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Abenteuerroman, Dystopie und philosophischer Thriller in einem: Markus Bundi erzählt die Geschichte der letzten menschlichen Kolonie, die unter Tage in einem permanenten Dämmerzustand lebt. Doch ein Experiment lässt einige der Unterdrückten aufbegehren … Leserin und Leser finden sich wieder in der futuristischen Vision einer von Kapitalismus, Umweltschäden und Pandemien gezeichneten Menschheit, die sich unter ihren Füßen eine zweite Welt geschaffen hat. Aber was passiert, wenn die Unteren nach oben streben und die Oberen nach unten expandieren wollen? In einer präzisen, lakonischen und treibenden Sprache schaltet Bundi virtuos zwischen Unter- und Oberwelt hin und her. Er beschreibt fantastische Gegenden, abenteuerliche Fluchten und merkwürdige Rituale. Geheimnisvolle Figuren geben Rätsel auf: Was weiß der graue Mann? Warum tötet die Walküre? Welche Rolle spielen die Goner, und wie leben die Toffler und Pilzer? Bundis Roman ist lesbar als Tragikomödie oder als absurdes Theater, denn Ernst und Spiel lassen sich zuweilen nur schwer voneinander unterscheiden. "Was andere Autoren auf einer ganzen Seite nicht erzählen, erzählt Markus Bundi in einem einzigen Satz." Matthias Politycki
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Seitenzahl: 230
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Impressum
Autor und Klappentext
Titelseite
Buchanfang
I Bericht von der guten Zeit
II Grenzüberschreitungen
III Die Bedingungen der Schwerkraft
Leseprobe - Markus Bundi - Alte Bande
© 2021, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-903061-86-6
Lektorat: Gudrun Schury
Cover und Satz: Jürgen Schütz
Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-99120-003-1
www.septime-verlag.at
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Markus Bundi
1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte. Zuletzt von ihm erschienen: Planglück (Erzählungen, 2017), Ankunft der Seifenblasen (Gedichte, 2018), Alte Bande (Kriminalroman, 2019) sowie Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte (Erzählungen, 2020). Für seine Arbeiten als Schriftsteller und Herausgeber wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Klappentext
Abenteuerroman, Dystopie und philosophischer Thriller in einem: Markus Bundi erzählt die Geschichte der letzten menschlichen Kolonie, die unter Tage in einem permanenten Dämmerzustand lebt. Doch ein Experiment lässt einige der Unterdrückten aufbegehren … Leserin und Leser finden sich wieder in der futuristischen Vision einer von Kapitalismus, Umweltschäden und Pandemien gezeichneten Menschheit, die sich unter ihren Füßen eine zweite Welt geschaffen hat. Aber was passiert, wenn die Unteren nach oben streben und die Oberen nach unten expandieren wollen?
In einer präzisen, lakonischen und treibenden Sprache schaltet Bundi virtuos zwischen Unter- und Oberwelt hin und her. Er beschreibt fantastische Gegenden, abenteuerliche Fluchten und merkwürdige Rituale. Geheimnisvolle Figuren geben Rätsel auf: Was weiß der graue Mann? Warum tötet die Walküre? Welche Rolle spielen die Goner, und wie leben die Toffler und Pilzer? Bundis Roman ist lesbar als Tragikomödie oder als absurdes Theater, denn Ernst und Spiel lassen sich zuweilen nur schwer voneinander unterscheiden.
»Was andere Autoren auf einer ganzen Seite nicht erzählen,
erzählt Markus Bundi in einem einzigen Satz.«
Matthias Politycki
Markus Bundi
Die letzte Kolonie
Roman | Septime Roman
für Alma, Debora, Dominik, Johanna,
Julius, Lena, Lisa, Loïc, Lukas, Mark-Simon,
Merian, Mio, Rebecca, Tobias und Xavier
Schreiben dreht sich, wie das Leben selbst,
nur um wenige Dinge, vielleicht nur um zwei, Liebe und Tod.
Urs Faes
Aus dem Roman
Ombra
I
Bericht von der guten Zeit
1
Sie saßen in dieser feuchten Höhle fest, die Luft reichte knapp zum Atmen, roch nach Abgestandenem, Zähflüssigem. Doch sie waren euphorisch, Natalia und er, überzeugt davon, dass es den Weg nach oben gab.
Gregors Zeichen hatte sie bis hierhin gebracht, an den Rand der Peripherie. Es gab keine verlässlichen Karten, nur Gerüchte. Florio und Natalia hatten, der Erschöpfung nahe, einen trockenen Abschnitt gefunden, ihr Lager auf einer Betonplatte aufgeschlagen, ein leicht erhöhtes Podest, es würde sie vor Überraschungen bewahren. Das Thermometer zeigte zweiundzwanzig Grad an. Wo es Ratten gab, war wenig Gefahr, das wussten beide, und sie hatten eben noch welche gesehen. Nicht gesehen, aber gehört. Folgt den Ratten, hört auf sie, achtet sie, ihre Sinne sind weit besser als unsere – Gregors Worte.
Sie waren die körperliche Anstrengung nicht gewohnt, die Füße schmerzten, und Natalia hatte Blasen zwischen den Zehen. Sie war, nachdem sie beide eine Kleinigkeit gegessen hatten, in einen tiefen Schlaf gesunken, beseelt vom Gedanken, bald anzukommen, vielleicht schon auf der nächsten Etappe. Florio war aufgewühlt, er rieb sich die Waden, spürte den Rücken. Der lange Marsch, das Tragen des Proviants, die Ungewissheit. Es fiel ihm schwer, sein Lichtlein stecken zu lassen, doch er hatte versprochen, sparsam zu sein. Hier würden sie so schnell keine vollen Batterien bekommen. Florio mochte die Dunkelheit nicht, er war ein Kind der hellblauen Phasen.
Floriohätte im Spect bleiben können. Nachdem Gregor gegangen war, führten er und die andern das Lokal weiter. Die meisten Gäste hatten vom Verschwinden Gregors nichts mitbekommen.
Denken, wenn der Gegner denkt, und wenn er gezogen hat, den Blick abwenden. Überraschend und ohne Zögern selber ziehen, als würde man einer spontanen Eingebung folgen. Manchmal nahm ein anderes Spiel überhand, und Florio patzte. Ein Schaden entstand deswegen nicht. Spiel dich frei, spiel dich fort. Jede Fortsetzung ein Glücksgefühl, so wollte Gregor es immer haben. Florio hatte die Rolle des Freundes übernommen, wenn auch weniger risikofreudig – oder nur zum Schein, das wusste er nicht so genau.
Irgendwann kommt die Zeit der Ernte, das sagen sogar die Pilzer – Gregors Worte.
Florio trank aus der Wasserflasche und vernahm ein Rascheln. Natalia drehte sich im Schlaf. Füreinen Moment glaubte er, sie hätte ihn unter den geröteten Lidern hervor angeschaut. Eine Einbildung, denn er sah die eigene Hand nicht vor Augen. Ihr Blick jedoch hätte ihm gutgetan, Natalias Zuversicht, ihr Leuchten, schon die Vorstellung davon half ein wenig. Schaute ihn Natalia an, entspannte er sich augenblicklich, war wieder bei sich. Keine Angst vor niemandem, so hatte sie ihn die Parole gelehrt.
Sie litten unter Hautreizungen. Die Creme, die ihm der Alte mitgegeben hatte, schuf nur geringfügig Linderung, und die Wirkung hielt auch nicht lange an. Sie wurden schleichend vergiftet, die Säure steckte überall, in den Wänden, am Boden und in der Luft. Natalia schnarchte leise vor sich hin, beinahe friedlich.
Wir haben lange genug geschlafen, das hatte Gregor in seinen letzten Tagen im Spect des Öfteren gesagt, für sich, aber auch zu ihm. Manch einer hier könne gar nicht unterscheiden, ob er schlafe oder wache. Im fortwährenden Taumel merken sie nicht, wie sie verfaulen.
Die Züge sprachen für sich, die Veränderungen auf dem Spielfeld gaben den Takt an. Derweil etwas trinken und einen Happen zu sich nehmen, ungezwungen, unaufdringlich, so war das Spect.
Sein Gegenspieler hatte eine Muse dringend nötig, denn er stand auf verlorenem Posten, dachte Florio, auf Blickkontakt bedacht und reich beschenkt. Er überlegte, ob er das Ende hinauszögern oder Schluss machen sollte, trank einen Schluck, sinnierte vor sich hin. Das Gesicht beinahe ungeschminkt, als wäre ihr die Bräune angeboren, und ihr Blick, sie hatte es auf ihn abgesehen. Sie war nicht so ausgemergelt wie die andern, kam womöglich aus einer anderen Charge, war ohne Frage … einzigartig. Florio spielte auf Abwarten, wählte eine Variante, die nichts an der Ausweglosigkeit seines Gegners änderte, ihn weiter zappeln ließ, und fragte, ob sie noch einen letzten Wunsch hätten.
Die Fraulächelte, drückte dem andern einen Kuss auf die Wange, sagte, sie wolle doch wissen, wie es sich von der Gewinnerseite aus anfühle, und drapierte sich so neben Florio, dass er den Arm um sie legen musste. Er umfasste die Frau, deren Namen er noch nicht kannte, der innerliche Aufruhr beschleunigte sein Denken, produzierte Querschläger, das war kein Kunststoff, ihre Hosen waren aus echtem Leder. Die Hitze stieg in ihm hoch, von der Hand in den Arm … und Hals über Kopf. So etwas hatte er noch kaum je angegriffen, so ein Gefühl hatte ihn lange nicht mehr durchströmt. Und dieser alle Sinne betörende Duft.
Das Glück währte nicht lange. Sein Gegner hatte es darauf angelegt, schnell zu verlieren, wohl in der Hoffnung, auf diese Weise die Frau für sich noch zu retten. Florio war die knappe Kopfbewegung des Mannes nicht entgangen, wenngleich er sich nichts anmerken ließ. Doch vergebens. Gehorsam löste sie sich aus seiner Umarmung, geschmeidig tat sie das und langsam, sodass der Zauber anhielt, und flüsterte ihm zum Abschied ein gut vernehmbares »bono-bono« ins Ohr.
Bevor Florio ein Wort herausbrachte, zogen die beiden ab. Er atmete tief, wollte die Luft, die sie umgeben hatte, in sich aufnehmen, für sich bewahren, und ihn überkam ein Schluckauf wie lange nicht mehr. Fee oder Hexe? Sie hatte ihm noch zugelächelt.
Das Spect war der Ort des Vergessens und also der Ort der Gegenwart, durch alle Blauphasen hindurch. Im Spect vergaßen die Leute, dass es auch noch andere Orte gab, und zuweilen vergaßen sie sich selbst. Bald hatte es in anderen Chargen die ersten Nachahmer gegeben. Doch das Spect blieb unübertroffen.
In der ersten Zeit wunderte Florio sich manchmal, woher all die Automaten, Brettspiele und Karten kamen, doch er hatte Gregor nie behelligt. Die Dinge kamen irgendwoher. Das technische Gerät, die Apparaturen für Licht und Musik, die Bühne. Niemand schien sich darüber Gedanken zu machen, im Spect machte man sich keine Gedanken, man vergaß, man spielte und trank.
Als nach mehreren Blauphasen die Frau erneut auftauchte und auf ihn zuging, wie wenn sie nur eben schnell auf Toilette gewesen wäre, war Florio fassungslos. Sie hatte ihn zappeln lassen, sich in seinem Kopf eingenistet, und er hätte ihr am liebsten – eine gescheuert?, keine Beachtung geschenkt?, auf der Stelle die Kleider vom Leib gerissen?
Sie erkundigte sich, ob ihm die Gegner ausgegangen seien, und setzte sich auf einen der Barhocker. Florio reagierte im Reflex, dankbar, nicht in eine Starre verfallen zu sein, gab ein Zeichen, Manipeter hinter der Theke verstand und brachte ihr, während er sich an den kleinen Tisch zu ihr setzte, einen Wodka.
»Beschtächig?«, fragte sie zwischen die Köpfe der Männer, sodass nicht klar war, wen sie ansprach. Der Kollege meinte, er sei hier fürs Bringen, nicht fürs Antworten zuständig, zuckte mit den Schultern – guter Mann, dachte Florio – und zog von dannen. Sie hob das Glas, roch daran und wollte wissen, was in seinem Glas sei, und schon hatte sie die Gläser vertauscht.
Mehr als ein angedeutetes Nicken brachte Florio, damit beschäftigt, den drohenden Schluckauf im Zaum zu halten, nicht zustande. Ihm fiel keine Geschichte ein, die er hätte erzählen können; nichts sagen, erst einmal nichts sagen, half ihm seine innere Stimme. Manipeterwürde sich hübsch hinter der Theke halten, Hilfestellungen in solchen Situationen waren tabu. Wie sie lächelte, die Augenbrauen asymmetrisch hob, einmal die eine, dann die andere, wie sie sein Unvermögen genoss, ihn ausweidete. Zu guter Letzt musste er sich unfaires Verhalten vorwerfen lassen: Es sei ja wohl kein Wunder, gewänne er jedes Spiel.
Die Bemerkung bezog sich zweifelsfrei auf den Inhalt seines Glases, das nun ihres war, aus dem sie eben einen kräftigen Schluck Anderwasser getrunken hatte. Keine Frage, Anderwasser gehörte zur Überlebensstrategie, doch man sprach nicht darüber, nicht in dieser Charge. Hätte er ihr erzählen sollen, wie viel Zeit er im Spect verbrachte, hätte er sie langweilen wollen? Florio mahnte sich zur Vorsicht. Sie schaute ihn mit großen Augen an; ein alles verschlingendes Feuer, ging es ihm durch den Kopf. Da verschluckte sie sich so sehr, dass er schon fürchtete, sie inszeniere sich über Gebühr. Doch das Prusten und die kurze Not waren echt, sie hatte Tränen in den Augen, und Florio ahnte, sie würde nichts von ihm übriglassen, ihn auffressen und unverdaut wieder ausspeien.
Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen ab und schob eine Haarsträhne beiseite. »Natalia«, sagte sie, und sie wiederholte sich, damit er wieder festen Boden unter die Füße bekam: »Natalia«.
Du musst deiner Intuition vertrauen, dem Gegenspieler voraus sein, spüren, was er vorhat; kennst du seinen Plan, hast du gewonnen. – Gregors Worte.
Florio hatte keine Ahnung, was die Frau im Schild führte. Stellte sie ihm eine Falle? Woher wusste sie vom Anderwasser? Natalia wippte im Takt, nicht nur mit dem Fuß, wie Florio registrierte, und sie fragte, ob er die Musiksprache verstehe. Er nickte, korrigierte sich aber sogleich, denn wie die meisten im Spect verstand er nur wenige Wörter, erschloss sich jeweils einen Sinn, der zur Melodie passte, erfand sich vornehmlich eigene Geschichten. Den Rhythmus aufnehmen und eintauchen, mitsummen und sich tragen lassen, Laute artikulieren, Wörter nachbilden. Was ihm aber über die Lippen kam, waren lediglich Fragmente. Sonst war er nicht auf den Mund gefallen, ganz im Gegenteil, er galt als großer Geschichtenerzähler, nur brachte er beim Anblick Natalias nichts davon zur Geltung – was die Frau belustigte und ihn beinahe um den Verstand gebracht hätte.
Natalia erzählte, sie sei auf der Suche nach ihrem Mentor. Der sei hier früher oft verkehrt, seit einiger Zeit aber verschollen. Florio dachte sofort an Gregor, war sich indes sicher, dass seinem Freund kein Zögling anvertraut worden war. Du kannst nicht bluffen und dir dabei gleichzeitig in die Karten schauen lassen … Das wusste er auch so, wenngleich ihm Natalia grad nach allen Regeln des Augenaufschlags den Kopf verdrehte. Unvermittelt schüttete sie das restliche Anderwasser in sich hinein, rutschte vom Hocker und ging. Auf Toilette, dachte Florio, bono-bono dachte er, bis ihm klar wurde, dass ihn die Frau ein zweites Mal hatte sitzen lassen.
Der Schluckauf allerdings blieb aus. Die Lust, ein neues Spiel zu beginnen, war ihm vergangen. Er rührte die Figuren nicht an, starrte stattdessen nur vor sich hin. Im Wechsel vom Hell- ins Dunkelblau erklärte Florio die angebrochene Wodkaflasche zum Gegner, den Kopfschmerzen sah er gelassen entgegen. Er wollte sich schlecht fühlen, und er war bereit, bis zum Selbstmitleid und darüber hinaus zu gehen. Besser, er begänne am Tiefpunkt, als im Elend zu enden, sagte er sich – und kam sich weise vor. Er bewegte sich und bewegte sich nicht. Die Musik sprach für ihn. Florio nahm den Rhythmus auf, summte leise vor sich hin. Das mit Natalia sollte eine Liebesgeschichte werden, alles Leid und Sehnen am Anfang, damit die Sache auch ja gut ausgehe.
Du wirst wach, und es könnte der erste Tag in deinem Leben sein.Florio war, als wollte ihm Gregor durch die Dunkelheit Mut zusprechen. Doch die Zuversicht ging zusehends verschütt in diesem stinkenden, dunklen Loch, das nur vielleicht keine Sackgasse war. Er spürte die Anstrengung in den Gliedern, seine Muskeln waren übersäuert, und dennoch verlangte der Körper nach Bewegung, nach Licht und Luft. Natalia, da war er sicher, würde wieder aufwachen, die schlechten Gedanken vertreiben.
Floriohätte aufstehen und umkehren wollen. Ein Reflex oder ein Drang, es trieb ihn, es machte etwas mit ihm, und dieses Es, das war er, das war der Tunnelkoller. Der Alte hatte ihn gewarnt. Dunkelheit auf Dauer drücke aufs Gemüt. Eine Creme dagegen gab es nicht, auch kein anderes Mittel: sich ergeben, sich auf die Situation einlassen, sich nicht aufgeben. Da tritt ein Ich gegen ein Es an, ein junges Ungestüm gegen ein altes, so kam es Florio vor, eine eigenartige Auseinandersetzung – mit ungewissem Ausgang.
Dass Natalia Gregors Zögling sein könnte, hatte Florio auch noch, nachdem er mit ihr aufgebrochen war, beschäftigt. Er hatte es mehrmals mit Anspielungen versucht, wollte herausfinden, woher sie kam, wie sie ins Spect gefunden, wie sie ihn gefunden hatte. Seine Vorstellungskraft hatte ihn im Stich gelassen, keine Geschichte nirgends, auf die er sich einen Reim hätte machen können. Natalia hatte es auf ihn abgesehen, vom ersten Auftritt an, daran zweifelte Florio, wie sie jetzt zu seiner Rechten selig auf der Betonplatte in diesem stillgelegten Tunnel schlief, schon lange nicht mehr.
Florio war noch nicht mit Gregor fertig, und der Gedanke, ihn vielleicht schon bald wieder anzutreffen, hatte etwas Fröhliches. Heroische Gefühle schwangen mit, auch wenn er nicht genau wusste, was einen Helden auszeichnete. Er hatte Geschichten gehört, Geschichten und Gerüchte. Helden soll es gegeben haben, lange vor ihrer Zeit, in einer Welt, in der man Abenteuer noch suchte. Du wirst wach, und es könnte dein erster Tag sein. Ein jeder brauche einen Mitwisser, das hatte ihm Gregor noch vor dem Abschied gesagt. Erst hatte Florio vermutet, sein Freund sei ein Dieb, dem man auf die Schliche gekommen, dem man nun auf den Fersen war. Doch Gregors Geschichte war eine andere.
Florio erschrak, doch es war wohl nur das Quieken einer Ratte gewesen. Bald schon würde er Geräusche hören, die ihren Ursprung in seinem Kopf hatten. Die Sinne narrten einen, sobald man seine gewohnte Umgebung verließ, sobald man aus dem Tritt geriet. Der Schlafmangel würde ein Übriges tun. Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche und unterdrückte den Impuls, sein Lichtlein einzuschalten, versuchte, sich aufs Atmen zu konzentrieren. – Wie funktionierten Batterien? Die Frage hatte er sich lange nicht mehr gestellt, auf eine Antwort war er nie gekommen. Ratten waren ihm trotz aller Gegenrede unheimlich. Unberechenbare Tiere, dagegen ließ sich das Geheimnis der Batterien vergleichsweise leicht ertragen. Die Batterien kamen wie die Ratten von irgendwoher, doch sie führten kein Eigenleben.
Es gab schon auch Gesang in ihrer eigenen Sprache, doch im Spect standen nur wenige darauf, Manipeter und er gehörten zu den Ausnahmen, und wenn sie die Luken dichtmachten, um ein wenig aufzuräumen, sangen sie das eine oder andere Lied mit, Lieder von Hemmungen und Zündhölzern, die in den Chargen verboten waren. Wenn sie in den letzten Kehren waren, stimmte Manipeter den Abgesang auf den verstorbenen Ferdinand an, und Florio stimmte fröhlich ein: »Oh je, oh je, oh je!«
Erinnerungen seien das, was einem bliebe, einen forme – hatte wer gesagt? Florios Atem ging jetzt ruhiger, dennoch war an Schlaf nicht zu denken. Da war zu viel Tumult in seinem Kopf, zu viel Gregor:
Es hilft nichts. Du stehst auf und machst weiter. Ich weiß nicht mehr, wann genau es geschah, dass ich einen Moment zu lang liegengeblieben bin; ich kam nicht hoch, fragte mich, wer ich sei. Vielleicht gab diese Frage den Ausschlag. – So hatte Gregor seine Geschichte begonnen.
Gregor hätte weder Manipeter noch ihn auf seine Reise mitgenommen, dessen war sich Florio sicher. Sein Freund war ihm schon enteilt, als er noch da war. Dass ausgerechnet er, der kluge Gregor, das Denken angefangen hatte … Doch wäre er nicht gegangen, Nataliawärewomöglich nie in sein Leben getreten. Florio schaute in ihre Richtung, hätte sich gern Gewissheit verschafft, dass sie noch immer neben ihm lag … mit den Händen was anfangen, jemanden anfassen – »oh je, oh je, oh je!«
Solange das Ende der Geschichte offen bliebe, konnte er sich als Held darin vorstellen, den Zeichen weiter folgen, die Gregor beschrieben, die er hinterlassen hatte, sie zu lesen, hoffend, irgendwann zu verstehen. Hoffnung ist das Gegenstück zur Erinnerung; genau betrachtet sind die Unterschiede jedoch gering, das eine war, das andere soll werden – hatte wer gesagt?
Das erste Halbrund mit den fünf Strahlen auf dem waagrechten Pfeil hatten sie jedenfalls entdeckt und die Spur in diesem Labyrinth aufgenommen.
2
Als nach Gregors Abreise die Reserven des Anderwassers im Spect zur Neige gingen, machte sich Florio auf den Weg. Er kannte sich in den Chargen aus, wusste, wie man sich im System zu bewegen hatte, und er hatte von Gregor eine alte Zugangskarte bekommen. Bis dahin jedoch hatte er die dunklen Abschnitte und die schmalen Gänge gemieden. Zu viele verschwanden auf unerklärliche Weise.
Seit einiger Zeit fürchtete sich Florio vor Schimpansen, Manipeters Wunderfabelwesen, die sie zuweilen gemeinsam besangen, ohne jedoch zu wissen, was oder wer ein Schimpanse war. Ein Wesen ohne Hemmungen, ihnen nicht ganz unverwandt, so viel stand fest. Womöglich aber waren Schimpansen auch so etwas wie Riesenratten. In diesen Größenordnungen hatte Florio einige Male geträumt.
Das System war nicht für weite Wege angelegt, jeder wusste, in welche Charge er gehörte, und am besten blieb man, wo man war. Die persönlichen Plastikkarten öffneten nur wenige Türen. Der Passepartout, so hatte Gregor jene Karte genannt, die er ihm noch ausgehändigt hatte, würde ihm Zugänge verschaffen, von denen er nicht einmal ahnte, dass es sie gab.
Wenn Florio sich außerhalb des Spects befand und nicht in seiner Kammer war, fühlte er sich unwohl, sobald er Geräusche oder Gerüche wahrnahm, deren Herkunft er nicht kannte, die er nicht auf eine Ursache zurückführen konnte. Fremde Gesichter irritierten ihn, die ausdruckslosen wie die neugierigen, und im Zweifelsfall, dafür reichte schon ein Fingerschnippen aus der Ferne,fühlte er sich beobachtet. Auf Gregors Wegbeschreibung aber war Verlass. Florio passierte die Esszeile und kam beim ovalen Brunnen an, wo sich jeweils noch mehr Leute versammelten als im Spect. Die Leute kamen aus vielerlei Gründen zur Quelle des Ursprungs, wie der Brunnen auch genannt wurde. Hier bediente man sich, labte sich am Wasch. Hier suchte man nach bekannten Gesichtern, an diesem Brunnen wurde auch Tauschhandel getrieben. Wer etwas suchte, das er brauchte, kam zur Quelle des Ursprungs und brachte etwas mit, von dem er hoffte, ein anderer würde darauf anspringen.
Florio war länger nicht mehr an diesem Sammelplatz gewesen, die Kapuzenmänner schreckten ihn ab, wer sein Gesicht verbarg, hatte auch anderes zu verbergen. Hier wurden Waren feilgeboten, die es gar nicht gab, hier wurden Dinge verhandelt, die kaum einer verstand, wenngleich jeder so tat, als ob. Du gehst dann in die Richtung weiter, wo du nichts vermutest, wo es am dunkelsten ist – Gregors Stimme.
Es fiel Florio nicht leicht, sich gegen seinen Instinkt und für die Schimpansen zu entscheiden. Es gab viele dunkle Ecken, doch nur aus einer Richtung kam niemand. Dorthin musste er. Florio umrundete ein weiteres Mal das Oval des Brunnens, wurde von einer Frau angerempelt, die ihn kurz anstarrte und fluchend an ihm vorbeizog. Ein kleiner Kapuzenmann zupfte ihn am Ärmel, flüsterte ihm etwas zu, mehr ein Raunen war’s, ein Angebot oder eine Anfrage. Florio verstand nicht. Für seinen Passepartout hätte er wohl alles bekommen, und geriete er an den Falschen, er würde ohne Umschweife in Ketten gelegt, unschädlich gemacht – oder Schlimmeres.
Das Grundrauschen nahm zu, wenigstens kam es Florio so vor. Hatte er eben das Wort »Fleisch« vernommen? Ein Mädchen, das sich ihm untergehakt hatte, ohne dass er das mitbekommen hätte, zwinkerte ihm zu, lächelte, doch das war ein falsches Lächeln, ein verzerrter Mund in einem schiefen Gesicht. Er wand sich aus der Verhakung, hörte nicht mehr hin, machte einen Schritt zur Seite, vernahm ein verächtliches Zischen der Kleinen und schielte wieder in das Dunkel, zu jenem Ort, wo er hinmusste. Unbeobachtet. Was vom Brunnen aus gar nicht möglich war. Unauffällig. Auch das ließe sich kaum bewerkstelligen. Wie selbstverständlich? Florio versuchte es. Er stapfte los, nicht zu schnell und nicht zu langsam, um aus dem Rauschen heraus in das Dunkel hinein zu gelangen – und verschwand darin.
Zu seiner Überraschung fand er den beschriebenen Schacht sofort. Florio vermied es, sich umzudrehen. Er hätte niemanden entdeckt, stattdessen die Umrisse einer Überratte erahnt, einen Schatten, der ihm folgte. Das geschah aber auch so, in seinem Kopf wechselten sich die Gestalten der Verfolger ab. Als er um eine Ecke bog, lag ein spärlich beleuchteter Raum vor ihm, nicht mehr blau, vielmehr grüngräulich, so schien es ihm, eine Lichtquelle ließ sich nicht ausmachen. Florio gelangte an die Stahltür, wie er schon so manche gesehen hatte, sie gehörte zu den unüberwindbaren Hindernissen der Charge. Eigentlich. Er schob den Passepartout in den dafür vorgesehenen Schlitz neben der Tür. Kaum war die Karte im Innern verschwunden, wurde sie wieder ausgespuckt. Florio schoss das Blut in den Kopf, mehr als zwei weitere Versuche hatte er nicht. Er nahm die Karte wieder an sich und überprüfte, ob er nicht versehentlich seine eigene in den Schlitz geschoben hatte. Eine unnötige Überprüfung, denn darauf hatte er schon zuvor geachtet. Er konnte umkehren oder es noch einmal versuchen. Oder warten. Doch worauf? – Ein Selbstgespräch würde ihm vor dieser Tür nicht weiterhelfen.
Er hauchte das Plastik an, rieb den Passepartout sanft am Stoff seines Pullovers, erst die eine, dann die andere Seite, atmete tief ein und steckte das Ding mit heißen Fingern ein weiteres Mal in den kalten Schlitz. Es klickte, es klackte, und die Tür öffnete sich.
Florios Körper durchflutete ein Strom, er spürte Kräfte, von denen er bislang nichts gewusst hatte; als hätte ihn jemand oder etwas aufgezogen, er war im Begriff, eine Schwelle zu übertreten. Die Möglichkeit, sich abzuwenden, umzukehren, war keine mehr. Hier und jetzt begänne seine Geschichte. Bevor die Tür es sich noch einmal anders überlegte, zog Florio den Passepartout, der wieder frei gegeben worden war, aus dem Schlitz und machte den Schritt auf die andere Seite.
Die Stahltür hinter ihm hatte sich mit demselben Klicken und Klacken wieder geschlossen, einen Verfolger gab es nun nicht mehr, wenn es zu einer Begegnung käme, dann lag diese vor ihm. Wie im Rausch ging er durch die Korridore und Gänge, ob Riesenratte oder Schimpanse, wer oder was auch immer auf ihn wartete, er war auf dem richtigen Weg, wenngleich das Licht immer spärlicher wurde.
Florio passierte mit Schwung ein Drehkreuz, kam an der von Gregor vorausgesagten verglasten Kabine vorbei und blieb vor den drei Treppen stehen. Er zuckte zusammen. Ein kaum vernehmbares Klacken hatte die Stille durchbrochen. Kein Klacken war’s, ein Zungenschnalzen. Jemand anderes lotete hinter ihm den Raum aus. Du kannst die Augen schließen, nicht aber die Ohren. Florios Euphorie war verflogen. Er kauerte jetzt am Boden, wartete. Die Sinne schärfen, Ruhe bewahren. Er hätte seine innere Stimme gern auf stumm geschaltet, und noch lieber wäre er losgerannt. Die Finsternis jedoch hielt ihn am Boden, die Luft war merklich kühler geworden, und das Dunkel begann, ihn einzukreisen. Der Verfolger verhielt sich ruhig. Aus welchem Winkel war er aufgetaucht, aus welchem Loch hervorgekrochen?
Nichts denken, die Sinne schärfen. Er müsste doch, wenn ihm der andere zu Leibe rücken wollte, das Quietschen des Drehkreuzes hinter sich hören? Und wenn es jemand übersprungen hätte? Die Drehkreuze waren von soliden Gittern umrahmt und ließen sich nicht umgehen. Keine Frage, ein Schimpanse konnte sich da durchmogeln, irgendwie. Florio öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, griff in die Innentasche und fühlte den Griff des Messers. Er war gewappnet, bildete er sich ein, er war bewaffnet, das war mehr als ein Zahnstocher, machte er sich Mut, wehrlos war er nicht. Er richtete sich langsam wieder auf, wählte eine der beiden Treppen außen. Metallstiegen. Er würde nicht geräuschlos nach unten gelangen, doch auch kein anderer. Er würde sich nicht überraschenlassen, es sei denn, sein Verfolger tauchte aus dem Nichts auf.
Er träumte nicht, alles ging mit rechten Dingen zu. Vorstellungen ausblenden, Sinne einschalten. Die linke Hand am Schaft des Messers, die andere an der Seitenverschalung der Treppe, nahm Florio behutsam Stiege für Stiege. Es geht abwärts, dachte er, ein überflüssiger Gedanke, dachte er, doch mit jedem Tritt öffnete sich unter ihm der Raum ein Stück weit, so kam es Florio vor, mit jedem Schritt betrat er Neuland. Er war ein Unbefugter, ein Angstwesen auf Abwegen. Er blieb abrupt stehen, horchte, ging weiter, ein warmer Luftzug strich ihm um die Wangen.
Am unteren Absatz angekommen, glaubte Florio, kleiner geworden zu sein. Doch er war nicht geschrumpft, sein Körper hatte sich lediglich zusammengezogen. Er musste sich wieder aufrichten, sich frei machen, tief ein- und ausatmen. Er hob den Kopf, schaute um sich, entdeckte jenen von Gregor angekündigten Seitengang. Ob er dem andern hier auflauern sollte? Er war nicht fürs Zustechen geschaffen, im Affekt, das ja, das vielleicht, wenn ihn jemand angriffe, würde er sich zur Wehr setzen. Einer Riesenratte würde er Widerstand leisten. Die Geräusche blieben aus.
Vielleicht war er bislang unentdeckt geblieben, jenen Verfolger in seiner Vorstellung konnte er weder abschütteln noch umbringen. Endlich ließ er den Griff des Messers los, zog den Reißverschluss hoch und setzte seinen Gang fort.
Auf Gregor vertrauend, tastete sich Florio vorsichtig die Wand entlang, spürte etwas Zähflüssiges an den Fingerspitzen, wollte aber nicht wissen, was es war. Sich weiter vorantasten, langsam einen Fuß vor den anderen setzen. Die Dunkelheit war noch das Geringste, die Stille bedrängte ihn, und etwas schien in der Luft zu liegen, das ihn zugleich lähmte und anstachelte. Unterschiedliche Luftströme, feine Temperaturunterschiede, atmen aber musste er, gleichmäßig ein- und ausatmen und einen Fuß vor den anderen setzen.
Wenn du ein Kribbeln in den Fingerspitzen fühlst, erste Vibrationen an den Wänden spürst, dann bist du auf dem richtigen Weg. Ohne Gregors Worte wäre er wohl nicht ans Ende dieses Stollens gelangt. Florio wurde erster Konturen gewahr. Da war Licht weiter vorne, der Stollen mündete in einen Tunnel mit Schienenstrang. Er blieb stehen, schaute erst nach rechts, von wo die Bahn kommen musste, dann nach links, wo sie anhalten würde. Florio sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, irgendwo am Ende dieses Zugangsstollens hatte sich jeweils auch Gregor eingerichtet – und gewartet. Die Wände waren glatt, nirgends ein kleiner Vorsprung. Er roch an seiner Handfläche, hielt sich die Finger vor die Nase, an denen noch immer ein undefinierbarer Schleim haftete.