Die Lehren der Philosophie - Michael Hampe - E-Book

Die Lehren der Philosophie E-Book

Michael Hampe

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Beschreibung

Was will die Philosophie? Michael Hampe stellt fest: Sie will belehren und erziehen. Zu diesem Zweck stellt sie Behauptungen auf. Aristoteles behauptet, dass die Welt ewig ist, Thomas von Aquin, dass sie geschaffen wurde. Descartes behauptet, dass es zwei, Spinoza, dass es nur eine Substanz gibt. Und so weiter. Doch was ist das eigentlich für ein Vorhaben – andere belehren? Und hat nicht schon Sokrates dieses Projekt in Frage gestellt? Hampe untersucht das komplizierte Verhältnis von Philosophie, Erziehung und Erzählung und entwickelt eine sokratisch inspirierte Kritik philosophischer Lehren. Behaupten ist ihm zufolge nur dann ein sinnvolles Projekt, wenn man erklären kann. Erklären ist aber etwas anderes, als Gefolgschaft zu Behauptungen zu organisieren. Es heißt, zu erzählen: von Prozessen der Selbsterkenntnis – von den Leben derer, denen etwas einleuchtet. In diesem Sinne sind Sophokles und Proust Philosophen. Und erziehen heißt nicht, Menschen dazu zu bringen, Neues über die Welt zu behaupten, sondern dazu, von ihr zu berichten, die Verhältnisse auf ihr zu kritisieren. Das wusste schon John Dewey. Die Lehren der Philosophie ist Einführung, Kritik und Utopie in einem. Hampe zeigt, wie und warum die Philosophie zu dem geworden ist, was sie heute ist: ein akademisches Karriereprogramm, ein zahnloser Tiger im Dschungel der Welt. Und was sie (wieder) sein könnte, wenn sie sich von ihrem doktrinären Anspruch verabschieden würde: ein besonderer Ort des Nachdenkens über das menschliche Leben.

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Was will die Philosophie? Michael Hampe stellt fest: Sie will belehren und erziehen. Zu diesem Zweck stellt sie Behauptungen auf. Aristoteles behauptet, daß die Welt ewig ist, Thomas von Aquin, daß sie geschaffen wurde. Descartes behauptet, daß es zwei, Spinoza, daß es nur eine Substanz gibt. Und so weiter. Doch was ist das eigentlich für ein Vorhaben – andere belehren? Und hat nicht schon Sokrates dieses Projekt in Frage gestellt?

Hampe untersucht das komplizierte Verhältnis von Philosophie, Erziehung und Erzählung und entwickelt eine sokratisch inspirierte Kritik philosophischer Lehren. Behaupten ist ihm zufolge nur dann sinnvoll, wenn man erklären kann. Erklären ist aber etwas anderes, als Gefolgschaft zu Behauptungen zu organisieren. Es heißt, zu erzählen: von Prozessen der Selbsterkenntnis – von den Leben derer, denen etwas einleuchtet. In diesem Sinne sind Sophokles und Proust Philosophen. Und erziehen heißt nicht, Menschen dazu zu bringen, Neues über die Welt zu behaupten, sondern dazu, von ihr zu berichten, die Verhältnisse auf ihr zu kritisieren. Das wußte schon John Dewey.

Die Lehren der Philosophie ist Einführung, Kritik und Utopie in einem. Hampe zeigt, wie und warum die Philosophie zu dem geworden ist, was sie heute ist: ein akademisches Karriereprogramm, ein zahnloser Tiger im Dschungel der Welt. Und was sie (wieder) sein könnte, wenn sie sich von ihrem doktrinären Anspruch verabschieden würde: ein besonderer Ort des Nachdenkens über das menschliche Leben.

Michael Hampe lehrt Philosophie an der ETH Zürich. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Erkenntnis und Praxis.Studien zum Pragmatismus (stw 1776) und Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs (stw 1864).

Michael Hampe

Die Lehren der Philosophie

Eine Kritik

Suhrkamp

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Michael Hampe 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-73727-9

www.suhrkamp.de

5Inhalt

1 Behaupten, Erzählen, Erziehen

2 Maieutische und akademische Philosophie

3 Leben, Subjektivität, Anpassung

4 Das Leben behauptender Wesen, sprachliche Dissidenz

5 Die gewöhnliche Sprache, Theorien und Erklärungen

6 Das Gewöhnliche und seine Wahrheit

7 Expertokratie und die Erziehung von Einzelwesen

8 Freiheit, Notwendigkeit, Kreativität

9 Auf die Welt reagieren

10 Von Behauptungen und Argumenten erzählen

11 Konkretion und Kritik

12 Am Ende des Behauptens ankommen

Epilog zur Philosophiegeschichte

Dank

Namenregister

Inhaltsverzeichnis

7Für Raymond Geuss

9»Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit.«

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus

»Es genügt nicht, das Fenster zu öffnen,

um Felder und Fluß zu sehen.

Es genügt nicht, kein Blinder zu sein,

um Bäume und Blumen zu sehen.

Man darf auch keiner Philosophie anhängen.

Mit Philosophie gibt es keine Bäume: es gibt nur Ideen.«

Fernando Pessoa, Alberto Caeiro: Dichtungen;

Ricardo Reis: Oden

»What I said before: that I cannot afford to believe. That in my line of work one has to suspend belief. […] That it gets in the way.«

J. M. Coetzee, Elizabeth Costello

»Man muß auf die Welt reagieren […].«

Françoise Gilot

»Die Welt ist einmalig. […] Klassifikation ist die Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.«

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung

111 Behaupten, Erzählen, Erziehen

Angenommen, die Welt besteht aus Einzelwesen, die manchmal Muster bilden. Von diesen Wesen kann man etwas erzählen. Über sie kann man aber auch manches behaupten, um eine Lehre zu entwickeln. Erzählen scheint sich prima facie auf das Besondere zu konzentrieren, etwa darauf, wann etwas wie aufgetaucht ist. Das Behaupten dagegen beschäftigt sich mit Allgemeinheiten, die viele Einzelheiten betreffen. Erzählen kann persönlich sein: »Ich habe einmal vor vielen Jahren auf diesem Sessel gesessen.« Das Behaupten neigt zur unpersönlichen Form und zur Kategorisierung: »Dieser Sessel ist ein Chesterfield von 1920.« Tätigkeiten des Behauptens und Erzählens stehen zunächst also in keinem offensichtlichen Zusammenhang, scheinen nebeneinander herzulaufen. Vereinfacht und psychologisierend betrachtet ist Behaupten eine ernste und strenge Tätigkeit, die der wahren Welterkenntnis und der richtigen Erklärung ihrer Phänomene dient. Erzählen dagegen ist, könnte man meinen, eher ein entspannter Zeitvertreib, der nach der Strenge des Behauptens und Lehrens kommt, von ihr entlastet und höchstens noch der sittlichen Einsicht dient, sofern man es mit Geschichten zu tun hat, die eine Moral haben. Die Kunst des Erzählens ist, so kann man es im Anschluß an Horaz formulieren, wie alle Kunst manchmal moralisch nützlich im Sinne von erbaulich, meist aber bloß unterhaltend.1 Die behauptende Wissenschaft lehrt die strenge und manchmal auch unangenehme Wahrheit über die Welt. Die Kunst des Erzählens zerstreut den Geist dagegen nach der anstrengenden Auseinandersetzung mit der harten Wirklichkeit und erfreut ihn durch schöne oder aufregende Fiktionen. Auch 12die sozialen Verhältnisse sind verschieden, je nachdem, ob man sich in einer Lehr- oder Erzählsituation befindet. Wer eine Behauptung zur Kenntnis zu nehmen hat, wird über etwas unterrichtet, ist in der Haltung des Lernenden, der einem Lehrenden gegenübersteht, der die Autorität der Wahrheit auf seiner Seite hat. Der Lehrer nimmt dabei für sich in Anspruch, gegenüber dem Lernenden etwas behaupten zu können, das dieser zu akzeptieren hat. Wer etwas erzählt bekommt, dem werden dagegen Ablenkungen angeboten, der Erzähler scheint ihm mit Fiktionen zu dienen. Die Autorität des Erzählers scheint sich allein aus seiner Fähigkeit zu speisen, die Aufmerksamkeit des Zuhörers oder Lesers mit seiner Geschichte fesseln zu können.

So einfach und einfältig hat das natürlich niemand gesagt. Doch Charakterisierungen von Disziplinen wie Physik oder Chemie als »harten« Wissenschaften und Epik, Dramatik und Lyrik als »weichen« Unternehmungen – Charakterisierungen, die man in der Schule oder in der Universität hören kann – scheinen auf zumindest implizite Bewertungen dieser Tätigkeiten hinzuweisen, die in die oben angedeutete Richtung gehen. Sie speisen sich teilweise aus der Überzeugung, daß es in der Erziehung vor allem darauf ankommt, sich in dem auszukennen, was sich in der Welt wiederholt, in ihren allgemeinen Grundstrukturen und Gesetzmäßigkeiten. Diese gibt es zweifellos. Wir erfahren Einzelnes und Ähnlichkeiten zwischen Einzelwesen. Manches wiederholt sich, manches bleibt einmalig in unserer Erfahrung. Worauf es in der Erziehung jedoch ankommt, hängt davon ab, ob man meint, daß Einzelwesen untereinander allgemeine Muster hervorbringen oder daß die allgemeinen Muster die Existenz bestimmter Einzelwesen ermöglichen. Ist diese Frage entscheidbar oder ist sie eine Variante der Frage nach den Prioritäten von Henne und Ei?

Ich kann diese Frage hier nicht endgültig, nur hypothetisch beantworten. Dies soll im folgenden jedoch deutlich werden: Je nachdem, ob man sich darauf konzentriert, im Denken und in der Erziehung die Einzelwesen zu verstehen und ihre Geschichten zu erzählen oder die Allgemeinheiten zu erkennen 13und Strategien zu begreifen, mit ihnen etwas zu erklären, wird man sich selbst anders verstehen und in einer anders erfahrenen Welt leben. Dabei soll es nicht um das Behaupten, Erzählen und schließlich das Erziehen überhaupt, sondern um diese Tätigkeiten im Kontext der Philosophie gehen. Es wird in diesem Zusammenhang zwischen einer behauptenden oder doktrinären Philosophie und einer nichtdoktrinären unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist eine andere und allgemeinere als die zwischen ideographischen und nomothetischen Wissenschaften oder die zwischen den Verfahren des Verstehens und Erklärens, wie sie aus dem Methodenstreit um die Geistes- und Sozialwissenschaften seit Ende des 19.Jahrhunderts bekannt sind.2 (Daß es nichts zum Verständnis der Disziplinen beiträgt, von einem einheitlichen Verständnis der Wissenschaften überhaupt auszugehen, wird vielmehr stillschweigend vorausgesetzt.) Hier stehen nicht die Einzelwissenschaften und ihre möglichen Kategorisierungen im Zentrum, sondern das Verständnis der philosophischen Tätigkeit und ihrer Relevanz für das Leben.

Philosophen, die sich in der doktrinären Philosophie betätigen, wollen mit oder aufgrund ihrer Behauptungen andere Menschen erziehen; sie wollen sie dazu bringen, sich ihren Behauptungen als einer Lehre anzuschließen. Dagegen bemühen sich Vertreter nichtdoktrinärer Philosophie darum, möglichst wenig oder gar nichts zu behaupten. Ihre Hauptintention ist eher, herauszufinden und den Behauptern selbst sichtbar zu machen, warum sie meinen, etwas behaupten zu müssen, und welche Konsequenzen das hat. Manchmal wird von philosophischen Unternehmungen dieser Art erzählt, etwa in jenem Dialog Platons, in dem Sokrates den Theaitetos befragt, der noch erzogen werden muß. Im Theaitetos wird erstaunlicherweise davon be14richtet, wie dem zu Erziehenden durch Befragung das Behaupten vergeht. Es handelt sich um einen pädagogischen Text, der die Vergeblichkeit doktrinärer Philosophie vorführt, jedoch nicht einfach eine unterhaltsame Erzählung ist, sondern ein kanonisierter philosophischer Text. Weil auf diese Weise in der nichtdoktrinären Philosophie manchmal vom Behaupten und davon, wie einer dazu erzogen wird, über das Wissen oder die Tugend besser nichts zu behaupten, erzählt wird, ist das Verhältnis von Philosophie, Erziehung und Erzählung, dem sich die folgende Studie widmet, ein kompliziertes, unklares.

Erziehen mit neuen Begriffen

Daß in der Philosophie behauptet wird, liegt auf der Hand, ist eindeutiger, als daß es auch eine nichtdoktrinäre Philosophie gibt. Aristoteles behauptet, daß die Welt ewig ist, Thomas von Aquin, daß sie geschaffen wurde. Descartes behauptet, daß es zwei, Spinoza, daß es nur eine Substanz gibt. Kant behauptet, daß es einen klaren Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen gibt, Quine bestreitet diese Behauptung. Die Liste wäre beliebig verlängerbar. Solche Behauptungen sind Reaktionen auf die Welt – eine Welt von Einzelheiten, wie hier scheinbar paradoxerweise hypothetisch behauptet werden soll. Wie Menschen auf die Welt reagieren, wenn dies nicht spontan geschieht, hängt unter anderem von ihrer Erziehung ab. Denn in dieser Erziehung werden sie mit den Allgemeinbegriffen vertraut gemacht, die sie in ihren Behauptungen verwenden sollen. Den zu erziehenden Menschen wird beigebracht, was man über die Welt behaupten kann und was nicht. Manchmal, allerdings eher selten, lernen sie auch, erzählend auf die Welt zu reagieren.

Die Philosophie hat sich um diese Erziehungsprozesse ausführlich gekümmert. So ist beispielsweise für Platon in der Politeia die paideia ein potentiell lebenslanger Prozeß, der bei einigen ausgezeichneten Personen in der Erkenntnis der Idee des Guten, als der entscheidenden Allgemeinheit, gipfelt und 15eigentlich nur von den zur Staatsführung bestellten Philosophen, die diese Allgemeinheit eingesehen haben und in Urteilen anwenden können, gelenkt werden kann. Andere prominente Beispiele von Erziehungsphilosophie wären Rousseaus Kultur- und Wittgensteins Metaphysikkritik. Sie zielen entweder auf eine Umerziehung der durch die Kultur verdorbenen Menschen oder auf eine therapeutische Philosophie als Erziehung von philosophisch verbildeten Erwachsenen, denen die vielfältigen Funktionsweisen der gewöhnlichen Sprache nicht vor Augen stehen und die deshalb neue Begriffe erfinden oder nach der angeblich schwer herauszufindenden Bedeutung von Ausdrücken wie »Verstehen«, »Schmerzen haben«, »Wünschen« usw. suchen wollen. Die therapeutische Philosophie Wittgensteins als Erziehung von Erwachsenen wird gegenwärtig vor allem von Stanley Cavell weitergeführt. Sie hat auch Wurzeln in der Kierkegaardschen Existenzphilosophie, die mit dem Sokratismus verbunden ist.3

Weil Philosophie einerseits mit Erkenntnis zu tun hat, die sich in Behauptungen niederschlagen kann, andererseits jedoch, ähnlich wie die Literatur und anders als die Erfahrungswissenschaften, viele der »großen« doktrinären philosophischen Autoren gleichsam begrifflich von neuem zu beginnen scheinen, die Erkenntnis sich in der Philosophie also nicht einfach in einer sich ausdifferenzierenden Terminologie akkumuliert, ist die 16Auseinandersetzung mit einem philosophischen Werk, das bestimmte Innovationen des Denkens anstrebt, einem Erziehungsprozeß vergleichbar. Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik. Wer sich die Begriffe der Masse, Energie, Kraft, Ladung, Beschleunigung usw. angeeignet hat, verfügt über einen Wissensgrundstock, auf den er sich verlassen kann. Wer sich dagegen zum ersten Mal mit Spinoza oder Whitehead auseinandersetzt, nachdem er schon Platon und Aristoteles oder Descartes und Kant studiert hat, muß umlernen. Denn solche Philosophen verändern die Bedeutung der Begriffe, die sie von ihren Vorgängern übernehmen, weil sie anders als diese auf die Welt reagieren oder andere Erfahrungen für ihr Denken als exemplarisch nehmen. Sie sind, wenn man es terminologisch fassen will, dissidenteSprecher. Da versteht der Leser, auch der philosophisch Vorgebildete, beim Aufschlagen der Werke eines für ihn neuen Autors zunächst einmal gar nichts.

Manchmal schaffen Philosophen auch neue Begriffe, nehmen sich also nicht nur heraus, bekannten Wörtern andere Bedeutungen zu geben, sie abweichend von der bisherigen Gewohnheit zu verwenden, sondern prägen neue Bildungen wie »Affektion«, »Ding an sich«, »aktuale Wesenheit«, »noematisches Korrelat« usw. Das macht den Lernprozeß für die Rezipienten besonders schwierig. Und schließlich wird Lesern gelegentlich auch empfohlen, bestimmte Begriffe schlicht »fallenzulassen«, etwa den des »Absoluten« oder »Gottes«, des »Wesens« oder der »Seele«. Nietzsche zum Beispiel hat in seiner Metaphysikkritik solche Empfehlungen ausgesprochen. Leserinnen müssen dann nicht nur umlernen, sondern auch Neues dazulernen oder Angeeignetes verlernen, wenn sie die betreffenden Autoren verstehen wollen, oder werden, wenn sie sich in das Denken eines für sie neuen Philosophen einfinden möchten, durch die entsprechenden Texte umerzogen. Betrachtet man Begriffe als Unterscheidungsgewohnheiten,4 so zielen diese Erziehungspro17zesse auf die Etablierung neuer Unterscheidungsgewohnheiten. Der Anspruch auf philosophische Erkenntniserweiterung ist, auch wenn das kaum je so ausgesprochen wird, letztlich mit der Zumutung einer begrifflichen Umerziehung verbunden, sofern er sich nur an Erwachsene wendet. Ist diese Umerziehung erfolgreich, soll sie dazu führen, daß anders über die Welt gesprochen, gedacht und vielleicht auch einmal anders in ihr gehandelt wird.

Diese Prozesse der Erziehung von Erwachsenen durch die Aneignung neuer begrifflicher Mittel werden in der Regel im philosophischen Denken nicht reflektiert.5 Erzählungen können solch eine Reflexion jedoch leisten. Einerseits können Erzählungen mit anderen Mitteln als denen der begrifflichen Variation die Weltsicht ihrer Leser verändern. Man gesteht der Literatur beispielsweise zu, die Gefühle von Lesern zu erziehen (in einer éducation sentimentale). Sie kann aber auch davon unabhängig diejenige Erfahrung thematisieren, die zu bestimmten begrifflichen Entscheidungen und Reaktionen führt. Narrationen können zeigen, welche Erfahrungen man machen muß, um die Verwendung bestimmter Allgemeinbegriffe für die richtige Reaktion auf die Welt zu halten, oder warum eine Person eine bestimmte Unterscheidungsgewohnheit, die ihr nahegelegt wird, ablehnt. Deshalb stellt Literatur nur oberflächlich betrachtet lediglich ein Unterhaltungsprogramm dar.

Der Fokus auf die Erziehung löst die Betrachtung des Verhältnisses von doktrinärer und nichtdoktrinärer Philosophie von der 18Debatte um den Skeptizismus. Zwar steht die hier untersuchte nichtdoktrinäre Philosophie dem Skeptizismus nahe. Doch es geht nicht primär um den Begriff des Wissens oder die Frage, ob Menschen überhaupt etwas wissen können. Es geht vielmehr um die Frage: »Was ist die Lehre der Philosophie? – What is the teaching of philosophy?«6 Hat die Philosophie überhaupt etwas zu lehren? Man kann das Vorhandensein von Wissen als eine Bedingung des Lehrens ansehen. Doch haben auch die Skeptiker etwas zu lehren, es gibt sogar eine Lehre von der Unwissenheit, eine docta ignorantia.7 Die Aufmerksamkeit auf die Lehre und Erziehung bringt jedoch politische und soziale Dimensionen der Philosophie ins Spiel, die in den erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen um die Skepsis nicht präsent sind. »Es gibt keine revolutionäre Vision«, so ist festgestellt worden, »die nicht eine Vision der Erziehung einschließt, und umgekehrt.«8 Aus einer pragmatistischen Perspektive, in der sich Philosophie durch ihre Relevanz für das menschliche Leben zu legitimieren hat, ist deshalb die Frage, ob und, wenn ja, was Philosophie zu lehren hat, von viel größerer Relevanz als eine Definition des Wissensbegriffs und das Problem des Skeptizismus. Erkenntnistheoretische Untersuchungen zum Wissensbegriff betreffen meist nur die doktrinäre Philosophie von innen und die von einigen Philosophen gesuchten Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, um die sich die Wissenschaften selbst jedoch kaum noch kümmern. Die soziale Rolle von behauptender Philosophie (und Wissenschaft) hat dagegen mit ihrem Anspruch auf Belehrung 19zu tun, der, wenn er erfolgreich realisiert wird, darauf Einfluß nimmt, wie Menschen auf die Welt reagieren, und das heißt: was für ein Leben Menschen letztlich führen.

Einfluß auf die Art und Weise, wie Menschen auf die Welt reagieren, wie sie sie wahrnehmen und in ihr handeln, hat auch die Dichtkunst. Es ist zwar keine Neuigkeit, daß die Texte von Sophokles bis Beckett, von Homer bis Proust und von Pindar bis Celan Erkenntnisse über die Welt bieten, die ebenfalls, wie manche philosophische Rede, mit abweichendem Sprechen verbunden sind. (In Beckett und Celan muß man sich ebenso »hineinfinden« wie in Spinoza und Deleuze.) Es spricht auch außer den Äußerlichkeiten der akademischen Arbeitsteilung nichts dagegen, Sophokles, Beckett, Proust und Celan als Philosophen zu bezeichnen. Doch ist es eine kaum verbreitete Einsicht, daß Dichtung nicht nur unterhaltend, sondern auch philosophisch relevant sein kann, wenn sich in ihr beispielsweise in narrativen Reflexionen über das philosophische Denken neue grundlegende philosophische Einsichten manifestieren. Und genau darum soll es hier gehen. Denn die Dichtung verändert anders als die Philosophie die Sicht auf die Welt nur selten durch neue oder umgedeutete Begrifflichkeiten, sondern auf andere Weise. Begriffe und Argumente spielen in ihr kaum eine Rolle. Denn über die jeweiligen individuellen Anfänge philosophischen Denkens und Argumentierens, über begriffliche Grundentscheidungen, ist keine argumentative Auseinandersetzung mehr möglich. Aber man kann von ihnen erzählen, es ist möglich, plausibel zu machen, wie eine Person zu ihren begrifflichen Grundentscheidungen gekommen ist. Dies kann geschehen, indem man die Innenwelt eines Menschen entfaltet, der die Wirklichkeit auf bestimmte Weise wahrnimmt, die einem selbst vielleicht unmöglich oder sehr fremd ist.9 Solche Erzählungen, wie sie etwa J. M. Coetzee in seinem Buch ElizabethCostello angestellt hat, 20von dem hier ausführlich die Rede sein wird, bringen auch Erkenntnisse über die Anfänge philosophischen Denkens narrativ ans Licht. In ihnen wird deutlich, wie eine Person dazu kommen kann, die Welt auf bestimmte Weise, das heißt mit Hilfe bestimmter Allgemeinheiten, zu sehen und dieser Sichtweise entsprechend zu handeln.

Solche narrativen Darstellungen stellen das individualistische Spiegelbild transzendentaler Untersuchungen dar. Denn transzendentale philosophische Forschung sucht nach den Voraussetzungen von Wahrnehmungen, Behauptungen und Handlungen; sie sucht sie jedoch im Allgemeinen und geht von einer allgemeinen subjektiven oder sprachlichen Struktur aus, die alle Menschen teilen. Weil Menschen in manchem übereinstimmen– beispielsweise funktioniert erstaunlicherweise die Mathematik in allen Kulturen –, muß es, so der transzendentalphilosophische Grundgedanke, etwas geben, was die Menschen miteinander verbindet und was dazu führt, daß sie zu diesen Gemeinsamkeiten kommen. Klassischerweise wird hier in Anschluß an Kant das Selbstbewußtsein als ein solcher Ausgangspunkt angesehen. Es soll einerseits die Möglichkeit einer nichtempirischen Untersuchung menschlicher Allgemeinheiten überhaupt erst ermöglichen, wird also als eine allgemeine kognitive Fähigkeit betrachtet. Andererseits soll es auch der inhaltliche Ausgangspunkt sein, von dem der philosophische Forscher zu den Behauptungen übergehen kann, die alle menschlichen Wahrnehmer, Behaupter und Handelnde implizit voraussetzen, die ihnen jedoch nicht explizit vor Augen stehen.10

21Solche transzendentalphilosophischen Untersuchungen haben gewöhnlich Schwierigkeiten, die Annahmen einer allgemeinen kognitiven Instanz (eines transzendentalen Subjektes oder eines allgemeinen Diskurses beziehungsweise Sprachspiels) und die der Notwendigkeit der angeblichen Voraussetzungen für alles Wahrnehmen, Behaupten, Argumentieren und Handeln selbst zu rechtfertigen. Das Schicksal der Euklidizität der Raumanschauung ist paradigmatisch für diese Schwierigkeiten. Wurde der Euklidische Raum von Kant noch als notwendige Anschauungsform, die alle Subjekte teilen, betrachtet, zeigen die nichteuklidischen Geometrien des 19.Jahrhunderts und vor allem ihre Anwendung in der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins, daß die Annahme dieser Notwendigkeit entweder nicht stimmt oder in der Physik gar nicht mit Hilfe dieser Geometrien »angeschaut« wird oder Einsteins Theorie »eigentlich« von einem durch Massen verformten primordialen Euklidischen Raum handelt oder das Kantische transzendentale Argument viel allgemeiner gedacht war und gar nicht strikt auf die Notwendigkeit der Euklidizität des Anschauungsraumes hinausläuft.11 Ähnliche Probleme ergeben sich mit Blick auf die vermeintliche Notwendigkeit der Kategorie der Kausalität in der Naturbetrachtung. Ändert sich in der Quantenmechanik etwas an unserem Verständnis der Fundamentalität statistischer Erklärungen und zufälliger Ereignisse, von denen Kant noch nichts wußte, dann könnte das auch den notwendigen und apriorischen Status der Kausalitätskategorie in Zweifel ziehen, wie etwa Max Born annahm.12 Selbst die Zweiwertigkeit der Logik, ihre Festlegung auf die beiden Wahrheitswerte »wahr« und »falsch«, kam durch die Quantenlogik im Zuge der Interpretationen der Quantenmecha22nik unter Druck.13 Kantianer haben auf diese Einwände natürlich geantwortet. Schon die Existenz dieser Einwände zeigt aber, daß es nicht so leicht ist, sehr weitverbreitete empirische Bedingungen des Wahrnehmens, Behauptens, Schließens und Handelns, die einer historischen Drift unterliegen, von den angeblich nicht wandelbaren apriorischen Bedingungen klar und endgültig zu unterscheiden. Die kaum durchschaubare Komplexität vieler transzendentaler Argumente (vor allem bei ihrem Urvater), ihre Voraussetzungen einer einheitlichen subjektivitäts- oder diskurstheoretischen Struktur auf der einen und die revolutionären wissenschaftlichen Entwicklungen seit der Mitte des 19.Jahrhunderts in Mathematik und Physik zusammen mit der seitdem herrschenden Dominanz des Historismus auf der anderen Seite, haben die transzendentalphilosophische Methode als aussichtsreiches Erklärungsprojekt der Philosophie unter einen enormen Druck gesetzt.

Sobald die menschliche Subjektivität als solche jedoch historisiert wird – ein Prozeß, der mit Hegels Phänomenologie des Geistes begann und sich bis in die zeitgenössische Wissensgeschichte fortsetzt –, wandeln sich viele transzendentale Argumente zu historischen Narrationen.14 Und von der Annahme, daß es historische Allgemeinheiten gibt, die Wahrnehmungen, Behauptungen, Schlüsse und Handlungen bedingen, zu der, daß sich Individuen zu diesen allgemeinen Bedingungen in ihrer Zeit verhalten, ist es nur ein Katzensprung. Schon der kreative wissenschaftliche Einfall, der zu einer wissenschaftlichen Revolution führt, kann als die Reaktion eines einzelnen Menschen auf die nicht hinterfragten historischen Selbstverständlichkeiten seiner »Epoche« gedeutet werden. Von da aus ist der Weg 23zur historischen Narration über Einzelwesen nicht mehr weit. Er ist jedenfalls kürzer, als man auf den ersten Blick angesichts der argumentativen Strenge und Disziplin, mit der sich Transzendentalphilosophie gern von Dichtkunst distanziert, meinen möchte.

Mit der Verbindung von Lebenserfahrung, Erziehung und Argumentation wird auch eine Verbindung zwischen der Entstehung von Subjekten und ihren öffentlichen Schlußfolgerungen und Rechtfertigungsstrategien hergestellt. Diese Verbindung von privatem Erleben und öffentlichem Räsonieren hält Richard Rorty in seiner Variante des Pragmatismus nicht für sinnvoll.15 Eine Trennung zwischen Selbstbeschreibung und Verarbeitung der eigenen Lebenserfahrung und öffentlichem Sprechen ist aber nur da möglich, wo davon ausgegangen wird, daß sich Subjekte in romantischer Genialität »selbst erschaffen« können. Das erscheint mir unplausibel.16 Denn Subjekte entstehen aus Welten. Ein einzelner Mensch entsteht aus den Genen, der Nahrung, den Wahrnehmungen, Affekten und vor allem aus der Sprache, der er ausgesetzt ist.17 Sobald er oder sie auf all das reagieren kann, setzt vielleicht so etwas wie eine »Selbsterschaffung« ein. Doch 24die Kompetenz zu einer solchen Reaktion auf die Bedingungen der eigenen Subjektivität muß selbst erst einmal entstehen.18

Auch da, wo Philosophie nicht transzendental im subjektivitäts- oder diskurstheoretischen Sinne ist, stellt sie Behauptungen über den menschlichen Geist auf. Allerdings manövriert sie sich dadurch noch stärker in eine Konkurrenz mit den empirischen Wissenschaften. Was kann die Philosophie allgemein über Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Schließen und Handeln behaupten, ohne die Evidenzen der empirischen Wahrnehmungspsychologie und -physiologie, der Kognitionspsychologie, der Sprachwissenschaften, der Beweistheorie und Informatik, der Soziologie und Ethnologie zu berücksichtigen? Entweder verhalten sich ihre allgemeinen Behauptungen zu den konkreten Forschungen in diesen Wissenschaften als eine Art propädeutische Heuristik und Hypothesensammlung, oder sie geht selbst in empirischer Forschung auf, wie es einige Fachvertreter in der Philosophie des Geistes und der Sprachphilosophie, die sich mit Bewußtsein, Selbstbewußtsein und der Natur von Begriffen befassen, inzwischen auch in Deutschland anstreben.19 Eigenständige Erklärungserfolge kann eine doktrinäre Philosophie, ohne daß sie zu empirischer Wissenschaft wird, nicht feiern.

Wo Philosophie nicht im Kontext transzendentaler Argumente und wissenschaftlicher Heuristik mit explanatorischen Ansprüchen behauptet, operiert sie in der Regel deskriptiv oder normativ. In diesem Moment befindet sie sich in einer reaktiven Haltung gegenüber den behauptenden Aktivitäten von Menschen. Wo behauptet wird, daß diese oder jene Überzeugung gerechtfertigt ist, fragt philosophische Erkenntnistheorie, ob sie wirklich und, wenn ja, ob sie wirklich gut und nach welchen Standards gerechtfertigt ist. Wo eine Handlung als gut oder ge25recht charakterisiert wird, fragt die praktische Philosophie entsprechend, nach welchen Standards das geschehen kann und ob die Behauptung über die Handlung wirklich berechtigt ist. Sie beteiligt sich auf diese Weise an dem kontinuierlichen Gespräch über die Normen des Erkennens und Handelns (hoffentlich, um der eigenen Legitimation willen, mit größerer Reflektiertheit und klarerem historischen Bewußtsein für die bereits etablierten beziehungsweise gescheiterten Einwürfe im normativen Diskurs als die nichtphilosophischen Teilnehmer). Die normative Philosophie kommt also, im Unterschied zur Transzendentalphilosophie, die die Bedingungen explizieren will, die vor einem Behauptungszusammenhang liegen, nach der Doktrin zum Zug; sie reagiert auf Behauptungen oder ganze Lehren als Behauptungszusammenhängen.

Die deskriptiven Tendenzen, die in der Philosophie neben die normativen treten, manifestieren sich in der neueren Philosophie vor allem in der Phänomenologie und den an Wittgenstein und Ryle anschließenden Beschreibungen der Bewußtseinsphänomene und des Sprachgebrauchs. Auch auf diesem Gebiet konkurriert Philosophie mit den empirischen Wissenschaften, denn Beschreibungen des Sprachgebrauchs werden natürlich auch in der empirischen Linguistik erzeugt und mit aufwendigen empirischen Verfahren gerechtfertigt. Beschreibungen von Bewußtseinsphänomenen finden sich ebenfalls in den Psycho- und Neurowissenschaften, die teilweise auch phänomenologische Einsichten verarbeiten.20 Allerdings richtet sich das implizite Erkenntnisinteresse der philosophischen Deskriptionen von Sprache auf die Entdeckung des paradigmatischen, das heißt des normativ bedeutsamen Sprachgebrauchs, der nicht in allen linguistischen Forschungen im Vordergrund steht.21 Eine Beschreibung des gängigen Sprachgebrauchs geschieht in der Philosophie ja mit der Intention, diejenigen, die von diesem gängigen 26Sprachgebrauch abweichen, zur Ordnung zu rufen, weil sie sich nicht an die (semantischen) Regeln halten.

Das Absehen der Philosophie von explanatorischen Ansprüchen und die Fokussierung auf die Deskription (auf »übersichtliche Darstellung«, wie sich Wittgenstein ausdrückt) rücken sie aber auch in die Nähe der Literatur.22 Es ist darauf hingewiesen worden, daß Wittgenstein, Austin und Ryle Mikrogeschichten erzählen.23 Und natürlich werden auch umgekehrt in der Literatur im Zusammenhang von Beschreibungen oder in Dialogen von fiktiven Personen Behauptungen produziert. In ihnen sind jedoch, anders als in den Beschreibungen von Experimentalprotokollen, Feldstudien, den Resultaten phänomenologischer Bewußtseinserforschungen oder den Deskriptionen der Umgangssprache, die tatsächlich gemachten Erfahrungen fiktional transformiert und werden ohne normative Absichten produziert.24 Es 27geht in der Literatur nicht darum, den vermeintlich geltenden Sprachgebrauch vorzuführen, um Abweichler zur Ordnung zu rufen, sondern um das Zeigen eines Zusammenhangs von Sprechen und Leben oder um das Zur-Sprache-Bringen von Erfahrungen, für die bisher noch nicht die richtigen Worte gefunden wurden. Beerbt die Literatur im Aufsuchen von historischen und von der Lebenserfahrung entstammenden Anfangsevidenzen von Überzeugungsreihen und Handlungen die Transzendentalphilosophie (ohne deren legitimatorische Absichten), so begibt sich umgekehrt die deskriptive Philosophie der gewöhnlichen Sprache und des Bewußtseins in eine für sie »gefährliche« Nähe zu den sehr avancierten Beschreibungstechniken der Literatur. Die Frage, ob man neben den literarischen Deskriptionen von Sprachgebräuchen, Affektmustern und Bewußtseinsströmen noch eine erhellende Philosophie der gewöhnlichen Sprache, der Affektivität und des Bewußtseins benötigt, ist keine harmlose. Kann sich beispielsweise eine Phänomenologie der Liebe oder der Natur in der Erfassung deskriptiver Konkretion mit der entsprechenden Literatur messen, wie Tolstois AnnaKarenina oder John Muirs Reisebeschreibung über die Berge Kaliforniens?25 Verneint man diese Frage, dann befindet sich die Philosophie in einer Klemme: Als ein doktrinäres und explanatorisches Projekt findet sie schwer einen Platz neben den Erfahrungswissenschaften, die aus ihr entstanden sind. Als deskriptives Unternehmen hat sie gegen die Literatur kaum eine über die Akademie hinausreichende Relevanz, es sei denn, sie geht, wie beispielsweise die Aphoristik Wittgensteins, selbst in Literatur über. Nur die kritisch-normativen Projekte können der Philosophie eine gewisse 28Eigenständigkeit neben den Einzelwissenschaften und der Literatur ermöglichen. Philosophie, die doktrinär und explanatorisch erfolgreich sein will, wird in Erfahrungswissenschaft übergehen. Philosophie, die die Beschreibung des Konkreten sucht, wird zur Literatur. Wittgensteins späte Texte sind vor allem als Literatur, als die richtige Sprache über unser Handeln, Fühlen und Denken in Mikrofiktionen so bedeutsam und nicht, weil sie vermeintlich die Vorversion der Doktrin einer inferentiellen Semantik bieten. Es liegt an dieser Zwischenposition der Philosophie zwischen den erklärenden Wissenschaften und der erzählenden Literatur, daß aus der Naturphilosophie bei Newton die Experimentalphilosophie und schließlich die Physik entstand, aus der Humeschen Erforschung des Menschen die Psychologie und die Sozialwissenschaften, und daß sie in den Beschreibungen der konkreten existentiellen Situation des Menschen bei Kierkegaard, Sartre oder Camus in Literatur umschlägt. Für den letzteren Prozeß sorgen entweder die entsprechenden Philosophen selbst, wie Sartre oder Camus in ihren literarischen Werken, oder andere, wie etwa Walker Percy mit seinen eng an Kierkegaard anknüpfenden Büchern.26

Die Suche nach Konkretion

Damit ist ein wichtiges Thema zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie sichtbar geworden: die Suche nach Konkretion. Daß Dichtung die Philosophie darin übertrifft, die konkreten Individuen der Welt sprachlich zu thematisieren, dürfte unbestritten sein. Doch auch in der Philosophie gibt es die als »nominalistisch« charakterisierte Überzeugung, daß Allgemeinheiten sprachliche Artefakte sind und die nichtsprachliche Wirklichkeit eine Welt von Individuen ist. Manche Philosophen gehen sogar so weit, zu behaupten, die Welt sei ein Prozeß von kom29menden und gehenden Einzelheiten. Sie wollen die Zeit ernst nehmen. Doch welche kulturelle Tätigkeit nimmt die Zeit ernster als das Erzählen? Müßte deshalb eine Philosophie, die die Welt als ein Kommen und Gehen von Einzelheiten betrachtet, sich nicht selbst aufgeben und den Stab der Erkenntnis an die Erzählkunst weiterreichen, wie es in der sogenannten »romantischen« Philosophie, die die Kunst zum Organon der Philosophie machen wollte, vorgeschlagen wurde?27

Doch auch das Erzählen bedient sich einer Sprache mit Allgemeinbegriffen. Der Wunsch, den allgemeinen Unterscheidungsgewohnheiten, die die Neuheit jeder Erfahrung zu verdecken drohen, beispielsweise in den Konkretionen eines Metapherngespinstes in der Dichtkunst zu entgehen, ist letztlich nicht erfüllbar. Wie können Philosophie und Dichtung die Konkretheit des Entstehens und Vergehens thematisieren, wenn die Sprache als ein konventionelles Regelsystem von Allgemeinbegriffen dazu nicht in der Lage ist? Die Antworten auf diese Frage können in verschiedene merkwürdige Situationen und Haltungen führen: in die Behauptung des Nichtwissens oder in den Prozeß einer immer komplexer werdenden und sich unendlich selbst korrigierenden narrativen Erinnerung, in eine philosophische Haltung, die verbietet, orientierende allgemeine Behauptungen über eine Wirklichkeit zu geben, in die paradoxe Behauptung, die Welt sei ein begrifflich und deshalb behauptend unerschöpflicher Zusammenhang von Individuen, oder in das Verstummen. Das Schweigen wird man jedoch kaum als ein »Thematisieren« der Wirklichkeit bezeichnen wollen, sondern eher als eine für Menschen sehr besondere und nur temporär (eher am Ende eines Lebens realisierbare) Weise, auf der Welt zu sein.

30Der eben skizzierte spezielle Zusammenhang zwischen der Philosophie mit dem Behaupten, Erziehen und Erzählen macht es nötig, im ersten Abschnitt über das Sokratische mit grundlegenden Gedanken zu beginnen, die sich wie eine lehrbuchartige Einführung in die Philosophie ausnehmen könnten. Doch eine solche kann es nicht in der gleichen Weise geben wie eine Einführung in die Physik oder Biologie, wenn die hier vorgetragene Kritik der allein behauptenden oder doktrinären Philosophie ihre Relevanz haben sollte. Sokrates wird hier auch nicht als der Anfang der Philosophie überhaupt präsentiert, sondern als der Anfang der nichtdoktrinären Philosophie, die bereits auf das Behaupten reagiert. In der »reinen Figur« des Sokrates, um eine Formulierung Stanley Cavells aufzugreifen,28 manifestieren sich die Eigentümlichkeiten der nichtbehauptenden philosophischen Tätigkeit:29 der pädagogische Eros, der ohne Doktrin auftritt; das Getriebenwerden zur Philosophie durch die Behauptungen anderer, ohne selbst solche Behauptungen aufzustellen; die daraus resultierende Werklosigkeit, von der vorstellbar ist, daß sie sich in ein endgültiges Schweigen hätte steigern können. All das unterscheidet die Tätigkeit der nichtdoktrinären Philosophie nicht nur von der behauptenden Wissenschaft, sondern auch von der erzählenden Kunst. Denn ein schweigender Erzähler ist schwer vorstellbar, während von der nichtdoktrinären Philosophie gesagt werden kann, daß »wenn das Schweigen […] immer eine Bedrohung« für sie war, »es ebenso ihr höchstes Versprechen darstellte«.30 Was das genau heißen könnte, wird am Ende dieses Buches klar werden.

31Metaphysiken

Obwohl die Unterscheidung zwischen doktrinärer und nichtdoktrinärer Philosophie, die wir hier anhand der Philosophie des Sokrates und seiner philosophischen Konstellation einführen werden, eine gewisse Affinität zu Peter F. Strawsons Differenzierung zwischen deskriptiver und revisionärer Metaphysik hat und auch der Abgrenzung zwischen Pragmatismus und Metaphysik ähnelt,31 ist nichtdoktrinäre Philosophie weder deskriptive Metaphysik noch Pragmatismus. Denn anders als diese endet sie in einer Paradoxie. Weil sie von der Erfahrung ausgeht, daß die Welt das Kommen und Gehen von Einzelheiten ist, diese Erfahrung jedoch nicht behauptend und argumentativ sprachlich repräsentiert werden kann, endet sie in der Behauptung, daß sich letztlich nichts dauerhaft behaupten läßt und alle sprachlichen Ausdrücke, sofern in ihnen Allgemeinbegriffe und nicht nur Namen, indexikalische und deiktische Termini auftauchen, hinter der konkreten Erfahrung der Einzelheiten der Welt zurückbleiben müssen. Das ist nun keine neue Einsicht. Man kennt sie als die Position des Heraklit aus Platons Theaitetos oder als die Figur der sinnlichen Gewißheit aus Hegels Phänomenologie des Geistes.32 Sie wird in diesen Tex32ten jedoch nicht mit dem Thema des Schweigens in Zusammenhang gebracht, obwohl das Ende des Theaitetos dem sehr nahe kommt.

Auch Rortys Unterscheidung zwischen philosophischen Anstrengungen, die darauf abzielen, unser Leben zu verbessern, und begrifflichen Reglementierungsbemühungen, bei denen Menschen endgültig vorgeschrieben werden soll, wie sie zu sprechen und vor allem sich selbst zu beschreiben haben, ist wichtig für das Verständnis dessen, was hier nichtdoktrinäre Philosophie heißen soll. Doch scheint es Rorty dabei letztlich um die Ermöglichung einer originellen Selbstbeschreibung als einer neuen Form der romantischen Selbsterschaffung zu gehen. Die Überlegungen zur Entwicklung der Fähigkeit, auf die Welt zu reagieren, die im folgenden im Anschluß an Dewey thematisiert werden, zielen aber auf etwas anderes ab als auf die Fähigkeit, zum Originalgenie des eigenen Lebens zu werden:33 auf die Aufrechterhaltung (oder Wiedererlangung) einer konkreten Erfahrung von Einzelnem. Dies ist wichtig, weil ich die Möglichkeit solcher Erfahrung für eine Glücksbedingung halte.

Auch eine hypothetisch spekulative Metaphysik à la Whitehead, die der Drift der Bedeutungsveränderungen in den Umgangs- und Wissenschaftssprachen nicht mit letzten Bedeutungsfestlegungen zu entkommen versucht, sondern sich nur an ihr beteiligt, indem sie als »Begriffsdichtung«34 die Grenzen zwischen doktrinärer Philosophie und Erzählung verwischt, entspricht nicht der nichtdoktrinären Philosophie im hier verstandenen Sinn. Denn trotz ihrer Revidierbarkeit geht diese Metaphysik immerhin noch von der theoretischen Möglichkeit der Adäquatheit eines allgemeinen Begriffsschemas für die konkrete Erfahrung aus und versucht damit die hier vorzuführenden paradoxen Überlegungen zu vermeiden, die auf die Einsicht 33in die letztliche Inadäquatheit der behauptenden Einstellung abzielen.35 Whitehead sucht nach einem allgemeinen Interpretationsschema für alle menschliche Erfahrung.36 Obwohl dieses Interpretationsschema ein hypothetisches bleibt und im Sinne des Peirceschen Fallibilismus37 revidierbar bleiben soll, weil es jederzeit bei der Interpretation einer Erfahrung versagen kann, zielt es auf eine Homogenisierung der Deutung der Erfahrung. Diese Homogenisierung kann man als den Versuch einer rationalen Rekonstruktion des Zusammenhangs aller Erfahrung verstehen. Aus diesem Anspruch ergibt sich die Suche nach einem System. Das Bedürfnis nach einem System ergibt sich da, wo die Einzelheiten der Welt von sich aus scheinbar keinen hinreichenden Zusammenhang ergeben oder dieser Zusammenhang unklar erscheint. Der Zusammenhang, der hier angestrebt wird, ist einer, der über die Lebensgeschichten von einzelnen erfahrenden Wesen hinausgehen soll. Doch ist das philosophische System dieses Typs kein explanatorisches, wie etwa das System des physikalischen Standardmodells, das auf die Erklärung bestimmter experimentell erzeugter Erfahrungen abzielt, sondern ein interpretierendes. Interpretatorische Systeme haben zwei Funktionen: Erstens kritisieren sie die Abstraktheit bestimmter Szientismen, etwa des Physikalismus, Biologismus oder Soziologismus, die Vokabulare, die alle nur für die Erfassung bestimmter (Labor-) Erfahrungen entwickelt wurden, auf die gesamte34Erfahrung anwenden wollen. Die philosophische Kritik dieser Ismen bringt dann andere Erfahrungen als die betreffenden »Basiserfahrungen« aus dem Labor ins Spiel: religiöse, ästhetische oder ethische.38 In einem zweiten Schritt versucht solche Philosophie all diese Erfahrungen zu systematisieren, ihnen in einer einheitlichen neuen Terminologie gerecht zu werden, eine neue, nichtreduktive »große Erzählung« zu erzeugen. Und genau an diesem Punkt stellt sich die Frage nach der Abgrenzung von philosophischer Narration und künstlerisch-fiktiver Erzählung. Wie unterscheidet sich ein allgemeines Interpretationsschema der menschlichen Erfahrung von einem Roman, der verschiedene menschliche Erfahrungen, auch die unterschiedlicher Erfahrungssubjekte, in einer Erzählung miteinander in eine Konstellation bringt? Man denke etwa an Musils Mann ohne Eigenschaften, der wissenschaftliche, religiöse, erotische, ethische und politische Erfahrungen verschiedener Menschen zur Zeit der Jahrhundertwende mit sehr vielfältigen sprachlichen Mitteln zueinander in Beziehung setzt? Was ist der Vorteil eines philosophischen Systems mit einer einheitlichen Terminologie gegenüber einem solchen essayistischen Roman? Oder warum sollen viele Erfahrungssubjekte ihre Erfahrungen in einer einzigen Sprache, etwa der von Prozeß und Realität, deuten?

Ein Begriffsschema im Stile Whiteheads ist sicher eher in der Lage, Kritik an der Verallgemeinerung wissenschaftlicher Erfahrung als der einzig relevanten für das menschliche Leben zu üben. Die Fremdheit der verallgemeinerten philosophischen Terminologien gegenüber allen Umgangs- und Fachsprachen kann deshalb ohne Frage eher als ein Roman eine distanzierend-kritische Funktion haben.39 Zudem dürfte die Wissenschaft die hypothetische Systemform eher als kritisches Gegenüber akzeptieren als eine Erzählung, was für die Relevanz der Philosophie nicht unerheblich ist. Hat sie diese doch in den Kreisen der er35klärenden Wissenschaften heute weitgehend eingebüßt. Doch was ist mit der Relevanz der Philosophie für Nichtwissenschaftler? Welche Bedeutung kann eine Terminologie, die auch die religiöse und die ethische Erfahrung in einem philosophischen System deuten will, für das religiöse und moralische Leben außerhalb der Akademie haben? Kann eine Philosophie in diesem Sinne die Nichtakademiker etwas lehren?

William James hat eine hypothetische pluralistische Metaphysik entwickelt und gleichzeitig seinen Spekulationen eine Philosophie des common sense an die Seite gestellt, die viel zugänglicher ist als etwa seine Vorstellungen von einem sich aus Erfahrungströpfchen aufbauenden Universum.40 Er fährt zweigleisig – mit einer esoterischen hypothetischen und einer exoterischen Philosophie, die außerhalb der Akademie Wirkung entfalten soll. Die Plausibilität eines solchen Philosophiekonzepts hängt davon ab, ob es ihm gelingt, die Entwicklungen und die Konsequenzen einer Pluralität von Erfahrungen exoterisch verständlich, das heißt: die Tatsache plausibel zu machen, daß andere von ganz anderen Erfahrungen in ihrem Sprechen und Handeln ausgehen. Ist hier die Literatur nicht in einer viel aussichtsreicheren Position als eine exoterische Philosophie? Oder konkret gefragt: Ist neben Dieneuen Leiden des jungen W. noch eine Phänomenologie der Liebe nötig und wen erreicht sie? Kann eine neue Phänomenologie des Bewußtseins à la Schmitz, die die Gefühle der Enge und Weite als grundlegende menschliche Befindlichkeiten thematisiert, Kafkas Erzählung Der Bau ersetzen oder mit ihr konkurrieren? Oder ist es ein Irrtum, den philosophischen Diskurs mit der Literatur in eine Konkurrenzsituation zu bringen? Aber welche Funktion kann die Philosophie haben, wenn sie einerseits nichts erklärt, sie andererseits die gelingende Literatur in der Prägnanz der Explikation von Innenperspektiven nicht überbieten kann? Vermutlich bleibt der Philosophie als auszeichnendes Kriterium in dieser Ge36genüberstellung nur die lehrende Haltung, die sie mit größerer Penetranz manifestiert als die Literatur. Doktrinäre Philosophie, der, anders als der schönen Literatur, eine Lehrkanzel zur Verfügung steht, scheint die Sprache »von oben«, »top down« durch ein System oder eine Theorie des Diskurses regulieren zu wollen. Sie kann ihre Vorschläge zur Sprachregulation jedoch nicht mit explanatorischen Erfolgen legitimieren, sondern »nur« – wie die Dichtung – mit der Evidenz, die das »richtige Wort« für eine bestimmte Erfahrung beim Hörer oder Leser hervorruft. Das Versagen doktrinärer Vereinheitlichungsbemühungen, die Tatsache, daß philosophische Lehren außerhalb der Akademie kaum Gehör finden, hat mit der Stärke der explanatorischen und narrativen Alternativen in Wissenschaft und Kunst zu tun. Die sogenannte »Postmoderne« trifft hier mit ihren vermeintlichen Einsichten über das Ende der großen Erzählungen keine Schuld.

Spieltheorie statt Postmoderne

Denn anders als im Anschluß an Lyotard vielfach behauptet wurde, sind die großen Erzählungen gar nicht verschwunden.41 Sie hausen jedoch nicht mehr in philosophischen Systemen, sondern sind ausgewandert und werden jetzt an anderen Orten gepflegt und vor allem in anderen Kontexten als denen der philosophischen Akademien legitimiert. Sie werden nicht mehr durch politische Emanzipationsbewegungen, universale spekulative Theorien und religiöse Erlösungshoffnungen legitimiert, sondern durch ihre Einbettung in Erklärungssysteme, die eine mathematische Form besitzen und ihre Anwendung in einer globalen Wirtschaft haben. So sind die Erzählungen der Spieltheorie, die ursprünglich in Hobbes’ Leviathan ihre Heimat hat37ten, von einem der wichtigsten Vertreter der Spieltheorie – Ariel Rubinstein – als eine »Ansammlung von Fabeln und Sprichwörtern« bezeichnet worden, die nicht für die Prognose, sondern lediglich für die Auslegung menschlichen Verhaltens taugen.42 Sie treten aber als Teil einer angeblich prognostisch erfolgreichen Wissenschaft auf. Daß mit spieltheoretischen Modellen Handelsverläufe prognostiziert werden können, liegt jedoch daran, daß der Handel zwischen spieltheoretisch programmierten Maschinen stattfindet, denen die entsprechenden Algorithmen als Handlungsvorschriften implementiert sind. Menschen, die sich nicht darauf einlassen, die spieltheoretischen Modelle als das Paradigma praktischer Rationalität zu akzeptieren, lassen sich in ihrem Verhalten auch nicht durch diese Modelle prognostizieren. Es ist diese Dialektik von Beschreibung und Erziehung, die nur in der Menschenwelt auftritt, die hier für den Prognoseerfolg von Bedeutung ist: Die Planeten verhalten sich nicht nach den Newtonischen Bewegungsgesetzen, wenn sie nur oft genug durch sie beschrieben werden. Doch Menschen verhalten sich nach und zu bestimmten Paradigmen, wenn es gelingt, ihnen diese als die »normativ richtigen« plausibel zu machen, etwa 38in der bewertenden Beschreibung von wirtschaftlichen Austauschbeziehungen durch »rationale Maschinen«. Da, wo die spieltheoretischen Modelle eine prognostische Kraft gewonnen haben, geht das auf ihre normative oder erzieherische Wirkung zurück. Diese Wirkung bleibt freilich implizit. Wenn etwa in einer prominenten Einführung in die Spieltheorie diejenigen, die beim Gefangenendilemma kooperieren, als entweder nett oder dumm, die aber, die die dominante Strategie wählen, als böse oder schlau charakterisiert werden, so klingt das wie ein nebensächlicher pädagogischer Witz, der zur Auflockerung des Unterrichts gemeint ist. Doch auch wenn das den Lehrenden nicht bewußt ist, findet durch den beiläufigen Gebrauch normativer Begriffe wie »vernünftig«, »den anderen klug vorausberechnend«, »erfolgreich die eigenen Vorteile maximierend« usw. erzieherisch die Etablierung eines bestimmten Bewertungszusammenhanges statt. Die Studierenden erhalten nicht nur eine Einführung in eine deskriptive und prognostische Theorie, sondern ihnen wird eine bestimmte Bedeutung von »vernünftig« und von »erfolgreich sein« beigebracht. Weil diese Normenvermittlung implizit ist, ist es besonders schwer, auf sie zu reagieren. Sie wird ja gar nicht diskutiert.43

Ihre ursprüngliche wissenschaftliche Reputation bezieht die Spieltheorie aus ihrer mathematischen Formulierung, nicht aus ihrer empirischen Validität oder ihrem impliziten normativen Erfolg, der diese erst ermöglicht.44 Sie ist der Ort vieler kleiner einflußreicher Erzählungen, die seit Hobbes’ Leviathan davon handeln, daß sich Menschen strategisch zueinander verhalten, daß sie normalerweise um Ressourcen miteinander konkurrieren und sich in sozialen Konfliktsituationen befinden, in denen Gewinner und Verlierer festzustellen sind, Menschen sich be39werten und jagen. Diese Erzählungen, die ursprünglich solche des natürlichen Kriegszustandes bei Hobbes waren, sind als Deutungsmuster in fast alle Bereiche der säkularen Gesellschaften eingewandert: in die Märkte, die Politik, in das Bildungswesen, die Geschlechterbeziehungen und Gesundheitssysteme. Ob es je wirklich große integrative Erzählungen und Systeme gab, die tatsächlich auf dieselbe Weise alle menschlichen Bereiche betrafen, wie es heute die Erzählungen vom konkurrierenden Nutzenmaximierer tun, bleibe dahingestellt. Die Deutungsmuster der Spieltheorie, wie immer es um ihre integrative Kraft bestellt sein mag, sind faktisch jedenfalls allgegenwärtig. Der Mensch dieser Erzählungen muss sich immer und überall gegen die anderen Menschen behaupten. Auf die großen Erzählungen vom Menschen als Ebenbild eines Schöpfers und als Vernunftwesen ist die vom Menschen als Marktteilnehmer gefolgt. Es ist der Markt, und nicht wie bei Hobbes der Krieg, der die Universalmetapher für das Leben des Konkurrenzmenschen abgibt.

Märkte gibt es wirklich, und Menschen bewegen sich tatsächlich auf ihnen, jedoch nicht immer. Beziehen sich die anderen beiden großen Erzählungen vom Menschen auf Transzendenzen, die nicht kommen und gehen (denn Gott und die intelligible Vernunft werden als ewig gedacht), so kommt die Erzählung vom konkurrierenden Marktmenschen ohne Transzendenz aus. Sie verallgemeinert und nobilitiert eine partikulare Möglichkeit der menschlichen Existenz – mit anderen um etwas zu konkurrieren – zu etwas, was Menschen vermeintlich immer tun und ihr Wesen ausmacht. Die Erzählung vom Konkurrenzmenschen auf dem Markt hat einen neuen anthropologischen Essentialismus hervorgebracht, der den religiösen Essentialismus des Menschen als von Gott nach seinem Bilde geschaffenen Vernunftwesen ablöst. Sie hat in dieser Hinsicht Ähnlichkeit mit der existenzphilosophischen Erzählung vom Menschen als sterblichem Wesen. Auch das Sterben ist eine nichttranszendente Wirklichkeit und letzte Möglichkeit des menschlichen Lebens, aber Menschen sterben ebensowenig ihr ganzes Leben lang, wie sie ihr ganzes Leben lang immer und überall konkurrieren.45 Das ganze menschliche Leben vom Tod her zu deuten, der existentialistische Essentialismus, ist ebenfalls eine Übertreibung.

Es ist mehr als ein Zufall, daß das Leben von Menschen, die sich gegeneinander behaupten müssen, in einer Kultur stattfindet, die sich ganz wesentlich an den Behauptungen erklärender Wissenschaften orientiert. Der globale Kapitalismus, der sich wissenschaftlicher Mittel zur Erzeugung von Finanzprodukten und der mit ihnen Handel treibenden Maschinen bedient, hat diese Deutungsmuster zu einer Realität gemacht. Charles Sanders Peirce hat diese Entwicklung bereits vor über hundert Jahren prophezeit und auf die Gefahr hingewiesen, daß Menschen sich allein als miteinander konkurrierende egoistische Gewinnmaximierer deuten und sodann eine soziale Realität herbeiführen, die dieser Deutung entspricht.46

41Die Bibel stellt in den Geschichten von Hiob, dem Salomonischen Urteil von den zwei Frauen, die die Mutterschaft desselben Kindes für sich beanspruchen, dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, dem barmherzigen Samariter und vielen anderen Erzählungen ebenfalls Deutungsmuster für menschliche Gefühle und Handlungen bereit. Sie haben mit Leidbewältigung, Gerechtigkeit und Mitleid zu tun. Die Psychoanalyse zog den Mythos von Ödipus heran, um die psycho-sexuelle Entwicklung zu erklären. Ebenso liefert die Spieltheorie in ihren Erzählungen von der strategischen Vernunft verallgemeinerbare Deutungen menschlichen Lebens: im Gefangenendilemma, dem Feiglingspiel, dem Beauty Contest, dem Ultimatumspiel oder dem Diner’s Dilemma. All diese Erzählungen transportieren diese allgemeinen Interpretationen menschlichen Verhaltens, die den Erzählungen in der Bibel oder griechischen Tragödie nichts an Geltung voraushaben.47 Sie benennen Situationen, in denen sich Menschen tatsächlich zeitweise befinden können, und erheben sie zu paradigmatischen. Jedoch weder mit Hiob noch mit dem Mythos von Ödipus oder dem Gefangenendilemma lassen sich gute Handlungsprognosen aufstellen, weil sie allesamt nicht das ganze Spektrum des menschlichen Handelns erfassen. Daß es bei den Fabeln der Spieltheorie anders scheint, liegt daran, daß da, wo mathematische Formalismen auftauchen, bei manchen leicht der Eindruck entsteht, hier finde empirisch geprüfte Wissenschaft statt, die eigentlich prognostisch erfolgreich und allgemeingültig sein müßte. Doch dieser Eindruck täuscht. Trotz mathematischem Apparat bleiben die spieltheoretischen Geschichten nicht mehr als mögliche Deutungen menschlichen Verhaltens.

Doch Menschen, die sich eine Weile auf bestimmte Weise 42deuten, verhalten sich diesen Deutungen entsprechend und erwerben Gewohnheiten, die sie zu Personen machen, die zu diesen Deutungen passen.48 Die Fabeln der Spieltheorie beeinflussen auf diese Weise die Kultur und das soziale Leben. Indem Menschen sich als strategisch Handelnde in einer Konkurrenz um Ressourcen deuten, werden sie im Laufe der Zeit zu Personen, die vor allem strategisch handeln und denen alles als knappe Ressource erscheint. Besonders deutlich ist dieser Einfluß in der Wissenschaft. Viele Wissenschaftler verstehen sich inzwischen als Personen, denen es innerhalb des Systems des »mentalen Kapitalismus« vor allem darum geht, die Ressourcen der Aufmerksamkeit und Reputation auszutauschen und zu akkumulieren.49 Andere Selbstverständnisse, etwa das von Weltbetrachtern, die ihre Erkenntnisse als Gabe an andere weitergeben, geraten dagegen in Vergessenheit.50 Hier liegt der erzieherische Einfluß dieser großen Erzählungen, deren Autoren sich selbst jedoch gar nicht als narrative Erzieher erkennen, sondern als prognostizierende Wissenschaftler mißverstehen. Lyotard hat diese großen Erzählungen übersehen, weil er an den falschen Stellen gesucht hat: bei den Theoriebildungen der doktrinären Philosophie und nicht bei den strategischen Kriegs- und Wirtschaftswissenschaften.

Die nichtdoktrinäre Philosophie hat solche großen Erzählungen seit der Antike immer wieder kritisiert, ohne sie durch andere große Erzählungen zu ersetzen. Es geht ihr darum, Individuen in die Lage zu versetzen, auf diese Erzählungen reagieren43zu können, das heißt, fähig zu sein, das Ansinnen zurückzuweisen, die in ihr verwendeten Allgemeinbegriffe auf sich selbst anzuwenden. So wie homosexuelle, melancholische und gehörlose Personen die Beschreibung »krank« zurückweisen, können Menschen den Vorschlag ausschlagen, ihre Lebenszeit als »knappe Ressource«, ihre Freunde als »Netzwerk«, ihre Bildung als »Investition in die Zukunft« oder eine Landschaft als »Erholungsgebiet« zu charakterisieren. Dazu müssen sie allerdings ein Bewußtsein dafür entwickeln, was es bedeutet, sich für oder gegen die Verwendung von Allgemeinbegriffen zu entscheiden. Anders ausgedrückt: Sie müssen überhaupt erst zu bewußten Sprechern werden. Einem bewußten Sprecher ist klar, daß »die Wissenschaft« nicht festgestellt hat, daß Menschen Konkurrenten um Ressourcen, daß Freunde und Bildung ein Mittel zum sozialen Aufstieg und Landschaften Einrichtungen zur psychischen Regeneration sind, sondern daß wissenschaftliche Forschung mit diesen Begriffsverwendungen operiert, um bestimmte (beispielsweise sozialwissenschaftliche) Erklärungsprojekte zu verfolgen. Eine Person, die an diesen Erklärungsprojekten nicht teilnimmt, muß sich genausowenig diesen Begriffsverwendungen anschließen wie ein Elternpaar, das, wenn es sagt, es habe keine Kraft mehr, ein weiteres Kind aufzuziehen, sich an die Verwendung des Newtonischen Kraftbegriffs anschließt.

Daß nichtdoktrinäre Philosophie nichts mit der Postmoderne zu tun hat (die es dann, wenn sie in der Abwesenheit großer Erzählungen besteht, nie gegeben hat), kann man daran sehen, daß sie bereits in der intellektuellen Konstellation existierte, die überhaupt erst zur Geburt der explanatorischen Wissenschaften und der behauptenden Philosophie in Europa geführt hat. Ich meine die Konstellation, die zwischen Sokrates und seinen geistigen Vorläufern bestand. Sokrates ist die erste uns überlieferte philosophische Figur, die ihre Gesprächspartner zur semantischen Verantwortung und Autonomie zu erziehen versuchte, indem er sie fragte, was sie mit einem bestimmten Begriff eigentlich meinen, ob sie sehen, welche Konsequenzen eine solche Begriffsverwendung habe, usw.

44Sokrates ist deshalb zuerst zu betrachten. Danach geht es um das Behaupten und die damit verbundenen sehr viel komplexeren Themen wie Subjektivität, abweichendes Sprechen und die Möglichkeit von philosophischen Theorien. Es schließen sich Überlegungen zur Erziehung an, die sich an John Dewey und dem Gedanken orientieren, daß Erziehungsprozesse Menschen bestimmte Formen des Reagierens auf die Welt nahelegen, von denen das Behaupten nur eine ist. Wie können Menschen erzogen werden, die dazu in der Lage sind, Neues über die Welt zu behaupten oder gar nicht mehr behaupten müssen, sondern von der Welt erzählen und die Verhältnisse auf ihr kritisieren können? Wenn man bei dieser Frage angekommen ist, muß das Verhältnis von Kritik und Erzählung und von Behauptung und Erzählung geklärt werden. Den Abschluß bildet eine Betrachtung über die schon angedeutete Utopie des nichtdoktrinären Philosophierens: das Schweigen, das auch in der Literatur von großer Bedeutung ist.

452 Maieutische und akademische Philosophie

Behaupten ist in der Philosophie schon früh zu einem Problem geworden. Es ist zwar kaum zu entscheiden, wie die als »vorsokratisch« bezeichneten Sprüche, als sie zum ersten Mal geäußert wurden, gemeint waren. Doch Texte wie diese sind als Behauptungen deutbar: »Aus welchen die seienden Dinge ihr Entstehen haben, dorthin findet ihr Vergehen statt […].«1 Und: »Die gegebene schöne Ordnung aller Dinge, dieselbe in allem, ist nicht von einem der Götter geschaffen worden, sondern sie war immer und wird immer sein: Feuer, ewig lebendig, nach Massen entflammend und nach [denselben] Massen erlöschend.«2 Hier scheint behauptet zu werden, daß die Entstehungsbedingungen der Dinge auch für ihren Untergang sorgen und daß die Welt weder geschaffen worden noch entstanden ist, sondern einen ewigen Prozeß darstellt. Stuft man solche Texte als Anfang des rationalen Denkens und Erklärens ein und betrachtet Denken und Erklären wiederum als ein Verfahren der Begründung von Behauptungen, dann haben Thales und Anaximander, Heraklit und Parmenides tatsächlich etwas behauptet und versucht, es zu begründen.3 Sie haben vielleicht auch schon danach gestrebt, auf 46der Grundlage ihrer Behauptungen und Begründungen etwas zu erklären. Insofern stehen sie am Anfang eines Prozesses, der zunächst als der der Entwicklung philosophischer Lehren bekannt wurde und heute vor allem der des Fortschritts der Forschung und erklärenden Wissenschaften ist.

Auch Sokrates behauptet in den Platonischen Dialogen einiges und begegnet vielen, die Behauptungen aufstellen. Nach der Selbsteinschätzung, die Platon ihm im Theaitetos in den Mund legt, ist er selbst jedoch gar kein Behauptender im Sinne eines Vertreters einer Lehre, sondern nur einer, der denjenigen, die etwas behaupten, zur Seite steht, ihre Behauptungen untersucht und prüft. Mit der bekannten Metapher der Geburtshilfe charakterisiert er seine eigene intellektuelle Tätigkeit so: »[I]ch gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht […]. Daher bin ich selbst keineswegs etwa weise, habe auch nichts dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen Seele.«4 Sokrates sieht seine Aufgabe nicht im Aufstellen von Behauptungen, sondern darin, »zu prüfen, ob die Seele des Jünglings Mißgestaltetes und Falsches zu gebären im 47Begriff ist; oder Gebildetes und Echtes.«5 Er stellt Behauptungen in Frage, ohne sie durch vermeintlich bessere zu ersetzen. Zwar wird häufig gesagt, daß die Explikation (oder gar Definition) des Wissens als wahre begründete Meinung auf Sokrates im Theaitetos zurückgehe. Doch am Ende dieses Dialogs heißt es: »Und das ist doch auf alle Weise einfältig, denen, welche Erkenntnis [epistemen] suchen, zu sagen, sie sei richtige Vorstellung, verbunden mit Erkenntnis, gleichviel ob des Unterschiedes oder sonst etwas anderen. Weder also die Wahrnehmung [aisthesis],[…] noch die mit der richtigen Vorstellung verbundene Erklärung [met’ alethous doxes logos] kann Erkenntnis sein.«6 Sokrates hat alle möglichen Behauptungen über die Erkenntnis oder das Wissen aus der Seele des Theaitetos als Hebammenkünstler des Denkens »zur Welt gebracht« und geprüft. Sie haben sich allesamt als geistige Mißgeburten, als nicht überlebensfähig erwiesen.7 Trotzdem ist die Unterredung nicht gescheitert. Denn Theaitetos hat nichts mehr über die Erkenntnis zu sagen, geht nicht mehr »schwanger« mit Behauptungen, hat keine Wehen mehr. Das Aufhören des Behauptens scheint also auch ein Ergebnis des philosophischen Denkens und Unterredens sein zu können. Deshalb hält Sokrates keine Vorlesungen und schreibt keine Lehrbücher, obwohl er in manchen Platonischen Dialogen ziemlich lange redet. Er scheint dieses Bedürfnis des Behauptenmüssens schon überwunden zu haben. Das Festhalten an und die Verbreitung von richtigen Behauptungen ist nicht mehr das Ziel des Maieutikers und Erziehers Sokrates.

Sofern die Philosophie sokratisch blieb, unterscheidet sie sich bis heute von dem Projekt der behauptenden und erklärenden Wissenschaften, das die Vorsokratiker (willentlich oder nicht) in Gang gebracht haben. Es ist ungeheuer erfolgreich geworden. Kein anderes Projekt ist bekannt, das bessere Erklärungen liefert als die experimentell vorgehenden Erfahrungswissenschaften. In 48deren Schatten ist diejenige Philosophie, die nicht zur erklärenden Wissenschaft geworden, aber doktrinär geblieben ist, weitgehend in der kulturellen Bedeutungslosigkeit versunken und nur noch eine rein akademische Veranstaltung. Philosophische Erklärungen beziehen sich in der doktrinären Philosophie fast nur noch auf selbstgemachte akademische Fragen. Anders als die Wissenschaft über die Technik und die Wirtschaft erreichen die philosophischen Doktrinen die Lebenswelt von Nichtphilosophen kaum mehr. Die doktrinäre Philosophie ist durch den Erfolg der positiven Wissenschaften entweder explanatorisch überflüssig oder zu einem bloß sekundären Explikationsgeschäft geworden. »Welthaltigkeit« kann sie nur noch durch den akademischen Selbstbezug erzeugen oder: ihre Welt bleibt die der Seminar- und Konferenzräume. Sie verfügt, wie schon Cassirer diagnostiziert hat, nicht mehr über einen theoretischen Rahmen, der sich unabhängig von der Entwicklung der Einzelwissenschaften (oder sie gar begründend) auf die außerakademische Welt in einer belehrenden Weise beziehen könnte.8

Doch seit Sokrates ist die Philosophie ja auch postdoktrinär. Die, die dieses Projekt seitdem verfolgen, treiben seit dem Justizmord an Sokrates als Kritiker der herrschenden Moral, der politischen Ideologien, des religiösen Aberglaubens oder der wissenschaftlichen Weltauffassung ohne Doktrinen das voran, was als das Projekt der europäischen Aufklärung charakterisierbar ist. Sie heißen Pyrrho und Montaigne, Friedrich Schlegel und Lichtenberg, Nietzsche und Wittgenstein, Rorty und Feyerabend. Diese postdoktrinären Philosophen befragen die zentralen kulturellen Projekte auf ihre normativen Konsequenzen hin, decken auf, wann selbstgestellte Ansprüche in ihnen nicht erfüllt werden, wann durch diese Vorhaben Folgen eintreten, die niemand gewollt hat. Die Kritik des Behauptens als solchen und die Kritik an der Verallgemeinerung wissenschaftlicher, religiöser 49und politischer Lehren über die Anwendungsbereiche hinaus, für die sie einmal geschaffen wurden, ist von Sokrates bis in die Gegenwart ein nicht zu ersetzendes philosophisches Geschäft. Es wirft freilich wirtschaftlich nichts ab. Doch als Religions-, Wissenschafts- und allgemeine Kulturkritik betreffen die Fragen der nichtdoktrinären Philosophie auch Nichtphilosophen. Sokratische Fragen an die Neurowissenschaften, ob sie unter »freiem Willen« wirklich das verstehen, was man landläufig darunter versteht, oder an die Politik, ob die Erhöhung des Bruttoinlandproduktes irgend etwas mit Gerechtigkeit und Glück zu tun habe und was die Politik jenseits der Wahlplakate überhaupt unter Gerechtigkeit und Glück versteht, aber auch Fragen an die Erziehungsinstitutionen, zu welchen Erwachsenen sie die Kinder eigentlich erziehen wollen: zu besonders konkurrenzfähigen oder besonders gerechten oder glücklichen Menschen, solche Fragen sind nicht nur in der Universität relevant. Sie überhaupt stellen zu können, macht die Geistesfreiheit der europäischen Zivilisation aus. Die nichtdoktrinäre Philosophie versucht zu verhindern, daß Menschen durch religiösen, politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Dogmatismus unfrei werden.

Der Unterschied zwischen einer philosophischen Lehre und der nichtdoktrinären Philosophie ist daher nicht der zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, obwohl man behaupten kann, daß Sokrates nach den Maßstäben der heutigen philosophischen Disziplinen vor allem ein Moral- und politischer Philosoph gewesen ist. Denn auch in der praktischen Philosophie kann man sich mehr mit der Konstruktion und Verfeinerung von Doktrinen wie etwa des Utilitarismus, der deontologischen Ethik und des moralischen Realismus beschäftigen, um sie dann, in akademisch approbierter Form, »zur Anwendung« zu bringen. Oft tritt dann Erstaunen ein, wenn die so ausgefeilten Lehren nicht auf die erwartete Resonanz in der außeruniversitären Welt stoßen. Auch Platon soll (vielleicht in Reaktion auf Sokrates, wie wir noch sehen werden) selbst eine solche Doktrin, zumindest mündlich, vertreten haben, indem er eine Vorlesung 50über das Gute, die dann eine über das Eine geworden sein soll, gehalten hat, die sich vermeintlich nicht auf gängige Vorstellungen, ja nicht einmal auf seine philosophischen Vorgänger bezogen hat, sondern nur seine eigenen schwer verständlichen Überzeugungen explizierte.9 Alle Besucher philosophischer Tagungen über die gegenwärtige philosophy of mind oder Erkenntnistheorie kennen diese Geschichts- und Weltvergessenheit des doktrinären Philosophierens auch aus der Gegenwart.

Mit den Vorlesungsskripten des Aristoteles etabliert sich dann endgültig eine monographische Darreichungsweise der Philosophie: Ein Text, der Vormeinungen und Behauptungen zu einem Thema sammelt, Argumente und Gegenargumente prüft und kritisiert und dann zu Behauptungen kommt, die, anders als bei der vorsokratischen Sprüchesammlung oder dem Platonischen Dialog, eindeutig dem Verfasser als seine Theorie zuordenbar sind.

Die überlieferten Werke von Thales bis Aristoteles sind, was das Behaupten angeht, als eine Pendelbewegung darstellbar: Von dem als Behaupten deutbaren Äußern teilweise sehr poetischer Sprüche bei den sogenannten Vorsokratikern zu dem oft in der Aporie endenden Infragestellen und Prüfen von Behauptungen in den sokratischen Dialogen und zurück zum systematischen Ordnen von Behauptungen in Zusammenhängen, die man als die Theorien des Aristoteles bezeichnen kann und die dann wieder durch das negative Wissen des Sextus Empiricus in Zweifel gezogen wurden.

Diese Pendelbewegung ist in der europäischen philosophischen Tradition nie zur Ruhe gekommen. Sie ist als Kontrast von traditioneller und kritischer Philosophie bei Horkheimer, als Unterschied von systematischem und therapeutischem Denken bei Hegel und Kierkegaard oder Russell und Wittgenstein, von konstruktivem und skeptischem Denken bei Descartes und Montaigne oder Kant und Hume immer in ihr lebendig geblieben. 51Die Konstellationen zwischen dem Doktrinären und dem Nichtdoktrinären sind vielfältig. Es geht nicht immer um die Kritik philosophischer Lehren durch eine negative (skeptische oder kritische) Philosophie. Da antworten vielmehr auch Lehren auf Lehren (etwa Spinoza auf Descartes oder Hegel auf Schelling), nichtdoktrinäre Philosophien auf ihre nichtdoktrinären Vorgänger (Cavell auf den späten Wittgenstein oder Deleuze auf Nietzsche), Doktrinen auf nichtdoktrinäres Philosophieren (etwa der Heidegger von Sein und Zeit auf Kierkegaards Der Begriff Angst oder Brandom auf den späten Wittgenstein). Aber auch die ursprüngliche Konstellation, die mit den nichtdoktrinären Antworten von Sokrates auf die Lehren des Anaximander oder Heraklit auftrat, wiederholt sich immer wieder in der Geschichte des europäischen Denkens: in Jacobis Reaktion auf Spinoza, Kierkegaards Auseinandersetzung mit Hegel oder Nietzsches Kritik an Schopenhauer. Bei den Reaktionen der nichtdoktrinären Philosophie auf die philosophischen Doktrinen wird nicht selten die Philosophie als ganze in Frage gestellt und, wie bei Jacobi und Kierkegaard, auf die Religion als der eigentlichen Alternative zur vermeintlich nicht haltbaren philosophischen Lehre verwiesen.10

Weil die Verhältnisse derart verwickelt sind, stellen nicht nur Überblicksvorlesungen und Lehrbücher über die Philosophie, sondern auch solche über ihre Geschichte, obwohl sie zuhauf existieren, eine Merkwürdigkeit dar. Tatsächlich läßt sich weder über unbestrittene Lehren der Philosophie in der Gegenwart noch über eine Geschichte der philosophischen Lehren und ihrer Kritiken etwas Allgemeingültiges berichten, weil sich die philosophischen Lehren und die nichtdoktrinären Philosophien in gegenseitigen Abstoßungen und Rezeptionen, bei denen sie jeweils ihre eigenen Geschichten konstruieren, gemein52sam fortentwickeln. Ein irgendwie philosophischer und nicht allein philologischer Bericht über diese Entwicklungen müßte selbst auf sie reagieren, würde in diese Entwicklungen hineingezogen, entweder weil er mit einer eigenen Lehre oder in Abstoßung (Negation) einer Doktrin oder des Doktrinären in der Philosophie überhaupt aufwarten müßte und so Kritik auf sich zöge.11 Überblicke der Physik, Biologie oder Elektrotechnik und ihrer Geschichte funktionieren dagegen ganz anders, weil diese Disziplinen rein doktrinär gestaltet sind und die Fachvertreterinnen meist die Geschichte ihrer Disziplin als eine Fortschrittsbewegung von den falschen zu den wahren Behauptungen sehen.

Lehren und reflektierend tätig sein

Auch nach 2500 Jahren abendländischer Philosophie gibt es keine allgemeingültigen philosophischen Lehren vorzutragen, so wie es gegenwärtig gültige Lehren aus der Physik, etwa die Einsteinsche Gravitationstheorie, die Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie, und in der Biologie die Evolutionstheorie oder Genetik und neuerdings die Epigenetik gibt. Zwar existiert ein Kanon philosophischer Texte