Die letzte Nacht - Henri Vogel - E-Book

Die letzte Nacht E-Book

Henri Vogel

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Beschreibung

Seit Urzeiten gilt in den Graslanden das kaiserliche Gesetz: Die Läufer beherrschen das Reich, die Flieger dienen als Sklaven. Nur wenn es so bleibt, gewährt das Licht Schutz vor dem Dunkel und seinen Dienern, den Winterdämonen. Doch der Weiße Flieger wurde prophezeit, der die Unterdrückten befreien soll. Es nähren sich Gerüchte über die Winterdämonen und den religiösen Wahn der Unterdrücker, während ein illegitimes Kind die kaiserliche Herrschaft und ihre Ordnung in Gefahr zu bringen scheint. In dieser Zeit werden Windreiter, Streitherz und Eisentrost in die Obhut des Lehrers Vielweiß übergeben, damit sie lernen, ihre Kräfte als Wandler zu kontrollieren. Alle drei sind von Geheimnissen umgeben, die nicht nur ihre Freundschaft und Liebe, sondern auch die Grundfesten des Kaiserreiches erschüttern werden.

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Seitenzahl: 432

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Henri Vogel

Die letzte Nacht

weiß

Erste Auflage: 2017

Gestaltung und Satz: kladdebuchverlag, Freiburg

Lektorat und Korrektorat: Jonas Al-Nemri, Géraldine Al-Nemri

Fotografie: Alexandra Rösner

Distribution: Bookwire, Frankfurt

ISBN: 978-3-945431-32-0

eISBN: 978-3-945431-33-7

© Copyright kladde | buchverlag Pfaffenweiler – Freiburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm und andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert, digitalisiert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.kladdebuchverlag.de

Denen, die an die Macht der Fantasie glauben.

Inhalt

Prolog

Ein weißer Flieger

Vom Kämpfen und Wünschen

Eine andere Welt

Gehorsam

Eidbruch und Treue

Tiefes Dunkel vor dem Licht

Eine unerwartete Vorstellung

Unglück und Geschichten

Ein Funken Wut

Zeigen und Sehen

Wirbelnde Stimmen

Ein neues Jahr beginnt

Offenbarung

Neue Rufe, neue Gaben

Dinge ändern sich

Ein Ort im Schatten

Namenstag

Unterweisung

Feuer und Regen

Wolken am Horizont

Zerschlagen

Ein offenes Tor

Eiserne Bänder

Wie oben so unten

Prolog

Der alte Mann saß im Schatten der Blutbuche auf einem Stein. Er kam immer wieder, und bei jedem Besuch fand er einen neuen Baum vor, gewachsen aus den Samen und der Asche seiner Vorgänger.

Ein merkwürdiger Wind wehte zu jeder Zeit durch die Schlucht und selten schlug jemand den Weg zwischen den Felsen ein. Die Wandler, die älter wurden als andere Menschen, erzählten hin und wieder von dem Ort, doch auch sie mieden ihn.

Blätter raschelten unter einem Saum, der über den Boden schleifte, und der Alte hob den Kopf und lächelte. Er wusste, wer sich ihm aus dem Schatten zwischen den Felswänden näherte. Es war ein junger Mann mit eigentümlich gebogener Nase und verstrubbeltem Lockenkopf. Er war in einen graubraunen Umhang gehüllt.

Der Mann auf dem Stein wurde Feuerheil gerufen – in diesem Leben. Es waren so viele vergangen, dass er die meisten seiner Rufe vergessen hatte. Der Jüngere dagegen konnte sich an jeden erinnern, mit dem Feuerheil bedacht worden war.

Auch er selbst hatte schon viele Rufe getragen; viel mehr noch als Feuerheil. In diesem Leben war er Nachtwach, der Heiler, und Buchlieb, der Gelehrte – und immer war er Scharfkling, die Wache, von dem nur wenige wussten. An diesem Ort, als Freund in der Abendstunde eines weiteren Lebens, war er Vielweiß. Er trat näher und legte eine Hand auf die Schulter des Alten.

»Ist es soweit?«, fragte er.

»Ja.«

Feuerheils Haar war ergraut, beinahe weiß, und er bemerkte, dass Vielweiß’ Blick daran hängen blieb.

»Wie es hätte sein sollen«, sagte er und lächelte bitter.

»Und doch ganz anders.«

Während Vielweiß das sagte, strich er Feuerheil durchs Haar. Rote und schwarze Strähnen flammten darin auf.

»Es ist anders und doch gleich«, sagte Feuerheil. »Der ewige Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Liebe und Hass, zwischen Werden und Vergehen. Manche glauben, das sei banal. Sie irren sich. Es ist die eine Geschichte. Man wird sie auch noch erzählen, wenn meine Rolle endlich endet.«

»Du denkst, es ist alles nur eine Geschichte?«, fragte Vielweiß.

»Ja, und du musst sie mir erzählen, damit sie enden kann.«

Vielweiß setzte sich neben Feuerheil auf den Boden und schaute den alten Freund schweigend an. Er hatte die altersfleckigen Hände um den Knauf seines Gehstocks geklammert und starrte zum Ausgang der Schlucht, als erwarte er weitere Besucher.

»Wie viel Zeit bleibt dir?«, fragte Vielweiß.

»Das weißt du besser als ich.«

»Dann wollen wir beginnen. Vielleicht gelingt es heute.«

Ein weißer Flieger

Es war Nacht. Laufgeschwind rannte über die Straße aus gestampfter Erde. Sie lag unter einer Schneeschicht begraben. Trampelpfade, gesäumt von hohen Wehen, führten vom Windhof hinab durch die Wiesen nach Kreuzweg. Der Schnee knirschte unter jedem seiner Schritte und über Laufgeschwind verblassten die Sterne der längsten Nacht des Jahres.

Er keuchte und griff sich mit der Hand an die brennende Seite. Seine Beine waren taub vor Anstrengung. Einige Male rutschte er auf vereisten Stellen aus; schlitterte, fing sich im letzten Moment und rannte weiter. Dunkle Häuser zogen vorbei. Gehetzte Atemzüge. Blut rauschte in seinen Ohren.

Als Laufgeschwind aus der Gasse auf den Marktplatz von Kreuzweg trat, schob sich schwaches Grau in den Nachthimmel. An vielen Türen konnte er Kränze aus Reisig, Stechpalmen oder dem Geäst der Kirschbäume erahnen. In einigen Fenstern brannten erste Lichtbögen. Sobald der Morgen anbrach, würden die Dunkeltage enden und alle im Dorf das Lichtfest feiern.

Er beachtete den festlichen Schmuck nicht weiter, verlangsamte seine Schritte und riss die Arme hoch. Gierig sog er die kalte Luft ein. Beim Ausatmen gefror sie zu weißen Wolken. Ohne den Laufwind rann ihm der Schweiß in Strömen über Stirn und Rücken. Schon begann er zu frieren und Reif bedeckte sein braunes, gelocktes Haar.

Die Schule lag auf der Ostseite des Marktplatzes. Der untere Teil des Gebäudes war aus grob behauenen Steinen gefügt. Darüber schloss sich ein Fachwerk an, dessen Holzbalken sich dunkelbraun vom Gelb des Füllmaterials abhoben. Eine Reihe kleiner Fenster schaute aus den Wänden im Obergeschoss, während der Sockel nur durch das Haupttor unterbrochen war. Die dunklen Vogelschwingen auf Torflügeln waren auch im Dämmerlicht zu sehen.

Laufgeschwind hämmerte mit aller Kraft gegen die Stelle, wo das Herz des Vogels sein müsste. Seine Knie zitterten und im Mund hatte er einen metallischen Geschmack. Noch einmal schlug er mit der Faust so heftig gegen das Holz, dass ihm die Haut an den Fingerknöchel aufriss und Blut zum Vorschein kam. Hastig wickelte er die Hand in ein Tuch, das er in seinen Taschen fand.

Laufgeschwind trat einige Schritte zurück und beobachtete die dunkle Fassade. Endlich flammte hinter einem Fenster im ersten Stock ein Licht auf und einen Moment später hörte er leise Schritte im Schnee auf dem Hof.

Mit einem Knarren öffnete sich eine Klappe im Tor und eine Laterne wurde in die Öffnung gehoben. Sie blendete Laufgeschwind, der die verbundene Hand vor seine Augen hob.

»Laufgeschwind, was ist passiert?«, fragte Flinkschlag. »Bist du verletzt?«

»Nein, aber ich muss Vielweiß sprechen.«

Die Wirtschafterin nickte, schloss die Klappe wieder und schlurfte davon. Laufgeschwind schnaufte immer noch heftig, als sie erneut geöffnet wurde.

»Laufgeschwind! Was willst du hier – zu dieser Nachtzeit? Das Dunkel ist kein Freund der Menschen«, gähnte eine Stimme.

Vor seinem inneren Auge konnte Laufgeschwind sehen, wie der Bücherwurm die Augenbrauen hob und wollte etwas erwidern, bevor er sich eines Besseren besann.

»Ich weiß«, keuchte er und ignorierte den Rest. »Wachenaug schickt mich. Es ist soweit.«

Die Klappe wurde geschlossen und ohne ein Wort entfernte sich der Bücherwurm vom Tor. Laufgeschwind stand davor und starrte es verdutzt an. Vielweiß’ Schritte verklangen im Hof.

Laufgeschwind schlang sich die Arme um den Leib und zog seinen Mantel vor der Brust zusammen. Er ging ein wenig auf und ab, schüttelte verärgert den Kopf. Dann rannte er los.

Die gleichen Straßen und Häuser, die er eben passiert hatte, flogen in umgekehrter Reihenfolge an ihm vorbei. Aus manchen Kaminen stiegen jetzt dünne Rauchsäulen in den Himmel und hinter einigen Fenstern brannten Kerzen; Kreuzweg erwachte und der Tag des Lichtfests brach an.

Obwohl sich Laufgeschwind für den Rückweg Zeit gelassen hatte, war der Bücherwurm nicht aufgetaucht. Nun stand er allein vor der Tür zur Stube seines Bruders. Laufgeschwind öffnete sie und trat ein.

Der Raum war groß und hell. Das Fenster gegenüber der Tür offenbarte den Kräuter- und Blumengarten, hinter dem sich die Gemüse- und Getreidefelder des Windhofes erstreckten. Jetzt war alles in eine dicke Schneedecke gehüllt, aus der nur einige Sträucher und Gräser ihre silbern bereiften Häupter erhoben. Sonnenlicht flutete auf den Holzfußboden bis zu Laufgeschwinds Fußspitzen. Das Kaminfeuer zu seiner Linken verbreitete behagliche Wärme.

Auf der rechten Seite des Zimmers, von der Feuerstelle durch einen Flickenteppich getrennt, stand ein Bett, dessen Enden mit Bildern von Blumen und Vögeln bemalt waren. Darin lag eine junge Frau, blass und erschöpft, aber mit einem glücklichen Gesichtsausdruck. Ihr rotbraunes Haar lag wirr in den Kissen.

»Laufgeschwind«, empfing sie ihn und streckte die Hand aus, »komm und sieh dir – sieh ihn dir an.«

»Fehlt ihm etwas, Fuchsfeuer?«

Bevor sie antworten konnte, hatte sein Blick den Raum hinter dem Bett erreicht; wo die Wiege mit dem Kind stand, sein Bruder daneben – wo der Bücherwurm ihn freundlich anlächelte. Seine Augen weiteten sich und er konnte nicht verhindern, dass ihm der Mund aufklappte.

»Nein, er ist gesund. Es ist alles in Ordnung«, unterbrach Fuchsfeuer das Schweigen.

Da auch die beiden anderen nichts weiter antworteten, trat er an die Wiege, um sich selbst ein Bild zu machen. Den Bücherwurm ignorierte er. Ohnehin hatte der das unschöne Talent, immer unerwartet aufzutauchen.

Er blickte in die Wiege und da lag er: seines Bruders Sohn, das erste Kind Wachenaugs. Es schlief in eine rote Decke gehüllt, die mit unzähligen schwarzen und einem weißen Vogel bestickt war. Ihre Farbe leuchtete umso stärker, da sie einen deutlichen Gegensatz zur elfenbeinfarbenen Haut des Kindes bildete. Seine Augen waren geschlossen, während es leise, aber hörbar, im Schlaf atmete. Die Hände waren zu kleinen Fäusten geballt und lagen rechts und links neben seinen weißblonden Haaren. Es sah aus wie gesponnenes Glas.

»Er ist – vollkommen«, sagte Laufgeschwind.

Dann entdeckte er die winzige Rabenfeder. Sie war hell und durchscheinend, wie das Haar des Jungen. Laufgeschwind lachte verstört.

»Das ist nur eine Legende; ein altes Lied«, stotterte er, als er seine Stimme wieder fand. »Wir sind nicht – wir können nicht – «

»Was sind wir nicht?«, fragte Wachenaug.

Laufgeschwind atmete tief durch und auch sein Bruder rüstete sich für einen weiteren Streit.

»Wachenaug«, begann Laufgeschwind versöhnlich. »Es sind 209 Fünfjahreszeiten vergangen. Das ist nur eine Geschichte, die die Alten den Kindern erzählen, wenn die Zeiten schlecht sind.«

Wachenaug hob die Augenbrauen.

»Die Zeiten sind nicht schlecht. Wir sind frei. Wir gehen unsere eigenen Wege, sind niemandes Sklaven. Wir haben Frieden, schon seit langer Zeit. Wenn wir uns an das Gesetz halten, wenn wir nicht zu auffällig sind –«

Laufgeschwind sah das Gesicht seines Bruders im Zorn erröten und verstummte.

»Siehst du es nicht?«, mischte sich Fuchsfeuer ein, bevor Wachenaug aufbrausen konnte.

»Was soll ich sehen?«, fragte Laufgeschwind.

Er wollte nicht unfreundlich klingen und tat es dennoch. Die Erschöpfung kroch ihm in die Glieder und er war diese Auseinandersetzungen mit seinem Bruder leid.

»Ich sehe einen kleinen Jungen, Fuchsfeuer. Er ist ein Flieger und ja, er ist weiß und in der längsten Nacht geboren. Aber das sind viele andere Kinder auch.«

»Du siehst es also nicht«, stellte Wachenaug fest.

»Wie auch? Ich kann es wahrscheinlich gar nicht sehen.«

Dann schnappte Laufgeschwind gegen Vielweiß.

»Du hast ihm das eingeredet! Behalte deinen Unsinn nächstens für dich. Dann können wir hier weiter in Frieden leben.«

Vielweiß antwortete nicht, bedachte Laufgeschwind aber mit einem Blick, vor dem er zurückprallte.

»Du willst es nicht sehen«, widersprach Wachenaug. »Wir haben hier keinen Frieden! Wir verstecken uns, Laufgeschwind. Und es war auch nicht Vielweiß, der mir irgendetwas eingeredet hat. Ich bin dieses Leben im Verborgenen so leid, Bruder. Geht es dir nicht genauso?«

Trotz, Zweifel und Angst hielten sich in Laufgeschwind Stimme die Waage, als er viel zu laut antwortete.

»Und wo sollen wir deiner Meinung nach hin? Wir können uns an das Gesetz halten und Sklaven sein, oder wir bleiben hier und sind frei.«

»Oder ihr könntet nach Hause gehen«, gab Vielweiß zu bedenken.

»Oh ja, nach Hause«, höhnte Laufgeschwind. »Wie kommt es eigentlich, dass du immer in der Nähe bist, wenn wir Streit haben?«

Er war mehr als wütend, als er sich wieder an Wachenaug wandte.

»Unser fernes Zuhause, wo wir in Palästen aus Wolken leben und auf ewig unsere eigenen Herren sind. Falls es dir entgangen ist, Bruder, wir sind auch hier unsere eigenen Herren. Niemand kümmert sich um uns, die Leute in Kreuzweg lassen uns in Ruhe.«

»Ruhe!«, würgte Wachenaug mit vor Wut erstickter Stimme. »Hast du vergessen, was unserem Vater passiert ist? Wie kannst du von Ruhe reden?«

Laufgeschwinds Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

»Unser Vater hat sich gezeigt. Er kannte das Gesetz!«

Laufgeschwind stürzte aus der Stube. Wachenaug wollte ihm nach, aber Vielweiß hielt ihn an der Schulter fest und auch seine Gefährtin nickte ihm zu.

»Lass ihn gehen«, riet Fuchsfeuer Wachenaug. »Lass ihn sich an den Gedanken gewöhnen. Er wird es verstehen. Und wenn die Zeit gekommen ist, werden wir nach Hause gehen; wir alle gemeinsam.«

Laufgeschwind stürmte den Gang entlang, nach draußen auf den Hof. Es war ruhig und die Sonne strahlte vom Himmel. Aber von der festlichen Stimmung des Morgens war nichts geblieben. Die Stille drückte jetzt wie Blei auf seine Gedanken und das Sonnenlicht brannte sich erbarmungslos einen Weg in seine Erinnerung.

Es war die Zeit, den Namenstag Wachenaugs zu feiern. Wanderrast, der Vater der beiden, wollte allein mit seinem ältesten Sohn ins Gebirge aufsteigen und so sehr Laufgeschwind auch flehte, ließ er sich doch nicht erweichen.

»Deine Zeit wird kommen«, sagte Wanderrast zu ihm. »Dann werden auch wir in die Berge gehen.«

Enttäuscht verabschiedete Laufgeschwind sich von Vater und Bruder und vertrieb sich die Zeit bis zu ihrer Rückkehr mit Bärenspiel. Der Tag verging, das Licht schwand vom Himmel und noch immer kehrte niemand zum Windhof zurück.

Aber als die Nacht anbrach, machten sich Bärenkraft, der Vater Bärenspiels, und einige andere auf den Weg, die Vermissten zu suchen. Laufgeschwind spähte wieder und wieder aus dem Fenster seiner Dachkammer oder lief zur Seitenpforte, um ins Gebirge hinaufzuschauen. Manchmal meinte er, einen Fackelschein an den Bergflanken zu sehen oder die Echos fernen Rufens zu hören.

»Komm jetzt rein«, sagte Bärenspiel. »Sie kommen bald gesund und munter zurück. Wahrscheinlich ist Wachenaug deinem Vater nur ausgebüxt.«

Er irrte sich. Im Morgengrauen erreichte eine kleine und stille Schar aus Suchern und Gefundenen den Windhof: Wanderrast lag mit gebrochenen und verdrehten Gliedern auf einer provisorisch gezimmerten Bahre und Wachenaug stand teilnahmslos und verfroren neben ihm. Bärenkraft richtete die Arme und Beine des Toten und hüllte ihn in einen roten Umhang, der mit unzähligen schwarzen und einem weißen Vogel bestickt war.

Nach einer kurzen Mahlzeit brachen alle Bewohner des Windhofes mit der Bahre und Holz beladen in Richtung des Gebirges auf. Als es dunkel wurde, erreichten sie den hohen Berggrat. Dort legte Wachenaug seinem Vater eine Rabenfeder auf die Brust und Holz und Reisig zur Seite. Er schluckte und nahm Laufgeschwind bei der Hand, der leise weinte. Dann nickte Wachenaug Bärenkraft zu und er entzündete das Feuer.

Es tastete und knisterte im trockenen Reisig und fraß sich in die dicken Holzscheite. Dann leckten die Flammen an dem Mantel und der Wind trieb seine Asche fort. In der Luft mischte sich der Geruch des Holzes mit der Süße brennenden Fleisches.

Als das Feuer Wanderrasts Leib einhüllte und in die Nachthimmel loderte, ließ Wachenaug die Hand seines Bruders los und rannte mit ausgebreiteten Armen in den Wind. Als Rabe hob er sich schwarz wie Ebenholz in die Höhe; tanzte zwischen den Glutsternen, die sich mit ihren erhabeneren Brüdern und Schwestern am Himmel vermischten.

Das Feuer war fast erloschen, als Wachenaug auf dem Bergkamm landete und inmitten der Trauernden zum Stehen kam. Laufgeschwind blickte seinen Bruder entsetzt und neidvoll an.

Bevor jemand etwas sagen konnte, stürmte Bärenkraft zu Wachenaug und versetzte ihm eine Ohrfeige wie einen Hammerschlag.

»Bist du wahnsinnig?«, schrie er ihn an. »Reicht es nicht, dass sie deinen Vater abgeschossen haben? Du bist kein Kind mehr!«

»Ich musste ihn tragen. Du weißt das!«

Seine Stimme versagte und er brach in Bärenkrafts Armen zusammen. Laufgeschwind fühlte sich neben ihnen schrecklich fehl am Platz.

Niemand sprach. Alle schauten in die Flammen, die sich in der Glut zur Ruhe legten. Irgendwann hörte Laufgeschwind Gesang und als er sich umblickte, entdeckte er weit außerhalb des Feuerscheins eine Gestalt. Es war Bergheil, die Wanderrast mit einem Gruß ihrer eigenen Leute verabschiedete, von dem niemand recht wusste, welche es waren. Es klang wie Lachen und Klage und uralt.

In tiefer Dunkelheit stiegen Laufgeschwind, Wachenaug und die anderen zum Windhof hinab. Ein eisiger Hauch fuhr an den Berghängen entlang und trieb Schneeregenschauer vor sich her. Eingehüllt in ihre Kleidung und gegen Wind und Nässe geduckt, erreichten sie ihr Heim und versammelten sich in der Gewölbeküche zum Erinnerungsmahl.

Trinksprüche wurden auf den alten und den neuen Herren, der Wachenaug nun war, ausgebracht. Erinnerungen wurden ausgetauscht, bis zuletzt nur eine kleine Gruppe am Kaminfeuer zurückblieb. Der Sturm brauste durch die nahen Baumwipfel und rüttelte mit aller Kraft an den Läden. Laufgeschwind blickte zu den Fenstern, als ein dumpfes Schlagen an die Tür einen Besucher ankündigte.

Bärenspiel blickte Laufgeschwind an, Bärenkraft senkte seinen Becher mit einem hölzernen Klacken auf die Tischplatte. Nur Wachenaug erhob sich, als habe er einen Gast erwartet. Bärenkraft wollte es ihm gleichtun, aber er schüttelte den Kopf und durchquerte die Gewölbeküche allein.

Als er den Raum verließ, folgte ihm Laufgeschwind und spähte in den von wenigen Kerzen beschienenen Gang. Wachenaug hatte die Tür erreicht und griff nach dem Riegel.

»Wer ist da?«, fragte er.

Voller Staunen erkannte Laufgeschwind in der Stimme seines Bruders die Strenge des Vaters.

»Die Wache. Dein Vater schickt mich.«

Ein Keuchen verriet Laufgeschwinds Anwesenheit.

»Geh wieder nach drinnen«, befahl er.

»Aber –«

»Nein«, maßregelte ihn Wachenaug. »Geh!«

So war Vielweiß, der Bücherwurm, in Laufgeschwinds Leben getreten und hatte es seit vielen Jahren nicht verlassen. Wachenaug hatte mit seiner Gefährtin Fuchsfeuer die Preisgabe ihrer beider Namen gefeiert. Eben war ihr Sohn geboren worden. Bärenkraft und Bärenspiel wurden nun Großbär und Kleinbär gerufen.

Manchmal verschwand Vielweiß für einige Zeit, aber wann immer Laufgeschwind zu hoffen begann, tauchte Vielweiß wieder auf und setzte seinem Bruder allerhand Unsinn vom Fliegen und Freisein in den Kopf.

Laufgeschwind blickte in den Himmel. Weiße Schleier zogen ihre Bahn. Sie würden sich bald zu handfesten Schneewolken verdichten. Wenn er aufbrechen wollte, gab es keine Zeit mit Erinnerungen zu verlieren.

Drinnen im Gang hörte Laufgeschwind auf der einen Seite das Gemurmel in der Gewölbeküche, wo sich inzwischen wohl alle zum Lichtfest versammelt hatten und auf das Wohl des neusten Hofbewohners anstießen. Von der anderen Seite vernahm er ein Scheppern, das gelegentlich von heiserem Krächzen oder einem überraschten Rufen unterbrochen wurde. Neugierig ging er den Gang entlang bis zur letzten Tür.

»Nein! – Oh! – Nicht! – Ach!«, hörte er Fuchsfeuer und öffnete vorsichtig die Tür.

Er steckte den Kopf durch den Spalt und wurde von etwas Warmem und sehr Weichem mitten ins Gesicht getroffen. Er schüttelte den Kopf und konnte noch erkennen, wie sich das Küken krächzend unter das Bett flüchtete.

»Oh nein!«, entfuhr es ihm, als er in den Raum schlüpfte und die Tür hinter sich schloss.

Fuchsfeuer stand blass, mit zerzaustem Haar und abgekämpft auf der anderen Seite des Bettes und machte ein Gesicht, das irgendwo zwischen Verzweiflung und Lachen festhing.

»Oh!«, wiederholte Laufgeschwind mangels besserer Worte. »Ich… Habe ich ihm wehgetan?«

Unter dem Bett hörte er das Flattern flaumiger Flügel und fiel auf die Knie, um nachzusehen. Fuchsfeuer auf der anderen Seite tat es ihm gleich. Das Küken saß unter dem Bett, schlug seine weichen Schwingen auf den Boden und als es Laufgeschwind erblickte, hüpfte es in die andere Richtung davon, seiner Mutter direkt in die Arme.

»Hab ich dich!«, triumphierte Fuchsfeuer.

Aber das Küken strampelte sich mit Flügeln und Füßen frei und setzte zu einem neuen unbeholfenen Flug an. Es landete auf dem Kaminsims und schlug auch die letzten beiden Vasen zu Boden, deren Scherben sich zu anderen auf dem Fußboden gesellten. Dann schaffte es flatternd und taumelnd den Weg bis zur Vorhangstange über dem Fenster, plusterte sich auf und blieb dort sitzen.

Fuchsfeuer blickte ihren Sohn an, dann Laufgeschwind, dann wieder ihren Sohn und begann zu lachen. Das ging so lange, bis sie sich auf das zerwühlte Bett fallen ließ, dort um Luft rang und sich den Bauch hielt.

Laufgeschwind tat es ihr eher verlegen denn belustigt gleich. Das Küken schaute beide mit stechend blauen Augen an. Allmählich beruhigte Fuchsfeuer sich und setzte sich auf.

»Vielweiß hat gesagt, dass es schnell gehen würde, aber damit hatte ich nicht gerechnet«, sagte sie. »Es wird nur ein paar Tage dauern, dann wird er auch in menschlicher Gestalt die ersten Jahre hinter sich haben.«

»Wird das immer so sein?«, fragte Laufgeschwind.

»Ich glaube schon. Wenn er zehn oder elf Jahre ist, wird er wie ein junger Mann aussehen.«

»Und was wird dann geschehen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Fuchsfeuer.

»Aber ist es das, was du für euren Sohn willst. Soll er ein Freiheitskämpfer werden, ein Rebell? Geopfert für Vielweiß’ Pläne?«

Fuchsfeuer schaute Laufgeschwind an.

»Es sind nicht Vielweiß’ Pläne. Es ist der Traum deines Bruders, den unser Sohn vielleicht erfüllen kann.«

»Was ist, wenn es misslingt. Wenn er nicht ist, was Wachenaug in ihm sieht?«

»Was ist, wenn es gelingt? Wenn er ist, was ich in ihm sehe?«

Fuchsfeuer brachte Laufgeschwinds Zweifel für einen Moment zum Verstummen und er sehnte sich danach, ihre Hoffnung teilen zu können.

»Ich weiß, dass ihr sehr unterschiedlich seid und dass ihr unterschiedliche Dinge vom Leben erwartet«, sagte Fuchsfeuer nach einer Weile und nahm seine Hand. »Aber ihr seid Brüder und –«

Mit einem Plumpsen fiel das Küken von der Vorhangstange. Federn, Schnabel und Flügel zogen sich zurück und gaben den Leib eines einjährigen Knaben frei.

Laufgeschwind sprang erschrocken auf, aber Fuchsfeuer lachte. »Das hat er vorhin schon mal gemacht. Oh Licht sei Dank, er schläft schon fast.«

Sie hob ihn auf und legte ihn neben sich auf das Bett.

»Wir rufen ihn Sonnensilber, wegen der Haarfarbe, weißt du.«

»Es ist ein sehr schöner Ruf«, antwortet Laufgeschwind und erhob sich.

Er wollte diesen Moment nicht stören und verließ Fuchsfeuer ein letztes Mal zulächelnd den Raum.

»Pass gut auf dich auf«, rief sie ihm nach.

Als die Tür ins Schloss fiel, öffnete Sonnensilber die Augen und blickte sie aufmerksam an. Sie lächelte und begann zu erzählen.

Die Kinder der Wolkenlande sind die Flieger. Stolz und schön ziehen sie ihre Bahnen in den Himmel. Sie gebieten dem Wind und sehen weiter voraus als jedes andere Geschöpf. Sie leben in Palästen aus weißen feinen Wolken und gehen auf Brücken, die aus Gewitterstürmen gewebt sind.

Die Flieger lebten in Frieden mit allen Belebten Landen. Bis das Dunkel in die Wolkenlande geschlichen kam und die Herzen der Menschen und Wandler vergiftete.

Und der König der Lüfte hatte zu dieser Zeit zwei Kinder: Silberschwinge und Schwarztraum. Und er liebte beide von Herzen. Aber während Silberschwinge nach seinem Sinn geraten war, sorgte sich der Vater um Schwarztraum, der eines Tages die Krone tragen sollte.

Und mit der Zeit wandelte sich seine Sorge in Enttäuschung. Er konnte sie kaum vor seinem Sohn verbergen. Und so sehr jener versuchte, den Wünschen des Vaters zu entsprechen, schien es doch nie zu gelingen. So verdunkelten sich die Gedanken des jungen Prinzen mehr und mehr. Und Angst befiel ihn, wusste er doch um die Listen des Dunkels. Doch weder dem Vater noch der Schwester wagte er sich anzuvertrauen. Und schließlich nahm das Dunkel Gestalt an.

»Warum müssen die Wolkenlande mit den Graslanden Handel treiben, wenn sie doch die höchste Sphäre bewohnen und ihre Wandler sogar mit den Wachen fliegen?«, so fragte das Dunkel »Sollten die unteren Lande dem Höchsten nicht vielmehr Ehrerbietung und Tribut zollen?«

Und Hochmut ergriff Schwarztraum und er ersann einen Weg, dem Vater die Graslande zum Geschenk zu machen. Auch die Steinlande sollten ihm untertan sein. Voller Verblendung und Stolz trat er vor seinen Vater und unterbreitete ihm seinen Plan. Er verlangte die Aufstellung eines Heeres und versprach seinem Vater und König die unteren Lande zum Geschenk.

Der aber erkannte, welche finsteren Gedanken sein Sohn hegte und er ahnte, dass er daran nicht unschuldig war. Doch Traurigkeit und Zorn verschlossen seine Lippen, denn sie waren im Gefolge des Dunkels gekommen und standen im Schatten zu seiner Linken und Rechten.

So widersprach er seinem Sohn nicht und ließ ihn ohne Ratschlag oder Segen ziehen. Aber Schwarztraum verließ den Palast und begann sein Heer aus jenen zu sammeln, die seine Gedanken teilten. Und es waren viele: Menschen und Wandler.

Silberschwinge aber folgte ihrem Bruder bis an das Tor der Wolkenlande und versuchte, ihn und seine Gefolgsleute umzustimmen. Aber in seinem Geist waltete voller Hochmut das Dunkel und sein Herz war betäubt von der Traurigkeit. Und es schreckten ihn weder Leid noch Gefahr. Er zog hinaus in den Krieg.

Aber das Dunkel hatte ihn betrogen und die unteren Lande waren gewarnt. So traf das Heer der Wolkenlande die Grasländer zum Krieg gerüstet und voller Zorn an. Und auf den weiten Ebenen, in den tiefen Wäldern, in Dörfern und Städten tobte der Kampf. Den Grasländern aber kamen die Gräberheere zur Hilfe. So wendete sich das Geschick der Wolkenländer und ihr Blut tränkte die Erde.

Das Heer Schwarztraums wurde besiegt und die Überlebenden an das Tor der Wolkenlande zurückgedrängt. Als sie aber dort ankamen, fanden sie es verschlossen und hinter sich das Heer der Läufer und Gräber. Und sie waren sehr erschrocken, denn niemand konnte sich erinnern, das Tor je versperrt gesehen zu haben.

Schwarztraum aber trat vor und rief: »Öffnet das Tor! Auf meinen Befehl.«

Und dröhnend wurden die riesigen Flügel beiseitegeschoben und gaben den Blick auf endlose Reihen gerüsteter Flieger und Wolkenländer frei. Und ihr König stand in der ersten Reihe; und neben ihm Silberschwinge mit dem Banner ihres Volkes.

Und der Königssohn freute sich, denn er meinte, sein Vater sei ihm zur Hilfe gekommen. Aber der König starrte seinen Sohn voller Verachtung an. Und er sagte kein Wort.

Dann aber gab er seiner Tochter ein Zeichen und diese sprach mit starker Stimme, sodass es weithin alle hören konnte.

»Schwarztraum Königssohn, du wirst die Schwelle dieser Lande nicht überschreiten und niemand, der mit dir ist. Für deinen Hochmut und das Unglück, das du über die Belebten Lande gebracht hast, werden du und die Deinen verbannt. Ihr sollt leben, wenn man es euch gestattet und die Früchte eurer Taten ernten. Wisset, dass ihr und alle, die euch nachfolgen, von nun an dem Gesetz der Graslande unterworfen.«

So sprach Silberschwinge und als sie geendet hatte, sprach der König selbst. Laut rief er den Namen seiner Sippe über die Lande hinweg, sodass jeder ihn hören konnte. Schwarztraum fiel unter seinem schrecklichen Klang auf die Knie und blieb reglos im Staub liegen. So gab der König der Wolkenlande allen, die ihn hörten, Macht über sich und sein Volk.

Und darum wurden an jenem Tag die großen Tore der Wolkenlande fest verschlossen nie mehr geöffnet. Das war die Strafe des Königs für den Hochmut seines Sohnes. Und danach gerieten die Tore in Vergessenheit und die Rede von den Wolkenlanden wurde zu Sage und Legende.

Schwarztraum aber, Prinz der Wolkenlande, wurde gefangen und gebannt nach Grünstadt gebracht. Und dort verhandelte der Rat der Läufer und Gräber sein Schicksal und das seiner Gefolgsleute.

Die Läufer wollten, dass die Verbannten und ihre Nachfahren als Sklaven ihre Kriegsschuld sühnten. Aber der König der Steinlande widersprach.

»Es wird nicht gut gehen, Kindeskinder und deren Kinder zu versklaven für ein Verbrechen, dessen sich kein Lebender erinnert.« Als aber kein Läufer ihm zustimmte, verließ er den Rat mit den Seinen.

Und die Gräber zogen sich hinter die hohen Mauern ihres Reiches zurück und verbargen seine Eingänge gut. Und niemand durfte die Unterwelt verlassen und kein Fremder sollte sie ungestraft betreten. So wurde auch die Unterwelt ein Ort, den nur noch die Geschichten alter Leute kannten, und ihre Bewohner zu Fabelwesen. Und die Menschen der Graslande nannten sie Drachen.

Die Flieger aber wurden nach dem Beschluss des Rates die untersten Diener der Läufer und ihres Reiches. Und sie waren gezwungen, ihre Namen preiszugeben. Und den Wandlern unter ihnen war es verboten, von ihrer Gabe Gebrauch zu machen.

»Da hast du aber einen wichtigen Teil ausgelassen«, tadelte Wachenaug seine Gefährtin und schaute sie liebevoll an.

Sonnensilber war eingeschlafen.

»So, habe ich das?«, kokettierte Fuchsfeuer und wurde dann ernst. »Willst du dieses Leben für unseren Sohn?«

»Ich weiß es nicht, er ist noch jung. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt. Ich will hoffen und ihm beistehen, wenn es soweit ist.

Wachenaug begann leise zu singen. Fuchsfeuer kannte das Lied, das auch ihre Kindheit begleitet hatte. Es war das Lied vom Weißen Flieger, geboren in der längsten Nacht und ein weißes Licht für jene, die nicht mehr zu hoffen wagten. Es war ein Lied von Freiheit, von Toren, die geöffnet wurden und von Versöhnung.

»Laufgeschwind ist fortgegangen?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja.«

»Er wird seinen Weg finden und vielleicht kommt er dann zurück.« Wachenaugs Augen glänzten, aber er lächelte seine Frau an.

Feuerheil liefen Tränen über die Wangen, als er an seine Eltern dachte.

»Sie hatten versprochen, bei mir zu sein, wenn der Tag käme«, flüsterte er.

»Sie waren da, so lange es ihnen bestimmt war«, tröstete ihn Vielweiß. »Aber jetzt lass mich dir von einem anderen Kind erzählen.«

Feuerheil nickte.

»Als deine Eltern mit dir auf dem Bett lagen, war sie eine halbe Welt weit entfernt und noch nicht geboren.«

Der Wind rauschte sanft durch die Blätter der Blutbuche und ahmte sein eigenes Wispern in den langen zähen Halmen auf der Großen Ebene weit jenseits des Gebirgsbogens nach und vor Feuerheils innerem Auge wuchs die grüne Stadt in die Höhe.

Vom Kämpfen und Wünschen

Die Blüten der Ginsterbüsche und Glockenblumen wiegten sich in der Brise, die über die Großen Ebene strich. Sie wirbelte den Staub auf der Straße auf und trug ihn in Wölkchen bis vor die Schmiede. Drinnen verstummte das Schlagen des Hammers.

»Du wirst im ersten Kampf überrannt werden und kannst froh sein, wenn du den Arm noch heben kannst, um aufzugeben«, sagte Eisenhand. »Lass es gut sein, kleiner Bruder, wir kommen auch ohne deinen Wunsch aus. Schließlich bist du nicht der einzige, der etwas zum Leben unserer Familie beitragen kann.«

Kleintatze straffte sich.

»Das weiß ich doch, darum wünsche ich mir auch etwas Anderes. Ich werde gewinnen und den Unterkaiser herausfordern. Ich werde der größte Krieger der Graslande sein.«

»Spinnst du?«

Eisenhand legte Zange und Hammer auf den Amboss ab. Er forschte nach der Spur eines Lachens im Gesicht seines Bruders, aber da war nichts.

»Hör zu, Kleintatze, Vater –«

»– ist nicht da. Und bis er wiederkommt, bist du der Herr im Haus, ja ja.« Jetzt funkelte Kleintatze seinen großen Bruder an.

»Ja, allerdings. Also habe ich das Sagen. Du wirst niemanden herausfordern. Du wirst noch nicht einmal kämpfen. Morgen früh, wenn das Turnier beginnt, wirst du hier in der Schmiede stehen und deine Arbeit tun.«

Eisenhand war immer lauter geworden. Kleintatze schmollte.

»Aber, ich dachte, du bist auf meiner Seite?

»Glaub mir, das bin ich und du bist morgen früh hier. Hast du mich verstanden, Kleintatze?«

»Ja.«

Missmutig verzog Kleintatze den Mund und trollte sich nach draußen. Dort trat er gegen die Wassertonne und ging, über seine eigene Dummheit fluchend, auf die Knie.

Plötzlich tauchte ein Schatten über ihm auf. Es war Eichholz, die vor ihm stand: klein, rundlich und in scheinbar unzählige Lagen wollener Gewänder, Schürzen und Tücher gehüllt.

»Mach dir nichts daraus«, sprach sie ihn an.

Die Stimme der Alten klang nach Buchenrauch und sehr scharfem Branntwein.

»Es ist ja nicht das letzte Turnier und überhaupt habe ich den Eindruck, dass die das mit den fünf Jahren da oben in der Hauptstadt gar nicht mehr so ernst nehmen.«

Kleintatze erhob sich und blickte Eichholz fragend an.

»Na, es ist der Oberkaiser, der neu bestimmt wurde. Oh Junge, du kennst dich aber wirklich schlecht aus«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. »Ich erkläre es dir.«

Daraufhin ließ sie sich auf die Bank neben dem Wasserfass fallen und klopfte mit der Handfläche auf das Holz, um Kleintatze zu bedeuten, dass auch er Platz nehmen möge.

»Also«, begann sie, »der Oberkaiser ist der geistliche Herr, der Unterkaiser der weltliche. Er ist für die Graugarden zuständig, die Krieger. Du kannst mir folgen?«, fragte Eichholz.

Kleintatze nickte.

»Dann ist wohl noch nicht alles verloren. Das Turnier findet eigentlich nur statt, wenn ein neuer Unterkaiser bestimmt wurde. Dann sucht er neue Gardisten oder Schüler für die Akademien. Ich frage mich, warum sie schon wieder eines veranstalten; nach nur zwei Jahren.«

Kleintatzes Augen leuchteten beim Gedanken an die kaiserlichen Akademien.

»He, hörst du mir überhaupt noch zu?«

Eichholz schnippte mit ihren krummen Fingern vor seiner Nase herum und Kleintatze schüttelte die Gedanken ab.

»Dachte ich mir. Also, es ist nicht nur wichtig, dass du kämpfen kannst. Bei der Anmeldung sitzen nicht selten Vertraute der Majestäten, die ihnen dann ihre persönlichen Eindrücke der Kämpfer berichten. Benimm dich also, so gut du kannst.«

»Moment mal!«, stutze Kleintatze, »Woher weißt du das eigentlich alles so genau?«

Eichholz hatte sich erhoben und watschelte schon davon.

»Du denkst doch nicht, dass ich mein ganzes Leben lang eine alte Schachtel in diesem kleinen Nest am Rande von Nirgendwo gewesen bin.«

Sie lachte und ging winkend davon. Kleintatze blickte ihr nach. Dann ging er zurück in die Schmiede, half Eisenhand und verhielt sich auch sonst tadellos – bis sich die Nacht über alles senkte. In der Stunde der tiefsten Stille verließ er sein Bett. Es mochte Vorteile haben, als Schmied groß und stark zu sein, aber um unbemerkt aus dem Haus zu kommen, war man am besten Kleintatze.

Er ging in die Küche, nahm einen Brotkanten, etwas Käse und einen Apfel und verschnürte alles in einem Bündel. Dann öffnete er vorsichtig die Haustür und schlüpfte nach draußen. Die Luft war kühl und von jener Ruhe erfüllt, die nur zu hören war, wenn die Nacht schon weit fortgeschritten und der Morgen noch nicht angebrochen war. Es war der Klang von Menschen, die schliefen, von Werkzeugen und Fuhrwerken, die stillstanden. Es war das Geräusch dösender Pferde und schlafenden Windes. Selbst die frühsten Vögel träumten noch vom Sonnenaufgang.

Kleintatze schlich durch das Dorf und nutze jeden Schatten, um darin zu verschwinden, bis er die letzten Häuser hinter sich gelassen und die Felder durchquert hatte. Vor ihm lag die Große Ebene, welche in diesem Teil der Graslande alle Weiler, Höfe und Dörfer umschloss. Am Horizont lag auf einer Höhe die Hauptstadt.

Die Grünstadt ragte viele Hundert Meter aus der Ebene empor. Alles dort war grün: Dächer, Bäume, Paläste und Häuser waren ein flirrender Wechsel von Tausenden lebendigen Farben und im Morgenlicht des Sommers beinahe unsichtbar inmitten des Grasmeers. Nur auf der Spitze des Hügels strahlte weiß die Kathedrale.

Kleintatze kannte den Weg zum Turnierplatz nicht, aber das erstbeste Mädchen, das er auf der Straße ansprach, war auf demselben Weg und er folgte ihr durch Straßen, Gassen und enge Gänge. Sie erklommen gemeinsam den halben Hügel und stiegen dann über steile Straßen und Treppen wieder bis an die Stadtmauer hinab.

Das Licht eines neuen Tages kroch aus den Schatten und tanzte zwischen dem Nebel und den Rauchschwaden verglühender Feuer, als Kleintatze den Turnierplatz mit den ersten Kämpfern erreichte: Männer, denen der Frost des Lebenswinters die Häupter versilberte, verdreckte Jungen und Mädchen jeden Alters aus allen Ecken der Grünstadt, Frauen, deren Körper von Feldarbeit drahtig und muskulös waren, Knaben in einfacher, aber solider Kleidung und noch allerlei andere Leute.

Kleintatze reihte sich in die Schlange der Wartenden am Anmeldepult ein, von wo aus manche Kämpferinnen und Kämpfer schon in Richtung der Waffenkammern schlurften, um sich eine – immerhin passable – Ausrüstung zu leihen.

»Zumindest bleibt mir diese Bettelei erspart«, dachte Kleintatze und reckte sich nach dem Pult des Schreibers.

»Du weißt, dass ich das nicht machen kann«, sagte dieser gerade zu der Frau, die vor Kleintatze stand.

»Aber –«

»Nein, hör mir zu. Geh einfach zurück, woher du gekommen bist und lass es gut sein. Ich will nicht die Schwarzgarden auf dich hetzen müssen.«

Die Frau nickte und trat von dem Pult zurück. Bisher hatte Kleintatze geglaubt, alle dürften unabhängig von Stand und Besitz wenigstens am Niederen Turnier teilnehmen.

»Ruf?«, fragte der Schreiber, als die Reihe nun an Kleintatze war.

Er hatte eine tiefe Stimme mit mokantem Unterton. Das blonde Haar trug er kurz, was seine markanten, aber nicht außergewöhnlichen Gesichtszüge betonte.

»Kleintatze. Was war denn gerade –«

»Niederes Turnier«, stellte der Schreiber mit einem Blick auf Kleintatze fest. »Kampfgruppe?«

»Läufer. Und ich wollte wissen –«

»Willkommen im Niederen Turnier, Läufer Kleintatze. Viel Vergnügen.«

Der Schreiber hielt Kleintatze eine kleine Holzplatte mit einer Nummer hin und damit war die Anmeldung beendet.

Kleintatze hatte die Startnummer 17 und das bedeutete, er würde in der neunten Paarung gegen einen anderen Läufer antreten. Bis dahin wäre noch Zeit, etwas zu essen und sich einen guten Platz zu suchen, von dem aus er sich die Kämpfe ansehen konnte.

Als die Sonne den Rand der Kampfbahn berührte, wurde sie für die ersten beiden Kämpfer des Niederen Turniers freigegeben. Hier durften sich alle beweisen, bevor im Hohen Turnier am Nachmittag die Adligen und Krieger antraten. Die zwei Kämpfer waren keine Läufer. Beide kamen auf ziemlichen Mähren an.

Der erste Reiter war ein bärenhafter Mann mit massivem Kreuz, dessen grau melierter Vollbart prächtig über seinen weit weniger prächtigen Brustpanzer wallte. Ihm gegenüber saß ein gut frisierter und einigermaßen vorzeigbar gekleideter Knabe – im Angesicht des Gegners – schlotternd auf seinem Pferd. Vermutlich war er der Sohn eines Händlers oder wohlhabenden Handwerkers. Der Haltung nach ritt er nicht zum ersten Mal – der Bär ihm gegenüber allerdings auch nicht.

Es war nicht schwer zu erraten, wer die erste Runde für sich entscheiden würde. So lehnte Kleintatze sich zurück und schloss die Augen, um zu dösen. Er hörte noch den dumpfen Schlag, mit dem der Händlersohn im Sand aufschlug und ließ sich vom Schlaf übermannen.

»Klein-tat-ze!«, skandierte die Menge.

Er stand im Sand der Kampfbahn, Blut an den Händen und glühend am ganzen Leib im Licht der sinkenden Sonne.

»Klein-tat-ze!«, riefen sie wieder und er drehte sich im Kreis, um all die Menschen auf den Tribünen zu sehen.

Als Kleintatze den Kopf senkte, lag vor ihm im Staub eine zerbrochene Maske.

»Klein-tat-ze!«

»Der Läufer Kleintatze!«

Als er sich aus den vielen Schichten seines Traumes ins Leben zurückgekämpft hatte und erwachte, wurde sein Name aufgerufen.

»Kleintatze! Der letzte Aufruf für den Kämpfer mit der Nummer 17. Der Läufer Kleintatze!«

Blut schoss in Kleintatzes Gesicht, sein Herz begann zu rasen. Sofort war sein Kopf hellwach und versuchte, seine noch schlafenden Gliedmaßen in eine kontrollierte Vorwärtsbewegung zu versetzen. Er sprang auf und machte sich nicht die Mühe, den vorgesehenen Weg nach unten zu wählen. Nach einer wilden Mischung aus über Zuschauer laufen, hüpfen und stolpern, kam er auf der Kampfbahn zum Stehen.

Der Sand hatte sich in der Vormittagssonne aufgeheizt und in der flirrenden Luft konnte Kleintatze zunächst nichts erkennen. Erst als er seine Augen zusammenkniff und sie sich an das Licht gewöhnten, bemerkte er, dass schon alles für ihn bereit war: Der Bahnrichter hatte aufgehört, Kleintatzes Namen zu brüllen und stand – seinen strengen Blick auf ihn gerichtet – in der Mitte zwischen Kleintatze und seinem Gegner.

Schon als Mensch war er beeindruckend: hünenhaft, grimmig, ein wenig plump, aber womöglich suchte Kleintatzes Geist zur eigenen Ermutigung nur einen Makel an dem Koloss. Nun bezweifelte er, dass die Paarungen im Niederen Turnier wirklich ausgelost wurden, oder ob nicht zur Belustigung der Massen stets besonders ungleiche Gegner gegeneinander in die Bahn geschickt wurden. Kleintatze kam zu dem Schluss, dass es einerlei war. Die Sonne stieg, der Sand unter seinen Füßen wurde unangenehm warm und ohnehin hatte er sich vorgenommen, dieses Turnier zu gewinnen.

Er streckte sich, beugte seinen Oberkörper nach vorn wie eine Katze, die zum Sprung ansetzt; dann atmete er tief ein. Sein Leib verlängerte sich und die Kleidung verschwand in weißem Fell. Aus Kleintatzes Gesicht wurde ein langes Maul. Er knurrte und bleckte die Zähne, als auch sein Gegner sich wandelte und die Wolfsgestalt annahm,

»Dann los«, dachte er.

Der Hüne nickte und Kleintatze begann, ihn grollend zu umkreisen.

Die Erde zwischen Kleintatze und seinem Kontrahenten war aufgewühlt. Felsbrocken und zerborstenes Gestein bedeckten die Kampfbahn.

Die ersten Sterne erhellten den Himmel und Gelbauge stand keuchend und nur noch wackelig auf den Pfoten. Die Schatten der aufziehenden Nacht hüllten die Kampfbahn ein und nur die seitlichen Halbrunde aus Fackelschein spendeten Licht.

Kleintatze setzte sich in Bewegung. Er trottete beinah gemütlich durch die Kiesel, setzte mit federnden Sprüngen über die größeren Steine hinweg. Gelbauge senkte lauernd den Kopf und stampfte mit einer Pfote auf den Boden.

Vor Kleintatze schoss eine Feldstehle aus dem Boden. Er scherte zur Seite aus und beschleunigte seinen Lauf. Säule um Säule ließ Gelbauge mit Pfotenhieben wachsen und errichtet einen Wall. Kleintatze rannte noch schneller, preschte an der Flanke seines Gegners vorbei und erreichte den Raum hinter Gelbauges Rücken.

Nadelspitz fuhr die Stehle aus dem Boden und streifte Kleintatzes Bauch, als er Gelbauge von hinten attackierte. Er landete hart und das Gestein unter seinen Vorderpfoten geriet in Bewegung. Wie Wasser spritzte es nach vorn über Gelbauge hinweg und zwängte ihn bis zum Hals in einen scharfkantigen Kerker. Der Bahnrichter riss einige der Stelen nieder, trat an den Gefangenen heran und wartete ab.

Sekunden gerannen zu Minuten, Stunden, einer halben Ewigkeit. Kleintatze hatte es beinahe geschafft. Der Hüne in der ersten Runde hatte sich als stark, aber weder schnell noch geschickt erwiesen. Es war ein Leichtes gewesen, ihn an die Grenzen seiner Ausdauer zu bringen und zu besiegen. Außerdem hatte ihm die Materie nicht gehorcht, die Kleintatze selbst außergewöhnlich gut beherrschte. Danach hatte er Sieg um Sieg errungen. Zuerst im Niederen, dann im Hohen Turnier. Mit Gelbauge, einem erfahrener Wettkämpfer, rang er nun um den großen Sieg.

Dieser befreite sich eben mit letzter Kraft aus dem Gefängnis und wandelte sich. Der Bahnrichter beugte sich zu Gelbauge und wechselte einige Worte mit ihm. Dann hob der den linken Arm und gab auf.

Es dauerte einen Moment, bis die Menge begriff, was geschehen war, aber dann brachen alle, von den niedrigsten bis zu den höchsten Ständen, in ohrenbetäubenden Jubel aus. Der Lärm brandete wie eine Welle über Kleintatze hinweg. Fast konnte er fühlen, wie ihn die Wucht durch den Sand der Kampfbahn schob.

Dann herrschte Stille und Kleintatze drehte sich im Kreis, um sich zu vergewissern, dass nicht alle gleichzeitig verschwunden waren. Er sah farblose Bänder und Tücher im Wind fliegen, Fahnen wurden geschwenkt. Die Augen der Zuschauer waren aufgerissen und an ihren Lippenbewegungen konnte er sehen, dass sie immer noch schrien.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter und Kleintatze, wie aus einem Traum gerissen, fuhr erschrocken herum. Gelbauge stand ihm gegenüber, nun als Mensch. Die stechend gelben Augen waren dieselben wie die des Wolfes. Kleintatze vergaß sich für einen Moment erschrocken und fauchte.

»Ruhig, Kleiner!«, ermahnte er Kleintatze.

Sofort vergaß er den Schreck und lächelte ihn verlegen an.

»Na, das war ja mal ein Gefecht!«, polterte Gelbauge. »Du hast wirklich ein paar sehr beeindruckende Kunststücke gezeigt. Das muss ich schon sagen.«

»Ja«, erwiderte Kleintatze und wusste nicht weiter.

Innerlich freute er sich wie ein Kind, aber vor der ganzen Hauptstadt würde er nicht wie ein Welpe herumtanzen. So lächelte er weiter und hörte nicht, was Gelbauge ihm noch zu sagen hatte.

Der ließ schließlich von Kleintatze ab und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken sich umzudrehen. Der Schreiber, der am Morgen seine Anmeldung entgegengenommen hatte, kam nun gestikulierend und schnellen Schrittes durch den Staub der Kampfbahn gelaufen. Ohne einen Glückwunsch oder den Austausch überflüssiger Höflichkeiten kam er zur Sache.

»Komm mit mir, Läufer Kleintatze, die Majestäten erwarten dich.«

Noch einmal sah er Gelbauge an, aber der lachte nur.

»Geh schon, hol dir deinen Wunsch ab, Welpe.«

Kleintatze wendete sich ab und bemerkte, dass der Schreiber schon auf halbem Wege zur kaiserlichen Tribüne war.

»Merke dir«, begann er, sobald Kleintatze aufgeholt hatte, »wenn du vor die Majestäten trittst: Du verbeugst dich und wartest, bis du angesprochen wirst. Dann trägst du deinen Wunsch deutlich und kurz gefasst vor. Und bitte kein Gestotter oder endlose Erzählungen über deine arme, kranke Mutter oder Schwester, für die du das Gold brauchst.«

»Ich will überhaupt kein Gold.« empörte sich Kleintatze. »Natürlich«, murmelte der Schreiber.

Die Arroganz seines Begleiters ging Kleintatze auf die Nerven. Er hätte gut Lust gehabt, ihm eine Lektion zu erteilen, aber bevor er den Gedanken vollendete, blieb der Schreiber stehen und dreht sich zu Kleintatze um.

»Und merke dir: Den Majestäten in kriegerischer Haltung gegenüberzutreten, gilt als Verbrechen und wird schwer bestraft. In ihrer Gegenwart darfst du dich nicht wandeln.«

Er hob die Augenbrauen, wie um zu fragen, ob Kleintatze verstanden hatte und als dieser nickte, war er zufrieden.

»Gut. Dann gehen wir jetzt weiter.«

Schließlich erreichten sie die Ehrenloge, von der aus man die Kampfbahn bequem überblicken konnte. Sie war mit Tüchern überspannt, um die Zuschauer vor allen Unannehmlichkeiten des Wetters zu schützen. In den Gängen zwischen den Sitzreihen gingen Bedienstete auf und ab. Sie schenkten kühle Getränke aus, servierten Obst, gebratenes Fleisch und Zuckerwerk aller Arten. Alles war vom Schein glasbeschirmter Lichter erhellt.

»Ich präsentiere den Läufer Kleintatze, Sieger des Hohen und Niederen Turniers zu Ehren seiner kaiserlichen Majestät des Oberkaisers.«

Von der Tribüne hörte Kleintatze verhaltenes Gemurmel. Er beugte das Knie, hob aber den Kopf und blickte auf die beiden Throne. Dort saßen sie Seite an Seite: Oberkaiser und Unterkaiser, die Herren der geistigen und weltlichen Macht im Reich.

Beide Kaiser thronten in vollem Ornat auf der Tribüne und das bedeutete unzählige Lagen sehr teurer und sehr schwerer Stoffe. Auf ihren Köpfen trugen sie Kronen und ihre Gesichter waren hinter Masken verborgen: hölzerne Hüllen, die keinen Flecken Haut sehen ließen.

Der Schreiber erhob sich und zog Kleintatze auf die Füße.

»Kleintatze!«, schallte es von der Tribüne.

Prompt ging Kleintatze wieder auf die Knie. Der Schreiber packte ihn am Kragen und zog ihn, den Kopf schüttelnd, auf die Beine. Irgendwer kicherte.

»Tritt vor, Kleintatze, Sieger des Hohen und Niederen Turniers«, sagte der Unterkaiser und erhob sich. »Du hast den Kampf für dich entschieden als erster Teilnehmer aus dem Niederen Turnier, dem das jemals gelungen ist. Wir werden dich und deine Fähigkeiten als kleine Sensation in Erinnerung behalten. Und nun ist es an der Zeit, dass du deinen Preis einforderst, um unsere zahlreichen Gäste nicht um einen Abend voller Bier, Wein und Lieder zu bringen, die dir zu Ehren getrunken und gesungen werden wollen.«

Kleintatze zögerte. Er dachte an Eisenhand, aber dann kam ihm der Wunsch leicht über die Lippen.

»Ich wünsche einen letzten Kampf – gegen euch Majestät.«

Augenblicklich brach ein Tumult aus: Eine Woge von Rufen und Schreien stieg durch die Menge. Auf der kaiserlichen Tribüne fielen manche tatsächlich in Ohnmacht.

Kleintatze hätte fast gelacht. Der Schreiber sprang ihn von hinten an, riss ihn herum und flüsterte so wild und aufgeregt auf ihn ein, dass selbst die Laute auf den äußersten Plätzen alles hörten:

»BIST – DU – V-E-R-R-Ü-C-K-T – GEWORDEN? Was soll das? Was ist mit Gold, Land, einem Titel? Nimm den Wunsch zurück! Sofort!«

»Nein«, entgegnete Kleintatze.

Der Schreiber sah ihn erschrocken und ungläubig an.

»Was soll schon passieren? Es ist nur ein Kampf!«, versuchte Kleintatze ihn zu beruhigen.

»Der Unterkaiser kämpft niemals im Turnier und das hat seinen Grund«, presste der Schreiber hervor. »Er macht private Waffenübungen – natürlich. Übungen! Die unterkaiserliche Majestät kämpft niemals zum Vergnügen. Ein Kampf mit dem Unterkaiser bedeutet immer, auf Leben und Tod zu kämpfen!«

Die Augen des Schreibers stierten, seine Hände zitterten und er keuchte heftig, nachdem er seine Erklärung mit größter Geschwindigkeit und ohne zu atmen abgespult hatte.

»Kleintatze!«, rief der Unterkaiser von der Tribüne, »Du bist jung und kennst die Gepflogenheiten der Hauptstadt offenbar nicht. Sei gewarnt. Falls du gegen mich kämpfst, werde ich dich töten. Ich bin nicht umsonst in meinem Amt. Ich bin der beste Kämpfer der Graslande!«

Mit hochrotem Kopf trat Kleintatze einen weiteren Schritt an die Tribüne heran.

»Majestät, ich bitte um Vergebung. Ich habe unklug gewählt und etwas gewünscht, vor dem man mich bewahren muss. Ich danke für Euren Schutz. Ich nehme meinen Wunsch zurück und möchte euch stattdessen um etwas Anderes bitten. Gewährt – als bester Krieger der Graslande – mir die Gunst und bildet mich im Kampf aus.«

Erneut hob das Gemurmel unter den Gästen der kaiserlichen Tribüne an.

»Was du verlangst, ist keine Kleinigkeit. Aber es wird dir gewährt. Du wirst mit Schreibtreu gehen und dich für die Zeit deines Aufenthaltes seinem Orden anschließen. Morgen wirst du mit uns die Große Messe feiern. Danach wirst du jeden Tag an meinen privaten Waffenübungen teilnehmen, bis ich deine Ausbildung für beendet erkläre.«

Der Unterkaiser hatte geendet und ließ sich auf seinem Thron nieder. Statt seiner sprach der Oberkaiser.

»Selten hat jemand mit solcher Vehemenz gefordert, was du heute wünschtest, Kleintatze, aber du bist der Sieger des Turniers und so soll dies dein Preis sein.«

Eine leichte Änderung in der Körperhaltung des Oberkaisers verriet Kleintatze, dass das Kommende ihm selbst das meiste Vergnügen bereitete.

»Und nun, lasst das Fest beginnen. Alle sollen essen, trinken und fröhlich sein.«

Der Oberkaiser klatschte dreimal in die Hände und wie ein Wesen erhoben sich alle auf der Tribüne von ihren Plätzen und verließen sie. Kleintatze verfolgte reglos das Schauspiel.

»Komm mit!«, sagte der Schreiber.

»Aber –«

Der Schreiber rollte mit den Augen.

»Ich bin Schreibtreu. Und bald sind wir sicherlich die besten Freunde.«

Eine andere Welt

Laufgeschwind schreckte hoch, als es an die Tür seiner Kammer klopfte. Schmiedfleiß neben ihm schmiegte sich in ihr Kissen und blinzelte ihn an.

»Wer ist das?«

»Keine Ahnung.«

»Dann bleib doch einfach liegen.«

Sie lächelte ihn neckisch an, aber erneut klopfte es.

»Ich weiß, dass du ein Mädchen da drin hast, Laufgeschwind«, rief Schreibtreu gut gelaunt von der anderen Seite der Tür.

»Mist!«

Laufgeschwind sprang aus dem Bett und zog Hose und Hemd über. Dann riss er die Tür auf und drängte sich durch einen Spalt in den Gang.

»Kannst du vielleicht noch lauter sprechen? Vielleicht hat es Kriechfuß noch nicht gehört.«

Schreibtreu lachte.

»Ach, wegen Liebeleien ist hier noch niemand rausgeflogen, das solltest du nach über einem halben Jahr wissen. Die meisten lernen irgendwann jemanden kennen und verlassen dann das Ordenshaus.«

Laufgeschwind verdrehte die Augen. Sein braunes, kurzes Haar wurde trotz seiner jungen Jahre an den Schläfen schon dünner. Seinen Mund und das leicht vorspringende Kinn umspannte ein unruhiger Zug. Schreibtreu konnte sich keinen Reim darauf machen, zog es aber vor, es nicht so genau wissen zu wollen. Die Grünstadt hatte ohnehin zu viele Geheimnisse und Schreibtreu kannte zu seinem Bedauern weit mehr, als ihm lieb war.

»Jedenfalls scheinst du vergessen zu haben, dass du und ich den gestrigen Sieger vor der Messe zu Kriechfuß bringen sollen.«

Laufgeschwind stöhnte verärgert über sich selbst, nickte aber und verschwand in seinem Zimmer. Schreibtreu hörte ein paar liebevoll geflüsterte Worte und schmunzelte.

»Und denk daran, bleib dicht bei mir. Die Stadt platzt aus allen Nähten und wenn ich dich auf dem Weg zum Ordenshaus verliere, brauche ich den Rest der Woche, um dich wiederzufinden.«

Zu dritt verließen sie das Gasthaus, in dem Schreibtreu Kleintatze tags zuvor untergebracht hatte.

»Vielleicht finde ich mich ja selbst zur Kathedrale«, antwortete Kleintatze.

»Das kann schon sein«, mischte sich Laufgeschwind ein, »aber du kommst nicht hinein und da deine Anwesenheit gewünscht wird, wäre es unklug, dem nicht zu entsprechen.«

Kleintatze zuckte mit den Schultern, sah aber ein, dass Laufgeschwind, den erst seit diesem Morgen kannte, recht hatte. Auf der Straße umfing sie der Lärm der für die Tageszeit ungewöhnlich belebten Stadt. An einen Platz auf den Bergwagen war kaum zu denken. Sie waren bereits mit Leuten aus allen Ecken des Reiches gefüllt. Karren drängten sich neben Reitern, Wandler zwischen Fußgängern.

Alle strömten zur größten Kathedrale der Graslande, wo in wenigen Stunden die Messe zu Ehren des neuen Oberkaisers gefeiert werden sollte: geladene, hochherrschaftliche Gäste ebenso wie unzählige und ungeladene Schaulustige. Alle wollten etwas vom Abglanz der kaiserlichen Herrlichkeit und dem Licht der Priester sehen.

Laufgeschwinds Griff schloss sich eisern um Kleintatzes Arm, als er ihn aus dem Gedränge der Leute in eine bedeutend kleinere Gasse zerrte. Dort war es weniger eng und zwischen den Häusern war ein kühler Hauch zu spüren. Zerzaust kam auch Schreibtreu in den Abzweig gestolpert.

»Wäre es zu viel verlangt, wenn du mir ein Zeichen gibst, bevor du wieder deine Zauberkräfte zum Einsatz bringst?«

Kleintatze sah beide mit großen Augen an, aber Schreibtreu brach in Gelächter aus. Laufgeschwind schnaufte nur und schüttelte mit dem Kopf.

»Er meint das nicht so«, sagte er zu Kleintatze.