Die Lichtermagd - Lena Falkenhagen - E-Book

Die Lichtermagd E-Book

Lena Falkenhagen

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Beschreibung

Wo Licht ist, wird auch Schatten sein

Nürnberg 1349: Luzinde, benannt nach der Heiligen Luzia, der Lichtbringerin, lebt in einem Beginenkloster. Als ihr Geheimnis, Mutter eines unehelichen Kindes zu sein, gelüftet wird, verjagt man sie. Für die Bettlerin gibt es kein Mitleid. Als eine jüdische Familie die Christin als Magd anstellt, eröffnet sich ihr eine faszinierende, fremdartige Welt. Niemand ahnt, dass Die Lichtermagd das Schicksal hunderter Nürnberger Juden entscheiden wird.

Ein faszinierendes Frauenschicksal im mittelalterlichen Nürnberg.

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Seitenzahl: 745

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Inhaltsverzeichnis
 
HEYNE<
Zum Buch
Zum Autor
Danksagung
PROLOG
 
KAPITEL 1
KAPITEL 2
 
Copyright
HEYNE<
Zum Buch
Luzinde hat ein Geheimnis, das sie für immer bedrücken wird: Sie hat ein uneheliches Kind geboren, das ihr nach der Geburt von der reichen Familie des leiblichen Vaters weggenommen wurde. Als Luzinde ihre Heimat im Kloster verliert, hilft ihr als Einziger der Jude Gottschalk. Er nimmt sie in Nürnberg als Magd in seinen Haushalt auf. Zunächst skeptisch entdeckt die Christin eine Welt, die so fremdartig wie faszinierend ist. Dann erhält sie endlich eine Nachricht über den Verbleib ihres Sohns. Um ihn wiederzusehen, muss sie allerdings Gottschalk verraten.
Zum Autor
Lena Falkenhagen, geboren 1973 in Celle, arbeitete nach ihrem Studium der Germanistik und Anglistik als Übersetzerin, Lektorin und Autorin für Fantasy-Rollenspiele. Als Redakteurin Aventuriens gestaltet sie die größte fantastische Rollenspielwelt Deutschlands mit. Nach Das Mädchen und der Schwarze Tod ist Die Lichtermagd ihr zweiter historischer Roman. Die Autorin lebt in Hannover, wo sie an ihrem dritten Roman arbeitet.
Lieferbare Titel
Das Mädchen und der Schwarze Tod
Meiner Familie gewidmet.
Mit Dank an Tom, der mir stets Mut gemacht hat,wenn es mir daran mangelte, sowie an Marc Andréund Monique für offene Ohren und manch kritischen Blick.
PROLOG
Die Nonne kam um Mitternacht, um ihr das Kind zu stehlen. Sie stand als Erste hinter der Tür der Geburtskammer, nur zu sehen durch einen Spalt. Ihr weißer Brustschleier schien im dunklen Raum über dem dunklen Habit zu schweben, beschienen vom letzten Licht einer einsamen Kerze. Die Glocke diffuser Helligkeit, die sie erzeugte, färbte die Dunkelheit darum herum nur noch tiefer. Und die Nonne war nicht allein.
Draußen heulte der Sturm durch das Spitzdach der Kate und schüttelte die Balken. Wind und Regen rüttelten draußen an den Fensterverschlägen und leckten mit kalten Zungen durch jeden Spalt. Und doch trotzten diese Wände Wetter und Unbill und gaben Luzinde das Gefühl von Geborgenheit. Immerhin hauste sie hier seit Monaten; seit die Wölbung ihres Bauchs dem Dorf Lindelberg ihre Sünde vor Augen geführt hatte. Die Holzdielen der kleinen Kammer, in die man Luzinde verbannt hatte, waren rau und grob. Als das Mädchen unförmiger und unbeweglicher geworden war, hatte es sich daran manchen Splitter gezogen und oft ihr Wollkleid zerrissen.
Das Mädchen lag jetzt matt auf dem Lager. Das Haar klebte ihm noch an der Stirn, jeder Muskel schmerzte. Es hatte stundenlang darum gerungen, das Kind zur Welt zu bringen. Die Wehen hatten zur völligen Erschöpfung geführt. Nun fühlte sich das Mädchen, als habe Gott dieses kleine Würmchen mit unbarmherziger Hand aus ihm herausgewrungen. Luzinde wollte sich endlich zurücklegen und schlafen, wollte ihren kleinen und so zerbrechlichen Sohn in den Armen halten. Sie sehnte sich nach seinem Duft, seiner weichen Haut, dem Flaum auf seinem Haar.
Das Würmchen greinte mit schwachem, noch kaum erprobtem Stimmchen. In Luzindes Augen sammelten sich Tränen; nicht die von Leid und Verzweiflung wie in den letzten Tagen, in denen ihr Vater und die Nonne sie gedrängt hatten, den Bastard fortzugeben. Dies waren Tränen der Freude und Erleichterung. Sie richtete sich schwerfällig in eine halb sitzende Stellung auf.Weiter kam sie nicht, denn in ihrem Unterleib fühlte sich alles wund an.
»Bitte«, flüsterte sie mit rauer Kehle und streckte eine blutbefleckte Hand nach dem Bündel aus. Die Hebamme reagierte nicht. Stattdessen rieb sie das Kind trocken und schlug es fest in Leinentücher ein.
»Frau Stoll«, bat Luzinde. Sie sehnte sich so sehr danach, das Kind zu berühren, dass der in ihren Körper zurückkehrende Schmerz verdrängt wurde. Doch die Frau reagierte, nicht sondern trat zur Tür. Draußen wartete die Nonne, und wer weiß, vielleicht auch Konrad, der Vater des Neugeborenen, oder Margaret Welser, seine Verlobte.
»Schwester Elisabeth«, hörte die junge Mutter die Amme nun murmeln. »Hier habt ihr … Es ist … Glückshaube.« Luzinde hielt den Atem an, um die Worte zu verstehen, doch die Amme und die Nonne sprachen zu leise. Dann hörte sie die lautere Stimme ihres Vaters. Er war da! Er war gekommen. Luzinde beruhigte sich sofort, denn sie wusste, dass der Vater nur ihr Bestes wollte.
»Das ändert nichts. Nehmt es! In Gottes Namen, nehmt es. Sie ist doch selbst noch ein Kind. Wie soll sie da für eines sorgen?«
Der Vater hatte es Luzinde oft erklärt, und die Nonne auch einmal. Sie war gestern Nacht an ihr Bett getreten und hatte mit ihr gebetet. »Willst du, dass die Leute aus Lindelberg dich jemals wieder anschauen? Willst du wieder in Gottes Gnaden stehen?« hatte sie dann gefragt. »Dann gib das Kind fort und bereue.« Und Luzinde hatte ja gesagt.
»Nein«, wollte sie jetzt rufen.Was immer sie gestern gesagt hatte, besaß heute keine Gültigkeit mehr. Doch ihre Kehle brachte kaum einen Ton hervor. Niemand hörte sie. Sie wollte aufspringen, ihr Kind aus den Armen der Amme reißen - doch dazu reichte ihre Kraft nicht. Mühsam zog sie die Beine an und schob die Decke zurück.
»Gut«, sprach die Nonne. »… Glückshaube. Daher … benenne... Tagesheiligen. Eher … Heiligen Johann. Seid … einverstanden?«
»Macht, wie Ihr es für richtig haltet, Schwester Elisabeth.« Luzindes Vater hörte sich abweisend an.
Luzinde durchfuhr eine Welle der Freude. Ein Sohn. Hatte sie einen Sohn geboren? Sie musste ihn sehen, wenigstens einmal. »Nein«, schluchzte sie wieder auf, und dieses Mal hatte sie die Stimme besser unter Kontrolle. »Nicht …«
Nun schob der Vater die Tür auf und sah zu ihr herüber.Trotz des Kerzenlichts lagen seine Augen im Dunkeln. »Luzinde, leg dich hin. Du bist noch zu schwach.«
»Ich will aber doch nicht, dass mein Kind …«, keuchte Luzinde, doch der Vater unterbrach sie.
»Du bist noch zu jung. Du kannst noch gar nicht ermessen, was für eine Verantwortung du dir damit aufbürden willst. Für dich ist es besser so, und für das Kleine auch.«
»… nur zu verständlich …«, drangen die Worte der fremden Nonne in den Raum. »Gebt … das.« Etwas Blitzendes wechselte die Hand.
Luzinde nahm all ihre Kräfte zusammen, die sie zu mustern imstande war, als die Nonne durch die Tür der kleinen Kammer trat und das Kind von der Amme empfing. Die junge Mutter schob die Beine über die Bettkante, zog sich am Pfosten hoch, um ihr Gleichgewicht zu finden, und machte einen Schritt. Ihre Beine versagten, und sie sank zu Boden. Den Schmerz des Aufpralls in den Handgelenken spürte sie kaum.
»Nein...«, weinte sie, doch die Nonne hörte nicht. Sie drehte sich wieder um und schritt über die Schwelle. »Nein!«, schluchzte die Mutter auch, als ihr Vater sie aufhob und zurück ins Bett hob. Sie schlug mit den Fäusten um sich und traf ihn am Kinn, so kraftvoll sie eben konnte. Er hielt ihre Arme fest und drückte sie aufs Bett. Dann streifte er ihr etwas über den Kopf. Kühles Metall lag ihr auf der Haut zwischen den Brüsten. »Das ist zum Trost, sagt Schwester Elisabeth. Such dein Heil, Luzinde.«
»Sollten sie allein lassen«, murmelte die Amme. Das Weiß ihrer Augen schimmerte im Kerzenlicht. »Wird sich schon wieder beruhigen. Spätestens, wenn die Milch aufhört zu flie ßen.« Damit sammelte sie ihre Utensilien zusammen, wusch die Hände im bereits geröteten Wasser und ging. Die Nonne folgte ihr, das wimmernde Bündel im Arm.
Draußen sauste der Wind noch immer, und der Regen hämmerte gegen das Holz der einsamen Kate vor dem Dorf Lindelberg, als wolle er es zerschlagen. »Nein«, flehte Luzinde. Ihr Vater war der Letzte in der kleinen Kammer. Wenn sie schwor, sie werde sich kümmern, werde aufhören, Unfug zu machen, werde mehr Verantwortung übernehmen, dann würde er bestimmt auf sie hören, würde die Nonne zurückholen!
»Ich will mein Kind …«, begann sie. Doch der Vater fuhr ihr über den Mund. »Hör auf! Du weißt nicht, was du da redest. Es ist schlimm genug, wie es ist.« Er strich ihr nicht über das Haar oder gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er ging, wie er es früher getan hatte. Seit er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, blickte er sie nicht einmal mehr an.
Als auch der Vater ging, blieb nur Luzinde zurück. Allein mit dem Heulen des Windes und dem beständigen Prasseln des Regens auf dem Dach. Allein mit dem Stöhnen der Holzbalken und der eisigen Kälte. Immerhin hatte sie noch Licht. Ihre Augen tasteten die vertrauten Schemen der Kammer ab, die durch die freundliche Flamme beschienen wurden. In ihren Brüsten zog es schmerzhaft.
Luzinde starrte auf die Kerze. Sie hatte sich über Monate nur auf diesen Augenblick vorbereitet, ihn herbeigesehnt und gleichzeitig gefürchtet. Sie hatte versucht sich vorzustellen, was sie für ihr Kind empfinden würde. Sie hatte von Glückseligkeit und Vergebung geträumt. Davon, dass ihr Vater stolz seinen Enkel in die Arme nehmen würde, wenn er ihn erst einmal gesehen hätte. Nun war alles anders, und das Einzige, was ihr blieb, war der pulsierende Schmerz in ihrem Schoß.
Eine Windbö erfasste die Kate mit sausendem Geräusch und rüttelte daran. Luzinde erzitterte. Die Tür fuhr auf und quietschte in den Angeln. Das Mädchen zog die Decke höher über die Schultern und wünschte sich, das Feuer wäre nicht heruntergebrannt. Dann verlöschte jäh die Kerze.
Die Schwärze lähmte das Mädchen vor Schreck. Plötzlich schien die Einsamkeit greifbar, und mit der Dunkelheit kam auch die Erkenntnis dessen, was gerade geschehen war. Man hatte ihr das Kind genommen. Für immer. Wie hatte sie das nur zulassen können!
»Ich will mein Kind«, flüsterte sie, doch der Raum blieb stumm. Dann schrie sie hinaus: »Ich will mein Kind! Bitte, gebt mir meinen Sohn!« Johann. Sie hatte ihn nicht einmal in den Armen gehalten!
Luzinde zog sich die Wolldecke um den Leib und strengte jeden Muskel an. Sie schob sich wieder aus dem Bett und stützte sich ab, wo sie nur konnte. Ihr helles Nachthemd war noch feucht und blutig, doch sie scherte sich nicht um die Kälte, die auf ihrer Haut klebte.
Langsam, Schritt für Schritt, schob Luzinde sich zur Tür der Kammer, hinaus in den Vorraum, in dem die Glut eines Feuers gerade verglomm. Sie schaffte es bis zur Tür und zog mit Mühe den Riegel zurück. Der Sturm riss ihr die Tür aus der Hand.
»Vater!«, rief Luzinde der Bö entgegen, doch draußen war niemand. »Frau Stoll!«, schrie sie in die Nacht hinaus. Die Wolken rasten über den Himmel und verbargen den Mond. Die Bäume um die Hütte herum wirkten wie eine undurchdringliche schwarze Wand.
Luzinde scherte sich nicht darum, sondern wankte hinaus. Sie wusste nicht, wohin ihre nackten Füße sie trugen. Sie sah nur das kleine Bündel vor sich, das die Amme in die Hand der Nonne gelegt hatte. Sie wollte nach Lindelberg, ins Haus des Vaters, wollte um sich schlagen, zetern und schreien, um nie wieder von ihrem Sohn getrennt zu werden.
Als Luzinde nicht mehr gehen konnte, stolperte sie von Baum zu Baum. Als sie hinfiel, kroch sie weiter voran, bis Decke und Hemd sich voll Schlamm und Regen gesogen hatten. Sie sah nicht mehr, wohin sie kroch, noch, wie weit sie kam. Sie machte einfach weiter und kämpfte. Sie hatte in so vielen Dingen versagt. Sie war ihrem Vater keine gute Tochter gewesen, denn sie hatte sein Vertrauen enttäuscht und sein Haus mit Sünde befleckt. Sie war keine gute Christin gewesen, denn Pater Marcus hatte sie aus dem Hause Gottes gewiesen, als er von ihrem Zustand erfahren hatte. Dies Kind war alles, was ihr noch blieb. Seinetwegen hatte man sie verdammt.Wenn es fort wäre - was blieb dann noch von ihr?
Irgendwann verließen Luzinde endgültig die Kräfte. Sie hörte kein Rauschen des Waldes mehr, fühlte den Regen nicht auf der Haut. Ihre Finger und Zehen waren längst taub vor Kälte, und bunte Flecken standen ihr vor den Augen. Sie würde sie schließen. Nur kurz! Und dann würde sie weiterkriechen. Sie wusste, sie müsste kämpfen. Sie müsste weitermachen. Sonst bliebe ihr nichts mehr. Doch ihr Leib gehorchte nicht mehr.
Als Luzinde die Augen schloss, fiel eine bleierne Schwere über ihre Gliedmaßen, als presse der Wind sie mit Gottes Gewalt auf den Boden.
Morgen, dachte sie noch.
Dann kam die Dunkelheit.
KAPITEL 1
König Karl hat gesiegt«, verkündete Ulrich Gruntherr außer Atem, als er in die Stube auf der Kaiserburg platzte. »Er hat gesiegt. Ludwig der Brandenburger ist zu Kreuze gekrochen.« Zu Nürnberg gab es im späten Juni des Jahres 1349 keine Nachricht, die größeres Entsetzen hätte auslösen können.
»Ich weiß«, knurrte Ulrich Stromer, genannt Hosto. »Der alte Kaiser Ludwig hat sich nicht einmal Päpsten unterworfen! Wenn der wüsste, dass sein Sohn eine Memme ist, er würde sich im Grabe umdrehen!« Er schritt in der leeren Kammer auf und ab, in der nur ein wuchtiges verhängtes Bett auf einem Podest stand. Gewöhnlich liebte Hosto die Sicht auf Nürnberg hinunter, die sich ihm von hier aus auftat. Die Dächer lagen in Frieden und Eintracht in der Umarmung der Stadtmauer - ein Anblick, der den Betrachter leicht vergessen lassen konnte, was für ein Hauen und Stechen um die Macht dort unten herrschte. Doch heute gab es für Hosto kein Vergessen. Heute gärte es in dem hochgewachsenen blonden Mann so sehr wie in der Stadt, die auf ihrem Kurs zwischen zwei Königen ins Schlingern geraten war. Es war schlimm genug, wie es war. Ein falsches Zeichen, und Nürnberg würde für immer in der Bedeutungslosigkeit versinken.
»Kaiser Ludwig, Gott hab ihn selig, hat sich nicht einmal um den Kirchenbann gekümmert. Und sein ältester Sohn streicht vor Karl von Böhmen die Fahne? Eine Schande!«
Hosto selbst war wie Ulrich Gruntherr Ratsherr des sogenannten aufständischen Rates von Nürnberg. Man hatte sich gegen König Karl erhoben und dessen Brandenburger Feinde in die Stadt gelassen. Und genau dieser Aufstand würde die Stadt nun vielleicht teuer zu stehen kommen, jetzt, da Ludwigs Kapitulation König Karl, den römisch-deutschen König und König von Böhmen, zum unangefochtenen Herrscher im Reich gemacht hatte.
Die furchtbare Nachricht, die Hosto vor kaum einer Stunde aus Frankfurt erreicht hatte, erfüllte ihn mit dem unbezwingbaren Drang zu laufen. Am liebsten wollte er rennen, hinaus in den Wald, und sich die Wut aus dem Leibe schreien. Doch er bezähmte seine Wut. Wenn er die Beherrschung verlor, wer wäre dann da, um den Nürnberger Karren aus dem Dreck zu ziehen? Der Rat brauchte einen Ausweg. Und so begnügte sich Hosto Stromer damit, mit weiten Schritten die beiden leeren Säle der Nürnberger Kaiserburg zu durchmessen, den Burghof hinunter in die Vorburg zu schreiten, bis ganz hin zum SinwellTurm, dem höchsten Gemäuer, das Nürnberg überragte, dort immer zwei und zwei die steilen Holzstufen erst außerhalb, dann innerhalb der Turmmauern zu erklimmen, bis er schließlich in der abendlichen Dämmerung des milden Junitages auf der obersten Plattform stand. Ulrich Gruntherr kam ihm nachgelaufen wie ein treuer Hund.
Hier ballte Hosto die Fäuste, um nicht die Fassung zu verlieren, und glich so mehr einer bärtigen Steinstatue mit hellem Haar denn einem Menschen. Sein starrer Blick folgte dem Lauf der Pegnitz gen Sonnenuntergang, durch die weiten Felder, die Nürnberg umgaben, schweifte über dunkel bewaldete Hügel, wo sie sich irgendwo mit der Rednitz vereinte.Vereint wälzten sich die Flüsse weiter bis Bamberg, wo der Bischof dieser Lande Hof hielt, und ergossen ihr Wasser dort in den Main, der es schließlich über Würzburg nach Frankfurt spülte. Dort teilte der König vermutlich in diesem Moment das Mahl mit Markgraf Ludwig von Brandenburg. Dieser älteste Sohn Kaiser Ludwigs des Bayern stellte sich also hinter Karls Ansprüche auf den Königsthron. Damit gab es niemanden mehr, der diesem die Stirn bieten konnte.
»Eine Schande? Eine Schande!« Die bebende Stimme Ulrich Gruntherrs schnappte fast über. Der kleine Mann mit dem Kugelbauch schwitzte nach dem steilen Treppenaufstieg auf den Rundturm. »Das ist keine Schande, das ist eine Katastrophe! Du hast gesagt, wir müssten aufseiten Ludwigs stehen. Du hast gesagt, er wäre uns dienlicher und gewogener! Und was haben wir nun davon?«
Hosto verspürte den beinahe unbezwingbaren Drang, sich den Mann zu greifen und über das Holzgeländer des Turmes zu schleudern. Der Verlust für Nürnberg wäre gering. Doch er beherrschte sich. Hielt Gruntherr ihn für einen Propheten? Für einen unfehlbaren Engel? Für Gott gar? Hätte Hosto gewusst, dass Ludwig klein beigeben würde, hätte er König Karl im letzten Jahr natürlich niemals die Stirn geboten.
Die Situation war damals aber auch verzwickt gewesen. Der Rat hatte König Karl nach Kaiser Ludwigs Tod zunächst anerkannt. Doch Ludwigs Sohn gleichen Namens bot ihnen dann alle Vorteile. Macht und Anspruch eines alten Hauses. Handelsprivilegien, deren Ausmaß gewaltig gewesen war. Man hatte sich einiger aufstrebender Schmiedemeister bedient, wie Rudel Geisbart einer war, um einen neuen, einen aufständischen Rat einzusetzen.
»Es war damals die richtige Entscheidung. Ludwig hat Tirol, und Tirol ist das Tor nach Venedig. Ludwig hat die Oberpfalz, und aus der Opferpfalz kommt das Erz für unsere Waffenschmieden. Niemand konnte ahnen, dass Ludwig sich Karl fügen würde.« Hosto rieb sich die Nasenwurzel.
»Aber das hat er, Hosto!« Ulrich Grundherrs panische Stimme hallte über die verwaiste Burg. »Und mittlerweile verteilt Karl alle unsere Privilegien an den Burggrafen von Nürnberg und den Bischof von Bamberg! Die FamilieVischbecken hat die Teichnutzung verloren, die Waldstromers und die Forstmeisters die Forstrechte. Jetzt nimmt Karl uns noch die Kaiserburg und Burg Brunn weg, um sie dem Burggrafen zu geben. Das Schultheißenamt verwalten inzwischen auch wieder dessen Getreue! Alles, wofür wir in den letzten Jahrzehnten gekämpft haben, geht die Pegnitz runter - weil wir zu Ludwig halten! Und jetzt verkauft der Mann sich an den König!« Gruntherr lief auf der kleinen kreisförmigen Plattform auf und ab und raufte sich das Haar in höchster Verzweiflung.
»Gruntherr, beruhige dich«, knurrte Hosto Stromer wütend. Doch die Furcht des anderen Mannes ließ ihn ruhig werden. Er wandte sich nach Osten und sah hinunter auf die Burggrafenburg direkt unter ihm, die momentan ebenso verlassen dalag wie die Kaiserburg selbst. »Hier geht es doch nicht nur um Ludwig und seine Allianzen! Hier geht es darum, dass Nürnberg als eine der ganz großen Parteien im Reich anerkannt wird! Ob von Ludwig oder von Karl spielt dabei keine Rolle.« Er stützte sich mit den Ellenbogen auf die Zinnen und dachte nach. »Karl will den Burggrafen gegen uns ausspielen. Er will uns in die Enge drängen.«
»Das hat er schon geschafft!« Gruntherr blieb endlich stehen. »Wir müssen dem König die Füße küssen. Sofort! Sonst bleibt von Nürnberg nichts mehr übrig.«
Hosto schnaubte abfällig. »Rückgrat, Mann! Karl ist vieles, aber nicht dumm. Er weiß, dass Nürnberg das Tor zum Reich ist. Und seine Waffenkammer obendrein. Er braucht Nürnberg, und er glaubt nicht einen Herzschlag daran, dass der Burggraf ihm ebenso dienlich sein könnte wie der Rat der Stadt.«
»Was können wir ihm denn noch bieten?«, fragte Gruntherr. »Geld? Geld kann er immer brauchen. Unterwerfung? Der Ehrgeiz des Mannes ist grenzenlos.«
Hosto dachte nach. »Geld, ja. Karl hat Schulden. Er hat Wahlversprechen gemacht und Ludwig den Brandenburger gekauft.« »Aber wir haben auch kein Geld mehr!«
»Dann müssen wir uns welches besorgen.« Doch das Stichwort vom Ehrgeiz, das Gruntherr ihm geliefert hatte, gab ihm eine Idee ein. Karl war ein frommer Mann, der sich gut mit dem Papst in Avignon verstand. Und zum ersten Mal gab es keinen anderen König, der Karls Macht hätte bedrohen können. Plötzlich erkannte Hosto, dass der nächste Schritt unausweichlich war. Karl würde Kaiser werden. Und mit dem Kaiser stellte man sich besser gut.
Er sah von diesem höchsten Punkt auf die Stadt hinunter. Die Gassen kleiner und krummer Häuschen, die bereits überall aus der Stadtmauer herauswucherten, drängten sich über den Fluss. Die Fleischbrücke, noch im letzten Jahrhundert erbaut, vereinte mit den beiden Ufern nördlich und südlich des Wassers die beiden Stadthälften. Eine neue Stadtmauer, die das stetig anschwellende Nürnberg wieder besser vor seinen Feinden schützen würde, befand sich seit Jahren langsam, aber stetig im Bau. Das Einzige, was der Stadt fehlte, um ihr ganzes Potenzial zu entfalten, war ein angemessen großer Marktplatz. Da die beiden Stadthälften lange unabhängig voneinander gewachsen waren, gab es keinen zentralen Markt. Ein solcher würde den Handel Nürnbergs zu einer Größe wie etwa in Venedig führen. Nein, mitten in der zusammengewachsenen Stadt lag die Judenschule, und darum herum scharten sich die Häuser der Hebräer. Das Land, das einst mühsam aus dem Schlamm der Pegnitz gewonnen worden war, galt nun als bester Baugrund der Stadt. Er selbst wohnt dort, am Zotenberg.
Die Frage der Königstreue hatte Nürnberg zerrissen. Damit lag die Stadt auf den Knien; wirkte schwach und angreifbar. Wie sollte sie Karl so auf Augenhöhe begegnen können, wie früher? Nein, es musste etwas geschehen. Nürnberg musste wieder auf die Füße kommen. »Wir können Karl noch etwas bieten. Etwas, das er dringender braucht als Geld.«
»Was?«
»Ein starkes Nürnberg. Ein einiges Nürnberg. Und besonders ein reiches Nürnberg. Wir werden Geld brauchen. Und wir werden noch ein wenig aushalten, damit er nicht denkt, wir knicken genauso ein wie Ludwig der Brandenburger. Und dann werden wir ihm mehr bieten als der Burggraf und der Bischof zusammen.«
»Und was soll das sein? Das letzte Jahr hat uns beinahe pleite gemacht, Hosto. Die Kassen der Stadt gehen zur Neige. Der Handel floriert nicht mehr so, wie er sollte. Ludwig steht unter dem Bann des Papstes, und wir dadurch mit ihm! Für andere Städte hat das Wort des Papstes viel Gewicht, Hosto! Selbst wenn der Bann von uns genommen wird, läuft der Handel nur langsam wieder an. Das Geld der Juden reicht auch nur so weit! Und eigentlich schulden wir seit Karls Verfügung auch davon jeden Heller dem Bischof von Bamberg und dem Burggrafen - und zwar rückwirkend! Gott verfluche die beiden dafür, dass sie dem König so weit in den Arsch gekrochen sind, bis nur noch die Füße rausschauen!«
Doch Hosto hörte dem Mann nicht zu. »Karl wird kommen«, brummelte er nachdenklich. Er ging die runden Mauern des Turmes entlang und musterte die schlichte Kaiserburg aus dunklen Ziegelsteinen. »Wir müssen bald die Räume bemöbeln, Gruntherr, damit der König sich auch recht wohlfühlt.«
»Hosto«, beschwor Ulrich Gruntherr ihn. »Ich frage dich noch einmal: Was hätten wir König Karl zu bieten, was Fürsten und Grafen ihm nicht geben können?«
Ulrich Stromer, genannt Hosto, genannt Ulrich vom Zotenberg, runzelte die Stirn. »Was wir dem König bieten können?« Er schüttelte den Kopf. »Dem König Karl können wir nichts bieten.«
Gruntherr starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Hosto?«, fragte Gruntherr misstrauisch. »Willst du nun jemanden Dritten unterstützen?«
»Nein.« Ulrich Stromer lächelte. Nürnberg würde nicht unter dem Bischof und dem Burggrafen aufgeteilt werden und auf den Status einer kleinen Provinzstadt herabsinken. Nürnberg würde sich aus dem Schlamm, in dem es kniete, aufraffen und sich zu ungeahnter Größe erheben.
Hosto drehte sich nicht um, als er sprach, denn Gruntherr würde gar nicht zu würdigen wissen, an was für einer großen Entscheidung er teilgehabt hatte. Hosto konnte endlich den Anblick der Stadt in der Abendsonne genießen. Sie strahlte wieder jene Friedlichkeit aus, die er so schätzte.
»Wir bieten Karl eine Hauptstadt. Eine Hauptstadt für sein Kaiserreich.«
KAPITEL 2
Träumst du?«
Luzinde kniff die Augen zusammen, schüttelte fast unmerklich den Kopf und starrte weiter ins Wasser. Kaum die Lippen bewegend erwiderte sie leise: »Ich träume nie, das weißt du doch. Gleich ist er drin!«
Auf dem schlierigen Wasser spiegelte sich die warme Nachmittagssonne dieses Tages im späten August das Jahres 1349. Luzinde war, als blicke sie in einen zerschlagenen Spiegel. Die Wellen verzerrten die Spiegelung ihres eigenwilligen Gesichtes: die dunklen Augenbrauen, das herzförmige Antlitz mit den eng stehenden, leuchtenden Augen, die um einVielfaches blauer waren als das Wasser des Teiches. An einem Lederband um ihren Hals hing ein geprägtes Amulett. Die gewölbte Metallscheibe zeigte eine Frau mit Lichterkranz im Haar - die Heilige Luzia, ihre Namenspatronin.
Luzinde blies eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht, um die Reuse besser erkennen zu können, deretwegen sie, den Saum ihres schlichten braunen Obergewandes in den Gürtel gerafft, mit nackten Füßen bis zu den Oberschenkeln in einen der Fischteiche des Beginenhofes Pillenreuth gewatet war. In endloser Geduld verharrte sie dort. Und tatsächlich, irgendwann zerbrachen kleine Wellen Luzindes Bild auf der Oberfläche. Darunter sah sie einen graubraun schimmernden Karpfen, dessen spindelförmiger Leib sich langsam zwischen die Stäbe der Reuse schob.
»Hab ich dich«, lächelte Luzinde und griff in das angenehm kühleWasser, das auf ihren bloßen Beinen prickelte. Sie zog die Reuse an die Oberfläche. Darin lag der Fisch und schnappte vor sich hin. Sie entfernte den Stift aus demVerschluss des kleinen Türchens und ließ den Karpfen in den Korb gleiten, der halb im Wasser stand. Darin zappelten bereits ein paar andere, die sie aus den Reusen der Pillenreuther Teiche eingesammelt hatte, konnten über die hohen Wände aus geflochtenen Weidenruten jedoch nicht entkommen, die über die Wasseroberfläche ragten. So blieb der Fisch frisch und kam unverdorben auf die Tafel des Beginenhofes, wo Luzinde und Anna als Mägde dienten.
»Warum träumst du nicht?«, fragte der kleine Thomas, dessen blondes Haar noch feucht schimmerte.Während die Mägde arbeiteten, spielte Annas fünfjähriger Sohn am Teich. Er war nass geworden, und so hing sein Kittel zum Trocknen über einem der nahen Büsche.
Die Frage traf Luzinde unerwartet. Im Umgang mit dem Kleinen fühlte sie sich stets befangen. Dabei mochte sie ihn doch. Trotzdem schien sie nie die richtigen Worte zu finden, wenn sie sich mit ihm beschäftigte. »Weil -«, wie sollte sie ihm das erklären? Sie hatte niemals beschlossen, dass sie nicht mehr träumen wollte, es war einfach geschehen. »Weil Träume einem Menschen falsche Hoffnungen machen. Und wenn man sie nicht erreicht, dann - ja dann tut das sehr weh.« Luzinde berührte ihren Heiligenanhänger. Sie wusste, wovon sie sprach. Doch sie machte eine tapfere Miene und klappte den Deckel des Fischkorbes zu. »Das wird ein Festmahl!«, verkündete sie mit falscher Fröhlichkeit. Sie wischte sich die Stirn mit dem feuchten Kopftuch ab, das ihren Scheitel vor der Sonne schützte.
»Aber die Meisterin und die Biginen essen uns doch alles weg«, nörgelte Thomas. »Können wir nicht einfach einen behalten, damit mehr für uns übrig bleibt?« Er blinzelte in kindlicher Unschuld in das Sonnenlicht.
Luzinde warf ihm einen schrägen Blick zu und watete aus dem Wasser heraus. Dabei warf sie sich die langen welligen Haare über die Schulter, die sie offen trug, wann immer sie sich außer Sicht der Beginen befand. Die hielten sie für eine Witwe. Und von Witwen erwartete man natürlich, dass sie die Haare unter Hauben wegflochten. Doch Luzinde trug ihre dunkle Pracht gerne offen.
»Die Frauen heißen ›Beginen‹, Thomas. Und sicher können wir das. Dann musst du nur noch die Köchin einweihen, die den Fisch kocht und sicher auch etwas davon haben will; und vielleicht die Waltraud, die die Tafel bei der Meisterin aufträgt, und ihr erklären, warum so wenig Fisch da ist. Damit bleibt für uns drei wieder kaum mehr ein Happen.Vielleicht sollten wir gleich zwei behalten?«
»Setz meinem Sohn keine Flausen in den Kopf«, schalt die ältere Magd besorgt. Anna trug ihr Tuch trotz der Wärme um Haar und Hals geschlungen, wie es sich gehörte, so dass ihr rundliches Gesicht noch voller wirkte. Sie rückte gerade den Riemen zurecht, der zwischen ihren Brüsten verlief. Daran hing ein Beutel, in dem sie Kerbel, Liebstöckel und einige Salbeispitzen gesammelt hatte. »Wenn den Jungen jemand erwischt, wie er von der Tafel klaut, dann bekommt er Schläge. Die Meisterin hat harte Regeln aufgestellt.«
»Aber ich will doch Fisch. Bitte.«
Luzinde wurde wieder ernst. Die Meisterin war gut zu ihr. Und das Letzte, was sie wollte, war, dassThomas Ärger bekam. »Nein, deine Mutter hat Recht. Lass besser die Finger von der Tafel der Herrschaft.«
»Och«, schmollte der Kleine.
»Alles wieder gut?«, fragte Anna wie stets, wenn Thomas traurig war, und zauberte eine Stange Süßholz aus ihrer Schürze hervor. Da lächelte der Kleine, schob sich das Ende in den Mund und nickte kauend. Schließlich hob er einen Kiesel auf und begann, ihn vom Dreck zu befreien und damit zu spielen. Wie einfach das Leben der Kinder doch war! Luzinde sah ihm mit einem Hauch von Wehmut beim Spielen zu. Er würde noch früh genug erwachsen werden müssen.
»Sei bloß vorsichtig mit dem, was du ihm in den Kopf setzt, Luzinde. Ich will nicht, dass er zu viel von dir lernt. Du weißt genau, wie weit du mit deinen Schnurren gehen kannst - zumindest hoffe ich das. Wenn Thomas glaubt, er könne sich bedienen, wie er will, dann wird er Ärger bekommen. Manche haben für einen Diebstahl schon Hand oder Zunge verloren.«
Der Korb im Wasser wackelte unter dem Zappeln der Fische - Luzinde hatte ganz vergessen, den Deckel festzubinden. Also watete sie zurück ins Wasser. »Hat die Meisterin nicht auch die Waltraud zu sich genommen?«, fragte sie über die Schulter. »Ich dachte, die hätte ihren Herren bestohlen und sei daraufhin verjagt worden.«
»Sicher vergibt die Meisterin einer Diebin, wenn sie Reue zeigt und auf die Bibel schwört, dass sie nicht mehr stehlen wird. Aber die Meisterin ist sehr streng mit Waltraud und hält ein Auge auf sie. Da kennt sie keine Gnade.Waltraud weiß das. Und daher ist sie die Treuste von uns allen.«
Luzinde verstummte, während sie das Band des Korbdeckels sorgfältig am Griff verknotete.Wie so oft fragte sie sich, ob sie der Meisterin Elisabeth in jener Nacht vor fünf Jahren wohl die Wahrheit hätte sagen können. Seit man sie damals fiebernd und halbtot auf den abgelegenen Beginenhof gebracht hatte, lebte sie mit dieser Lüge. Nicht einmal in der Beichte hatte sie bekannt, was sie damals auf die Straße getrieben hatte.
Inzwischen hatte Luzinde so lange geschwiegen, dass sie niemandem mehr von der Wahrheit berichten konnte. Sie hatte hier in Pillenreuth, abseits des Trubels der Welt, einen Ort gefunden, der ihr Sicherheit bot. Wenn sie mit der lieben Anna nun über ihre Vergangenheit sprach - würde die sie verstehen, ihr vergeben? Oder würde sie zu Meisterin Elisabeth laufen und ihr alles erzählen? Nein, bei dem Gedanken zog sich vor Furcht ihr Magen zusammen. Sie konnte nicht wagen, sich der Freundin anzuvertrauen.
»Wir sollten aufbrechen«, drängte Anna nun mit einem Blick zum Himmel, um den Stand der Sonne abzuschätzen, und zog ihrem Sohn den halbtrockenen Kittel wieder über. »Sonst kommen wir zu spät zur Andacht.«
»Nicht nötig«, erwiderte Luzinde und genoss die Sonne auf dem Gesicht. »Ich habe Schwester Kunigunde gesagt, wir hätten auch die Reusen auf der anderen Seite noch abzugehen und bräuchten den ganzen Nachmittag.«
Annas Augenbrauen fuhren hoch. »Aber die Reusen haben wir doch das letzte Mal eingesammelt und im Schuppen verstaut, weil man durch das Unterholz kaum zum Ufer kommt. Wieso …« Luzindes Gesichtsausdruck brachte sie zum Verstummen.
Die jüngere Magd zog die Schultern in gespielter Unschuld hoch und ließ sie wieder fallen. »Schau doch nicht so böse, Anna. Ich dachte, wir könnten uns einen schönen Nachmittag am See machen.« Sie wies um sich herum und hob erst das eine, danach das andere nackte Bein aus dem Wasser, als würde sie einen grotesken Tanz aufführen. »Die Sonne scheint so herrlich! Und bald geht die Obsternte los, die Felder werden geschnitten und die Tage kühler.Vielleicht ist heute unsere letzte Gelegenheit, den Sommer so richtig zu genießen!«
Anna sah sie an, als hätte sie den Vorschlag gemacht, der Bibel abzuschwören. »Luzinde, du hast gelogen! Wie kommst du nur immer auf solche Gedanken? Wir sind doch keine hohen Herrschaften, die sich einen Tag freinehmen können, immer wenn es ihnen passt! Was wird Schwester Kunigunde sagen, wenn wir bloß einen halben Korb Fische mitbringen? Wenn wir alle Reusen leeren würden, wäre es mindestens ein ganzer!«
Thomas hatte derweil ein Stück Baumrinde im nahen Gebüsch gefunden. Er hob es hoch und lief zu den beiden Frauen zurück. »Schau! Ich habe ein Boot gefunden. Ein Boot für die Ameisen!«
Anna sah von der Freundin hinüber zu ihrem Sohn, der in voller Begeisterung mit seinem Fund wedelte, damit die Mutter mit ihm spiele. Einen Augenblick später warf die in nur halb gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft. »Wo soll das nur enden, Luzinde? Immer machst du solche Sachen! Kennt der Schalk in deinem Nacken denn gar keine Grenzen? Wenn das rauskommt, dann sind wir alle dran! Du bringst uns noch in Teufels Küche!«
Luzinde tat betreten. »Aber ich wollte euch doch nur ein wenig Zeit miteinander verschaffen. Du arbeitest immer so viel, und da dachte ich, du würdest dich freuen, wenn du und Thomas mal ein wenig Zeit füreinander hättet …« Sie sprach nicht aus, was für eine Sehnsucht sie empfand, wenn die Mutter ihren kleinen Sohn verwöhnte und liebkoste.
»Aber die Arbeit macht sich doch nicht selbst, Luzinde! Das muss ich alles später nachholen!« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Manchmal benimmst du dich mehr wie ein verwöhntes Bürgertöchterlein denn eine Magd!«
Luzinde wich dem Blick der Freundin aus. Wie nahe die manchmal der Wahrheit kam! »Vielleicht kann ich dir bei der Arbeit helfen, damit es schneller geht?«
»Ach!«, tat Anna verärgert und winkte ab. Doch Luzinde konnte sehen, dass die rundliche Frau längst überzeugt war. »Jetzt ist es ja eh zu spät.«
Luzinde planschte ans Ufer zurück und streckte die Glieder auf dem trockenen Gras aus.Thomas derweilen klatschte in die Hände und krähte: »Das Boot! Das Boot!« Doch Luzinde wusste ganz befangen gar nicht, was sie mit dem Buben anfangen sollte. Also scheuchte sie ihn weg. »Lass es doch schwimmen, Kleiner!«
Der Junge ließ sich durch die Abweisung nicht einschüchtern und zog Luzinde am Rock. »Lass dass!«, murrte sie schließlich. »Mir sind die Beine kühl geworden.« Doch es dauerte noch eine Weile, bis Thomas davon abließ und allein zum Ufer stapfte. Dort brachte er das Rindenboot zu Wasser und setzte dann Steine als Fischer darauf. Der innigliche Eifer, in den er dabei bald versank, schien das schlechte Gewissen der Mutter schnell zu beruhigen.
»Wilbert sagt, du machst dem Trautmann schöne Augen«, sagte Anna halbwegs versöhnt und legte sich neben Luzinde auf die Wiese; die Hände hinter dem Kopf gefaltet.
»Ich würde eher sagen, der Trautmann macht mir schöne Augen.« Doch Luzinde konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Anna hatte Recht - der Knecht gefiel ihr gut. Er hatte eine Art an sich, Luzinde anzuschauen, dass ihr ganz warm wurde. Gut aussehende Männer hatten es leicht bei ihr, das wusste sie. Und sie erinnerte sich auch, was für Folgen das bereits gehabt hatte.
Anna rollte sich auf die Seite, um dem Jungen beim Spiel zuzuschauen. »Wenn du dich nicht in Acht nimmst, dann endet das übel«, mahnte sie. »Wilbert«, das war ihr Mann und ein Ackerknecht des Beginenhofes, »sagt, dass der Trautmann kein Blatt vor den Mund nimmt und über die Frauen redet, mit denen er ins Heu steigt.Wenn du dich nicht in Acht nimmst, dann verbreiten sich Gerüchte. Und dann werfen die Beginen dich raus. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
Die Angst formte einen harten Klumpen in Luzindes Bauch. Die Aussicht, wieder zurück auf die Straße zu müssen, nirgends willkommen zu sein, nicht zu wissen, wohin sie gehen, und woher sie den nächsten Bissen Brot bekommen sollte … Sie verdrängte den Gedanken schnell. Dann wurde ihr bewusst, was Anna gerade gesagt hatte. »Andere Frauen?«, wiederholte sie perplex.
Die rundliche Magd grinste breit. »Du dummes Ding! Wie kannst du bei all deinen Torheiten so leichtgläubig sein, nur weil ein schöner Mann deine Augen bewundert? Schon bei Volckert dem Hufschmied warst du so behext! Alle paar Wochen kommt er und umwirbt dich, und du wähnst dich schon im Stand der Ehe«, sie lachte, »bis ihn die Meisterin schließlich aus dem Bett der Schwester Sophia und dann vom Hof wirft. Und Sophia gleich mit.«
Luzinde fand das nicht lustig. Wenn die Knechte bereits darüber sprachen, dann sollte sie den Trautmann besser auf Abstand halten, egal, was seine Absichten waren. Sie wollte nicht wieder geächtet werden. »Ich hab’s nicht vergessen«, meinte sie ernüchtert. »Ich werde deine Worte beherzigen.« Thomas kam wieder herüber und zog sie am Rock. Doch Luzinde wollte nicht spielen. Der kleine Bube zuppelte und nörgelte aber weiter, bis ihr der Geduldsfaden riss. »Lass das!«, zischte sie. Sein Gesicht verzog sich zu weinerlichem Schrecken.
»Oh nein, bitte nicht«, stieß Luzinde aus. »Ich wollte dich nicht anfahren, wirklich nicht.«
»Ich wollte auch nicht über dich lachen«, sagte die rundliche Magd. »Bitte vergib mir. Du hast damals sicher gehofft, dass Volckerts Absichten ehrlich sind.«
Doch Luzinde dachte weniger an Volckert oder an Trautmann, sondern an den Burschen, dem sie als Erstes ihr Herz geschenkt hatte. Und sie wünschte, sie hätte damals schon eine so gute Freundin gehabt. »Ist schon gut, Anna.« Thomas begann zu weinen, und Luzinde sah die Magd fragend an. »Was mache ich denn jetzt nur mit dem Jungen?«
»Lenk ihn mit was Schönem ab oder versohl ihm den Hintern. Ansonsten plärrt er den ganzen Nachmittag.«
Luzinde sah sich um. »Thomas, schau, da vorne bei den Büschen ist ein prächtiger roter Kiesel. Willst du den nicht auch auf dein Boot setzen? Da drüben!« Thomas folgte ihrem Zeigefinger mit neugierigem Blick. Noch schniefend hüpfte er über seine protestierende Mutter hinweg und bückte sich beim Weidenbusch nach dem Kiesel.
Plötzlich wackelten die Zweige des Busches, als wäre Leben in sie gefahren. Anna fuhr erschrocken auf und schnellte wie eine Katze hoch. Dann rannte sie zu ihrem Kind. Doch sie war zu langsam! Bevor sie Thomas erreicht hatte, sprang ein grober Kerl wankend zwischen die beiden und griff nach ihr. Der Fremde riss Anna am Riemen des Umhängebeutels zu sich heran, sah sich wild um und zischte: »Nicht schreien!« Anna nickte nur, am ganzen Leib schlotternd. »Du da!«, knurrte der Mann und deutete auf Luzinde, die ebenfalls aufgesprungen war und stocksteif vor Schrecken am Ufer stand. »Hast du Fisch?« Sie hatte kaum genickt, da fuhr er sie an: »Mach den Korb auf!«
Luzinde scherte sich dieses Mal nicht darum, ihren Rock in den Gürtel zu stopfen. Sie watete wie befohlen ins Wasser. Ihre Finger zitterten, als sie das Band wieder aufknotete, das den Deckel des Fischkorbes hielt. Sie hoffte, dass Anna nicht die Nerven verlor. »Du willst etwas zu essen?«, fragte sie bebend und musterte ihn kurz. Das lange graue Haar war von Zweigen und Kletten durchsetzt, die Beinkleider und das helle Hemd aus gutem Stoff hingen ihm in Fetzen vom Körper, die Lederschuhe wirkten dunkel vor Feuchtigkeit. Der Mann trug einen ergrauten langen Kinnbart, der an eine Ziege erinnerte. »Nimm so viel du willst, Mann! Doch geh schnell! Die Männer sind drüben beim Waldesrand. Ein Ruf, und sie kehren zurück!«
Diese Drohung versetzte dem Kerl offenbar den erhofften Schrecken. Er sah sich um und zerrte an dem Beutelriemen, den Anna am Leibe trug. Damit war es um deren Tapferkeit geschehen. »Nein! Nicht! Ich bitt Euch, Herr, tut mir nichts!« Gleichzeitig ließ Thomas den Kiesel fallen, warf sich von hinten auf den Mann und trommelte mit kleinen Fäusten auf ihn ein. »Lass die Mutter in Ruh! Lass sie in Ruh!«
Das hatte Luzinde nicht gewollt. Wenn der Bursche fiel und sich etwas brach … Mit großen Schritten watete die Magd aus dem Wasser und sprang auf die ringende Gruppe zu, um Thomas von dem Mann herunterzuziehen. Kaum griff sie nach dem Jungen, sauste etwas auf ihr Gesicht zu.
Helle Lichter explodierten vor ihrem inneren Auge - ein Schlag hatte sie an der Wange erwischt und schleuderte sie nach hinten. Das Wasser des seichten Ufers schloss sich über ihr, während sie noch nach Luft rang. Vor ihren Augen tanzten helle Flecken. Wo war oben, wo unten? Wo das Ufer, wo die Weite des Fischteichs? Einen kurzen Augenblick lang wähnte Luzinde sich schwerelos im dunklen Nichts. Sie hörte das Schreien eines Neugeborenen, in das sich das Weinen der Mutter mischte, sah das Funkeln eines Amuletts. Sie öffnete den Mund. Sie wollte schreien, doch sie schluckte nur Wasser. Sie schlug um sich, griff nach Halt, doch sie fand keinen. Dann endlich tauchte sie wieder auf und hustete so hart, dass der Kopf schmerzte.
Als Luzinde sich keuchend wieder ans Ufer gezogen hatte, war der Fremde fort. Was war geschehen? Anna hockte auf dem Boden, barg Thomas schützend in den Armen und wiegte ihn vor und zurück. Der kleine Körper regte sich nicht.
»Anna?«, fragte Luzinde heiser, die Stimme noch schwach. Doch Anna antwortete nicht, sie hielt ihren Jungen fest im Arm und weinte. Eine bleierne Furcht nistete sich in Luzindes Magen ein, die sie allzu gut kannte. Wenn diese Mutter ihren Sohn verlor, Luzinde wüsste nicht, ob sie an sich halten könnte … Hastig kroch sie auf allen vieren näher. »Anna! Geht es dem Buben gut? Anna!«
Endlich reagierte die rundliche Magd auf die Panik in ihrer Stimme. Sie sah mit tränennassen Augen auf. »Ja«, flüsterte sie. »Nur eine Beule.«
Die Erleichterung ließ Luzinde erzittern, und sie rollte sich am Ufer auf den Rücken und legte die Hände auf das Gesicht, um die Tränen der Erleichterung aufzuhalten. Das lange sommerliche Gewand klebte ihr am Leibe, und dieWange schmerzte. Was war das für ein Mann gewesen? Und warum war er auf der Flucht? Ein Räuber? Oder ein Gebannter aus Nürnberg? Doch erst einmal war Luzinde froh, dass er fort war.
Dann bebte die Erde unter dem Gewicht galoppierender Pferde. Luzinde fuhr hoch und sah sich um. Hatte der Mann Komplizen? Folgte der Rest der Bande nach und würde sich nun über die schutzlosen Frauen hermachen? Egal wer es war, hier waren sie nicht sicher!
Sie sprang, nass wie sie war, auf die Füße und lief zu Anna und Thomas hinüber. »Anna, komm schnell. Wir müssen uns verstecken!«
»Aber der Fisch...« Tatsächlich zappelte einer der Karpfen aus dem offenen Korb heraus und platschte ins Wasser.
»Lass den Fisch! Wir müssen hier weg!« Luzinde zerrte die Magd auf die Beine. Die barg Thomas noch immer in den Armen. Sie schob Mutter und Kind hügelanwärts in Richtung des dichteren Gebüschs. Die Zweige peitschten ihr ins Gesicht, als sie in die Richtung rannten, in der sie den Wald und den Beginenhof Pillenreuth wähnte.
Ein Schatten huschte zu ihrer Rechten vorbei. Luzinde duckte sich ohne nachzudenken nach links weg den Hügel wieder hinunter, Anna immer an der Hand. Schon bald rang sie keuchend um Atem, und die Kehle brannte. Doch sie hielt im Laufen nicht inne. Nur noch ein Stück weit, dann hätten sie es in den Schutz der Bäume geschafft!Vor Luzinde donnerte der Boden, und wieder wich sie nach links aus und zog die Mutter mit ihrem Sohn hinter sich her. Als sie aus den Büschen auf eine mit hohem Gras bestandene Wiese brach, erkannte sie ihren Fehler: Der Reiter hatte sie abgedrängt, um sie in offenes Gelände zu treiben. Luzinde schlug wild das Herz im Leibe. Sie fühlte sich wie das Wild, wenn die Treiber es in die Enge gedrängt hatten.
»Heilige Mutter Gottes«, stieß sie aus. »Zurück. Zurück! Zurück!« Sie erspähte eine kleine Mulde unter einem Gebüsch und zögerte nicht. Sie schubste Mutter und Sohn vor. »Haltet still!«, zischte sie. Erst als die beiden hineingekrochen waren, sah sie, dass die Vertiefung zu klein war, um auch sie zu verbergen. Und wenn man allzu genau hinsah, konnte man sogar das braune Überkleid der Magd erspähen … Also sprang Luzinde zurück, weg von der Freundin und ihrem Sohn.
Der Himmel verdunkelte sich, und es schien, als habe Gott für einen kleinen Augenblick die Zeit angehalten. Über ihr schwebte ein fast weißes Pferd im Sprung über die Büsche in der Luft, die Vorderbeine angewinkelt, die Hinterhand ausgestreckt. Die Ohren waren in scharfer Aufmerksamkeit nach vorne gerichtet, der schwarze Schweif schlug in einer Ausgleichbewegung, und die Nüstern und Augen waren geweitet. Luzinde warf sich aus der Reichweite der Hufe und rollte über den Boden. Als das Pferd mit einem donnernden Beben neben ihr auf der Erde aufkam, lag sie auf der Wiese und barg den Kopf unter den Armen.
Das Tier wurde herumgeworfen und gezügelt, und für einige Augenblicke hörte man nichts als das Schnaufen aus großen Nüstern. Schließlich wagte Luzinde aufzusehen. Auf dem gro ßen fahlgrauen Schimmel saß ein junger Edelmann mit gerötetem Gesicht und leuchtenden Augen, der in der Hand eine Rute trug.
»Du bist nicht der Geißbart«, stieß er aus und sah sich um. »Wer bist du, Weib? Steckst du mit ihm unter einer Decke?«
Luzinde schüttelte schnell den Kopf und zog sich das Tuch über das Haar. Ihre Gedanken überschlugen sich.Wer auch immer der Reiter war, er durfte nicht erfahren, dass sich Anna und Thomas in der Nähe befanden. »Mit wem?«
»Dem Geißbart. Hermann der Haubenschmidt. Ein älterer Kerl mit spitzem Bart. Du musst ihn doch gesehen haben!«
Einen kurzen Augenblick zögerte Luzinde, den Mann zu verraten. Sie konnte ahnen, wie er sich wohl fühlen musste, gejagt, ohne Freunde, heimatlos. Sollte sie Mitleid mit ihm haben? Doch hier ging es um ihre eigene Haut! »Gesehen wohl, Herr. Aber im Bunde bin ich nicht mit ihm!«
Der Mann kniff die Augen zusammen und musterte sie. Hatte er ihr Zögern bemerkt? »Was machst du hier draußen?« Bei dem Tonfall bewegte sich das Pferd unruhig, und der Sattel knirschte leise. Das Tier roch nach Schweiß und Lederfett.
»Ich bin Magd in Pillenreuth, Herr!«
Luzinde musterte den Reiter nun unter gesenkten Lidern hervor. Das dunkle Haar fiel ihm gewellt bis auf die Schultern. Er trug eine knielange moosgrüne Schecke, deren Zaddeln mit dünnem, beinahe weißem Pelz verbrämt waren, dazu einen breiten edelsteinverzierten Hüftgürtel sowie Beinlinge und Schuhwerk aus Leder. Er hatte ein feines, schmales Gesicht mit dunklen Brauen und glatt geschabte Wangen. An seiner Seite hing ein Schwert mit goldenem Knauf. Der Mann war ganz offenkundig von Stand oder großem Vermögen.
»Bist du allein?« Er sah sich um, als rechne er mit weiteren Überraschungen.
Luzinde zögerte. Entweder bekannte sie sich als schutzlos oder gab Anna und Thomas auch einer eventuellen Gefahr preis. Der Mann schien ihr kein Übel zu wollen, doch in Zeiten wie diesen, in denen Geißlerzüge unterwegs waren und Könige um den einen Thron kämpften, sträubte sie sich, einem Fremden zu vertrauen. Doch Anna würde ihr auch nicht beistehen können. »Ja, Herr.«
»Und was macht ein Weib wie du allein so weit ab vom Kloster?« Seine Blicke suchten noch immer die Umgebung ab.
»Ich - es sind doch nur zwei, drei Meilen, Herr.«
Er musterte sie wieder. Sie hoffte, er würde Anna und Thomas nicht entdecken, hoffte, die beiden hielten ihre Furcht im Zaum und regten sich nicht … Schließlich nickte der Fremde. »Wo ist der Flüchtling hin?«
»Ich … ich weiß nicht, Herr.« Sein Gesicht wurde dunkel vor Zorn, und sein Blick fuhr ihr durch Mark und Bein. »Er hat mich geschlagen, unten am See! Ich bin insWasser gefallen und hab nichts gesehen.« Sie deutete auf ihre Wange und setzte schnell hinzu: »Unter Wasser würdet Ihr auch nichts sehen, Herr!« Sie biss sich auf die Zunge. Der Mann wirkte nicht wie jemand, der duldete, dass Gesinde so mit ihm sprach. Als sein Blick an ihr herabglitt, wurde Luzinde bewusst, dass ihr Gewand und Kopfschleier eng am Leibe klebten. Vermutlich konnte er jede Wölbung ihres Körpers sehen.
Zu ihrer Überraschung antwortete der junge Mann nicht mit der Rute. Er schenkte ihr ein Lächeln, das seinen Zügen eine Weichheit verlieh, die in scharfem Kontrast zu der Wut von eben stand. »Da magst du Recht haben, Mädchen. Aber du hast eine spitze Zunge.«
»Das ist wohl so, Herr«, bekannte Luzinde erleichtert. »Wer ist der Kerl, den Ihr sucht, Herr?«
»Er ist einer der ersten Waffenschmiede der Stadt, Rudel Geisbart. Er hat den Aufstandsrat angeführt. Doch nun kommt König Karl persönlich nach Nürnberg, und da ist er geflohen, um seiner gerechten Strafe zu entgehen.«
»Und wer seid Ihr, Herr?« Luzinde hielt den Atem an. Sie hatte den Satz schon ausgesprochen, als ihr bewusst wurde, dass eine so dreiste Frage einen hochgestellten Mann wie diesen verärgern könnte.
Doch der junge Mann lächelte noch breiter. »Ich war zu lange in Genua, wie? Ulman Stromer der Name,Weib. Nenn mir deinen, damit ich bei den Beginen nachfragen kann, ob du wahr gesprochen hast.«
»Ich arbeite in der Küche«, sagte sie. »Mein Name ist Lu-«, neuerliches Hufgedonner unterbrach sie.
»Ulman?«, drang eine tiefe Männerstimme herüber, doch sie konnte durch die Büsche nicht erkennen, wer sprach. Nur ein blondes Haupt ließ sich kurz zwischen dem Grün ausmachen. »Hast du ihn?«
Erschreckt zog Luzinde den Kopf ein und schlang sich das andere Ende des Kopftuches um den Hals, so dass es Kinn und Mund verbarg. Würde dieser Mann ihr auch Glauben schenken, wie Herr Ulman hier? Oder würde er sie für eine Komplizin des Geißbartes halten und kurzen Prozess mit ihr machen? Herr Ulman sah zu ihr herab und zögerte kurz. Dann zwinkerte er Luzinde verschwörerisch zu.
»Nein, Oheim Ulrich, hier ist niemand«, rief der Patrizier zurück. »Er ist wohl doch in den Wald geflohen!«
»Dann trödel nicht länger herum, Junge! Wir haben dem König einen Kopf zu liefern!«, befahl der Mann über die Büsche. »Sonst fordert er noch die unsrigen!«
»Ich komme!« Er wandte sich zu Luzinde um. »Gott befohlen, Mädchen«, sprach er leise. »Du solltest hier verschwinden und zum Beginenhof zurückkehren. Hier draußen ist die Jagd eröffnet. Das kann schon mal gefährlich werden. Aber wir fassen den Burschen schon.«
Luzinde nickte dankbar. Einen langen Augenblick sah der Patrizier noch zu ihr herab, als wolle er etwas sagen. Dann bohrte er seinem Pferd die Sporen in die Seite. Das Tier machte einen großen Sprung nach vorne und trug ihn über das Gebüsch. Erst als das Getrappel der Hufe in der Ferne verklang, hastete sie zu der Erdmulde.
Anna lag dort und hielt einem verweinten Thomas den Mund zu. »Sie sind weg«, rief Luzinde. Sie half den beiden heraus und fiel ihnen, dreckig wie sie waren, in die Arme. »Ich habe fast alles gehört«, keuchte die rundliche Magd. »Außer dem Namen. Wer war das? Und was wollte er?«
»Er nannte sich Ulman Stromer. Er jagt den Geißbart, der dich angegriffen hat«, erklärte Luzinde.
»Ulman Stromer?«, fragte Anna ungläubig. »Von den Nürnberger Stromern?«
»Das klang so. Wer sind die?«
»Du kennst sie nicht?«, rief Anna erstaunt aus. »Die Stromer sind eines der angesehensten und reichsten Patriziergeschlechter von ganz Nürnberg! Sie sitzen im Rat, besitzen große Ländereien und treiben Handel in der ganzen Welt! Bis hinunter ins Land der Welschen und hoch bis Lübeck und darüber hinaus, sagt man.«
Diese Aufzählung wollte kaum zu dem jungen Mann passen, mit dem sie gerade gesprochen hatte. »Aber er war eigentlich ganz nett«, gab sie zurück.
»Ganz nett? Die waren bekannt mit dem toten Kaiser Ludwig, Gott hab ihn selig!«
Luzinde dachte über die Worte des zweiten Mannes nach, den sie kaum gesehen hatte. »Ich schätze, sie haben jetzt auch mit dem neuen König Karl zu tun.«
Die beiden Frauen beschlossen, in die Sicherheit des Beginenhofes heimzukehren. Der Weg durch den Wald nach Pillenreuth war Luzinde noch nie so lang vorgekommen. Doch sie half Anna nicht, den jungen Thomas zu tragen. Luzindes Lüge war der Grund für den nachmittäglichen Ausflug gewesen. Wären sie wie befohlen nach Pillenreuth zurückgekehrt, wären sie dem Geißbart nie begegnet. Die Magd meinte, einen stummen Vorwurf in den Augen des Jungen zu lesen. Der klammerte sich an seine Mutter und schielte immer wieder zu ihr herüber. Doch er sagte nichts.
 
Ulman Stromer gab seinem Pferd die Sporen. Der Grauschimmel jagte in halsbrecherischem Tempo über die Wiesen, sprang über Hecken und Bruchsteinmauern und schlüpfte zwischen den Bäumen hindurch. Er hörte Hufgetrappel rechts und links - die anderen Jäger versuchten, es ihm gleichzutun. Doch Ulman wusste, was seinTier zu leisten imstande war. Und er hatte die Beute zuerst gesehen, die es heute zu jagen galt.
Die Stute liebte die Jagd ebenso wie er. Er hatte Wölfe in Böhmen erlegt, in Genua die Beiz gelernt, in Barcelona Bären getötet und sogar einmal an einer Schlangenjagd teilgenommen. Doch noch nie zuvor hatte er Jagd auf einen Menschen gemacht. Der Gedanke beflügelte ihn.
Ulman machte einen grauen Haarschopf zwischen den Bäumen aus und steuerte den Schimmel mit einer winzigen Verlagerung des Gewichtes nach rechts. Er tauchte unter einigen Zweigen hindurch und stellte sich in den Steigbügeln auf, als
 
 
 
 
 
 
Originalausgabe 07/2009
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