Die Leiden der Lehrer - Eckehard Einsiedel - E-Book

Die Leiden der Lehrer E-Book

Eckehard Einsiedel

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  • Herausgeber: Lehmanns
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Als oder kurz werden Personen bezeichnet, die berufsmäßig anderen Menschen (vornehmlich Kindern und Jugendlichen) im Schuldienst Unterrichterteilen. (Wikipedia,2017). Ja, ja, wenn das so einfach wäre. Nebenbei betreiben die Lehrer auch den Reparaturbetrieb für gesellschaftliche Fehlentwicklungen und müssen alle Ideen umsetzen, die ausnahmslos von ausgewiesenen Fachleuten erarbeitet werden: In der Schule waren schließlich alle. Dass das nicht ohne Einfluss auf die Lehrergesundheit bleiben kann, dürfte niemand ernsthaft wundern. Die Leiden der Lehrer • analysiert Gesundheitsrisiken, • schlägt konkrete Handlungsmöglichkeiten vor, • liefert Hinweise auf notwendige Reformen des Bildungswesens aus psychologischer, medizinischer und pädagogischer Sicht. Für Lehrer, Schulleiter, Kultusbürokraten.

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Seitenzahl: 243

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Eckehard Einsiedel

Die Leiden der Lehrer

Die Leiden der Lehrer

Autor:

Eckehard Einsiedel Mainz

Unter Mitarbeit von:Dr. med. Brigitte Bolte, OffenburgSusanne Emmerich, M.A., DüsseldorfPatrick Herboldsheimer, cand. M.Sc., MainzDipl. Psych. Paul Keller, BayreuthClemens Köstner, M.Sc. Psych., MainzDipl. Psych. Petra Nagel, Bad KreuznachDipl. Psych. Götz Schönefuß, MainzSonderschullehrerin C. Stadie, MünchenDipl. Päd. Silke Stark, AlzeyDoris van der Wal, M.A., Leiden, NLDipl. Päd. Andreas Weick, Alzey

Wir widmen dieses Buch Frau Elisabeth Franziska Gottwald, 22. Juli 1924 - 10. April 2011

1944/45 in Prag „drittreichig-schnell“ seminarisierte Volksschullehrerin

Ende 1945 in der „Tschechei“ inhaftiert

1946 in die deutsche US-Zone abgeschoben, dort Grundschullehrerin

Später Fortbildung zur Realschullehrerin

Dann: Zusatzstudium zur Sonderschullehrerin

Dann: Diplomstudium Psychologie

Danach: Schulpsychologin

Wegen der „68-iger-Unruhen“ eine Universitätslaufbahn nicht begonnen

Später: Schul-Ober-Psychologin

Nach Pensionierung: Psychotherapeutin in eigener Praxis

Frau Gottwald hat alleinerziehend drei Kinder großgezogen, fünf Häuser gebaut, drei Staatsexamina absolviert, sich psychotherapeutisch fortgebildet. Sie war uns viele Jahre Mentorin, Helferin, kritische Fürsprecherin, Lebensfreundin. Sie starb, herzschwach aber geistesstark, am 10. 04. 2011. Sie wird uns ideell weiter begleiten. Sie ist ein Beispiel für das „Geworfensein“ des Menschen und seine weitere Emanzipation. Wir danken ihr.

Für die Verfasser            Eckehard Einsiedel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© Lehmanns Media GmbH, Berlin 2017 Helmholtzstr. 2-9 10587 Berlin Umschlag: Bernhard Bönisch Satz & Layout: LATEX(Zapf Palatino) Volker Thurner, Berlin ISBN 978-3-86541-143-3 www.lehmanns.de

1 Zur Methode

Zu psychosomatisch bedingten körperlichen Schmerzen kann es dann kommen, wenn Erlebnisbelastungen zu groß werden oder auch, wenn spezifische Erwartungen und Hoffnungen nicht erfüllt werden.

Diese Diskrepanz-Probleme sind natürlich nicht die einzigen Risikobereiche für Leiden und Erkrankungen von Lehrern.

„Über die Leiden der Lehrer“ hat schon Melanchthon (De miseriis paedagogorum, 1553) berichtet und diese auf ein Fachleiden des Unterrichtsstandes reduziert. Ansätze über den gesamten "Lehrbetriebßind dagegen derart „vergessenswert“, dass wir sie einleitend tatsächlich vergessen wollen.

Auf dem Weg zur zentralen Problematik unserer Arbeit analogisieren wir die Polarität „Tausend Gefühlchen, aber kein Gefühl“ mit der Rede: Im Bildungsbetrieb erleben wir derzeit „tausend Reförmchen, aber keine Reform“. Für die Diskrepanzen zwischen eigentlichen Bildungsmöglichkeiten und den oft traurigen Schul-Alltags-Realitäten gibt es noch keinen Leitbegriff.

Oft fehlen uns einfach die richtigen Worte. Konkret haben wir zunächst Angst und Zorn. Unsere Arbeit will Alltagsverhältnisse für Lehrer, für deren Schüler, für uns und unsere Gesellschaft erkunden, benennen, zu erklären versuchen. Wir wollen danach Machbarkeiten für konkrete Hilfen vorschlagen.

Kritik hat mit der Reflexion eigener Vorstellungen zu beginnen. Da wollen wir einräumen, dass manche Menschen in ihrem Reformeifer so viel reden, dass von ihnen die Rede geht: „Wenn der einmal stirbt, muss man sein Maul extra totschlagen.“

Gehobenere Lebenslagen trifft der Starkspruch Goethes: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide“.

Ja, manchmal „ … verschlägt es uns die Sprache“, oder wir „ … verstummen vor Leid“.

Im Versuch, weithin bekannte Lehrerleid-Sachverhalte kurz zu kennzeichnen, haben wir gelegentlich den Hinweis:

„Ja, ja, die Lehrer“ …

nachgestellt.

Nach unserem jeweiligen Denkanstoß, wollen dann Sie, liebe Leser*in, zum angesprochenen Problem weiter assoziieren, wenn Sie dies denn wollen.

Bei unseren „Leiden der Lehrer“ geht es zudem über die Möglichkeiten einer Linienlehrer*in hinaus. Wir halten da den Clausewitz-Hinweis „Der Krieg ist zu ernst, um ihn den Generalen zu überlassen“, durchaus für übertragbar.

Wenn wir andererseits den Faktenwust gesellschaftlicher Mitbedingungen „der Lehrerei“ ebenfalls nicht detailliert aufführen können, schreiben wir noch kürzer:

„Ja, ja“ ...

Schließlich meinte schon der römische Satiriker Juvenal, dass es bei bestimmten Vorkommnissen „schwierig“ sei, „eine Satire nicht zu schreiben“. Wir können einige – manchmal tatsächlich nur mit Humor zu ertragende – Widersinnigkeiten unserer Bildungssysteme zumeist nicht so hintersinnig gestalten, wie es eigentlich angebracht wäre. Neben Talent fehlen uns dazu auch Zeit und Raum. Unser Schmunzeln kürzen wir dann auf ein:

„Ha, ha“ ...

Mit unseren Anfangsseufzern wollen wir

an Bekanntes erinnern,

übliche Vorurteile ansprechen,

Ihre Lese- und Lernlust triggern,

Gedankenverbindungen anregen.

Diese Stilelemente, wie auch einige prägnante Thesen sollen Etappen auf dem Weg zu unseren Reformvorschlägen des Bildungssystems kennzeichnen.

Mit dem Reizwort die „Leiden der Lehrer" signieren wir zunächst Missverhältnisse unserer Bildungs- und Schulsysteme. Unsere Vorschläge, diesen Leiden abzuhelfen, führen in eine neue Welt des Lernens, in eine neue Welt des Lehrens und in eine neue Welt menschlicherer Zukunftshoffnungen.

Viele unserer Vorschläge hast Du latent bereits „drauf". Du hast sie in Dir. Wir bitten Dich deshalb, liebe Leser*in, „da“ nicht nur mitzudenken, sondern auch mitzuwirken. Teilen Sie uns Ihre Überlegungen, auch Ihre spezifischen Verbesserungsvorschläge mit.

1.1 Ausgangslage

Corinna Stadie hat in einer Untersuchung zu beispielsweise Arbeitszufriedenheit, Arbeitsmotivation, zu spezifischen Belastungen in der Schule, zu „Burnout“ und psychosomatischen Erkrankungen bei Sonderschullehrern aufgewiesen, dass ein Großteil dieser Berufsgruppe durch ihre Alltagsberufstätigkeit erheblich gestresst und oft auch therapiebedürftig wird.

Zunächst ist für einleitende Übersichtszwecke zu dieser Stadie-Studie festzuhalten, dass auch zusätzlich und speziell ausgebildete Lehrer in kleinen Klassen in ihrer normalen Alltagsberufsarbeit oft zu stark belastet und sogar krank werden können.

Ein ganzer Berufsstand wird insofern nicht nur „schicksalhaft", beispielsweise altersbedingt, sondern arbeitsstellenbedingt krank.

Pressenotiz vom 07.12.2011: „Rund 19.600 verbeamtete Lehrer wurden 2010 in Deutschland in den Ruhestand versetzt, 5,6% mehr als im Vorjahr. Der Anteil der Lehrer, die wegen Dienstunfähigkeit in Pension gingen, sank 2010 leicht auf rund 21%. Das Durchschnittsalter lag hier bei 58,2 Jahren, die Pensionsgrenze beträgt 65 Jahre“ (Statistisches Bundesamt).

Besonders erschreckend ist der Umstand, dass sich in der krankmachenden Musterverteilung keine Altersabhängigkeiten ergeben. Schon viele junge, beruflich noch nicht desillusionierte Lehrer zeigen „bereits gleich hohe Risikoanteile wie die Älteren.“

Fürs erste bleibt der resignative Hinweis:

Ja, ja, die Lehrer ...

1.2 Weitere Provokationen

Nicht nur die Schüler, auch die Lehrer sind demnach bei der Untersuchung der Missstände unseres Schul- und Ausbildungswesens relevante Zielgruppen.

Herabsetzende Bemerkungen, wie beispielsweise:

Lehrer sind ja eigentlich nur Halbtagsbeschäftigte,

Lehrer haben morgens Recht und nachmittags frei,

Lehrer fliehen ihre Fach-Arbeit,

Lehrer stellen die größte Berufsgruppe der Parlamentsmandatsträger,

kennzeichnen wohl auch gegenaggressive Tendenzen. Die Alltagswirklichkeit der Lehrer ist anders. Viele Lehrer werden selbst auffällig. Viele sind ungeeignet, jedoch größtenteils nicht in dem Sinne, wie ihre Kritiker meinen. Viele resignieren, viele werden krank.

Aber: wird „da“ nicht zu einseitig nach Gründen gesucht? „Wer bei bestimmten Problemen den Verstand nicht verliert, hat keinen zu verlieren“ (Lessing). Wir fragen einfach mal frech: Sind „da“ die Lehrer wirklich die Hauptbetroffenen? Oder kennt der (Bildungs-) Wind auch noch andere (Wetter-) Löcher?

Unter anderem sind „da“ beispielsweise Arbeitsüberlastungen, ein übertriebener Bildungsföderalismus, Überbetonung von nur so genannten, jedoch eigentlich nie gegebenen Chancengleichheiten, Inklusion, Druckmachereien, bürokratische Einengungen, Fachaufsichtsüberheblichkeiten und so weiter  einzubeziehen. Zur Kennzeichnung unseres skandalös organisierten Bildungssystems erinnern wir hier im Weiteren nur an das noch weit verbreitete „Kommunikationsverbot“ zwischen den ja „riesigen“ Länder-Kultusministerien unseres kleinen Landes.

Ha, ha …

Das Volk der Dichter und Denker muss (wieder einmal) mit dem ABC der Bildung anfangen.

Denken wir nur mal an das „M“ im ABC. Und nennen wir da: Miesmacher, Migrantenproblematik, Missbrauchssymptomatiken, Mobbing, Modephilosophen, Monsterlehrer, Multitasking …

Das sagen wir hier einfach mal „in den Wind“. Mehr können wir uns alle dann ja noch denken  …

Ja, ja, die Lehrer …

1.3 Einige Symptomatiken

Bei diesen „Leiden der Lehrer“ meinen wir im Übrigen nicht nur Alltags-Belastungen, wie z. B. Nervosität, Unlust, Stimmungskrisen, Fahrigkeit, Vergesslichkeit, zwischenzeitliche Erschöpfungen, akute Stress- und Versagensängste.

Nein, beispielsweise fördern krankmachende Diskrepanzen, wie berufliche Fehlplatzierung, Selbstausbeutung, Unterrichts-, Verwaltungs-, Anweisungs-Stressoren die persönliche Resignation. Die erhöhte Anfälligkeit für Burnout, für depressive Verstimmungen, für psychosomatische Erkrankungen, für das hochanteilig vorzeitige berufliche Verstummen der Lehrer, hat diagnostisch nicht immer linearkausal erfassbare Gründe. Überdauernde schulsystemspezifische Diskrepanzen und Missstände sind oft akut nicht erkennbar, jedoch relevant. Vorab sagen wir frei nach Brecht: „Selbst wenn alle Lehrer gut wären, sind es doch unsere Schulverhältnisse nicht.“

Die auf die Schule und ihre Lehrer zentrierenden Aspekte der öffentlichen Bildung, beispielsweise deren „staatshoheitsrechtliche Burgenmentalität“, sind abzuklären; zunächst für die Bildungsmacher, die Lehrer. Darüber hinaus müsste die Institution Schule vor allem:

entwicklungsdynamische,

persönliche,

familiäre,

soziale,

gruppendynamische,

jeweils im Unterricht konkret situative

Verhältnisse ihrer Schüler und eben auch ihrer Lehrer endlich angemessen berücksichtigen und hilfswissenschaftlich untersuchen lassen.

Das Bildungssystem ist derzeit fachintern zu überreguliert.

Die Regelungsgewohnheiten, irgendwelche „Standards“ schulisch anzubieten und den Adressaten gegenüber nach dem Motto zu verfahren: „Friss es, Schüler, oder bleib sitzen“ und/oder: „Friss es, oder geh in eine andere, niveauniedrigere Schule“ und/oder: „Friss es, oder ergreife einen Beruf“, ist eigentlich ungeheuerlich.

Wie reformbedürftig diese derzeitige schulische Alltagspraxis ist, verdeutlichen wir vorerst mit dem ärztlichen Grundsatz: „Keine Therapie ohne Diagnose“! Der Linienlehrer macht fast nie eine ernsthaft so zu bezeichnende Diagnostik. Er hat einen „Lehrplan“, und er hat natürlich einen „Eindruck“. Darauf verlässt er sich dann, oder muss er sich verlassen, dieser eigentlich insofern von vielen guten Geistern Verlassene.

Beispielsweise ist der Fakt, das weitere Schulniveau eines auffälligen Kindes in der Regel sehr spät „sonderpädagogisch" abklären zu lassen, ein bezeichnender Hinweis für diesen Skandal. Ein Kind muss erst im Alltagsbetrieb scheitern. Vor einer Verschulungsänderung haben ja auch Lehrer oft erhebliche Hemmungen. Sie müssten dann ja auch das Scheitern eines Kindes persönlichkeitsspezifisch, familiär, sozial, schulleistungsmäßig beschreiben und nachprüfbar machen. Das können sie aber nicht. Sie warten auch deshalb zu oft ab, bis die Lage des Kindes tatsächlich unerträglich geworden ist. Auch die seit einigen Jahren propagierte, jedoch noch immer nicht hinreichend realisierte, „Inklusion“ Behinderter bietet noch keine hinreichende Lösung für alle Beteiligten. „Inklusion“ in Regelschulen wird gefordert und seither (meist unzureichend) versucht, aber das „Regelschulsystem“ selbst bleibt (föderalistisch, leistungsdifferentiell) übertrieben überspezialisiert.

Eine Pressenotiz (volksfreund.de, 2009):

„Eltern hadern mit dem Bildungssystem. […] Zu diesen Ergebnissen kommt eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Zeitschrift „Eltern". […]

Was hat für die Eltern politisch Priorität? Das Thema Bildung ist für deutsche Eltern wichtiger als alles andere. 81 Prozent wünschen sich von der Politik eine Verbesserung des Schulsystems. […]

Was stört die Eltern am föderalen Bildungssystem? Die heillose Zersplitterung. Eltern halten es für unerträglich, sich etwa beim Umzug von einem Bundesland ins andere auf neue Schulformen und Lehrpläne für ihre Sprösslinge einstellen zu müssen. 91 Prozent, also fast alle, stimmen der These zu, das Bildungssystem bundesweit zu vereinheitlichen und gleiche Anforderungen für die Kinder zu schaffen. Im Klartext: Das föderale System muss weg. 64 Prozent meinen, die Kinder müssten länger zusammen lernen anstatt frühzeitig in verschiedene Schulformen aufgeteilt zu werden.

Was wünschen sich Eltern zur Entlastung? Statt direkter Zahlungen an die einzelnen Familien sollte das Geld nach dem Willen von 66 Prozent der Befragten lieber in Bildung und Betreuung investiert werden. Von den Anhängern der SPD sagen das sogar 73 Prozent. Bei der Union sind es dagegen nur 62 Prozent und bei der Linkspartei 60 Prozent. Geht es um den eigenen Geldbeutel, wünschen sich 35 Prozent eine Kindergrundsicherung von 300 bis 400 Euro. 25 Prozent favorisieren höhere steuerliche Freibeträge.“

Ja, ja ...

Ha, ha...

2 Warum werden Lehrer Lehrer?

Aus dem frühen, vorberuflichen Motivationsbündel der späteren Berufsentscheidung, Lehrer zu werden, zunächst ein paar lernpsychologische Gesetzmäßigkeiten: Wir kommen vor allem auf solche Lebenssituationen zurück, die unerledigt blieben oder die als besonders herausgehoben, als „prägend“ erlebt wurden. Wir können auf solche Erlebnisse festgelegt werden, weil wir beispielsweise entweder besondere Misserfolge, merkliche Verhaltenskorrekturen, beeindruckende Beschämungen, oder weil wir nach (subjektiv) eindrucksvollen Spitzenleistungen ein besonderes Lob, besondere Auszeichnungen erfuhren.

Auf die spätere Lehrer-Rolle bezogen, bedeutet dieser Befund, dass der übliche Lehrer zunächst nicht der „Dumme“ ist. Er ist es eigentlich nicht, aber dann irgendwie doch. Er ist zunächst in aller Regel kein Fachwissenschaftler.

Siegfried Lenz, hier als Beispiel für eine Vielzahl von Betroffenen, war ein Lehrer. Er wird jedoch inzwischen längst geistesgeschichtlich und gesellschaftlich als Schriftsteller definiert. Heidemarie Wieczorek-Zeul fing ebenfalls als Lehrerin an. Sie war inzwischen als Politikerin, als Expertin für die Probleme der „Dritten Welt“ ausgewiesen. Sigmar Gabriel, der nach für die SPD sehr verlustreichen Bundestagswahlen zum Vorsitzenden der SPD gewählt wurde, war früher ja auch Lehrer.

2.1 Standespolitische Verengungen

Vorstehende Hinweise entspringen Momenteinfällen. Sie könnten mit vielen weiteren Beispielen seitenfüllend fortgesetzt werden. Wir tun dies nicht. Wir wollen damit lediglich verdeutlichen, dass seither keinerlei definierte oder gar wissenschaftlich begründete Koordinationsmaßnahmen bestehen. Der häufige persönliche Motivationswildwuchs zur Entscheidung, Lehrer zu werden, wurde in unserem Land nie repräsentativ erforscht. Er konnte schon deshalb für das gesamtgesellschaftliche Ökosystem nicht nutzbar gemacht werden.

Vergleichsweise beginnt Psychotherapie mit der Therapie der zukünftigen Therapeuten. Und: für fast jeden Ausbildungsberuf gibt es heute Eignungsuntersuchungen, Anforderungsprofile, Assessmentcenter, Einstellungsvoraussetzungen. Dagegen haben Gymnasiallehrer in der Regel einfach mal mit einem Fachstudium angefangen. Später satteln dann viele „auf Lehrer“ um.

Auch für Grundschul- oder Realschullehrer gibt es in Deutschland kein wissenschaftlich reflektiertes Auswahlverfahren. Es besteht nicht einmal ein Plan dafür. Aber aus dem Unterrichtsstress beurlaubte Standesvertreter, also eigentlich Fachflüchtige, die haben die Zeit, uns mit alten Standesdünkeln zu überschütten. Die Gesellschaft wird derart desinformiert, auf Standesfragen, Schuldifferenzierungen, Bildungsstandards sozusagen „festgeschrieben“. Auch von daher werden fachinterne und wissenschaftlich begründete Reformen des Bildungsgeschehens behindert.

Wir sehen hier den Einfluss starker Berufsverbände auf unsere Lebensabläufe. Philologen sind beispielsweise berufspolitisch wenig daran interessiert, neben dem Gymnasial-Abschluss-Zugang zum Universitätsstudium auch weitere Wege zu erproben.

Wir enthalten uns einer langen Kommentierung dieser (Über-) Betonung von Standesprivilegien.

2.2 Überakzentuierungen

Die Krankheit des Systems wird nicht kuriert. Aber an den Symptomen wird eifrig herumdoziert. So lehren Fachlehrer an Gymnasien beispielsweise entsprechende schuldidaktisch modifizierte Spezialwissenschaften. Sie sind jedoch beispielsweise keine Anglisten, Biologen, Chemiker, Geologen, Germanisten, Mathematiker, Physiker, Politologen, Romanisten, Sozialwissenschaftler.

Wie Lehrer in der Grundschule das ABC und das Schreiben lehren, jedoch nicht die Schrift erfunden haben, so lehren alle Lehrer in ihren Schulen durchgängig Jüngeren, Abhängigen, zumeist nicht primär am Lehrstoff Interessierten, was lehrplanmäßig vorgegeben ist. Bei diesen Vorgaben sind weniger fachwissenschaftliche Inhalte als entsprechende „Curricula“ entscheidend.

Diese Beschreibung stellt zwar eine verkürzte Herleitung dar. Sie überzeichnet auch einige Gedanken. Und ein bisschen gemein ist die These von der „Mittelmäßigkeit des mittleren Lehrers“ auch. Aber diese Überzeichnung haben wir beabsichtigt. Wir wollen insofern auch emotionalisieren, damit endlich ein Handlungsbedürfnis für etwas Besseres entsteht.

Sagen wir es deutlich: Die Physiklehrer*in braucht ja keine Spitzenphysiker*in zu sein. Sie sollte diesen Umstand in ihrem Berufsalltag jedoch konkret umsetzen und sich darauf konzentrieren, Spitzenleistungen bei der Vermittlung physikalischer Probleme für Schüler unterschiedlicher Entwicklungs- und Ausbildungsniveaus zu erzielen. Ihren (ja, auch ihren Besoldungs-) Rang sollte sie demnach nicht von ihrem Kenntnisrang „in Physik“ zugemessen bekommen. Viel wichtiger sind „da“ ihre Fähigkeiten zur Wissensvermittlung in unterschiedlichen Klassen, bei Schülern unterschiedlicher Entwicklungsstadien, in zudem situativ höchst unterschiedlichen „Interessenslagen“.

Wir könnten die nicht einmal primär lehrerbedingten Missverhältnisse in unseren Schulen viel drastischer kennzeichnen. Wir beschränken uns auf ein paar vornehme Hinweise. Wenn Lehrer ihre Fächer wissenschaftlich betreiben würden, wären sie auch offener für Fachveränderungen. Fachwissenschaftler wissen, dass sich das Wissen in ihren Disziplinen neuestens etwa in einem Fünf-Jahres-Turnus verdoppelt.

Dazu einige „Pilot-Thesen“. Wir können humane, soziale und damit auch unterrichtliche Ereignisse wissenschaftlich nur rational untersuchen. Hier ist der gerichtsjuristische Grundsatz, menschlich oft sehr grenzwertige, auch abartige, „monströse“ Normabweichungen in der Gerichtsverhandlung ohne „Zorn und Eifer“ zu betrachten, auf der Suche nach Wahrheit eine sehr sinnvolle Annäherung.

Wir dürfen jedoch beim entgegengesetzten Ziel, ein Verhalten nicht zu beurteilen oder zu verurteilen, sondern es zu verstehen, nicht meinen, dass unsere wissenschaftlich gesicherten Untersuchungsmethoden zu einer „deckungsgleichen“ Abklärung der Untersuchungsinhalte führen.

Albert Wellek warnte nachdrücklich davor, den wissenschaftlichen Untersuchungs-Rationalismus mit einem bei „menschlichen Verhältnissen“ regelmäßig gegebenen emotional-affektiv unterbauten inhaltlichen Irrationalismus zu verwechseln. Jeder sagt, dass dies ja bekannt sei. Wenn aber „blaue Briefe“, Nachsitzen, Schulbesuchsfreistellungen als Strafe, wenn Notengebungen, Sitzenbleiben, Schulverweise „verordnet“ werden, wird auch heutzutage kontrovers zu diesen Einsichten gehandelt.

2.3 (Über-)Bürokratisierung

Forschungsfortschritte können inhaltlich nicht festgelegt werden. „Bildungspläne“ werden jedoch fachorganisatorisch durchaus für relativ lange Zeiträume fortgeschrieben. Für oft sehr dringliche, akut notwendige Änderungen sind allein die „Dienstwege“ zu lang. Dies wird wiederum schon von den aufgeblähten Schulorganisationen mitverursacht.

Denken wir auch daran, dass irgendwelche Bildungsstandards derzeit durchaus sehr scharfsinnig in internationalen Untersuchungen überprüft und verglichen werden.

In diesen Vergleichsstudien werden, wie analog in Fußballtabellen oder wie in der „Deutschland-sucht-den-Superstar“-Fernsehschau, Rangreihen quantifiziert. Es kann ein „Aufstieg“ oder aber auch ein „Abstieg“ bzw. ein „Ausscheiden“, ein „Rausschmiss“ erfolgen. Gerade auch diese Quantifizierung, diese Einengung auf Rangplätze, auf ein „Entweder-Oder“, fördern das Publikumsinteresse für solche Veranstaltungen oder Sendungen.

2.4 Simplifizierungen

Vereinfachungen steigern insofern ihre allgemeine Attraktivität. Sehr komplexe Sachverhalte werden damit „auf den Punkt“ gebracht. Dieses Verhalten wird von der gestaltpsychologisch fundierten Prägnanztendenz her verständlich. Ihr durchaus großer, aber eben nicht alles umfassender Stellenwert zur Erklärung eines Verhaltens sollte jedoch reflektiert und nicht nur einfach „übernommen“ werden. Und im „Erfolgsfalle“ sollten solche Fragmentierungen nicht einfach „gefeiert“ werden. Subjektive Plausibilität genügt längst nicht mehr. Als „Gebildete" sind wir inzwischen in der Lage, jeweils zu fragen, „was“ wir „da“ „warum“ feiern. Auch hier kommt es auf die Rahmenbedingungen der Inhalte, auf ihren gesellschaftlichen und ideologischen Hintergrund, auf ihre „systemischen Vernetzungen“ an.

Schul- und Lebensschicksale sind zudem sehr viel komplexer als Sporttabellen oder Fernsehshows. Wir wollen uns darüber hinaus auch klar machen, dass hochdifferenzierte und vielschichtige Wirklichkeiten nicht auf bloße Strafbeurteilungen, auf Notengebungen, auf Verwaltungsakte wie Sitzenbleiben oder Schulniveauwechsel oder auf Vergleichsstudienrangplätze einzuengen sind.

Zu weiteren Aspekten des gleichen Geschehens gestatten wir uns den Nebenhinweis, dass die Sau allein durch das dauernde Wiegen oder durch den Vergleich mit anderen Säuen nicht „gewichtiger“ wird. Nochmals: wissenschaftliche Reflexion ist  angebracht. Aber im konkreten Schulalltag, im Erleben unserer Schüler, wird diese nüchterne Sachangemessenheit zur sachunangemessenen Einengung, wenn der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Distanz und Gefühlserleben nicht gesehen wird.

Denken wir an die alte Rede von der „normgebenden Funktion der Zahl“. Sachverhalte werden derart schnell wahrgenommen, gespeichert, weiterverarbeitet. Und da macht es sich gut, wenn beispielsweise Bayern oder Oberunterdorfstadt bei der neuesten Pisa-Studie zwei (oder waren es sogar fünf?) Plätze „aufgestiegen“ sind.

Wir schämen uns fast, zur Kritik dieser Reduktion komplexer Wirklichkeiten auf irgendwelche Ranglistenplätze Albert Einstein zu bemühen: „Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher“.

2.5 Weitere Seitenhiebe

Über die Verschiebung auf die Überprüfbarkeit von Bildungs-„Ergebnissen“ geraten „Inhalte“ der Bildung zu sehr aus dem Blick.

Von einem Reformelan ist nur sehr wenig zu spüren. Vereinzelte konstruktive Ansätze kommen zumeist von „unten“. Viele sind kreativ, oft sehr schön, beispielgebend motivierend und zukunftsweisend. Aber sie haben die allgemeine Schulwirklichkeit, vor allem das offensichtlich überkonföderalisierte „Weisungssystem“ des Linienlehrer-Alltags, noch längst nicht erreicht.

Ein „Teufelskreis“, nicht nur im Gefolge der PISA-Studien, ist offensichtlich. Missstände werden nun häufiger beschworen. Sie werden aber seither nicht, vor allem nicht generell, tatsächlich problemangemessen behandelt.

Wir haben zur Verdeutlichung schulerzieherischer Missstände auf eine formal vergleichbare Analogie aus der Medizin bereits hingewiesen: „Keine Therapie ohne Diagnose“. Wir dürfen in vorliegendem Zusammenhang sehr eindringlich darauf verweisen, dass in der Heilkunde auch die Folgenotwendigkeit: „keine Diagnose ohne angemessene Behandlung“ gesetzlich festgelegt ist.

Im Bildungswesen sind dagegen vor allem irgendwelche „Bildungsstandards“ dabei, sich sozusagen gestaltdynamisch zu verselbstständigen. Auch da werden wir mit der Perversionsgefahr linearer Fachfortschritte konfrontiert. Die „Tina-Thatcher-Rede“: „there is no alternative" ist ein Erscheinungsbild, dem eine solche Einengung komplexer Sachverhalte zugrunde liegt.

Mittlerweile können (ursprünglich auch sozialisationspädagogisch hoch engagierte) Lehrer nicht verhindern, dass der ursprünglich wissbegierige, bildungsoffene, dann aber schulpflichtige und immer mehr irgendwelchen fremdbestimmten „Forderungen“ konfrontierte Schüler, bezüglich seiner emotionalen und sozialen Lebensgrundbedürfnisse vernachlässigt wird. „Wirtschaftlich bedeutsam sind die großtechnisch umgesetzten Erfindungen der letzten fünf Jahre. Frühere Lösungswege und Leistungen können wir insofern vergessen. Sie werden wirtschaftlich für das Bruttosozialprodukt eines modernen Staates schnell irrelevant“, doziert (sinngemäß) ein Betriebswirtschaftler. Zwischenruf eines Zuhörers: „Recht so, recht so! Vor allem Kinderzeugen und Gebären können wir ja dann, weil methodisch ganz alt, vollständig vergessen!“

Wir wollen damit nicht nur „witzeln“. Wir wollen vor allem daran erinnern, dass der Mensch als Adressat von Ausbildung und Bildung einerseits und Mitgestalter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Leistung andererseits, bezüglich seiner primären Bedürfnisse nicht vergessen werden darf. Hier gilt eindeutig ein hierarchisches Prinzip, d.h. die Beachtung der unterschiedlichen Wichtigkeit – jeweils für sich genommen – wichtiger Vorhaben.

Wird die Diskrepanz zwischen dem „Sein“ und einem „Sollen“ zu groß, entstehen Abneigung, Widerwillen, Unlust und Schlimmeres, wie beispielsweise psychosomatische Erkrankungen.

Denken wir bei allen – sehr wichtigen – Leistungszielen unserer Gesellschaft doch endlich auch an das jeweils „Noch-Wichtigere“. Dieses „Noch-Wichtigere“ ist zeitlich und sachlich vor einem „Wichtigen“ zu beachten, wobei diese Bedingungsfolge zudem das „Wichtige“ nicht hemmt. Eine existentielle Zielhierarchie fördert auf relative Dauer gesehen dann auch ein „Nachwichtiges“, wenn die Relevanz der Bedingungsfolge nicht einfach übergangen wird. Dass die „Natur nicht springt“ ist keine These. Es ist ein Fakt. Ich kann nicht nur „Output-Kirschen“ fordern. Ich darf auch das vorlaufende Gedeihen, Wachsen, Blühen, Knospen der Frucht fördern, damit ...

Zum derzeit üblichen „Herumirren“ in den Bildungsanstrengungen unserer Gesellschaft ein weiteres Beispiel: Wenn eine „Inklusion“ Behinderter in Regelschulen sinnvoll ist, – und sie ist sehr sinnvoll (!) – warum werden dann beispielsweise Hauptschüler nicht wie Gymnasiasten, Realschüler nicht wie Sonderschüler und Gymnasiasten nicht wie Realschüler inkludiert, das heißt gemeinsam unterrichtet?

Diese nicht nur satirische Nachdenklichkeit wird noch nicht einmal „gesehen“. Wiederum ein Beispiel „dafür“: In Hamburg (2010) wurde über ein juristisch gestartetes „Volksbegehren“ die von allen Fachgremien befürwortete und politisch bereits beschlossene Differenzierung von Grundschülern in „weiterführende Schulen“ nach einem sechsjährigen (statt wie derzeit üblich vierjährigen) gemeinsamen Unterricht gestoppt. Es kam zu einem Regierungswechsel.

Nicht nur den „Hamburgern“, sondern uns allen sozusagen „ins Stammbuch“: Wenn Politiker je nach „günstig“ erscheinenden Wählerstimmungen mit unseren Schulsystemen „spielen“ können, warum dürfen dann Kinder in unseren Schulen nicht auch „spielen“, sich „frei spielen“, um dann „primär motiviert“ und kreativ, wie sie als Menschenkinder von Natur aus sind, weiter zu lernen?

3 Die Krankheit hinter den Symptomen

Eine durchaus oft berechtigte Kritik an bestimmten Lehrern trifft ja auch längst nicht mehr den Kern der Missstände. Die übliche Lehrerhäme würde sogar von den unabdingbar notwendigen Reformen in unserem Schul- und Bildungswesen ablenken. Dass es so wie seither in unseren Schulen nicht weiter gehen kann, erfährt, ja erleidet, fast jedes Kind.

Dies müssten Regierungen, Kultusminister, Wissenschaftstheoretiker, Hochschullehrer, Schulverwaltungen eigentlich längst wissen. Aber: „Der Berg kreißt und gebiert“ seither noch nicht einmal „eine Maus“, sondern weitgehend nur Spitzfindigkeiten.

Es gibt viele, eigentlich längst schon zu viele, den Linienlehrern vorgesetzte Fach-Hähne. Diese Fach-Hähne krähen immer wieder laut von ihrem Fach-Haufen herunter.

Dabei heißt es doch schon im Volksmund: „Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist“. Das Fach-Gekrähe der Bildungstheoretiker und vor allem der Bildungsbürokraten hat einen angemessenen Einfluss auf die tatsächliche Großwetterlage unseres Bildungsnotstandes längst verloren.

Wir wissen inzwischen ohne den Hahn, wann der Tag beginnt. Wir wissen, was die Stunde geschlagen hat! Es reicht nicht mehr, mit den seitherigen Pseudo-Reformbemühungen einfach fortzufahren, einfach „so“ weiter zu machen, nur etwas „schneller“, etwas „kontrollierter“, etwas „überprüfbarer“, aber eben linear so weiter zu machen wie bisher.

Ein „Schneller“ (Beispiel: Verkürzung der Gymnasialzeit), ein „Höher“ (Beispiel: mehr Spitzenuniversitäten), ein „Stärker“ (Beispiel:  schulische Forderei) wird derzeit zu verstärkt gepredigt.

Besonders junge Kinder sind dagegen primär lernmotiviert. Sie wollen durchaus immer wieder weitere Äpfel vom Baum der Erkenntnis pflücken. Aber, dass sie einen „Preis der Erkenntnis“ später zu zahlen haben, dies braucht ihnen nicht ständig angedroht zu werden.

Wenn Zeitungen am Grundschuleintrittstag schreiben, dass nun der „Ernst des Lebens“ beginne, wenn Fünftklässler schon in der Eingangsklasse des Gymnasiums von den Fachlehrern darauf hingewiesen werden, dass ein studienplatzförderlicher Abiturzeugnisdurchschnitt anzustreben sei, oder wenn Migrantenschülern gesagt wird, sie würden später zu einem höheren Prozentsatz als Deutsche der Sozialhilfe zur Last fallen, so ist dies skandalös.

Jeder Mensch will akzeptiert werden. Er will „angenommen“ werden, so, wie er ist. Diese Bindungsakzeptanz befreit und fördert Lern- und Leistungsenergien, macht erst tatsächlich frei.

Die gegenwärtige „Output-Masche“ wird gutgläubig von emotionalen Dürrköpfen in Gang gesetzt. Diese wollen und können (früh-)kindliche Entwicklungsverläufe ebenso nicht wahrnehmen, wie Analphabeten die Schrift nicht entziffern können. Ja, sie sind tatsächlich „alexithym“. Sie können keine Gefühle lesen. Aber Lehrer und Bildungsweggestalter können solche Leute in Deutschland durchaus werden.

Auf die Selbstverständlichkeit, dass der moderne Mensch zum Krebsgeschwür des Seins mutieren kann, können wir hier nur hinweisen. Wir dürfen aber auch daran erinnern, dass diese „maligne Exzellenz“ nur so lange „blühen“ kann, wie der Organismus, in dem das Krebsgeschwür entsteht und wächst, insgesamt noch lebt.

Verwuchert „die Krone der Schöpfung“, der Mensch, seine Welt, wird er bald auch selbst keine angemessenen Lebenschancen mehr haben. Ja, Lehrer, mach’ da mal was, für das eigentliche „Glückskind der Lebensmöglichkeiten“, dem jetzt Gefahr droht, zum Krebsgeschwür der Natur zu werden.

Ja, ja …

4 Die Rahmenbedingungen stimmen nicht mehr

Wird dagegen von Lehrern ein zu großer „Erziehungsdruck“, zudem auch noch zu früh, auf Kinder ausgeübt, fangen Lernblockaden, Schulstress, Schulunlust an. Hier macht sich das Gewitter unseres Sozialisationsklimas mit ersten Donnerwolken bemerkbar.

Und auch dieses Elend wird dann von der Mehrheit der Linienlehrer falsch dimensioniert. Neuestens wehren sich derzeit beispielsweise die Grundschullehrer gegen weitere, sozusagen „von Oben“ angeordnete, „frei“ formulierte Beurteilungen in den Grundschulen.

Den Kleinen soll der Schulanfang erleichtert werden. Und was fällt „den Oberen“ beispielsweise dazu ein? Die Notengebung soll „ersetzt“ werden. Sie soll beispielsweise durch eine individuell gehaltene Beschreibung des Verhaltens, der Einstellung, der Lernfortschritte, der schulischen Einbindung der Grundschüler ersetzt werden.

Lehrer*innen beklagen dann zu Recht, dass sie „auch das noch“ nicht mehr schaffen könnten. „Wir haben einfach keine Zeit, jetzt auch noch kleine Gutachten zu erstellen. Wann sollen wir denn das auch noch machen?“ (häufige persönliche Mitteilungen …)

Aber auf die Idee, diese untauglichen „Kennzeichnungen“ der Schüler ganz zu unterlassen, kommen auch sie nicht. Jeder Fachwissenschaftler weiß, dass eine bloße Notengebung durch solche Kennzeichnungen nicht „verbessert“ wird. Zudem wird ja konkret noch nicht einmal subjektiv „frei“ beschrieben. Solche persönlich gehaltenen Eindrücke degenerieren schnell zu formelhaften Etikettierungen. Sie gehen dann an jeder individuellen Wirklichkeit so ziemlich vorbei. Sie kennzeichnen die von uns angesprochenen Pervertierungstendenzen im Schnellverfahren.

Was bilden sich diese, empirisch zu sehr fragmentierenden, Bildungstheoretiker und diese (zu) vielen Bildungsbürokraten eigentlich ein? Wie differenziert, wie subtil soziale Verhältnisse „eigentlich“ ablaufen können, zeigt der Anruf eines Vaters bei seiner Tochter. Sie steht am Anfang einer Hochschulkarriere. Er fragt: „Wie geht es Dir?“ Sie sagt: „Eigentlich gut, ich habe aber viel zu tun“. Der Vater schweigt abwartend. Und in dieses Schweigen hinein hört er, wie seine Tochter ihren PC weiter bearbeitet. Er stört sie dabei nicht. Er moniert die Kosten des Ferngespräches nicht. Er führt auch seine väterliche Autorität nicht „sozusagen fordernd“ ins Feld.

Wir vertrauen, hier besonders, auf Deine Fähigkeit zum „formalen Transfer“, liebe Leser*in. Der Vater schenkt seiner Tochter Zeit. Und seine Tochter vertraut darauf, dass sie ihrem Vater diese Beschäftigung mit ihren persönlichen Pflichten zumuten kann. Die Kommunikation zwischen beiden ist faktisch bedürfnisentsprechend, obwohl sie – kommunikationstechnisch gesehen – sehr unzulänglich ist.

Aber Schulanfänger, Erstklässler, um Jahrzehnte jüngere Kinder dürfen sich, nachdem sie freundlich eingeladen, eingewöhnt und „eingelebt“ sind, zu wenig selbst organisieren. Sie werden dann zu früh und zu einseitig beurteilt, eingeordnet, klassifiziert. Das „Eintrichtern“ fängt hier an. Dies nicht unbedingt nur mit Notenzahlen, aber beispielsweise mit formelhaften Verkürzungen und Einengungen.

Und die Linienlehrer? Sie führen bei (Schnell-)Umfragen auch diese Problematik weniger auf schulische Missstände, als auf Mängel der Adressaten der Erziehung, der Schüler und ihrer Angehörigen zurück. Das erste, was ihnen einfällt, ist: „Auch das noch!“ „Wir haben doch keine Zeit!“ Schon diese Emotionalisierung führt zu berufstypischen Problemverkürzungen.

Im Erleben der Grundschullehrer steht das „Zeitproblem“ im Vordergrund. Auch deshalb werden bei Schulproblemen schulfremde, zum Beispiel gesellschaftliche Verhältnisse und Missstände genannt. Beispielsweise wird auf die mangelnde Mitarbeit der Angehörigen, auf die zerbrechenden oder bereits zerbrochenen Familien, auf die Patchwork-Familien, auf den hohen Ausländeranteil, auf deren mangelnde Deutschkenntnisse hingewiesen; und so weiter und so weiter.