sich auf seinen lauten Herzschlag zu konzentrieren.

»Dieser Ort hier ist heiliger als jede Stätte. An diesem Ort hat alles angefangen. Daher muss es auch hier enden. Ilio wird niemals hierherkommen, denn er weiß, welches Schicksal ihn erwartet, sobald er durch die Pforten geht«, erklärte Zoyah als sie die Unwissenheit in Shelors gerunzelter Stirn sah.

»Von welchem Schicksal sprichst du?«, fragte Shelor.

»Das ist für Euch nicht wichtig. Fakt ist jedoch, dass dieser Ort dadurch der Sicherste auf Erden ist. Zumindest für Euch und Eure Familie. Irgendwann wird Noa hierherkommen und dann werdet ihr die Wahrheit erfahren«, erklärte Zoyah.

»Wo ist Noa? Wie geht es ihr? Ist sie verletzt?«, fragte Shelor.

In seinem Kopf erschien das Bild des zerstörten Palastes seiner Heimat. Verletzte und getötete Soldaten lagen in den Hallen und den Straßen von Kathaleas Hauptstadt. Und bis zu diesem Moment wusste Shelor nicht, was mit seiner Tochter passiert war.

»Sie ist versorgt. Macht Euch um sie keine Sorgen. Ich kümmere mich um sie. Ihr wird nichts geschehen«, sagte Zoyah.

»Was ist mit meinem Sohn?«, fragte Shelor.

»Er ist bei seiner Mutter. Die beiden gehen den Weg, der ihnen bestimmt ist«, sagte Zoyah. »Der erste Gefallen, den Ihr befolgen müsst, ist, mir keine Fragen zu stellen, denn unglücklicherweise ist es mir nicht gestattet, sie zu beantworten. Ich darf mich nicht ins Leben einmischen.«

Es lag Shelor auf den Lippen zu fragen, warum, doch gehorchte er ihrer Bitte schweigend. Dann überließ er Zoyah das Wort und hoffte, dass sie zumindest das aussprechen würde, was ihr erlaubt war.

»Als ich das erste Mal an diesen Ort hier kam, fühlte es sich an, als bliebe die Zeit stehen. Wahrhaftig hatte ich damit recht, denn das tut sie. Solange Ihr hier am Nabel der Welt seid, wird sich nichts verändern. Keines Eurer Haare wird weiter ergrauen, keines Eurer Lider wird von Falten geziert sein und keine Eurer Erinnerungen werden verschwinden. Die Welt da draußen wird ihren gewohnten Lauf nehmen. Die Zeit wird vergehen, Menschen werden sterben und sie werden irgendwann von mir zurückgebracht. Doch all das werdet Ihr nicht miterleben, habt Ihr verstanden? Ihr werdet hierbleiben, warten, hoffen und, wenn Ihr möchtet, beten.«

»Ich will nicht beten! Ich will meiner Familie aus diesem Chaos helfen«, sagte Shelor. »Mehr nicht. Und ich will meinen Bruder töten, für das, was er uns angetan hat. Er soll in der Hölle schmoren! Die Götter sollen nicht gnädig sein und ihm seine Eigene erschaffen!«

Zoyah blickte betrübt zu Boden.

»Das wird nicht mehr allzu leicht sein«, sagte sie zögerlich.

»Wovon sprichst du?«, fragte Shelor.

»Wie schon gesagt – Ilio hat meinen Bruder getötet. Damit ist er auserwählt, um sich mit der Macht des Mondes zu verbinden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er vollends über den Tod herrscht.«

»Eine Frage der Zeit?«, fragte Shelor gegen. »Was meinst du damit? Hat er nun die Macht deines Bruders oder nicht?«

»Fast«, sagte Zoyah. »Er kann bereits entscheiden, wann der Tod sich zeigt, doch seine ganze Macht wird erst frei, wenn die Mutter des Mondes es erlaubt.«

»Wer?«, fragte Shelor ungläubig.

Zoyah antwortete nicht auf seine Frage.

Shelor verstand, dass es die Erste war, die sie nicht beantworten wollte.

»Zu jeder Zeit stand ich still im Schatten der Welt und beobachtete das Geschehen. Als Ilio begonnen hatte, diesen Tempel zu bauen, verstand ich schnell, was sein Ziel war. Das war der Moment, an dem ich meine oberste Regel hätte brechen müssen. Ich hätte mich einmischen sollen, nicht zulassen dürfen, dass all das passierte, doch ich tat nichts. Ich ließ Euch in das offene Messer laufen, was von Ilio, Eurem Volk und meinem Bruder extra für Eure Familie gespitzt wurde – jahrelang.«

Shelor war es leid, müden Worten zuzuhören. Er sah sich in der Halle um, erspähte die Tür, die seines Erachtens nach draußen führte, und marschierte geradewegs auf sie zu.

»Ich gehe jetzt! Meine Familie braucht mich!«, betonte er.

Zoyah zögerte nicht und stellte sich vor ihn.

»Ihr versteht das nicht, Shelor! Wenn Ihr geht, dann tötet Ilio Euch und ich werde keine Möglichkeit haben, Euch zurückzubringen! Ihr werdet niemals ein Alter erreichen, in dem es Euch möglich sein wird, Noa zu helfen, denn vorher wird Ilio davon erfahren und Euch ein schnelles Ende bereiten. Bleibt hier! Es ist sicher und die Zeit ist nicht Euer Feind.«

»Die Zeit ist noch nie mein Feind gewesen«, lachte Shelor.

»Ach, nicht?«, fragte Zoyah gegen.

Sie nahm seine Hand und fuhr über die kleinen Falten der Haut. Dann streifte sie eine Strähne seines grau melierten Haares nach hinten und lächelte.

»Die Zeit ist der Feind eines jeden. Wenn Euch bewusst wird, dass es mit jedem Morgen, an dem Ihr erwacht, nicht ein Tag mehr ist, den Ihr leben dürft, sondern einer weniger, dann würdet Ihr anders über die Zukunft und die Vergangenheit sprechen«, erklärte sie. »Glaubt mir, die Zeit ist nicht Euer Freund. Und keine Macht der Welt wird das jemals ändern.«

»Und dieser Ort schon?«, fragte Shelor gegen.

»Am Nabel der Welt spielt die Zeit keine Rolle. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft«, sagte Zoyah.

»Wie könnte ich hier sein und wissen, dass meine Familie da draußen meine Hilfe braucht. Siehst du es nicht? Meine Stadt wurde überfallen, mein Palast angegriffen, meine Familie verjagt und meine Kinder sind in Gefahr. Wie lange soll ich bitte hier warten, bis ich ihnen helfen kann?«

Als Shelor sprach, fasste er sich an die Wunde an seinem Bauch. Zwar war diese nicht mehr blutig und klaffend wie am Tag zuvor, als er noch im Kerker gesessen hatte, doch die Schmerzen hatten nicht nachgegeben.

»Irgendwann wird die Zeit kommen«, sagte Zoyah. »Vertraut Ihr mir, Shelor?«

»Nenn mir einen guten Grund und ich überlege es mir«, erwiderte Shelor.

Zoyah verstand, was der König hören wollte. Nicht von ihr – sondern vom Leben.

»Mein Bruder konnte jeden beliebigen Menschen dieser Welt töten, ohne vor jemandem Rechenschaft abzulegen. Nun ist es Ilio, der diese Fähigkeit hat. Doch in seinem Wahn von Vergeltung versteht er nicht, dass ich es bin, die jeden beliebigen Menschen zurückbringen kann, ohne es zu begründen. Und ebenso kann ich jeden daran erinnern lassen, warum ich das tat.«

Dann schwieg Zoyah für einen kurzen Moment.

Erneut war Shelor bereit, ihr den Rücken zu kehren und den Nabel der Welt wieder ebenso schnell zu verlassen, wie er ihn betreten hatte, doch eine letzte Frage, die diesmal von Zoyah ausgesprochen wurde, brachte ihn dazu, seine Meinung zu ändern.

»Ihr Name war Lydia, nicht wahr?«

***

Shelor verspürte nie den Drang zu essen, zu schlafen, zu trinken oder sich eine Auszeit zu gönnen. Die Zeit am Nabel der Welt blieb, genauso wie Zoyah es beschrieben hatte, wahrhaftig stehen. Mehr als fünfzig Jahre wartete er in den Hallen des Palastes. Ab und zu ging er zu dem kleinen unscheinbaren Turm auf der anderen Seite und blickte auf ein Meer, das ebenso endlos zu sein schien wie der Sand im Glas an diesem Ort. Das Einzige, das die Zeit nicht zum Stillstand brachte, waren seine Gedanken. Diese machten keine einzige Sekunde eine Pause oder ließen Shelor in Frieden. Er fragte sich, was er tun konnte, was die Welt von ihm verlangte und wo seine Kinder waren.

An seinem ersten Tag am Nabel der Welt war er zu einer Wand aus weißem Marmor gegangen und hatte mit der Spitze eines Steins eine Kuhle in die Mitte der Mauer geschnitzt. Folglich tat er Tag für Tag das Gleiche, ließ die Kuhlen in einer Spirale verschwinden und blickte schließlich mehr als fünfzig Jahre später auf das Bild der Zeit, die er bereits damit vergeudet hatte, zu warten und nichts zu tun.

»Es ist so weit«, sagte Zoyah, als sie Shelor in den Gärten des Tempels erschien. »Ich brauche dich.«

Er saß vor der von ihm benannten Mauer der verlorenen Zeit und zählte die Tage, die er darin verewigt hatte.

»Was soll ich tun?«, fragte er. »Wo ist sie?«

»Onzar«, antwortete Zoyah.

»Ich dachte, Noa käme hierher!«, betonte Shelor.

»Das dachte ich auch«, sagte Zoyah zart. »Aber anscheinend war jemand, mit dem ich einmal eine Vereinbarung getroffen hatte, überzeugender als ich.«

»Also Noa ist nun in Onzar? Was glaubst du, wann wird sie hier sein?«, fragte Shelor streng.

»Sie ist …« Zoyah zögerte ihren Satz zu beenden, doch Shelor verstand.

»Findet sie erneut das Leben?«, fragte er.

»Natürlich«, gab Zoyah zu. »Wie könnte ich mich wagen, es nicht zu tun? Shelor, es wird Zeit, dass du etwas erfährst.«

Mit ihren Worten öffnete Zoyah ihre Hände und legte zwei Kugeln in Shelors Faust – eine grüne und eine blaue.

»Die Wahrheit darüber, was damals passiert ist«, fügte sie hinzu. Dann blickte sie auf Shelors offene Hand und nahm die grüne Kugel wieder an sich.

»Was ist das?«, fragte Shelor.

»Der Schlüssel zur Vergangenheit«, antwortete Zoyah.

Shelor wurde daraufhin von Zoyah angewiesen, eine besondere Halle des Palastes zu betreten. Er kannte das Rad von Gut und Böse aus seinem eigenen Zuhause, doch seit er miterlebt hatte, welche falschen Deutungen er daraus gezogen hatte, glaubte er nicht mehr daran, dass das Gebilde ihm einen Weg für die Zukunft zeigen würde – selbst wenn dieser Weg in der Vergangenheit zu erkennen war.

Als er auf Zoyahs Bitte hin die blaue Kugel in das Rad legte, begann diese hell zu leuchten. Shelor hob langsam die Finger, berührte den Schimmer und ließ zu, Teil der Vergangenheit zu werden. Seine Augen schlossen sich, ohne dass er die Kraft hatte, sich dagegen zu wehren. Er tauchte in einen Traum der Vergangenheit ein. Die Erfahrung war nicht von einem gewöhnlichen Traum einer ruhigen Nacht zu unterscheiden. Shelor fühlte sich als ein Teil einer Welt, in der nichts und niemand infrage gestellt wurde. Erst als er aufwachte und seine Hand von der Destia löste, begriff er, dass die Welt, in die er eingetaucht war, nicht echt und er selbst bloß ein Träumer war.

»Darum hasst Ilio sie so sehr«, flüsterte er für sich.

»Darum hasst Ilio die ganze Welt, Shelor«, korrigierte Zoyah, die dicht hinter dem gefallenen König stand.

»Wäre ich nur für ihn da gewesen«, flüsterte Shelor. »Ich hätte ihn niemals nach Onzar gehen lassen dürfen – niemals. Meine Untätigkeit ist mitverantwortlich für diesen Krieg, lange bevor ich wusste, dass er im Anmarsch war.«

»Es ist nicht deine Schuld, Shelor«, sagte Zoyah. »Ich war es, die diesem Mann das Leben geschenkt hat.«

Kurz zögerte sie weiterzusprechen, doch dann erlaubte sich Zoyah einen Moment der Ehrlichkeit.

»Aida hatte sich einen Sohn gewünscht – einen«, begann Zoyah. »Ich erinnere mich, wie ich dabei zusah, wie die angehende Königin von Kathalea am späten Abend ihren Weg zum Tempel suchte und betete. Sie war so voller Liebe und Güte, dass ich bereit war, ihr das doppelte Glück zu schenken. Es war von Anfang an mein Fehler gewesen. Jeder sucht nach einem Sündenbock, egal auf welcher Seite gekämpft wird. Doch wenn einer Schuld an all dem hat, dann bin ich das. Ich hatte Ilio das Leben geschenkt, obwohl er auf dieser Welt nicht vorgesehen war. Wenn das hier mein Ende ist, dann nur, weil ich es verdient habe.«

»Pass auf, was du sagst, Zoyah. Auch wenn der Mann es verdient hat, zu sterben, so ist er immer noch mein Bruder«, erwähnte Shelor. »Und ein Teil von mir, auch wenn dieser von Tag zu Tag kleiner wird, hat diesen Mann geliebt.«

Shelor stand auf und ging die Treppen hinunter. Auf halber Höhe blieb er stehen und sah zurück zu Zoyah, die auf der obersten Stufe stand und auf ihn herabsah.

»Sag mir, wieso kann ich ihn nicht einfach dafür hassen, was er mir angetan hat?«, fragte er.

Zoyah blickte in die Ferne. Die Halle wurde von allen Seiten von Licht durchflutet, wodurch ihre Augen von einem Fenster zum anderen glitten.

»Weil es egal ist, was Brüder einem antun«, sagte sie schließlich. »Selbst in ihren dunkelsten Stunden versucht man trotzdem, ihren Schatten zu verteidigen. Nur weil sie die falschen Entscheidungen treffen, bedeutet das nicht, dass die Liebe zu ihnen verschwindet.«

Hoffend, dass diese Annahme über Brüderlichkeit auch für Ilio gelten würde, ließ sie Shelor gehen.

Kurz bevor dieser die Pforten durchschritt, hielt sie ihn mit einer letzten Bitte auf.

»Warte, Shelor! Ich bringe dich an den Ort, den du sehen solltest, um ihre Geschichte zu verstehen!«

***

Als Zoyah und Shelor in der Höhle hinter der toten Kaskade erschienen, blickte er auf ein Bild, das ihn mehr als traurig machte und ihm Unbehagen bereitete.

»Es gibt noch eine?«, fragte er erbost und deutete auf die Destia am anderen Ende der Höhle.

Wütend darüber, welches Bild der Vergangenheit diese zeigte, ging er auf das Gebilde zu und rüttelte an den Zacken und Rädern. Der Versuch, die Destia zu zerstören, glückte ihm ebenso wenig wie Raik, den wenige Tage zuvor ebenso die Wut über das Bild gepackt hatte. Shelor schlich umher, fasste sich mit einer Hand an den Bauch und atmete schwer. Das erste Mal hatte er an diesem Tag den Ort, an dem die Zeit stehen blieb, verlassen und erkannte, was es bedeutete, wieder in der normalen Welt zu sein, in der der Sand im Glas weiterfloss. Die Wunde an seinem Bauch kribbelte bei jeder Bewegung und ließ Shelor mit Schmerzen zurück. Er neigte sich zu Boden und erblickte in der hinteren Ecke der Höhle etwas, das er sofort an sich nehmen wollte. Langsam ging er zu der Stelle, hob das Buch auf und musterte den Einband.

»Die ewige Wahrheit«, flüsterte er. »Was ist das?«

»Nicht das, was es vorgibt zu sein«, antwortete Zoyah.

Shelor steckte das Buch ein und sah sich erneut in der dunklen Höhle um. Seine Aufmerksamkeit richtete sich dabei auf einen Schacht im Boden. Er neigte sich zum Grund, griff hinein und zog eine Schachtel heraus, die mit orangefarbenen Federn geschmückt war. Dann griff er nach einer Steinplatte, die das Werk seines Sohnes zeigte. Shelor fiel auf die Knie. Weinend und suchend nach einem Weg, diesen Jungen zu beschützen, fuhr er mit dem Finger über die Gesichter der goldenen Fünf.

»Wo ist er?«, fragte Shelor und wischte sich seine Tränen von der Wange.

»Onzar«, sagte Zoyah. »Er wird bei ihr sein, wenn es so weit ist.«

»Du und deine leeren Worte!«, wetterte Shelor. »Warum kannst du nicht ein einziges Mal laut aussprechen, was ich von dir wissen möchte?«

Shelor verließ die Höhle und würdigte Zoyah keines Blickes mehr. Er blickte in den Krater aus Knochen und den Überresten einer heiligen Tradition, die er nicht bereit gewesen war, abzulegen, als er noch die Möglichkeit dazu gehabt hatte.

»Wieso konnte die Zeit nicht auch hier stehenbleiben?«, flüsterte er sich zu.

Shelor sah in der Ferne den unscheinbaren Tunnel, der zwischen dem dunklen Stein des Mondes fast von ihm übersehen wurde. Er kannte die Welt derweilen gut genug, um zu wissen, wo er hinführte.

Zoyah stand am Eingang der Höhle und erwartete, mitansehen zu müssen, wie Shelor den Tunnel ansteuerte, doch das Gegenteil war der Fall. Shelor bückte sich zum Boden, hob einen großen Brocken des Mondsteins auf und trug diesen schwerfällig und entschlossen in Zoyahs Richtung.

»Was hast du vor?«, fragte sie, als Shelor an ihr vorbeiging und die Höhle betrat.

Ihre Frage wurde mit einem Schrei des Königs beantwortet, der mit dem Klang seiner zornigen Stimme den Brocken gegen die Destia warf. Kein Zacken löste sich von dem Gebilde, doch begann die Wand, an der das Rad von Gut und Böse hing, zu bröckeln. Erneut hob Shelor den Brocken auf, ging ein paar Schritte zurück und warf diesen erneut gegen die Mauer.

Erschrocken und nicht wissend, was sie tun sollte, stand Zoyah tatenlos daneben und beobachtete, wie die Wut in Shelor bei jedem seiner Schläge größer wurde. Er tat dies so oft, bis sich die Destia von der Wand löste und mit einem lauten Knall zu Boden fiel. Dann griff Shelor nach dem Rad, zog es mit seiner letzten Kraft aus der Höhle und schleifte das Metall über das Feld aus Knochen. Dieses Mal wollte Zoyah nicht tatenlos zusehen, denn das Geheimnis über die Existenz der Destia war ihr heiliger als die Regel, sich nicht in das Leben einzumischen.

»Shelor, was tust du da?«

Dieser ignorierte ihre Worte und tat der Hüterin des Lebens das an, was er in den vergangenen fünfzig Jahren akzeptieren musste. Er ließ sie mit Fragen und Unglauben zurück – unfähig etwas daran zu ändern.

Als Shelor die Destia bis in die Mitte des Kraters geschleift hatte, ließ er das Metall in seiner Hand fallen und richtete sich auf.

»Hier! Da siehst du, was die Vergangenheit angestellt hat!«, tobte er und breitete seine Arme aus, unter denen der See aus Knochen lag.

Shelor ging zurück in die Höhle, griff nach der Steinplatte, die sein Sohn bemalt hatte, und hielt diese schützend vor der Brust. Dann schritt er hinaus, überquerte das Feld und verschwand in dem Tunnel, der ihn in die rote Wüste führte.

Einsam und ohne den Schutz des Lebens folgte Shelor mit jedem Schritt dem trockenen Flussbett, ohne darauf zu achten, etwas zu trinken, zu essen oder zu schlafen. Shelor trug die Zeitlosigkeit der vergangenen fünfzig Jahre noch mit sich, wodurch er nicht infrage stellte, sie nicht auch dort in der roten Wüste finden zu können.

Der Weg führte ihn an einer Stadt vorbei, die er, ohne die Tore eines Blickes zu würdigen, hinter sich ließ.

Inmitten des trockenen Weges blieb Shelor schließlich stehen. Vor ihm lag das Ergebnis eines Kampfes, den niemand gewonnen hatte. Vier Männer und ein junges Mädchen lagen im Sand. Ihre Körper wurden bereits zur Hälfte vom Sand der Wüste bedeckt, den der Wind Sandkorn für Sandkorn über ihnen abgelegt hatte. Als hätte die Wüste mit ihrer Hand über die Toten gegriffen, um diese zu sich zu nehmen. Shelor trat näher und schritt bedächtig zwischen den Toten und ihren Waffen, die am Boden verstreut lagen, umher. Bei dem Mann, der unmittelbar neben dem Mädchen lag, blieb Shelor stehen und wischte den Sand von seinem kalten Gesicht. Im gleichen Atemzug merkte Shelor, wie jemand seine Gesellschaft im Schatten teilte.

»Ist er das?«, fragte Shelor.

Zoyah nickte. »Auch wenn ich bereit dazu gewesen bin, so ahnte ich damals nicht, dass ich gezwungen war, sie so oft zurückbringen zu müssen.«

Shelor kniete vor Raik und tastete seine Kleidung ab. Er wusste, wer dort vor ihm lag. Noch nie hatte er den Mann gesehen, der seine Tochter in mehr als einem Leben gerettet hatte. Auch wenn das weder für Raik noch für Shelor oder Noa sichtbar war.

Zuerst fand Shelor ein zerknülltes Papier, auf dem der Name eines Mannes stand, an den Shelor sich noch gut erinnern konnte. Immerhin war er einer der Letzten, den Shelor in seiner Heimat gesehen hatte.

»Taron«, flüsterte er.

Shelor steckte den Brief in seine Robe und begann, Raiks Körper vorsichtig mit dem umliegenden Sand zu bedecken. Dabei spürte er etwas Festes unter dem wehenden Leinen des Toten. Shelor griff in den Sand und zog die Figur des kleinen Elefanten heraus, der beinahe seine Freiheit, die er im Herzen trug, verloren hätte. Ein zweites Mal war Shelor an diesem Tag den Tränen nah. Doch dieses Mal ergab er sich nicht seinen Gefühlen, sondern vergrub sie ebenso wie die Toten auf dem Boden.

»Was tust du?«, fragte Zoyah.

»Wonach sieht es denn aus?», fragte Shelor. »Ich begrabe sie. Er war ein ehrwürdiger Mann und sie ein unschuldiges Mädchen. Sie war eines stolzen Mannes Tochter und eines einsamen Bruders Schwester. Sie haben mehr verdient, als Futter für die Aasgeier oder hungrige Wüstenhunde zu sein.«

Mit seinen Worten grub Shelor mit seinen Händen weiter und weiter und bedeckte die Toten mit Sand und der Absicht, ihnen seinen stillen Segen zu geben.

Shelor gab den Toten die letzte Ehre, verabschiedete sich von einem viel zu frühen Ende und folgte wieder dem Weg zurück zum Nabel der Welt.

Fluch und Segen

Als Shelor sein letztes Wort gesprochen hatte, griff er in die Innentasche seiner orangefarbenen Robe und zog heraus, was er in der Höhle des Kraters am Silberstrom gefunden hatte. Er öffnete den Einband an einer bestimmten Stelle und legte ihn in Noas Hände. Zwischen den letzten Seiten steckte ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier mit einer besonderen Aufschrift.

»Es ist Zeit«, sagte Shelor in einem Ton, den Noa an die Zeit erinnerte, als der Mann vor ihr noch ein Königreich regierte.

Sie zog das Papier, das sie damals in Ilios Zimmern in Kathalea gefunden hatte, heraus und las die feine kindliche Schrift, die die Falten des Papiers zierte, laut vor.

»Für Papa von Benjamin.«

Noa hatte nie gesehen, welches Geschenk Ilios Sohn seinem Vater damals gemacht hatte. Nie hatte sie in Betracht gezogen, dass es wichtig war oder ihr in irgendeiner Art und Weise helfen würde, zu verstehen, welchen Schmerz Ilio im Herzen trug und warum dieser für seinen Hass verantwortlich war.

Langsam öffnete sie das Papier und erblickte die Zeichnung, die sich darin fand. Es war eindeutig die eines Kindes, das Freude und Glück empfunden hatte, die Gesichter auf dem Bild mit Leben zu füllen.

Noa sah einen kleinen Jungen, der die Hand einer Frau hielt. Neben ihr nahm ein Jaguar mit orangefarbenen und braungeflecktem Fell Platz, der die gleiche Farbe in den Augen trug wie seine Begleitung. Die Sonne hatte er hell leuchtend in den Himmel gemalt, wo sie auf eine grüne Wiese schien, durch die ein breiter Fluss floss.Noa betrachtete die Zeichnung, als wäre sie die Antwort auf die Frage, warum sie Teil von Ilios Auffassung war, dass sie etwas mit dem Tod seiner Familie zu tun hatte. Doch diese Zeichnung zeigte, dass sie in einem Leben, an das sie sich nicht erinnerte, zumindest eine Rolle in dem Leben des kleinen Benjamin gespielt hatte. Sie faltete das Papier, schob es zurück in den Umschlag des Buches und steckte dieses zwischen die Stoffe ihres Kleides.

»Komm schon, Noa! Es wird Zeit, meinen Bruder zu töten!« Shelor sprach die Worte in derselben lauten und starken Tonlage, in der er auch jede andere Rede besiegelt hatte.

»Bist du wirklich bereit dazu?«, fragte Noa.

»Wenn jemand bereit ist – dann ich! Ich habe jeden erdenklichen Grund, Ilio zu vernichten, für das, was er mir, meinem Land, meiner Familie und vor allem dir angetan hat.« Shelor hielt inne. »Mal ganz davon abgesehen … indem ich ihn vernichte, habe ich noch eine letzte Chance, ihn zu retten. Und manchmal darf man das eine nicht vom anderen unterscheiden. Was man zum Leben braucht, tötet einen, schon vergessen?«

Shelor ging selbstsicher, die richtigen Worte gewählt zu haben, an ihr vorbei, doch Noa hielt ihn erneut mit nur einem einzigen Wort auf.

»Nein«, flüsterte sie. Alle Augen waren auf sie gerichtet. »Was man zum Sterben braucht, muss danach weiterleben.«

Dann richtete Noa ihre flehenden Blicke auf Zoyah. Die Frau des Lebens schüttelte zart mit dem Kopf, wodurch Noa mit ihren Lippen ein stummes »Warum nicht?« erwiderte. Schließlich wandte sich Zoyah an den Rest der Gruppe.

»Taron, Shelor …« Sie stockte und suchte nach dem Jungen. »… Henry. Entschuldigt ihr uns kurz?«

Danach ging sie auf Noa zu, legte einen Arm über deren Rücken und führte sie den Korridor entlang.

»Wohin gehen wir?«, fragte sie ernst. »Alles, was du mir sagen willst, kannst du auch vor ihnen sagen.«

»Nein, das kann ich nicht«, protestierte Zoyah. »Wann kommt endlich die Zeit, in der du es verstehst?«

***

Als Zoyah und Noa hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, blickte Taron ihnen sehnsüchtig hinterher.

Henry wusste nicht, wem er in diesem Moment näherstehen sollte – dem Mann, der ihn seit seiner Flucht aus Onzar bis zu diesem Ort begleitet hatte, oder dem Mann, der vor vielen Jahren einmal sein Vater war.Daher entschied sich Henry weder für den einen noch für den anderen und ging auf die Tiere zu, die am Treppenaufgang standen und den Jungen freudig begrüßten.

Shelor sah ihm hinterher und beobachtete, wie er furchtlos und ohne die Grenzen der Natur zu begreifen, seine Hand auf das Fell der Tiere legte.

»Was ist mit dir?«, fragte Shelor als er sich an Taron wandte, der dem Jungen ebenfalls hinterhergeblickt hatte. »Geht es dir gut?«

Taron war überrascht, diese Frage von Shelor zu hören – immerhin erinnerte er sich nicht daran, dem Mann jemals begegnet zu sein.

»Ich … also … ja, es geht mir gut«, stammelte Taron unsicher. »Ähm … danke«, fügte er hinzu.

Shelor nickte und griff danach in die Innentasche seiner Robe.

»Ich wollte dir noch etwas geben. Scheint, als kämen die Dinge manchmal zu einem zurück, wenn man sie schon längst vergessen hat«, sagte er und musterte den Brief in seiner Hand, der an sein Gegenüber gerichtet war.

»Was ist das?«, fragte Taron.

»Das musst du selbst erfahren. Ich habe nicht hineingesehen. Es gehörte nie zu meiner Aufgabe, mich in Dinge einzumischen, die nicht für meine Augen bestimmt waren«, sagte Shelor.

Mit seinen Worten reichte er Taron den Umschlag und hielt dabei die Seite nach oben, die in schwungvoller Feder dessen Namen trug.

Taron zog irritiert die Brauen zusammen.

»Oh, ich hatte ihn gefunden, als ich …« Shelor stockte. »Ich fand ihn zufällig auf dem Weg hierher.«

Taron bedankte sich und steckte den Brief in seine Hosentasche.

Shelor räusperte sich und schmunzelte.

»Willst du ihn nicht öffnen?«, fragte er neugierig.

Daraufhin zog Taron den Brief wieder hervor und drehte ihn von einer Seite zur anderen.

»Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob ich erfahren will, was drinsteht«, erklärte Taron. »Erinnerungen sind Fluch und Segen zugleich. Ich kann mich nicht an ein Leben vor diesem erinnern und langsam habe ich das Gefühl, es ist auch besser so. Jemand hat entschieden, mich vergessen zu lassen. Und ständig etwas hinterherzulaufen, das man ohnehin nicht fassen kann, scheint mir wie eine endlose Jagd.«

»Wer sagt, dass sie endlos ist?«, fragte Shelor gegen. »Ich habe fast ein ganzes Jahrhundert an diesem Ort auf meine Kinder gewartet, wissend, dass sie irgendwann wieder bei mir sein würden. Glaub mir, nichts ist endlos.«

Taron stimmte seinem Gegenüber wortlos zu. Dann setzte er sich auf die Brüstung des Korridorgeländers, ließ die Beine über der großen Halle baumeln und öffnete den Umschlag in seiner Hand. Kurz bevor er das erste Wort darin erspähte, blickte er zurück zu Shelor.

»Ich habe ihr nie gesagt, dass das gar nicht mein Name ist«, sagte Taron.

»Taron ist also nicht dein Name in diesem neuen Leben?«, fragte Shelor.

»Nein, das ist er nicht«, antwortete Taron. »Doch ich mochte die Art, wie sie mich nannte. Sofort hatte sie den Mann in mir gesehen, der ich nie war, doch der ich, wenn ich ehrlich bin, gerne sein würde. Und in dem Moment, in dem ich Noa zum ersten Mal im Wald von Onzar begegnet bin, hatte ich das Gefühl, dass es Zeit wird für ein neues Leben.«

»Und wie lautet dein Name?«, fragte Shelor.

Taron blickte verlegen zu Boden. »Die, die mir ihn gab, wählte ihn wegen seiner Bedeutung. Bevor ich Noa traf, war ich der Mann, der im Kampf alleinsteht. Ich habe nie verstanden, warum diese Bedeutung meinen Namen so wertvoll machte. Welche Tugend ist es schon, einen einsamen Krieg zu führen? Daher war ich froh, ihn endlich ablegen zu können und durch den eines lauten Donners zu ersetzen, der mein Schicksal viel besser beschreibt.«

»Warum wärst du lieber ein Donner als ein Krieger?«, fragte Shelor.

»Weil ein Donner von einem Sturm begleitet wird, der irgendwann vorbeizieht. Was übrig bleibt, ist ein Tag voller Sonne und Stille. Ein Krieger hingegen hinterlässt nichts, worauf man sich nach seinem Tod freuen könnte und nichts, worauf man stolz sein könnte«, erklärte Taron.

Erneut spielte er mit dem Papier in seiner Hand und zögerte den Augenblick hineinzusehen hinaus. Schließlich, nachdem Shelor nichts mehr zu dessen Worten hinzugefügt hatte, las Taron die Botschaft still für sich.

Ich hatte gehofft, dass die Wolken uns begleiten. Ich hatte gesehen, wie sie uns schützten. Hand in Hand gingen wir durch die Gärten der Wahrheit. Hat es uns getrennt oder sind wir nur kurz an einem anderen Ort? Dich zu sehen, in all deinen Farben, lässt mich denken, dass es in Ordnung war, daran zu glauben. Die Welt hat sich verändert. Die Wolken sind fort und die Hand des Himmels greift nach uns.

Der Mann, der diese Worte auf den Felsen niedergeschrieben hatte, existiert nicht mehr. Er war der Sohn eines Künstlers, der Mann eines viel zu kurzen Lebens und der Auserwählte einer wahren Liebe. Denk daran, dass wir niemals wissen, wer wir wirklich sind. Wir sind mehr als Künstler, Brüder, Liebende oder Söhne. Wir sind der Anfang einer Ewigkeit. Wenn du bereit bist, dich zu erinnern, suche nach ihr. Sie gab dir Frieden, den du nicht findest. Und wenn du sie siehst, lass sie nie wieder gehen.

Shelor erlaubte sich keinen einzigen Blick über Tarons Schulter und blieb still in seinem Schatten. Als Taron die letzte Silbe in seinen Gedanken ausgesprochen hatte, faltete er das Papier wieder zusammen. Er wollte es gerade in seine Hosentasche stecken, da blickte er erneut darauf. Schließlich zerriss er den Brief in der Mitte. Dann ein weiteres Mal. Er führte diese Geste so lange fort, bis der Brief in unzähligen kleinen Schnipsel in seinen Händen lag. Dann blickte er nach unten und ließ die Einzelteile wie ein Haufen Federn in der Luft langsam zum Grund gleiten, wo sie sich wie die Tropfen eines kurzen Regens niederlegten.

»War die Botschaft so grauenvoll?«, fragte Shelor, der näher trat und über die Brüstung blickte.

»Nein«, sagte Taron, begleitet durch einen tiefen Seufzer der Zufriedenheit, und lächelte. »Sie war wunderschön.«

***

Noa ließ sich durch den Tempel führen und schwieg, bis sie die Gärten erreichten. In diesem Teil war Noa am heutigen Tag noch nicht gewesen, daher wanderte ihr Blick unentwegt von einer namenlosen, bunten Blüte zur nächsten. Zoyah ging voraus und Noa trottete ihr wortlos hinterher. Bis sie schließlich hinter einer Mauer verschwand und Noa nach ihrer Gestalt suchte. Als Noa entdeckte, wohin Zoyah verschwunden war, sah sie, wie diese auf eine Wand blickte und ihren Kopf weit in den Nacken legte.

»Was ist das?«, fragte Noa, stellte sich neben Zoyah und sah ebenfalls zu der weißen Mauer.

Sie trug einen hellgrauen Schimmer, als hätte derselbe Schleier, der Zoyah durch die Welt trug, auch einmal über dieser Mauer gehangen und sich in ihrer perlweißen Farbe festgesetzt.

»Shelor hat das hier gemacht. Mit jedem Tag, der verging, mit jedem Tag, den er tatenlos an diesem Ort saß und mit jedem Tag, an dem er nichts weiter tun konnte, als an seine Kinder zu denken, verbrachte er Stunden damit, eine Kuhle in die Mauer zu ritzen. Manchmal benutzte er eine Klinge, an anderen Tagen jedoch lehnte er mit dem Kopf gegen die Wand und benutzte einen kleinen Stein, der dabei in zwei Teile brach.«

Zoyah verstummte und ließ Noa Zeit, sich das Bild vor ihren Augen anzusehen. Das Werk einer täglichen Routine, die fast ein ganzes Jahrhundert andauerte, ließ in Noa ein schreckliches Gefühl aufleben. Shelor dafür verurteilt zu haben, nicht an sie oder ihren Bruder gedacht zu haben, war schlichtweg falsch.

Jede dieser Gravuren stand stellvertretend für einen Tag, an dem Menschen starben, an dem sie erneut ins Leben fanden, an dem Herzen gebrochen und wieder zusammengefunden haben. Jeder dieser Tage war wertvoll und Shelor gab ihnen seine eigene Bedeutung.

»Ich dachte lange, es bräuchte mehr als nur eine Armee, um Ilio aufzuhalten. Ich dachte lange, es bräuchte ein einziges Opfer. Doch, Zoyah, wir brauchen keine Armee und auch nicht den Tod. Wir brauchen das Leben. An diesem Ort hat mein Vater seinen Frieden gefunden. Warum geben wir Ilio nicht einfach seinen Eigenen? Bring sie zurück!«, flehte Noa. »Seine Frau und sein Kind – bring sie einfach zurück!«

»Das kann ich nicht«, antwortete Zoyah.

»Wieso nicht?«, fragte Noa lauthals.

Erneut wirkte der Zorn in ihrer Stimme wie ein ungebetener Gast zwischen diesen Mauern, an denen die Glückseligkeit herrschte.

»Es gibt nichts, was diesen Mann dazu bringen wird, freiwillig aufzugeben«, sagte Zoyah.

»Wieso nicht? Ilio will seine Familie zurück. Gib sie ihm einfach!«

Noa war entsetzt darüber, dass Zoyah nach allem, was passiert war, scheinbar nicht einmal selbst auf diese Idee gekommen war.

»Noa, es ist nicht so einfach«, antwortete Zoyah.

»Natürlich ist es das! Du hast es bei mir gemacht, bei Taron, bei Raik – selbst dieser schwangeren Frau aus der Allee der Barmherzigkeit hast du ein neues Leben geschenkt. Ilio hat von Anfang an Rachelust gespürt. Und ich glaube, seine Familie ist der einzige Weg, um sie zu lindern. Er wird niemals aufgeben! Bring sie zurück!«

Zoyah, die zu jeder Zeit die absolute Ruhe in ihre Worte fließen lassen konnte, erhob ihre Stimme und strahlte ungehaltene Wut in ihrem Gesicht aus.

»Noa! Das habe ich bereits!«, brüllte Zoyah.

Stille herrschte zwischen den beiden.

»Was meinst du damit? Du hast sie schon zurückgebracht? Wo sind sie? Was stehen wir dann noch hier? Suchen wir sie und bringen sie zu Ilio«, schlug Noa vor.

»Du verstehst es nicht, Noa«, sagte Zoyah. »Es gibt da etwas, das du noch nicht weißt.«

»Dann sag es mir!«, entgegnete Noa.

»Ich kann Benjamin nicht zurückbringen, weil er schon die ganze Zeit hier ist«, sagte Zoyah.

»Zoyah, lass diese Rätsel, sag mir sofort, wo er ist!«

»Er will es nicht sehen. Ilio will nicht wahrhaben, dass er es ist – ebenso wie du. Keiner von euch wollte es sehen!«, erklärte Zoyah kopfschüttelnd.

Plötzlich ertönte ein großer Knall am Himmel. Ein Sturm zog auf. Blitze schossen durch die Wolken und Donner hallten bis zum Horizont.

»Erklär es mir! Was ist damals passiert?«, fragte Noa.

Sie legte ihre Hände auf Zoyahs Arme und ließ sie nicht gehen, ohne eine Antwort von ihr zu erhalten.

»Jemand ist hier, der diese Aufgabe übernehmen wird«, sagte Zoyah und blickte in den tobenden Himmel.

Plötzlich ließen die dichten grauen Wolken einen Platzregen nieder, der Noas Haar binnen Sekunden durchtränkte.

»Es wird Zeit«, fügte Zoyah hinzu.

»Wer ist es?«, fragte Noa, die durch den strömenden Regen kaum noch etwas von dem Garten erkannte, in dem sie stand.