Die lichten Sommer - Simone Kucher - E-Book

Die lichten Sommer E-Book

Simone Kucher

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Beschreibung

Elisabeth – genannt Liz – wird Anfang der Fünfzigerjahre in einem kleinen Dorf in Süddeutschland geboren. Wie alle Frauen hier arbeitet auch sie schon als Jugendliche tagsüber in der Batteriefabrik. Wie niemand sonst ist sie das Kind von Geflüchteten, die nach Kriegsende als Deutsche aus der ehemaligen Tschechoslowakei vertrieben wurden. Während ihre Mutter Nevenka sich immer mehr in ihre Erinnerungen an die alte Heimat zurückzieht – an die widerspentig schöne Natur von damals, das eiskalte Wasser der Thaya und an eine schicksalhafte, zärtliche Freundschaft –, richtet Liz ihren Blick nach vorn. Aber wie schafft eine junge Frau den Aufstieg, wenn sie vollkommen auf sich allein gestellt ist. Noch dazu mit einer Last aus der Vergangenheit im Gepäck, von der ihre Mutter ihr nie gewagt hat zu erzählen.

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Seitenzahl: 287

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SIMONE KUCHER
DIE LICHTEN SOMMER
Roman
Für FelizeFür Jules
Als Bläuling, Admiral und Trauermantel,als Pfauenauge flattern sie umherund gaukeln dem Toren des Universums ein Lebenvor, das nicht wie nichts stirbt
Inger Christensen, Das Schmetterlingstal

1

Den Weg von der Fabrik nach Hause geht Liz zu Fuß. Gerade hat sie an der Kreuzung das letzte der Mädchen mit einem fröhlichen »Bis morgen!« verabschiedet. Morgen früh wird es dort wieder auf sie warten, und an der nächsten Biegung das nächste Mädchen und dann das nächste. Seit drei Jahren laufen sie nun so jeden Tag zusammen durch die frische Morgenluft, eingehakt, noch müde schwatzend, bis sie das moderne dreistöckige Gebäude der Batteriefabrik erreichen, sie sich voneinander lösen und eine nach der anderen durchs schmale Gittertor schlüpft mit einem Gruß für den nickenden Portier auf den Lippen.
Innerhalb von Minuten wird die Batteriefabrik die jungen Frauen verschluckt haben, um sie acht Stunden später bei grellem Tageslicht wie eine prall gefüllte Bonbontüte mit den pinken Miniröcken, den zartgelben, grünen, violetten Blusen und den geflochtenen Sandaletten mit Korkabsätzen wieder auszuspucken, mit lautem Sirenengeheul.
»Bis morgen!« Diesen letzten Abschnitt bis zum Elternhaus geht Liz allein. Sie liebt dieses kurze Stück auf der einsamen Landstraße, mit offenem Blick über die Wiesen und Felder, in die hügelige Landschaft hinein. Die Geräusche der Maschinen, die Sirene, die Stimmen der Mädchen sind längst verklungen. Manchmal fängt Liz an zu summen, und wenn der Weg sich das längste Stück geradlinig vor ihr streckt, kann es sein, dass sie lauthals singt. Und sie sich vorstellt, dass sie alles sein könnte, und überall, denn so eine Art von Landstraße gibt es nun wirklich nicht nur einmal auf der Welt. Ob jetzt in Kentucky oder Hawaii, vielleicht mit anderen Farben und Gewächsen. Aber den Asphalt und die ausgefransten Schlaglöcher, denen sie geschickt ausweicht, so etwas gibt’s überall.
Zwei Schritte nach links, zwei kleine nach rechts, man könnte meinen, sie tanzt. Am liebsten würde sie die Arme ausbreiten und sich drehen, so leicht fühlt sie sich. Den Umschlag hält sie dabei immer noch unter dem Sommermantel versteckt. Damit nur keines der Mädchen sah, dass sie dort etwas hat.
Sie will noch gar nicht dran denken, was sie dazu sagen, wenn sie entdecken, dass Liz für etwas anderes bestimmt sein soll als das eintönige Einräumen der Regale und die Aushilfsarbeiten in der Fabrik.
Nun kommt die letzte Biegung und Liz kann schon das Haus ihrer Eltern sehen, das hier oben am Rand des Dorfes steht. Immer noch ein bisschen verlottert und schief. Ein Haus, das lange leer stand und in das sie nach dem Abbau der Baracken vor fünf Jahren eingezogen sind. Aber immerhin zweitstöckig mit viel Platz. Die Landstraße führt geradewegs an dem Haus der Eltern vorbei. Liz kann die Wiese sehen, die rechts vom Haus ins Dorf hinabfällt, mit dem kleinen Trampelpfad. Ein Traktor fährt mit ohrenbetäubendem Krach dort unten an dem Dorfbrunnen, der Kirche, der Bäckerei, dem Schlachter vorbei in einen Hof, hinterlässt Dreckklumpen auf der asphaltierten Straße. Hinter dem Dorf erstrecken sich Wiesen und Felder und der immer braungefärbte Fluss: im Frühling reißend und tief, mit schwimmenden Rattennestern an den Rändern, im Sommer flach und träge mit Moskitoschwärmen und grün-violetten Libellen.
Gut kann sich Liz noch an die Baracken dort unten am Fluss erinnern, wo sie geboren wurde und lebte, bis sie zwölf war, weil sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater zu den Flüchtlingsströmen aus dem Osten gehörten. Wie aus dem Nichts waren sie nach Kriegsende plötzlich hier aufgetaucht und hatten das Dorf in helle Aufregung versetzt, es plötzlich gesprächig und streitlustig gemacht:
Bei mir? Nie und nimmer zu mir. Ja, wenn’s denn aber sein muss. Wer sagt denn, das irgendwas muss! Und weil dann alle Zimmer in den Häusern der Dorfbewohner mit irgendwelchem Gerümpel und Personen vollgestopft waren und also wirklich beim besten Willen kein Platz mehr da war für so ein paar verlauste Flüchtlinge, wurden schnell ein paar Baracken gezimmert, unten am Fluss.
Und als sich die Flüchtlingsfamilien nach doch knapp zwanzig Jahren endgültig in die angrenzenden Dörfer und übers Land verteilt hatten, wurden eines lichten Tages die Baracken mit einer Planierraupe dem Erdboden gleichgemacht. Und wer sagt’s denn: Das Gras wuchs die Jahre danach ganz herrlich auf den Brachen und selbst die angrenzenden Maisfelder wuchsen genauso üppig wie zuvor.
Liz hat das Haus erreicht, schließt die Tür auf und nimmt jeweils zwei Stufen auf einmal bis zur Wohnung im ersten Stock. Sie hört ein leises Schnarchen und läuft auf Zehenspitzen in die Küche, legt den Mantel über den Stuhl und den leichten Umschlag mit dem einzelnen Papier vorsichtig obendrauf.
Nevenka sitzt aufrecht mit geschlossenen Augen auf der Küchenbank, den Mund leicht geöffnet, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Liz nimmt ihrer Mutter das Buch aus den Händen, klappt es leise zu und legt es weg. So etwas würde ihr selbst nie einfallen, sich einfach so mitten am Tag mit einem Buch irgendwohin zu setzen. Und auch nicht am Abend. Es gibt immer etwas zu tun, und wenn es nichts mehr zu tun gibt, fallen ihr die Augen zu.
Auf dem Küchentisch liegen die weißen Taschentücher zu einer Wolke getürmt.
Liz wäscht die Hände, schnappt sich die Schere und beginnt, eins nach dem anderen die Tücher voneinander zu lösen, sie zu falten, und stapelt sie dann auf die rechte Seite des Tisches. Flink arbeiten ihre Hände, selbst wenn sie mit den Gedanken noch in der Fabrik ist, in der sie, seit sie vierzehn ist, tagsüber arbeitet. Der trocken verbrannte Geruch der Batterien hängt ihr noch in der Nase, der sich langsam mit dem frisch gestärkten Weiß der Taschentücher vermischt.
Sie liebt diese mechanischen Verrichtungen, sie ist geradezu süchtig danach, dass ihre Hände von selbst die Dinge tun, die sie schnell gelernt hat, immerzu weiter schneiden und lösen und falten, und gerade heute ist sie besonders dankbar für diese Aufgabe, die sie der Mutter wie so oft am Nachmittag abnimmt. Geklopft hat ihr Herz ganz wild, als der Abteilungsleiter sie heute endlich in sein Büro rief und ihr den Vertrag in dem großen Umschlag über den Tisch schob.
»Hier. Wir haben ja schon darüber gesprochen. Es wird Zeit, dass Sie an Ihre Zukunft denken und eine Ausbildung beginnen.« Dem Abteilungsleiter war Liz irgendwann aufgefallen, weil sie die ihr aufgetragenen Aushilfsarbeiten in der Fabrik und ab und zu im Büro schnell und präzise erledigte und noch dazu so aufgeweckt und freundlich. Vertrauensvoll war sein kurzer Blick und bestimmt: »Wir brauchen jemanden wie Sie.«
So jemanden wie mich. Liz spürt, wie ihr die Hitze ins Gesicht zurückschießt. Sieh her, möchte sie am liebsten laut rufen und ihre Mutter wecken, so jemanden wie mich.
Viel zu rasch hat sie die Taschentücher auf dem Tisch gestapelt, sie in die bereitstehenden Kisten geordnet, zugeklappt und in die Ecke gestellt. Das Zuklappen der Kisten war einen Tick zu laut und schon zuckt die Mutter zusammen, greift sich an die Ohren und blickt erschreckt auf.
»Eliska«, lächelt sie, »du bist das.«
Nevenka wischt sich mit dem Handrücken den feinen Faden am Mundwinkel ab, beugt sich nach unten und zählt die Kisten. Sie runzelt die Stirn, konzentriert, dass sie ja keine Kiste doppelt zählt oder vergisst, und trägt die Anzahl in eine Liste ein. Liz geht zum Herd und denkt nur: Pfennigarbeit. Die Taschentücher schneiden, das macht die Mutter jetzt schon ein paar Wochen, davor waren es Kugelschreiber, die sie zusammensteckte, davor Schlümpfe, die es anzumalen galt, mit blauen Gesichtern und Beinen, winzigen roten Mündern, schwarzen Punkten und Strichen als Augen und Mund. Ein Heer fröhlicher Schlumpfgesichter, das dort an den Fensterbänken zum Trocknen stand. Lustig sah das aus und farbenfroh. Aber es durfte auch kein Fenster geöffnet werden. Nicht mal gekippt.
Liz weiß, dass ihre Mutter viel lieber weiter in der Batteriefabrik arbeiten würde, zusammen mit ihr und den anderen Frauen, aber Liz’ Vater hatte es ihr, seit sie die Gastwirtschaft hatten, verboten. »Wer soll denn das Essen kochen?« Aber dass Nevenka mit Heimarbeit und Kocherei nur noch zu Hause sitzt, daran hat er nicht gedacht. Keine Wege mehr, keine gemeinsamen Pausen, keine Luftveränderung. »Ich brauche Luftveränderung!«, schrie Nevenka irgendwann sonntags am Mittagstisch und rannte türknallend aus dem Haus. Liz’ Brüder blickten von ihren Tellern auf. Fritz fiel die Gabel aus der Hand. Micha lief der Mutter hinterher und blieb erschrocken vor der geschlossenen Haustür stehen. »Nun esst«, sagte der Vater, »die fängt sich schon wieder.«
Nevenka richtet sich auf, legt die Liste auf den Tisch und nimmt ihr Buch in die Hand.
»Wie war es heute?«
»Gut«, sagt Liz und steckt einen Finger in den Topf und leckt ihn ab.
»Hübsch ist das mit dem Knoten, deine Haare sind so schön dick.«
Liz dreht sich um. »Findest du? Aber ich hab sie doch immer so.«
»Kinnkurz würden sie dir auch stehen.»
»Hm, ja, vielleicht.« Liz sucht nach einer sauberen Gabel in der Schublade.
»Aber schneid sie ja niemals ganz ab. »
»Wie kommst du da drauf? Warum sollte ich das?« Sie dreht sich zu ihrer Mutter.
»Meine waren auch mal so«, sagt Nevenka. »Nicht so dünn wie jetzt. So lang und dick waren die mal. Zu Zöpfen geflochten. Aber viel lieber hätte ich sie offen getragen, oder vielleicht zu so einem Knoten gebunden, wer weiß?«
»Komm, ich mach’s dir«, sagt Liz vergnügt und geht mit tatkräftigem Lächeln zu Nevenka, greift schon in ihr feines, mit leichter Dauerwelle an den Schädel gedrücktes Haar und versucht es zu knoten.
»Nein, lass es.«
»Nein, wirklich. Das geht gerade. Sieh her.«
»Ach was«, sagt Nevenka errötend und bedeckt ihre Haare mit den Händen.
»Wie du meinst.«
Liz geht zum Herd zurück und greift nun ohne Gabel in den Topf. Mohnknödel mit Marille, zwei oder drei. Kalt schmecken sie ihr am besten. Sie kann die feinen Zuckerkrümel im Mohn, in der weichen Butter schmecken, den festen Kartoffelteig und die saure Frucht. Sie leckt sich die Finger. Nevenka seufzt. Sie hat es aufgegeben, Liz und auch den Söhnen zu sagen, dass sie das nicht sollen, mit den Fingern in den Topf, dass sie sich schmutzig machen werden, die Bluse, die Hosen, den Boden. Immerhin hat Liz es irgendwann übernommen, ihren jüngeren Brüdern beizubringen, was richtig ist und was falsch und was sie tun sollen und lassen, und macht dabei selbst, was sie will.
»Der Offizier ist wieder unten in der Gastwirtschaft«, sagt Nevenka beiläufig und blättert in ihrem Buch. Liz zieht sich die verschwitzte Bluse über den Kopf, fährt mit dem angefeuchteten Stück fester Seife über die feinen Achselhaare, bis es schäumt, wäscht den Schaum mit dem eiskalten Lappen ab, zieht den kräftigen Duft von Rosmarin in die Nase, streckt ihr Gesicht unter den kalten Wasserstrahl, bleibt so für einen Moment, öffnet die Lippen und lässt das Wasser in ihren Mund fließen, es wäscht den Mohn und die Zuckerkrümel von der Zunge und aus den Zahnzwischenräumen.
»Der Offizier, pah! Soll er doch.«
Rasch trocknet sie sich mit dem kratzigen Handtuch das Gesicht ab, trocknet die Achselhöhlen und läuft dann ins Wohnzimmer, wo in einer Ecke ihr Klappbett steht, darauf ihre Kleider, ordentlich gefaltet. Sie zieht den kurzen Rock an und holt eine frische Bluse aus der Kiste im Wohnzimmerschrank. Eine Kiste, in der ihre Blusen, die Strümpfe, selbst die Unterwäsche fein gerollt und gestapelt Platz haben. Sie bindet die weiße Schürze um und läuft aus der Wohnung im ersten Stock das Treppenhaus hinunter. »Bis später!«
Auf dem Treppenabsatz macht sie kehrt. Der Umschlag. Sie hat ihn einfach liegen lassen. Fehlt ihr gerade noch, dass die Mutter ihn entdeckt und Liz den richtigen Moment verpasst, es dem Vater zuallererst zu sagen.
Wann ist der richtige Moment für die Unterschrift?
»Bis morgen müssen Sie den Vertrag wieder mitbringen. Unterschrieben.«, hatte der Abteilungsleiter gesagt. Wie sollte sie bis morgen den richtigen Augenblick finden, die Launen des Vaters abtasten? Das könnte Tage, Wochen dauern. Aber der Offizier ist da, das würde helfen, wenn sie es richtig anstellt, oder vielleicht gerade deswegen nicht?
Sie läuft zurück in die Küche. Nevenka sitzt immer noch am gleichen Platz und hört nicht, wie Liz leise nochmal ins Zimmer kommt und den Umschlag nimmt. Als wäre ein Schatten an ihr vorbeigehuscht, sieht sie kurz auf und fährt weiter mit den Fingern über die aufgeschlagene Buchseite.
Im Treppenhaus auf dem Weg nach unten hört Liz bereits die Stimmen aus der Gastwirtschaft. Lautes Hin und Her, die Stimme des Vaters, eine Hand klatscht auf die Theke, vielstimmiges Lachen, Liz riecht den Rauch und den Alkohol. Hochprozentiger Schnaps. An der Holztür mit dem gefärbten Glas, zusammengewürfelt wie in einem Kaleidoskop, bleibt sie kurz stehen und holt Luft.
Die Zukunft liegt zwischen hier und dort drinnen. Eine Tür, die sich öffnen könnte in eine Welt, die sie nur durch das Glasfenster, das die Fabrikhalle vom Büro des Abteilungsleiters abtrennt, seit drei Jahren sieht. Sie zögert. In ihrer viel zu warmen Hand liegt der braune Umschlag mit dem einzelnen Papier. Fast ohne Gewicht.
Sekretärin in der großen Fabrik. Eine Schreibmaschine, die rattert. Knallrote Fingernägel, die auf und abtauchen. Gepflegte Hände. Nur noch gepflegte Hände. Brodelndes Wasser, das in den Filter tropft, Kaffeeduft. Sitzen den ganzen Tag. Ein Telefon, das klingelt. Ihr Räuspern. Ja, bitte? Am anderen Ende eine dunkle Stimme, die durch sie hindurchfährt. Ja, hier sind Sie richtig, wie war nochmal Ihr Name? Eine Stimme, dunkel, heiser, fast flüsternd, ganz nah. Ich schreibe es auf. Nein, wir haben schönes Wetter, ihr überraschtes Lachen, und bei Ihnen, würde sie erst zaghaft, dann immer forscher fragen. Das Wetter? Und sie hört lächelnd der Stimme zu, hört, wie am anderen Ende Regen gegen ein Fenster fällt, Verkehrsgeräusche, die lauter und leiser werden, und sieht sich selbst in diesen Geräuschen, in dieser weit entfernten Stadt mit dieser Stimme in einem Raum sitzen, in irgendeinem Park spazieren, in irgendein Haus gehen.
Abrupt öffnet sich die Tür zur Gastwirtschaft, vor der Liz immer noch steht. In Gedanken noch bei einer dunklen Stimme, blickt sie nun in das rote Gesicht des Offiziers. Endlich macht ihr Körper einen Satz und drückt sich mit klopfendem Herzen an die rechte Seite der Wand. Nach links und rechts sind ihre Arme gestreckt, sie spürt, wie sich ihre Bluse über ihren Brüsten spannt. Kein Wort bringt der Offizier über die Lippen. Aber sein Körper bewegt sich taumelnd auf sie zu. Zögernd sucht er nach Halt. Er könnte jetzt so einfach mit seiner Hand nach ihrer Brust greifen, fest, dann nach beide Brüsten mit beiden Händen, sich mit dem ganzen Gewicht seines schweren Körpers an sie drücken. Sie steht ja ganz nah, viel zu nah, denkt Liz, vor ihm, da an der Wand.
Lange schon muss er auf sie gewartet haben, wie so oft sitzt er sicher bereits seit dem Nachmittag beim Vater an der Theke, und jedes Mal, wenn Liz ihre Schicht beginnt, trifft sie auf seinen unruhigen Blick. Nun, dieses Mal treffen sie sich bereits an der Tür. Liz steht an der Wand und wartet, bis er endlich einen Schritt macht, damit sie an ihm vorbei durch die Tür schlüpfen kann. Sie sieht, wie der Schnaps sein Gesicht zu diesem endlosen Lächeln verzerrt hat. So ganz bei Sinnen wird er sich nicht fühlen, er blinzelt mit den Augen, und sie sieht, wie seine Lust Kapriolen schlägt, seine bestimmt zum Platzen gefüllte Blase ihn taumeln und stöhnen lässt. Er stemmt seine Arme rechts und links von ihr, seine Lippen berühren ihr Ohr, sie spürt seinen schweren Ledergürtel an ihrer Hüfte und löst sich mit einem Ruck von der Wand, schlüpft durch seine gespannten Arme hindurch, glättet ihr Haar, zieht ihren Rock nach unten und lässt die Tür hinter sich mit einem Knall zuschlagen.
Was der sich einbildet! Sie spürt, wie ihre Wangen aufflammen, vor Zorn – oder ist es Scham? Nur weil er irgendwelche Orden auf der kratzigen Uniform spazieren trägt, Abend für Abend kein Wort über die Lippen bringt, da braucht’s schon den Vater, der ihm im Rücken steht, dass er sie so anblickt und anfasst wie gerade zwischen Tür und Angel. Und hat er nicht gerade noch mit der Zunge geschnalzt und ihr etwas hinterhergerufen? Als wäre sie etwas, das man besitzen kann.
Sie streicht den Umschlag glatt und geht auf die Theke zu, an der ihr Vater sich einen Schnaps eingießt und dem Offizier hinterherprostet.
Dass der Vater trinkt, begann erst mit der Gastwirtschaft.
Wie standhaft er gewesen war. Das hat Nevenka Liz immer wieder erzählt. Hätte sie denn sonst jemals dieser Idee, eine Gastwirtschaft zu eröffnen, zugestimmt? Niemals! Bei jedem Glas, das ihm in den Baracken angeboten wurde, hatte Ladislaus abgewunken. Mit einer kurzen Handbewegung. Einfach so. Am Anfang, sagte Nevenka, hatte man sich noch lustig gemacht über diesen komischen Kauz von einem Mann, der das abschlägt, was man zum Leben braucht. Aber gut. Waren sie ja alle komisch geworden über diese verrückten Jahre und hatten ihre Eigenheiten kultiviert und gezüchtet dort in den Baracken, wo das gesammelte Slavenvolk festsaß und sich auf den Äckern der ansässigen Bauern ein paar Groschen verdiente. So nah, lernte man einander schnell kennen, bald schon kannte man die Geschichten voneinander, wusste, woher jeder und jede kam. Viel wurde in den ersten Jahren nach dem Krieg gesprochen, gesungen, geweint, dann war’s still geworden.
Erst dann kam Ladislaus hinzu, allein und seinerseits längst verstummt.
Das linke Bein zog er nach, ein leises, zähes Geräusch, das nur er hörte. Die anderen sahen nur eine leichte Irritation, etwas, das seiner stattlichen Erscheinung nicht weniger Würde, nicht weniger, ja, Glanz verlieh. Die Augen in einem träumerischen Blau. Die Haare kohlrabenschwarz. Der Körper im Stehen aufrecht und gespannt. Aber als er zum ersten Mal bei Licht das Hemd auszog, war der Rücken voll mit quer über die ganze Fläche gezogener Narben.
Nichts hat Nevenka damals oder später von seiner Geschichte erfahren. Obwohl es Momente gegeben hatte, in denen sie nicht davon ablassen konnte, wie besessen zu stochern und zu graben. »Gut, aus Budweis bist du. Das weiß ich ja nun schon. Und dein Vater hieß Svoboda, sagst du? Ist das Tschechisch? Nein? Aber deine Mutter war Tschechin, oder nicht? Und was hat dein Vater gemacht? Bahnhofsvorsteher in einer Nebenstation des Zentralbahnhofs von Budweis, aha? Und du? Schreinerlehre in Olmütz? Und deine Mutter und dein kleiner Bruder sind gestorben, ja? Am Herzen? Was denn genau am Herzen? Warum sterben immer alle so ungenau am Herzen?« Ladislaus murmelte: »Das war, also …«
»Warum denn immer das Herz!«, schrie Nevenka.
»Schluss jetzt, Venka!«, sagte er bittend und dann kaum hörbar: »Schluss.«
Damit war die Fragerei ein für alle Mal beendet. Aber gut, sie waren jung und die Stille hatte Nevenka nie gefürchtet. Im Gegenteil. Als Ladislaus sie eines Abends bei einem langsamen Lied zum Tanz holte, zaghafte Wiegeschritte nach links und rechts, wusste sie’s gleich, das hat sie immer und immer wieder gesagt, beim ersten Tanz wusste sie’s.
Dabei war er ihr schon zuvor aufgefallen. Immer wenn sie sich beim Tanz an einem anderen Arm hatte drehen lassen, war ihr Blick zu ihm gegangen, der da am Rand der Tanzfläche saß. Sein Grübchen am Kinn kam ihr vertraut vor. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, warum. »Was soll ich mehr dazu sagen. Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn der Richtige kommt«, hatte sie zu Liz gesagt. Der Richtige, da musste Liz lachen.
Mit der Schreinerei, mit den gezimmerten Tischen und Schränken, war nicht viel Geld zu machen. Also ging Ladislaus auf den Bau, Nevenka in die Fabrik. Dann kamen die Kinder. Und als immer mehr der Flüchtlingsfamilien weggingen und die Baracken schließlich abgerissen wurden, zogen sie in das baufällige, aber bezahlbare Haus dort am Rand des Dorfes. Drei Jahre lang hatte es gedauert, bis es einigermaßen bewohnbar war, und wenn sie nur die obere Wohnung nutzten, war unten genug Platz für eine Gastwirtschaft.
Und ja, mit der Öffnung der Gastwirtschaft vor zwei Jahren begann sich alles wie eine stetig wachsende Kurve nach oben, zum Guten hin zu wenden: ein Leben, das sie endgültig wegbrachte von der einstigen Barackensiedlung bis hierher, fast schon ins Dorf hinein.
Trotz des abschätzigen Geflüsters hatte sich bald herumgesprochen, dass es hier nahrhaften Mittagstisch gab: stundenlang eingekochtes Gulasch mit Kraut und fremdartigen Knödeln in würziger Soße. Und auch, dass der tschechische Wirt großzügig den Schnaps verteilte, hatte sich herumgesprochen und sowohl die Soldaten aus der naheliegenden Kaserne als auch die noch zaghaft auftauchende Jugend des Bauernvolks angelockt. Dazu wurden Straßen links und rechts über die Dörfer und in sie hinein gebaut und die Bauarbeiter taten das Übrige für das florierende Geschäft.
Und Ladislaus erfüllte seine Pflicht. Nahm das Glas in die Hand und trank: auf das Haus, auf das Kind, auf die Frau. Und schüttelte bei jedem Schluck den Kopf, die Augen zusammengekniffen. Was würde er jetzt für einen sahnigen Kakao geben, eine frische butterflockige Milch, eine eisgekühlte Orangenlimonade. Viel lieber hätte er sich dem Ganzen verweigert und seine Kauzigkeit beibehalten. Die Stille. Das Versteck. Die Abstinenz. Aber ja, wer soll’s ihm verübeln? Ihm gefiel die sich füllende Kasse, das Geschnatter um ihn herum, die vielen Menschen, die mit ihm ein Gespräch suchten. Und er dachte sich: Das ist es also, das Leben, diese ganzen Leute, die sich um mich herum scharen, diese Lebendigkeit, diese Teilhabe an den vielen kleinen Geschichten, den Wehwehchen, den Freuden. Und alles fühlt sich so leicht an, so richtig. Hier an der Theke. Wie von Zauberhand dieses Geben und Nehmen. Was ist das für eine Kraft, die da in ihm juckt, dieses Mehr – das Leben zu bestücken mit dieser ganzen Fülle, die es überall in leuchtenden Farben gab. Ein Fernseher, ein Auto, ein weicher Pelzmantel für die Frau. Allein mit seiner Körperkraft auf dem Bau oder mit Nevenkas Arbeit in der Fabrik wäre das nicht zu bewerkstelligen gewesen.
Und so prostete er seinen neuen Stammkunden zu, die die Kasse füllten, und ging, ohne es zu wissen, den Pakt mit dem Teufel ein.
Et voilà.
Die Schärfe sickert in die Mundhöhle, auf die Zunge, in den Rachen, findet ihren Weg durchs Gewebe, die Organe, verwandelt sich von einer wohligen Wärme in Hitze. Und dann ist es auch schon zu spät, geht das Geschrei los der rosa pulsierenden Fasern und Muskeln. Mehr. Mehr. Mehr. Auf das Haus, auf die Frau, auf das Kind. Jawohl! Oder ganz einfach: auf den Abend. Auf dich. Auf uns. Auf das Leben, das Leben. Und weg damit. Und auf einem Bein kann man ja nicht stehen. Aber auf zweien, das sag ich dir, und erst auf dreien und auf vieren, da kriecht man schon, ach was! Und meist war es doch die reine Freude, auf die man die Gläser hob. Eine Freude, die so verschwenderisch durch den Raum waberte, wie ein gerade erblühter Magnolienbaum verschwenderisch seine rosa und weißen Blüten im Frühling öffnet und sie ins Gras wirft. Nimm.
Aber auch der Kummer kam nicht zu kurz. Auch auf ihn wurde angestoßen. Mit einem endgültigen Seufzer. Was für ein Jammer. Auch er fand einen Partner, eine Betäubung und Anteilnahme, dort abseits in den dunklen Ecken des Körpers. Auch er fand das, was er brauchte, im konzentrierten und stetigen Anheben und Senken, von voll auf leer.
Eine runde Sache also, und ein florierendes Geschäft. Tja, wer sagt’s denn? Wären da nicht die Morgen. Die schiere Unmöglichkeit, die Augen zu öffnen. Das grelle Licht, das die Staubpartikel in dem ungelüfteten Zimmer tanzen ließ. Da war nichts mehr von der gerade geborenen Lebens- und Willenskraft in diesen entzündeten Augen, dem flauen Magen, den schwachen Gliedern, den übersäuerten Muskeln.
Das wahre Leben waren diese Nächte und die Tage, tja, zäh und leer.
Liz geht auf ihren Vater zu, ihre Schritte, die gerade noch zielgerichtet und schnell auf die Theke zusteuerten, verlangsamen sich, die klebrigen Hände wischt sie am Rock ab, augenblicklich weicht der Zorn endgültig der Scham, spürt sie den scharfen alkoholdurchtränkten Atem des Offiziers an ihrem Hals, spürt den Blick, der sie auszog, ihr die Kleider vom Leib riss, seine Hände.
Sie weiß ja, dass der Offizier schon bald mit dem Vater den Kuhhandel abschließen wird. Und will sie das?
So schnell könnte sie gar nicht gucken, so laut könnte sie gar nicht schreien, wäre der für den Vater und die Familie lukrative Vertrag unter Dach und Fach. So ein feiner Mensch, so eine gute Partie. Deine Flausen, immer hat sie Flausen im Kopf, werden dir noch vergehen.
Denkst wohl, du bist zu gut für ihn, oder was?
Kurz blickt sie dem Vater in die Augen, die glasig durch sie hindurchsehen.
Der große Raum der Gastwirtschaft ist wie immer gut gefüllt, am Tisch rechts neben der Theke sitzen Fritz und Micha mit ihren Freunden, sie spielen Karten und erzählen sich dabei schlüpfrige Witze, sie sieht’s ihnen doch an. Beide Brüder haben wie Liz mit vierzehn die Schule verlassen, sind jetzt in der Ausbildung zum Elektriker und Maler, fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Der kleine, sommersprossige Micha blickt kurz schüchtern zu ihr, wie sie an die Theke herantritt. Aus den Augenwinkeln sieht Liz sein schiefes Lächeln, sein zuckendes Lid. Wahrscheinlich steht er wieder kurz vor der Kündigung. Später wird ihnen der Vater nicht nur die Runde Bier, auch noch den Schnaps wird er ihnen spendieren.
Hinten ganz in der Ecke sitzt noch wer. Auch das sieht sie aus den Augenwinkeln, und ein Lächeln, erst erstaunt und vielleicht auch ein bisschen irritiert, dann siegessicher huscht ihr übers Gesicht. Er ist also wieder da.
Den Umschlag hat Liz unauffällig neben die Geldkasse gelegt und in Gedanken probt sie den Monolog an ihren Vater. Ganz sicher ist sie sich und voller Euphorie, dass ihr die Worte gelingen werden. Wer könnte denn dieser leidenschaftlichen Ansprache widerstehen, die sie später am Abend, wenn sie allein mit dem Vater ist, halten wird. Kraftvoll und mit stechendem Bühnenblick.
Voller Zuversicht nimmt sie das frisch gezapfte Bier und läuft zu dem Gast, der seit Wochen dort in der Ecke sitzt. Es waren doch Wochen! Sie sieht sein aus der Stirn gekämmtes Haar, sieht zum ersten Mal den leichten Schwung, das strähnige Wachs und das schiefe Lächeln, wenn er ihren Blick erwischt und gleich wieder die dunklen Augen senkt. Das Bier stellt sie auf den Tisch und so nah kann sie seine gepflegten Hände sehen, kräftig und gleichzeitig zart. Da setzt sie sich ihm einfach gegenüber und fragt:
»Und du?«

2

Liz kann nicht anders und streckt ihre Hand nach der Frucht, umfasst sie zaghaft, berührt die knorzigen Blätter, misst ihren Umfang, so groß, größer als ihre Faust. Sie widersteht dem Impuls, die knallgelbe Zitrone zu pflücken, wie sie es sonst mit den Äpfeln macht, den Himbeeren, den Brombeeren, schnell und mit diesem habgierigen Gefühl, das niemals satt ist, die Körbe füllt. Und auch die anderen, die dort am Baum hängen, sind ja schon überreif. Sie zieht ihre Hand zurück. Vielleicht war es schon einen Moment zu lang, dass sie völlig versunken diese Zitrone in ihrer Hand hielt, sie von allen Seiten betrachtend. Sie blickt kurz zu Robert. Er, der wochenlang in der Gastwirtschaft im Halbdunkel in der Ecke saß, ist jetzt zur Mittagsstunde grell beleuchtet. Er lächelt ihr zu. Auch er steht seltsam verloren zwischen den Zitrusbäumen, mit überraschtem Blick und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
Schnell nimmt Liz aus ihrer Handtasche das Tuch und bindet es sich geschickt um den Hals. »Ein ganz schöner Wind, was?« Hübsch ist sie ja, diese künstlich angelegte Insel am Bodensee. Nicht nur Zitronen-, auch Orangenbäume wachsen hier links und rechts an dem geteerten Weg entlang, es riecht nach Oregano und Thymian, als wären sie an der Amalfiküste. Ein verwunschener Wasserfall, das würde gerade noch fehlen.
Seit sie und Robert auf dieser Insel sind, beobachten sie schweigend die ihnen entgegenkommenden Familien, die Paare, die sich an den Händen halten oder eng umschlungen an ihnen vorbeilaufen, in den schicken Sommerkleidern und laut lachend. Mehrmals hat Robert tief Luft geholt und sie kam ihm immer mit einem kurzen Wort zuvor.
»Entschuldigung. Was wolltest du?«
»Wir könnten–«
»Ja?«
»Vielleicht–«
»Was denkst du?«
»Zum Aussichtspunkt?«
»Oh, ja.«
»Die Sonne–«
»In einer Stunde vielleicht.«
»Wenn sie untergeht?«
Hat sie sich getäuscht? Sie weiß einfach nicht, wohin mit ihren Händen, und sie weiß auch nicht, wie sie ihre Schritte setzen soll, damit sie mit den seinen in irgendeinen Rhythmus finden. Wenn sie den Entgegenkommenden ausweichen, kann es passieren, dass sich ihre Schultern berühren. Einmal hat er ihren Arm gehalten, als sie mit den hochhackigen Schuhen umgeknickt ist. Zögernd hat sie sich bei ihm eingehakt und sich dann sofort wieder verlegen gelöst.
Als Robert sie am Morgen zu Hause abgeholt hatte, war ihre Kehle so zugeschnürt gewesen, dass sie kaum sprechen konnte. Dass er vorne an der Ecke auf sie warten solle, hatte sie ihm gesagt. Gut, dass sie schon mit den Sandaletten in der Hand vorm Fenster stand, als sie das heranfahrende Auto entdeckte, kurz aufschrie und sofort aus der Tür sprang, da war er schon ausgestiegen und hielt ihr die Beifahrertür auf. Mit gesenktem Blick stieg sie ein und zog schnell die Tür hinter sich zu. Und saß dort und zählte die Sekunden, bis er endlich den Schlüssel drehte und sie das Haus der Eltern hinter sich ließen.
Als sie losfuhren, fühlte sie sich augenblicklich, als wäre sie eine vollkommen andere Person, nicht mehr die, die sich ihm letzte Woche mit diesem angriffslustigen Blick gegenübergesetzt hatte mit der Frage: Und du?
Vollkommen stumm saß sie neben ihm und drehte an den Knöpfen des Radios. Sie hatte nicht mal ein Guten Morgen über die Lippen gebracht oder auch nur einen Blick in seine Richtung riskiert.
»Funktioniert das?«
Er lächelte. »Du musst zuerst hier drücken.«
Robert berührte Liz’ Finger und sie ließ sofort die Knöpfe los, also drehte er weiter.
Sie legte ihre Hände in den Schoß und sah geradeaus.
Um sie herum lichtete sich langsam der Morgen. Liz konnte zusehen, wie sich weiße Fäden Schicht für Schicht in das Dunkel zogen. Bald würde die Sonne vollkommen hinter ihnen aufgegangen sein.
»So früh?«, hatte sie ihn gefragt. »Für einen Sonntagsausflug?«
»Aber ja«, hatte er geheimnisvoll bekräftigt. »Auf jeden Fall so früh.«
Sie rutschte auf dem Autositz hin und her und glättete ihren Rock.
Ob er dachte, sie mache das dauernd? Sich in irgendein Auto setzen zu einem Ausflug nach einem ersten Gespräch?
Aber hier saß sie ja nun und er, er war ihr vollkommen fremd. Was wusste sie schon über ihn? Dass er von einem Bauernhof aus einem der weiter entfernten Nachbardörfer stammte, dass seine Eltern auch eine Gastwirtschaft besaßen, dass er in einem Büro arbeitete. Mehr nicht. Robert drehte immer noch mit einer Hand an den Knöpfen des Radios, während die andere Hand sacht und souverän das Lenkrad führte. Aus dem Radio kam leise Klaviermusik.
»Ist das gut?«
»Ja, warum nicht?«
Er kurbelte das Fenster herunter, winkelte das Bein an und legte den Arm lässig auf die Fensterlehne, drehte nur noch mit den Fingerspitzen das Lenkrad.
Natürlich nahm sie wahr, was das für ein Auto war, in dem sie da saß, so nobel mit Ledersitzen und vorne so spitz geformt. Da hätte ihr Vater bestimmt gefragt, wie sich so ein Bauernbürschchen so etwas leisten könnte. Und ihre Mutter: was der Preis dafür war.
»Du bist ein Sonntagskind«, sagte Nevenka stolz zu ihr. Weil Liz an einem Sonntag geboren war und Nevenka die Geschichte vom kalten Herz nicht mehr losließ.
»Was es hier für Geschichten gibt. So was. Und stell dir vor, dir könnte das passieren.«
»Mama!«
Die Geschichte vom kalten Herz hatten sie als Film gesehen. Das Gerät, das der Vater an irgendeinem Samstag vor einem Jahr stolz ins Wohnzimmer gestellt hatte, als Beweis seiner Fortschrittlichkeit, seines Bewusstseins für alles Schöne, oder als endgültiges Symbol seines sozialen Aufstiegs. Tatsache war: Sie waren die Ersten im Dorf, die so ein sündhaft teures Gerät in Farbe zu Hause hatten, da gingen alle anderen noch einmal im Monat ins zehn Kilometer entfernte Lichtspielhaus, oder ab und zu in das Gasthaus zur Rose ins Nachbardorf, wo der Wirt die hochentzündlichen Filmrollen an die Wand projizierte, oder klebten an den Radios. Während Liz mit ihrer Mutter an verregneten Sonntagnachmittagen nun Filme sahen.
»Da siehst du«, sagte Nevenka und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl.
»Was?«
»Dass es unglücklich macht, das alles zu besitzen.« Nevenka stand auf und ging zum Fenster.
»Was meinst du?«
»Nie hab ich nur eine Sekunde an das Haus gedacht. Das es dort bestimmt noch gibt.«
»Was für ein Haus?«
»Alle wollen ihre Häuser zurück. Ich nicht«, schrie sie fast und sagte dann leiser: »Alles würde ich hergeben, wenn ich dafür meinen Vater zurückhaben könnte, meine Mutter, und …« Sie drehte sich um.
»Und hier: Dieser Fernseher, diese Gastwirtschaft. Er trinkt ja nur noch.«
»Ja«, seufzte Liz und schaltete den Fernseher aus.
»Wenn es so weit ist, dann musst du dir genau überlegen, was du dir wünschst. Versprich mir das.«
»Mama! Das ist ein Märchen!«
Und doch, hat sich Liz danach manchmal vorgestellt, dass sie sich nur in den Wald setzen müsste und lang genug warten, und wenn sie dann am richtigen Ort und zur richtigen Zeit dort unter einer Tanne, auf einer Lichtung säße, würde ihr dieses zerbrechliche Glasmännlein erscheinen und ihr mit knisternder Stimme drei Wünsche erfüllen.
Die Sonne war hinter ihnen aufgegangen. Und schickte ihre Strahlen bis auf die vorderen Autositze. Liz bückte sich und zog ihre große Tasche auf ihren Schoß.
»Ich hab Brote dabei für ein Picknick«, und wie zur Bestätigung wühlte sie in der Tasche und zeigte sie ihm. Nicht dass er dachte, er müsse sie auch noch ausführen in einen Gasthof oder ein schickes Restaurant.
»Schön«, sagte er kurz.
Sie steckte die Brote wieder in ihre Tasche und stellte sie zu ihren Füßen.