Die letzten Kinder Bessarabiens. Neuanfang nach Krieg Flucht und Vertreibung in der DDR - Artur Weiß - E-Book

Die letzten Kinder Bessarabiens. Neuanfang nach Krieg Flucht und Vertreibung in der DDR E-Book

Artur Weiß

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Beschreibung

Auf Schutt und Asche, die der Zweite Weltkrieg hinterließ, gingen die Flüchtlinge aus vielen europäischen Ländern ab Mai 1945 daran, für sich eine neue Heimat aufzubauen. Dies betraf insbesondere die Bessarabiendeutschen, die zum wiederholten Male ihre Heimat verloren haben. Zielbewusst und mit starkem Willen, zogen viele Jahre in das Land, während der wir vier Geschwister, tagein tagaus, unter erschwerten Bedingungen an der Verwirklichung unserer Ideale arbeiteten. In der russischen Besatzungszone, die später DDR genannt wurde, war es nicht leicht, unter den herrschenden Verhältnissen und Bedingungen eigene Ziele zu verwirklichen. Unser Vorgehen, im Leben Eigentum und persönlichen Wohlstand zu erarbeiten, was wir von unseren Eltern gelernt hatten, sorgte für den Widerstand der Kommunisten. Durch die Hürden kommunistischer Ideale, dauerte es lange, bis wir unser Ziel erreichten. Mit Ausdauer, Fleiß und äußerster Sparsamkeit haben wir alle Hindernisse überwunden, was teilweise bei den Genossen Unbehagen auslöste. Wenn es auch ein halbes Leben lang dauerte, so sind wir doch früher oder etwas später, ganz oben angekommen. Von nun an konnten wir zufrieden das Erreichte nutzen und uns dessen bedienen. Nach der Veröffentlichung meines ersten Buches »Von Bessarabien nach Belzig« lag es mir daran, unseren weiteren Lebensweg zu vermitteln.

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Artur Weiß

DIE LETZTEN KINDER BESSARABIENS

Neuanfang nach Krieg, Flucht und Vertreibung in der DDR

Vier bewegende und tragische Geschwisterschicksale

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Titelbild

Die Geschwister

Artur, Irma, Helmuth und Herbert

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitender Artikel

Neuanfang und Berufsausbildung

Schulentlassung von Helmuth (Konfirmation)

Allgemeines und Familiäres

Politische Entwicklungen in der russischen Zone ab 1945

Staatlicher Eingriff: persönlich und familiär

Nachtrag zum Geschehen 1958

Unsere Entwicklungen

Meine Meisterprüfung, der Hausbau und Sonstiges

Mutter geht in Rente und Sonstiges

Beruflicher Aufstieg und Begleiterscheinungen

Mutter und ihr Glück des Lebens

Der Kampf mit den DDR-Behörden

Einzug in das neue Eigenheim

Das Ende meiner beruflichen Laufbahn

Meine Verhaftung und Erlebnisse in der U-Haft

Mein Gerichtsverfahren und Urteilsspruch

Einzug in den DDR-Strafvollzug

Zum Verbrecher gemacht und weggesperrt

Wieder zu Hause im Kreis meiner Familie

Das Ende der DDR und der Mauerfall

Zusammenfassender Artikel

Bemerkungen

Schlusswort

Vorwort

Auf dem Bauernhof meiner Eltern, Alfred und Anna Weiß, erblickten wir vier Geschwister in den Jahren 1931 bis 1939 das Licht der Welt. Unsere Kindheit erlebten wir in Klöstitz, (Bessarabien), deshalb haben wir noch „Bessarabische Wurzeln“. Somit sind wir mit die letzten Erlebnis- und Zeitzeugen, die in Bessarabien geboren sind und sich noch im hohen Alter ihrer Gesundheit erfreuen können. Bedingt durch den Hitler-Stalin-Pakt, sind alle Bessarabiendeutschen 1940 unter dem Motto „Kommt heim ins Reich“ umgesiedelt worden. 1941 fanden sie in dem besetzten Polen auf enteigneten polnischen Bauernhöfen eine neue Heimat. Die gesamte Thematik der bessarabiendeutschen Geschichte habe ich in meinem Buch: „Von Bessarabien nach Belzig“, das im November 2013 erschienen ist, beschrieben. Nach wiederholtem Verlust der Heimat gingen die entwurzelten Bessarabier daran, sich in Polen ein neues Zuhause zu schaffen. Weil es inzwischen zum Krieg gegen Russland gekommen war, dauerte es nur bis Januar 1945, bis es zur Flucht vor der heranrückenden Ostfront kam. Wieder verloren die Bauern alles und kamen in Deutschland mit dem, was sie auf dem Leibe trugen, mit Erfrierungen an den Gliedmaßen an. Nun waren sie mittellose Flüchtlinge, die auf engstem Raum bei Bauern in Dörfern einquartiert wurden. Als sie das Grauenhafte auf der Flucht Erlebte verarbeitet hatten und den Blick wieder nach vorn richten konnten, wagten alle erneut einen Neuanfang. Die in der russischen Zone verbliebenen Flüchtlinge hatten es viel schwerer, von Seiten des Staates unterstützt zu werden. In den anderen Teilen Deutschlands wurden die Flüchtlinge mit Ausgleichzahlungen für ihr zurückgelassenes Eigentum entschädigt. Am Lebensweg der vier Geschwister möchte ich zeigen, wie wir die Probleme meisterten, wie jeder seinen Weg ging in Abhängigkeit von der Gesellschaftsordnung und ihrer Politik. Auch wie gezielt die SED-Politik, die Stasi mit einbegriffen, sich in die familiären Dingen einmischte.

Voller Hochachtung gedenken wir Geschwister unserer Mutter, die trotz aller Entbehrungen und Ängste ihre vier Kinder zu ehrlichen, arbeitsamen Menschen erzog.

Einleitender Artikel

Um dieses Buch („Die letzten Kinder Bessarabiens“) richtig zu verstehen, ist es angebracht, den ersten Teil „Von Bessarabien nach Belzig“ zu lesen. Darin wird beschrieben, wer wir sind, woher wir kommen und dabei auch der Leidensweg der Kolonisten, die 1813 aus Baden-Württemberg (Freudenstadt) nach Bessarabien ausgewandert sind. Aus diesen Kolonisten sind meine Vorfahren hervorgegangen, die das Steppen- und Nomadenland kultivierten und 150 Jahre dort lebten. Während der politischen Turbulenzen 1940 entstand der Hitler-Stalin-Pakt, in dem unter anderem die Rücksiedlung der Bessarabiendeutschen „heim ins Reich“ verankert war. Nach der Umsiedlung in das „Dritte Reich“ erfolgte die Ansiedlung der bessarabischen Bauern 1941 auf enteignete polnische Bauernhöfe in das besetzte Polen. In dem so genannten Warthegau bewirtschafteten sie die ihnen anvertrauten Höfe. Januar 1945 erreichte sie der Räumungsbefehl und sie mussten erneut die neue Heimat verlassen. Seit 1941 führte Deutschland Krieg gegen Russland, 1944 stand fest, dass ihn das NS Regime verlor. Es erfolgte der Rückzug und die Front erreichte Polen. Tausende Treckwagengespanne verließen in Kolonnen das Staatsgebiet Polens in Richtung Deutschland, früher oder später von der Front eingeholt. Schließlich waren die Trecks täglich den Luftangriffen ausgesetzt und auch dabei gingen einige in Flammen auf. Am 11. Tag unserer Flucht hat es unseren Wagen erwischt, den ich als 14-Jähriger kutschierte. Ich konnte ihn nicht mehr halten und er stürzte eine hohe Böschung hinunter. Damit war unser Besitz verloren, nur einen Koffer konnten wir retten. Wir hatten Glück im Unglück, ein Wehrmachtsfahrzeug nahm uns mit. Nun hatten wir nur das, was wir am Leibe trugen.

Nach 12 Tagen der Flucht bei minus 20 Grad Frost und hohem Schnee erreichten wir Deutschland und kamen in ein Flüchtlingsaufnahmelager. Nach fast zwei Wochen in grimmiger Kälte, bei Tag und Nacht, tauten wir in dem beheizten Saal regelrecht auf. Hunderte Frauen und Kinder lagen am Boden und schliefen, manche riefen traumatisiert nach Hilfe.

Zermürbt von der 14-tägigen Flucht von Polen, mit Erfrierungen an Händen und Beinen erreichten wir am 26. Januar 1945 mit dem Zug von Dresden kommend unser vorläufiges Ziel, die Kreisstadt Belzig. Die Flüchtlinge wurden für einige Zeit in einem Kinosaal untergebracht, wurden medizinisch behandelt und eingekleidet.

Dieser Zug brachte uns nach Belzig in Sicherheit

Am frühen Morgen des 28. Januar 1945 begannen die NS-Behörden mit der Verteilung der Familien auf die umliegenden Dörfer von Belzig. Bei grimmiger Kälte von minus 20 Grad brachte uns ein Bus in das Dorf Mörz, hier stiegen drei Familien mit gleichaltrigen Kindern aus. Unserer Mutter wurde bei einem Bauern für ihre vier Kinder ein Zimmer angewiesen, in dem zwei Betten standen und das mit einem eisernen Ofen beheizbar war.

Nun hatten wir alles verloren, aber waren in Sicherheit, wenn auch nur mit dem, was jeder auf dem Leib trug. Mit Tränen in den Augen sah sich Mutter im Zimmer um und sagte schluchzend: „Nun muss ich wieder einmal von vorne anfangen, ohne euren Vater, der im Krieg gegen Russland kämpfen muss.“ Dem fügte sie dann noch hinzu: „Jetzt habe ich ja große Kinder, die mir dabei helfen werden.“ Nachdenklich begann Mutter mit dem Auspacken des einzigen Koffers, den sie von unserem verunglückten Pferdewagen hatte retten können. Wehmütig und mit zitternden Händen legte sie den Inhalt auf die Betten und bemerkte traurig: „Mehr haben wir nicht retten können.“

Dann kam jemand die Treppe hoch. Es war die Tochter des Bauern, die uns zum Mittagessen einlud, was uns sehr gelegen kam. In ihrer Wohnküche servierte sie uns einen deftigen ländlichen Braten, der uns vorzüglich schmeckte, weil es die erste Mahlzeit seit Tagen war.

Nach und nach versammelte sich die Familie des Bauern, welche uns mit Fragen überschüttete, wer wir sind und woher wir kommen. Dass durch einen Fliegerangriff unser Gespann getroffen und eine Böschung hinuntergestürzt war, löste Betroffenheit bei der Bauernfamilie aus. Im Laufe der Unterhaltung stellte sich die Frage, wie es in Zukunft weitergehen sollte. Diesbezüglich machte der Bauer den Vorschlag, uns für die nächsten Wochen voll zu verpflegen, im Gegenzug sollten kleine Arbeiten von uns verrichtet werden. Das hielten Mutter und ich für eine annehmbare Lösung, soweit sich die Arbeit auf Stalldienst und Füttern der Tiere bezog. Diese Stallarbeiten hatten Mutter und ich als 14-Jähriger ab Februar an. Diese begann um 5 Uhr in der Frühe und dauerte zwei Stunden. Am Abend dauerte die Fütterung drei Stunden, wobei die 26 Milchkühe von Hand gemolken wurden.

Somit war unsere Familie für das Erste versorgt, wenn auch beengt. Wir mussten uns zu fünft zwei Betten teilen. Es machte sich erforderlich, dass Mutter zwei Strohsäcke anfertigte, die tagsüber unter den Betten verstaut wurden.

An die fremde Umgebung, an Land und Leute mussten wir uns erst gewöhnen, auch an die Sitten und Gebräuche.

Die Gemeindevertretung leitete unsere Einschulung in die Wege, so konnten Irma, Helmuth und ich täglich die Dorfschule in Mörz besuchen. Dort lernte ich nicht nur die einheimischen Schulkinder kennen, sondern auch die Kinder der anderen Flüchtlingsfamilien. In einer Pause sprachen wir uns gegenseitig an. Simon und Hugo waren wie ich 14 Jahre alt, was uns schnell zu Freunden werden ließ. Wir werden das achte Schuljahr gemeinsam beenden und dann in das Arbeitsleben einsteigen.

Vorerst muss unsere Familie sesshaft werden und durch die nächste Zeit kommen. Weil wir als Flüchtlinge nicht willkommen sind, ist es doppelt schwer, sich zu integrieren.

Nach einigen Monaten erreichte der Krieg das Deutsche Reich, die Folgen waren Not, Tod, und Gewalt. Dem NS-Regime war es im Laufe des Krieges gelungen, die russische Armee dem deutschen Volk durch Hasspropaganda als Schreckgespenst darzustellen, das sich durch Unmenschlichkeit auszeichnet. Als die Front unsere Region erreichte, ergriffen die Bauernfamilien und wir mit ihnen die Flucht, um den Russen nicht in die Hände zu fallen. Die Strategie der Alliierten änderte sich dahingehend, dass die russische Armee den Rest des Reiches und Berlin vom Faschismus befreien sollte. Somit war unsere Flucht umsonst und wir fuhren in unseren Heimatort Mörz zurück. wo uns schon auf dem Weg dahin die Rote Armee begegnete. Mit Angstschweiß auf der Stirn sahen wir den ersten Jeep mit russischen Soldaten auf uns zukommen, die Maschinenpistolen waren auf uns gerichtet. Nach einiger Zeit erreichte unser Treck die Stadt Wiesenburg, wo es von Soldaten nur so wimmelte. Sie belästigten Männer und Frauen mit den schnell gelernten Worten, „Uhri Uhri“ (sie meinten Uhren) und „Frau komm mit“. Als Kinder wussten wir nicht, was das bedeutet.

Soll sich die Gräuelpropaganda der Nazis im Gedeih doch bewahrheiten? Dann kämen wir ja vom Regen in die Traufe. Leider gab es die Übergriffe und Plünderungen, wogegen uns die deutschen Behörden nicht schützen konnten.

Die russische Armee hat uns zwar von der braunen Diktatur befreit, hat uns aber die rote nicht nur mitgebracht, sondern auch gleich vorgeführt. Betrunkene russische Soldaten zogen raubend und vergewaltigend durch die Dörfer, sodass wir schnell begriffen hatten, was uns in der Zukunft bevorstehen kann.

Stellvertretend für viele Übergriffe möchte ich nur einen herausstellen, der sich in unserem Dorf zugetragen hat.

In den Dörfern waren Wachposten eingerichtet, die aus einem Offizier und drei Soldaten bestanden, allabendlich floss der Wodka in Strömen und sie machten sich lautstark bemerkbar. Vor Übermut drangen sie in die Häuser ein und nahmen sich junge Frauen mit, vergewaltigten sie und warfen sie am Morgen halb nackt auf die Straße. Bei den Dorfbewohnern herrschte Angst und Abscheu. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, uns vor Überfällen zu schützen.

Die inzwischen sanierte Dorfschule in Mörz

Meine Konfirmation in Mörz 1946 (5. v .r)

Die Zeit verging und ich wurde 1946 aus der Schule entlassen, mein Bruder Herbert eingeschult. Zur gleichen Zeit wurden Simon, Hugo und ich in der Kirche zu Mörz konfirmiert. Die russisch-diktatorische Politik machte sich lautstark und mit Gewalt bemerkbar. Die Enteignung von Gutsbesitzern und Großbauern setzte ein, sodass wir als Geschwister in der Landwirtschaft keine Zukunft mehr sahen. Das führte mich dazu, einen Handwerksberuf zu ergreifen, was meine Geschwister etwas später auch taten. Unsere Mutter, einst stolze Bauernfrau auf eigener Scholle, blieb für viele Jahre Magd auf dem fremden Hof. Irgendwann wurde die Landarbeit für Mutter zu schwer und sie nahm eine Arbeit im Altersheim als Stationshilfe an.

Neuanfang und Berufsausbildung

In der damaligen russischen Besatzungszone schickten sich die Flüchtlinge aus den vielen Ländern an, der Familie eine neue Heimat zu schaffen. Dies betraf auch uns Bessarabiendeutsche. Die erlebten Grausamkeiten und Todesängste während der Flucht von Polen nach Deutschland hatten mich hart im Nehmen gemacht. Ich war der Älteste und spürte, dass ich Verantwortung für die Jüngeren tragen musste. Vor allem hatte ich für Mutter eine Stütze zu sein. Wenn es auch schmerzte, wieder unter einer neuen Gewaltherrschaft leben und arbeiten zu müssen, verdrängten wir doch die vorhandenen Realitäten.

Die Möglichkeit nach Baden-Württemberg umzusiedeln, wie es viele unserer Landsleute taten, wurde uns von der russischen Besatzungsmacht verweigert. An Unrecht, Gewalt und Bevormundung gewöhnt, beschloss ich, in der russischen Zone zu bleiben und die Landarbeit an den Nagel zu hängen. Der Bauer war meinen bescheidenen Lohnforderungen nicht nachgekommen, es kam dann zu Streitigkeiten.

Der Wunsch, einen Beruf zu ergreifen, nahm vollen Besitz von mir. Ich durfte ihn in Belzig beim Schmiedemeister Ernst Gottwald umsetzen. Nun schon als 17-Jähriger trat ich die dreijährige Lehre am 15. November 1947 an. So begann für mich ein neuer wichtiger Lebensabschnitt, der mich froh und glücklich stimmte.

Mein erster Eindruck in der Schmiede, der Meister beim Hufeisen schmieden

Zum ersten Mal in meinem jungen Leben konnte ich auf eigenen Beinen stehen und mein eigenes Geld verdienen. Der tägliche Weg zur Arbeit war beschwert, weil er mit einem Fußmarsch von drei Kilometern zur Eisenbahn nach Dahnsdorf verbunden war. Später bewältigte ich die Strecke mit einem Fahrrad, das mir durch ein Lebensmitteltauschgeschäft zum Eigentum wurde. Auf dieselbe Weise hat auch mein Freud Simon ein Fahrrad bekommen, denn mit Lebensmitteln war es 1947 möglich, alles zu bekommen. Weil sich Simon eine Lehrstelle als Schumacher beschaffte, fuhren wir beide täglich bei Wind und Wetter acht Kilometer nach Belzig zur Arbeit.

Das tägliche Miteinander ließ unsere Freundschaft noch enger werden, es entstand eine echte Kameradschaft, wozu auch Hugo zählte. Mein Freund Hugo war zunächst in der Landwirtschaft geblieben, erst später hat er den Beruf eines Lokomotivführers erlernt. Wir als Trio waren unzertrennlich und hatten inzwischen guten Kontakt zu der einheimischen Jugend gefunden.

In dieser alten Schmiede erlernte ich den Beruf eines Schmiedes

Wenn es zu Meinungsverschiedenheiten, Rangeleien und Handgreiflichkeiten mit der einheimischen Jugend gekommen war, brauchte man gute Freunde, um sich wehren zu können.

Der Pfarrer und Lehrer des Dorfes unterstützten die Jugendgruppe massiv bei ihrer Arbeit und organisierten Veranstaltungen. Sie sorgten auch dafür, dass wir Flüchtlinge in der Gruppe nicht mehr ignoriert und beleidigt wurden, sondern einfach dazugehörten. Traditionell wurden Theaterstücke eingeübt, die unter der Leitung des Dorfschullehrers aufgeführt wurden. Anschließend spielte im Saal die Musik zum Tanz auf. In den Wintermonaten gingen die Mädels und jungen Frauen abwechselnd zur Spinnichte (Spinnstube), zu Spinn- und Nadelarbeiten. Dabei wurden Heimatlieder gesungen und Neuigkeiten ausgetauscht. Das war wohl nicht so recht erwünscht, die kommunistische Jugend-Organisation (FDJ) schickte ihre Funktionäre auf die Dörfer, die bestehenden Jugendgruppen sollten in die neue Organisation eintreten. Die Bürgermeister bekamen Weisungen, in ihren Gemeinden kommunistische Organisationen wie FDJ, SED, FDGB und DSF zu gründen. Die Einflussnahme der Funktionäre in das dörfliche Leben war das Ende verschiedener Traditionen, die zu den Lebensgewohnheiten der Bauern gehört hatten. Dazu kamen noch die Bestrebungen zur Kollektivierung der Landwirtschaft und eine Reihe anderer einengender Bestimmungen. Dies zusammen machte dem herkömmlichen Leben auf dem Dorf den Garaus. Das ländliche, sittliche und heimatliche Flair ging durch die atheistische-kommunistische Einflussnahme für immer verloren.

Meine beiden Freunde und ich distanzierten sich von allen politischen Aktivitäten, weil wir nicht noch einmal von einer Diktatur gedrillt und missbraucht werden wollten. Vielmehr wandten wir uns des Lebens schönster Seite zu, weil uns Siebzehnjährigen auffiel, dass sich die Mädchen für uns interessierten. Aufgrund des Krieges, der Flucht und Vertreibung erfasste uns die Pubertät erst später als die anderen. Mit einer Freundin die Abende und Wochenenden zu verbringen, war schön. Das half auch, die schrecklichen Erlebnisse zu verdrängen. Wenn das Wochenende nahte, hatten Hugo, Simon und ich immer einen festen Plan, wohin wir mit unseren Freundinnen per Fahrrad tanzen fahren wollten.

Wenn meine Schwester Irma von der Schule nach Hause kam, brachte sie öfter die eine oder andere Freundin mit, die mir schöne Augen machte. Dies ließ ich wohlwollend über mich ergehen. Zurzeit ging es in ihren Gesprächen darum, welche Kleider sie zu der anstehenden Konfirmation tragen werden. Traditionell waren die Kleider blau zur Prüfung, welche vier Wochen vor der Konfirmation stattfand, und schwarz zur Konfirmation. Ein blaues Kleid hatte Irma, ein Schwarzes aber fehlte ihr, Mutter suchte einen Ausweg und fand ihn. Es verging kaum ein Tag, wo nicht Frauen und Männer aus den Großstädten im Dorf ihre Habseligkeiten gegen Lebensmittel eintauschten. Diese Situation nutzte Mutter, als eine Frau sie nach Lebensmitteln ansprach, die zufällig ein Kleid am Leibe trug, wie es sich meine Schwester wünschte. Nun geschah etwas Makaberes: Die junge Frau gab ihr Kleid für Kartoffeln, Erbsen, Mehl und ein paar Eier her. Damit die Frau nicht halb nackt den Hof verlassen musste, gab Mutter ihr ein abgelegtes Kleid. Hier zeigt sich, was man alles tut, wenn einem der Magen knurrt.

Die Freude war ganz auf meiner Schwester Seite, als Mutter ihr das eingetauschte Kleid zeigte. Mit Freudentränen in den Augen umarmte sie ihre Mutter. Bei der Anprobe wurde festgestellt, dass nur wenige Änderungen vorgenommen werden müssen. Dies besorgte eine Flüchtlingsfrau aus Schlesien. Es war Eile geboten, weil es nur noch wenige Tage bis zur Einsegnung waren. Irma konnte es kaum erwarten, bis sie endlich ihr Kleid anziehen konnte. Aber zuerst kam der Tag der Konfirmandenprüfung, wobei die Mädels alle in Blau gingen. Irma wurde von ihrer Freundin Plantina abgeholt. Dann gingen die beiden Vierzehnjährigen die Dorfstraße entlang, ich schaute ihnen zufrieden nach. Stunden später kamen sie mit strahlenden Gesichtern zurück. Stolz zeigten sie uns ihre Zeugnisse und auch das Datum der Konfirmation. Schon am frühen Morgen des 14. April 1947 lag eine gewisse Unruhe in der Luft, als Irma endlich ihr Lieblingskleid anzog und von uns allen bewundert wurde. Indem kam Plantina mit zwei Freundinnen lärmend und aufgeregt die Treppe hoch. Auch sie trugen ihre schönsten Kleider. Sie bestaunten sich gegenseitig und tauschten Komplimente. Dann steckte Mutter ihrer Tochter noch eine Ansteckrose an das schwarze Kleid. Nun hatte das arme Flüchtlingsmädchen doch noch eins der schönsten Kleider an.

Als das Glockengeläut einsetzte, stürzten die Konfirmandinnen die Treppe hinunter und liefen eilig zu ihrem Treffpunkt. Aus allen Richtungen strömten die Dorfbewohner in die Kirche, auch wir folgten ihnen.

In der gut besuchten Kirche fanden alle einen Platz, dann zogen bei Orgelmusik die Konfirmanden ein und nahmen im Altarraum ihre Plätze ein. Pfarrer Maier trug zur Feier des Tages seine Predigt vor, in welcher er sich an die Konfirmanden und Eltern wandte. Auch ließ er die gegenwärtige Zeit nicht unerwähnt und ermahnte die Gemeinde zur Besonnenheit.

Wahrscheinlich veranlassten auch ihn die schlechte Politik und die Lebensbedingungen dazu, die Versorgung war 1947 immer noch katastrophal und alles war rationiert. Daher war es uns Flüchtlingen nicht möglich, nach dem Kirchengang eine Konfirmationsfeier abzuhalten. Es reichte nur zu einem Kuchen, den Mutter gebacken hatte. Die Bauern konnten, wie üblich, für ihre Kinder eine reiche Festtafel bieten und den Gästen ein berauschendes Fest ausrichten. Dies hätte unsere Mutter zu Hause auch gekonnt, wenn wir nicht durch Krieg, Flucht und Vertreibung alles verloren hätten.

Mit dieser Feststellung ging eine turbulente Zeit zu Ende und für Irma begann ein neuer Lebensabschnitt.

Vorerst musste sie, wie alle anderen Konfirmanden, bis zu den Sommerferien den Schulabschluss der 8. Klasse machen.

Inzwischen waren meine kleinen Brüder Helmuth und Herbert herangewachsen und besuchten täglich die Schule in Mörz. Sie hatten Zeit, sich nur um die Belange der Schule zu kümmern und konnten intensiv ihre Schularbeiten machen.

Meine Schuljahre waren durch den Zweiten Weltkrieg anders verlaufen. Ich kann aber trotz allem Unbehagen mit Stolz den Schmiedeberuf erlernen. Wenn sich auch in den letzten zwei Jahren vieles in unserer Familie verbesserte, war es doch schwer für Mutter und mich, unsere Bedürfnisse aufgrund der Mangelwirtschaft zu erfüllen. Mutter arbeitete weiter bei dem Bauern für Lebensmittel und 40 Mark pro Monat und ich brachte meinen Lehrlingslohn von 60 Mark in die Familienkasse ein, damit war die Not weitgehend gebannt.

Was uns als Familie seit unserer Ankunft im Winter 1945 in Mörz stark belastet, war der Verlust unseres Vaters. Alle Versuche, ihn durch die Suchdienste zu finden, blieben erfolglos. Glück hatten Hugo und Simon, ihre Väter waren durch das Rote Kreuz gefunden worden. Dadurch waren sie als Familie besser gestellt. Wir wohnten als Familie noch immer zu fünft in einer Stube. Es machte es sich erforderlich, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. So wurde mit dem Einverständnis des Bauern die neben der Stube vorhandene Futterkammer als Wohnküche umgebaut. Von nun an hatte jeder seinen Sitzplatz am Tisch und ich zum ersten Mal mit 17 Jahren mein eigenes Bett. Mein Bruder Helmuth war nun schon 10 und Herbert 7 Jahre alt, sie brauchten sich nicht mehr das Bett teilen. So hatte nach Jahren jeder seinen eigenen Schlafplatz. Für unsere Familie war das ein kleiner, aber wichtiger Schritt nach vorn. Sogar einen Schrank für unsere Kleider konnten wir aufstellen.

Um in der Versorgung unserer Familie selbstständig zu werden, schafften wir Jungs uns Kaninchen an, um ab und an einen Braten zu haben.

Auch ergab es sich, vom Bauern ein Ferkel (Kümmerling) zu übernehmen, welches Mutter in Pflege nahm. Sie mästete es zum prächtigen Schlachtschwein. Jährlich wurden auf dem Bauernhof mehrere Schweine für all die Beschäftigten auf dem Gehöft geschlachtet. Hierbei wurde unser Schwein auch zu Fleisch und Wurst verarbeitet. Somit hatten wir als Familie eine Unabhängigkeit vom Bauern erreicht, die Futtermittel für das Schwein hatten wir zu ersetzen. Dazu gingen wir auf den abgeernteten Feldern Kartoffeln stoppeln und Getreideähren nachlesen. Diese übergaben wir dem Bauern. Nach dem Motto: „Ohne Müh ist selten Brot“ praktizierten wir diese Möglichkeit einige Jahre, weil alle mittlerweile einen guten Appetit an den Tisch brachten.

Die Ernte des Jahres 1947 war voll im Gange und die großen Schulferien hatten begonnen. Dies bedeutete für Irma das Ende ihrer Schulzeit. Schon immer hatte sie den Wunsch, Schneiderin zu werden. Jedoch war es nicht möglich, in der näheren Umgebung eine Lehrstelle für sie zu finden. Gezwungenermaßen trat sie im Frühjahr 1948 in einer kleinen Gaststätte, die auch Landwirtschaft betrieb, eine Lehrstelle als Hausmädchen an. Dort bezog sie ein Zimmer mit Vollpension und erhielt einen Lohn von 20 Mark monatlich. Leider hat die Wirtin Irma in der Vorweihnachtszeit entlassen. Den Winter verbrachte sie wieder im Kreis ihrer Familie, sie wurde dann im Frühjahr 1949 im Nachbardorf als Dienstmädchen in der Landwirtschaft tätig.

Auch dort hatte sie ein Zimmer mit Vollpension und bekam 25 Mark pro Monat. Leider wurde sie auch hier nur als Saisonarbeiterin benutzt. Daraufhin hat Mutter mit ihrem Bauern für Irma eine stundenweise Arbeit in den Morgen- und Abendstunden für die Fütterung der Tiere ausgehandelt. Dies erwies sich zunächst als gute Lösung. Im Frühjahr 1950 bekam Irma eine Festanstellung. Ihr Lohn verbesserte sich auf 60 DDR-Mark. Nun waren Mutter und Tochter für längere Zeit ein Team auf dem Bauernhof und hatten öfter für andere Dinge des Lebens Zeit. Sie nähten sich mit einer erworbenen Nähmaschine ihre Kleider selbst, diesbezüglich konnte Mutter ihrer Tochter viel beibringen.

Mittlerweile sind nun schon fast fünf Jahre in der neuen Heimat vergangen, sodass die seelischen, moralischen und traumatischen Wunden von Krieg, Flucht und Vertreibung nicht mehr so wehtaten. Es wird Zeit, rückblickend über die nur schleppende wirtschaftliche und politische Entwicklung in der russischen Zone, in der wir leben müssen, Bilanz zu ziehen.

Der Wiederaufbau des durch den Krieg zerstörten Landes wurde anfangs durch die Demontage der noch heil gebliebenen Werke durch die Russen massiv erschwert. So kam es, dass eine von den alliierten Bombenangriffen verschont gebliebene Munitionsfabrik in meinem Heimatort Belzig mit der Unterstützung der deutschen Kommunisten gesprengt wurde. Eisenbahngleise wurden landesweit demontiert, Erdkabel wurden in Fronarbeit ausgegraben, verladen und per Eisenbahn in die Sowjetunion abtransportiert. An der Erdkabelaktion musste ich als Sechzehnjähriger teilnehmen. Die Norm war: 100m mussten pro Tag mit Pickelhacke, Spaten und Schippe ausgeschachtet werden. Und dies bis zu 16 Stunden, auch alte Männer wurden zur Arbeit aufgerufen.

Ein Teil der von den Bauern eingebrachten Ernte verließ auch Richtung Osten die Zone. Das schmälerte den Speiseplan der Menschen in Stadt und Land. Auch die Industrie wurde systematisch ausgenommen. Nur ein geringer Teil vom Kuchen bekam die Industrie. Den Löwenanteil kassierten die Russen. Das dauernde Abschöpfen der Landwirtschaft und Industrie wurde zur beliebten Dauererscheinung im Herrschaftsgebiet der russischen Zone. Die von Stalin 1946 eingesetzte Regierung war ihm in jeder Hinsicht hörig, daher konnte die Ulbrichtgruppe die wahren Interessen der Bevölkerung nicht durchsetzen.

Gezwungenermaßen entwickelte sich daher die so genannte DDR nur schleppend und rutschte in eine dauernde Mangelwirtschaft ab. So blieb den Menschen die Rationalisierung der Lebensmittel noch lange erhalten.

Was unsere Familie betraf, war sie in den letzten fünf Jahren gestärkt herangewachsen und hat sich voll integriert. Mutter, Irma und ich hatten ein sicheres Einkommen, meine Brüder besuchten erfolgreich die Schule. Wir haben die große Not gemeinsam überwunden. So gesehen können wir alle vorerst zufrieden nach vorne schauen. Was uns die Zukunft noch alles bringen wird, das steht in den Sternen. Durch Umsicht, Fleiß und Sparsamkeit ist es unserer Familie gelungen, nicht mehr Hunger leiden zu müssen. Vergessen sind die Erlebnisse der vierzehntägigen Flucht von Polen nach Deutschland.

Bei -20 Grad tauten wir unser gefrorenes Brot und die Wurst am Feuer auf, ließen den Schnee schmelzen, um uns Getränke zu machen. Wir stillten unseren Heißhunger mit heißem Tee, drängten damit die Kälte aus unseren Gliedern.

Das Auftauen der Lebensmittel am Knackholzfeuer