DSA 43: Die Nebelgeister - Lena Falkenhagen - E-Book

DSA 43: Die Nebelgeister E-Book

Lena Falkenhagen

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Beschreibung

Spricht man in Havena von Nebelgeistern, so meint man die Schmuggler, die am König und an der Garde vorbei die gefährliche Fahrt durch die fluchbeladene Unterstadt wagen. Die überschwemmten Ruinen künden von uralten Zeiten, da die Götter den Hochmut bestraften, während sie heute zwielichtiges Gesindel und so manche Kreatur aus den Niederhöllen beherbergen.

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Lena Falkenhagen

Die Nebelgeister

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 43

Kartenentwürfe: Ralf Hlawatsch E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-453-15634-X (vergriffen) E-Book-ISBN 9783868899047

Danksagung

EinenliebenDankanInaKramer,ausderenFederdiewundervollentulamidischenVersestammen,undanHeikoBuchholz,derwieimmermitRatundTatzurEntstehungdiesesRomanesbeigetragenhat

›InderNebelnacht‹wurdeübersetztvonUlrichKiesowundLenaFalkenhagen.

Wichtige Personen

FATAS:

Die Familie Bennain:

Cuanu ui Bennain,König Albernias Idra Bennain, seine Frau

Invher ni Bennain, ihre Tochterund Kronprinzessin Albernias

Ruadh ui Bennain, ihr Sohn und Prinz vonAlbernia Efferdan ui Bennain, Bruder Cuanus und Prinz von Albernia

Rominvon Kuslik-Galahan, Fürstlicher Gemahl Invhers

Finnian von Kuslik-Bennain, Sohn Invhersund Romins

Die Schmuggler:

Rondriane Kevendoch, ›Gräfin der Unterstadt‹und Krämerin in Havena

Praiodan Kevendoch, ihr Bruder Thalionmel, eine Elfe

GhunTeagham, der ›Weibel‹

Lyn Barc, Fhann, Cian und Seola, Schmuggler

DieGeweihten:

Graustein, Hohergeweihter des Efferd in Havena Ilarea Efferdtreu, eineEfferdgeweihte

Larona Seeträumerin, Hüterin des Zirkels, oberste Efferdgeweihte Aventuriens

Sonstige:

Aldare, eineElfe

Sulpiz Agilfried, Wirt des GasthausesEsche und Kork

RhiannaConchobair, eine illegitime Tochter Raidri Conchobairs

Leiella, eine Neckerin

Frau Marteniel, eineMagierin (hinter deren Pseudonym sich Nahema, die mächtigste ZauberinAventuriens, verbirgt)

YMRA:

Die Geweihtenschaft des Efferd:

Efferdhilf ›der Blaue‹, Hohergeweihter des Efferd in Albernia

Efferdwin, ein jungerNovize im Tempel Vater Oisin, ein alter Geweihter

Raike, eine jungeGeweihte Branwen Bruadhir, eine Novizin

Die Geweihtenschaft des Ingerimm:

Ingramosch,Sohn des Irgabrosch, Hohergeweihter des Angrosch

Errax, Sohn des Ergasch, Priesterdes Angrosch Arim, Sohn des Argarim, Priester des Angrosch

DieGeweihtenschaft der Rahja:

Riganna, die Erwählte der Göttin

Eillyn, Hohegeweihte derRahja in Havena

Niando, Rahjalyn, Ulfila, Aedin, Cynwal und Glenna, sechsweitere Priesterinnen und Priester

Die Geweihtenschaft des Praios:

Ardan, Hoherpriesterdes Praios in Havena

Der Fürstenhof:

Toras ui Bennain, Fürstdes unabhängigen Albernia Marhada ni Bennain, seine Tochter und ThronerbinNahema von Dela, eine mächtige Zauberin und Baronin

Sonstige:

Rhÿsder Schnitter, ein Tagelöhner Meister Ghundir, ein Schmied Ceorvina, eineSchurkin

Callan, ein übler Schurke

Vom Anbeginn der Zeit

So führt Satinav das Logbuch auf dem Schiff derZeit, in dem das Streben der ganzen Welt auf weißenund schwarzen Seiten niedergeschrieben ist. Und zwei Helfer gewährte derEwige LOS dem Frevler: Ymra und Fatas, seine beiden Töchter. Ausdem Stoff, aus dem die Segel des Schiffes sind,nämlich aus den Träumen und Wünschen, formen sie dieSeiten des Schicksalsbuches. Ymra bildet aus den Erinnerungen derMenschen die Vergangenheit, und jede Nacht vollendet sie eine schwarzeSeite. Fatas formt aus den Hoffnungen der Menschen die Zukunft,und jeden Tag vollendet sie eine weiße Seite.

Naranda Ulthagi,Auf der Suche nach der gefrorenen Zeit

Prolog – Fatas

Leise plätscherte das Wasser an der Mauer, die denEfferdtempel Havenas von der verfluchten Unterstadt schied, als Zulhaminsich durch die Schatten der Nacht schlich. Mit einigen raschen Griffenüberprüfte die Diebin, ob ihr Werkzeug noch richtig saß. DerSatz Dietriche, den sie in einem Bausch gezupfter Wolle inihre Gürteltasche gesteckt hatte, klimperte kein bißchen, und das kurzeStemmeisen saß fest an die Wade gebunden unter dem Lederdes Stiefels. Die Dolchklinge in der ebenfalls ledernen Scheide amGürtel würde nicht blinken, der eiserne, mit Stoff umwickelte Knaufnicht glänzen. Schließlich tastete die Rechte zum linken Handgelenk, um das ein sandbrauner Seidenschleier gewunden war– Zulhamins Markenzeichen, das sie üblicherweise am Tatort zurückließ.

IhreHände waren naß vom Schweiß, denn der Einbruch heute warkein gewöhnlicher Auftrag. Stieg sie üblicherweise in schwer zugängliche Häuser,Burgen oder Türme ein, würde sich der Diebstahl an sichheute als wahres Kinderspiel erweisen. Das Haus, in das sieeindringen würde, war offen, niemals abgesperrt, eingeschossig, nur voneiner einzigen Person bewacht. Sie würde hineinspazieren, das Objekt ansich nehmen und wieder hinausspazieren, so einfach war das.Doch das Gebäude war ein Tempel, das Objekt eine heiligePerle. Zulhamin wischte die feuchten Handflächen an den Beinkleidernab und schlich geduckt näher. Früher hätten ein paar Gebetedie Spannung vertrieben, doch heute wußte sie nicht mehr, obsie noch zu dem Wüstengott Rastullah oder doch lieber zuPhex beten sollte, dem Herrn der Nacht und der Diebe.Trotzdem hatte sie den Auftrag mit dem Efferdtempel angenommen,sie konnte der Herausforderung nicht widerstehen.

Zulhamin liebte Perlen. Glatt undgeschmeidig, mit samtenem Glanz und von himmlischer Helligkeit waren sie,und sie zog sie jedem eitlen, aufdringlich funkelnden Diamantenoder Goldstück vor. Sie besaß bereits einige wirklich selteneStücke, die sie in Khunchom und Fasar entwendet hatte,in Städten also, in denen sich Perlen gut stehlen ließen,weil es dort so viele davon gab. Doch man hatteihr versichert, daß diese Perle alle anderen übertreffe; von derGröße eines Apfels sei sie und von tiefblauer Farbe.Zwar konnte sich Zulhamin eine Perle nicht in Blau vorstellen, aber deswegen war sie hier. Siemußtedieses Kleinodsehen, in Händen halten, an der weichen Haut ihrer Wangespüren, das wußte sie. Das war auch einer der Gründe,weshalb sie diesen Auftrag angenommen hatte, ausgerechnet in einen Efferdtempel einzubrechen. Üblicherweise zählte die Novadi die Tempel derZwölfgötter nicht zu den Orten, an denen sie arbeitete –man wußte ja nie, ob an der Götzenverehrung nicht dochetwas Wahres dran war, und Zulhamin war sich diesbezüglich schongar nicht mehr sicher, seit sie in Fasar von einemGeweihten des Phex über den Kult belehrt worden war; derrastullahverfluchte Dieb hatte ihren Glauben erschüttert.

Unwillig schüttelteZulhamin ihre Verzagtheit ab. Dieses eine Mal würde sie den Auftrag im Tempel erledigen, abernur dieses Mal.

Flink flocht sie ihr langes schwarzes Haar zueinem dicken Zopf und steckte ihn im Nacken unter dasWams, bewegte sich dann vorsichtig hinter die Häuser amEfferdplatz, überstieg leise einen Holzzaun und huschte zwischen einigen Büschenhindurch zu den zwei Häusern am Ende der Gasse. Vonhier aus war die einsehbare Strecke zum Efferdtempel, der unglücklicherweiseauf einem fast völlig freien Platz stand, am kürzesten. Jetzt,in der Dunkelheit, sah Zulhamin nur einen hellen Fleck, wosie vorgestern den weißen Marmor mit den neun Säulen davorbei Tageslicht betrachtet hatte. Neun. Zulhamin atmete auf und entspanntesich ein wenig, denn neun war die Zahl Rastullahs. Welchein Zeichen des Herrn!

Die Diebin spähte nach rechts und linksund lief schließlich wieselflink hinüber in den Zwischenraum zwischen derRückwand des Tempels und der südlichen Mauer, die denPlatz begrenzte und bis hinab ans Wasser reichte. Seichte Wellenklatschten gegen den Stein, während sich die Novadi eng anden marmornen Sockel des Gebäudes schmiegte und ihren Atemzu beruhigen trachtete.

Neun! kam es ihr plötzlich in den Sinn.Neun war auch die Zahl des Phex, beim Barte desAllmächtigen! Die Hand schlich sich zu der Stelle, an demdas verschlungene Bronzeamulett unter dem Wams direkt auf derHaut lag und sie vor bösen Geistern schützen sollte. Fasthätte Zulhamin laut geflucht. Hätte sie diesem verdammten Dieb damalsdoch nur die stillschweigende Verachtung geschenkt, wie es sichfür eine Rechtgläubige geziemte! Nun warf Rastullah ihre Zweifelauf sie zurück.

Langsam trinke ich das Wasser

Sanft spiegeltes die Höhe des Himmels.

Doch sein Geschmack ist gleichdem der tiefsten Erde

Kraftvoll und weich zugleich

Süßer alsDattelsaft Berauschender als Wein

Erregender als die Liebe –

Die Gabe des Herrn nach neun Tagen der Dürre undSonne.

Wie erhofft taten die Zeilen des Dichters Abu ibnSirkan ihre Wirkung, nachdem Zulhamin sie lautlos hatteauf der Zunge zergehen lassen. Wie grob und rauh dochdie garethische Sprache war, daß sie solch süße Worte nurunvollkommen wiederzugeben vermochte! In Fasar hatte die Diebin eineÜbersetzung der Verse gehört und sich vor Grauen geschüttelt.

Beruhigt nahmZulhamin die Durchführung ihres Plans in Angriff. Sie drückte sichwestlich an der Wand entlang, an der Seite des Tempels,die der berüchtigten Unterstadt zugewandt war. Wegen jener Ruinenkam die Diebin nicht von der Wasserseite her, was umein Vielfaches einfacher gewesen wäre, doch Zulhamin nahm Gerüchte überfluchbeladene Orte sehr ernst, zumal man hier in Havena wirklichhandfeste Beweise für die Unheiligkeit der Unterstadt hatte.Nein, nach allem, was sie von der Strafe der Götterund dem Tod der Alten Stadt gehört hatte, wollte siewirklich kein unnötiges Risiko eingehen.

Endlich gelangte die Novadi zu dervorderen äußeren Ecke des Tempels. Ein eiliger Blick, dochniemand hielt sich auf dem Platz auf – es warschließlich weit nach Mitternacht. Zulhamin huschte los.

Sehet das Bandder Dünen im

Schimmer der sinkenden Sonne

Rötlich beschienen dieeine,

und bläulich die andere Seite

Labsal sind sie demAuge,

Trost dem Herzen und Wonne

Weil sie wie leuchtendeWellen sich hinziehn

in endloser Weite ...

Die breitenStufen hinauf und durch die neun Säulen hindurch – seiensie nun dem einen oder dem anderen Gotte heilig–, niemand störte sie dabei. Wieder beruhigte die Diebin ihrenAtem, fest an die dicke Mauer neben dem verhangenen Einganggedrückt. Rechts neben ihr standen eine Opferschale und die fischschwänzigeStatue des Herrn dieses Hauses in stummem Stein, aus derenemporgehaltener Muschel ein Strom steten Wassers in ein Becken imBoden floß. So weit – so gut, dachte die Frauund wünschte sich die Geschmeidigkeit des Fuchses in die Füße,als sie schließlich den Vorhang zum Allerheiligsten beiseite schob undvorsichtig hineinschlich. Wider Erwarten mußte sie sich hier nicht aufdas durch die gefärbten Scheiben in Kuppeldach und Wänden hereinfallendegedämpfte Licht der sterbenden Mada verlassen, denn ein bläulich schimmernderStein in der Hand der Statue beleuchtete das Heiligtum mitmattem Licht – dem sanften Glanz einer Perle nicht unähnlich, wie Zulhamin fand. Diesen Raum hatte sie bei ihrerBegehung vor ein paar Tagen nicht betreten können – alleinGeweihte hatten hier Zutritt.

Die angespannten Sinne spielten Zulhamin Streiche;die Novadi meinte, die leisen Schritte und heiligen Gesängeder Priester aus vergangenen Jahrhunderten zu vernehmen, und erstarrte.Das Plätschern von der Statue im Vorraum drang nun leichtgedämpft an ihre Ohren, und Zulhamin nahm sich vor,dem Element, das diesem Götzen heilig war, nicht zu nahezu kommen – man konnte ja nie wissen.

... Aber dernächtliche Sturm

verändert die lieblichen Hügel

Dräuend erheben die Kettensich

in dem fahlgrauen Frühlicht

Und der Pilger nach Keftergreift

verzweifelt den Zügel

Wenn der Huf seines Pferdes

hilflosin treibenden Sand bricht.

Die erste Strophe des uralten GedichtesLied der Dünenin Gedanken fortsetzend, schritt Zulhamin leise aufdie Statue zu. Die Novadi sandte ein flinkes Gebet anden Diebesgott, der ihr hier sicherlich dienlicher war, konnteer doch seinen Bruder Efferd leichter besänftigen, als Rastullah diesvermutlich jemals vermochte. Man hatte ihr beschrieben, daß sie sichnun nach links wenden müsse – an dem Loch imBoden vorbei–, in einen Raum mit Ritualgegenständen hinein, während sichim Raum rechts von der Halle ein Schlafgemach befand, indem fast immer ein Geweihter schlief. Die Hand amAmulett, schob sich Zulhamin vorsichtig durch den zweiten Vorhang,der den Nebenraum abtrennte. Entgegen ihren Erwartungen lag der Raumebenfalls in sanftes bläuliches Licht getaucht, ausgehend von einemStein in einer silbernen Schale, in die Delphine eingraviert waren.

EineTreppe hinab, hatte man ihr erklärt, in einen Raum hinein,in dem eine kleine Statue und die gesuchte Perleauf zwei steinernen Sockeln ruhten.

Entschlossen nahm Zulhamin den Leuchtstein ausder Schale und näherte sich mit klopfendem Herzen dem Durchlaßzur Treppe.

Sehet den Wüstengalan in der Pracht

seiner goldbuntenFedern,

wie er sich putzt und stolziert als ein

schönerund brünstiger Freier,

wie er die Blutotter jagt im

schützendenSchatten der Zedern,

wie er ein Nest scharrt im Sande

für die gesprenkelten Eier ...

Schritt für Schritt schlichZulhamin die grob behauenen Stufen hinab, begleitet vom fahlenSchein des efferdheiligen Lichtes. Die Treppe machte einen Knickund führte weiter in die Tiefe, bis sie schließlich ineinen kleinen Raum mündete. Die Novadi hob den Steinhoch und sah sich um, und tatsächlich befanden sich nurwenige Gegenstände in der Kammer. Zwei etwa hüfthohe Säulen ausaltem Marmor standen am Kopfende, die eine trug die kleineStatue eines Zwergen mit Hammer, die andere ein hellesSamtkissen, auf dem die schönste Perle lag, die Zulhamin jein ihrem Leben gesehen hatte. Der matte Glanz desmakellos runden Kleinodes zauberte Wellen des Entzükkens indas Herz der Diebin, so daß sie nahe daran war,laut aufzujauchzen. Das seltene Stück schimmerte in dem tiefenBlau der sonnenbeschienenen See, während das Licht sanfte Kreise aufdem Rund bildete, die die Frau an jenen nebligenHof des Mondes gemahnten, der darauf hinwies, daß am nächstenTag endlich das kostbare Naß des Himmels auf die dürstenden Dünen des Hügels niedergehen würde. Diese Perle – diePerle! –, jauchzte es in ihr, übertraf an Schönheit undEbenmäßigkeit ihre kühnsten Erwartungen.

Die behandschuhte Hand näherte sich zitternddem kostbaren Stück, verharrte jedoch kurz davor. Sollte Zulhamin zuRastullah oder zu Phex beten, damit sie vor der Strafedes Götzen bewahrt würde, dessen Eigentum sie hier entwendete?Vielleicht wäre es gar klüger, unverrichteter Dinge wieder zu gehen,als sei nichts geschehen, und das Stück an seinem Ortzu belassen? Doch bereits während die Novadi dies überlegte, lachte in ihr die Elster laut auf und verhöhntesie, denn nun, da sie die Perle einmal gesehen hatte,wußte sie, daß sie sie besitzen mußte.

Nein, Zulhamin würde nichtzum vereinbarten Treffpunkt kommen, den zweiten Teil ihres Lohnes inden Wind schreiben und sich mit dieser Mutter aller Perlenauf gen Süden machen – allerdings nicht mit dem Schiff,da Efferd angeblich über die Meere herrschte. Sein Element solltesie fürs erste vielleicht meiden.

Entschlossen zog die Diebin den Handschuhaus und griff zu – sie mußte die Perle spüren.Sachte bewegte sie sie in der Hand, die vondem apfelgroßen Kleinod ausgefüllt wurde, und hob sie sich vordie Augen. Und ach! Wie sanft das kühle Rund sichan ihrer zarten Wange anfühlte!

Mit glücksgefülltem Herzen schlich sich dieDiebin wieder die Treppenstufen hinauf, aus dem Nebenraum indas Allerheiligste hinein, niemals den Blick von der Perle wendend.Hier löste sie das helle Tuch vom Handgelenk und ließes zu Boden gleiten.

Doch zart wie Seide nun einmal war,floß sie von der Kante des Loches im steinernen Bodenhinab in die Dunkelheit, aus der Zulhamin ein merkwürdiges, leisesStöhnen zu hören vermeinte. Kurz verharrte sie erschrocken und zählteihre schnellen Herzschläge, doch nichts rührte sich. Manch ein Havenerbehauptete, unter diesem Tempel säße ein geschupptes Ungeheuer,mit dem Zulhamin ungern aneinandergeraten wollte.

Deshalb schlich sie unterden gestreng zusammengezogenen Brauen des steinernen Meeresgottes leise, leiseweiter in den Vorraum. Den kostbaren Schatz verstaute sie imBauschnest ihrer Gürteltasche und huschte mit dem Segen jener Götter,deren Zahl die Neun war, durch das Portal mit demDelphinrelief hinaus und wieder zur Rückseite des Tempels. Mit allder Vorsicht einer geschickten Diebin kehrte sie auf dem Wegzurück, den sie gekommen war, und ließ sich die letztenVerse desLiedes der Dünenauf der Zunge zergehen, wobeisie wie immer die dritte Strophe aussparte – siewar ihr gar zu traurig.

... Aber die grausame Sonne

versengte das Gelege,

und von den wolligen Küken

wird keinesdas Tageslicht schauen.

Sinnlos des Vogels Bemühen,

all seine Hegeund Pflege,

doch er wird Jahr über Jahr

wieder dieNestmulde bauen.

1. Kapitel – Fatas

Silbern glitzerte das schmale Madamal über den dunklen Wassern derUnterstadt. Zerborstener Stein ragte aus den Wellen auf, Reste derzerstörten Gebäude, in denen vor dreihundert Jahren Fröhlichkeit undgeschäftige Betriebsamkeit geherrscht hatten und die innerhalb weniger Augenblicke von EfferdsFluten vernichtet worden waren. Über den Ruinen lag Nebel, einemgespenstisch gewobenen Teppich gleich. Wie zartes Gewebe bedeckte er dasnasse Grab der Toten, faserte hier und dort und gabden Blick frei auf zerbrochene Tempelsäulen und grüne Schlingpflanzen.

»Mehrnach links«, flüsterte Thalionmel. »Da vorn ist ein Algenteppich!« Praiodanknurrte. »Wie du das nur immer siehst«, flüsterte er. »Manchmalglaube ich, daß dir eine sehr lebhafte Einbildung zu eigenist!«

»Still, ihr beiden!« befahl Rondriane zischend.

»Fhann, fahr mehr backbord. Aber tauch die Ruder nicht zutief ein. Ich möchte da unten nichts aufstöbern, wasnur auf uns gewartet hat! Außerdem ist mir die Ladung wahrlichzu teuer, als daß ich sie hier den Krakenmolchen zum Fraßvorwerfe!« Der blonde Hüne brummte zustimmend und stemmte sich mitRondriane in die Riemen, um den unheimlichen Algenteppich zu umschiffen.In der Tat war das kleine, flache Ruderboot voll beladenmit in Wachshäute eingepackten Warenbündeln, die Seidenstoffe, Gewürze undanderes kostbares Gut enthielten. Noch vor einer Stunde hattendieNebelgeisterund dieWasserbrautbei einem Treffen in einerBucht vor der Küste Ladung gegen Gold getauscht. WährenddieWasserbrautam nächsten Tag mit der ersten Flut inden Hafen von Havena einlaufen würde, brachten dieNebelgeisterihregeheime Fracht nun unter dem Licht der Mada durchdie Unterstadt in ihr Versteck, von dem aus sie siedann in einer mondlosen Nacht über den Bennaindamm indie Stadt weiterliefern würden. So erreichte das Schmuggelgut dannKevendochs Exotische Krämerwaren,und dank eines Rondriane sehr verbundenenSekretärs aus dem Rat der Kapitäne besaß die angesehene KrämerinRondriane Kevendoch sogar die richtigen Papiere für die Waren.

»Praio, machdie Lampe an!« befahl die rothaarige Anführerin der Schmuggler, undihr Bruder nickte und drehte hastig an dem Rädchen, dasden glimmenden Docht der verdunkelten Sturmlaterne aus dem Metallschlitzhöher schob.

»Wird auch Zeit«, murmelte er, noch an dem Knoten hantierend, der die leinerne Stoffabdeckung über der Laterne hielt.»Es ist wirklich stockfinster.« Thalionmel, die hübsche Elfe, diedirekt im Bug des flachen Bootes hing und nachvorn ins Dunkle spähte, schüttelte dagegen unwillig den Kopf undwarf das glatte schwarze Haar über die Schulter. »Wenn ihrLicht macht, seheichüberhaupt nichts mehr. Das blendet zusehr!«

Praiodan schnaubte. »Das ist dann doch eine echte Verbesserung! DreiLeute sehen mehr, einer weniger. Dadurch haben wir nur gewonnen.«Damit zog er die Stoffabdeckung von der Laterne.

Thalionmel gab einleises, aber sehr empörtes Quietschen von sich, als das helle Licht ihreempfindlichen Elfenaugen blendete. »Verdammt!« fluchte sie gänzlich unelfisch undblinzelte mühselig.

»Stell dich nicht so an, so schlimm kann‘s nicht sein!« Praiodans Einwandklang ruppiger, als er es beabsichtigt hatte, doch er atmeteerleichtert auf, als die warme Lichtglocke diesem gräßlichen Ort wenigstens einen Hauch von Heimeligkeit verlieh.

»Hört schon auf, ihr beiden!«befahl Rondriane wiederum. »Die Krakenmolche haben euch nur noch nichtaus dem Boot gezerrt, weil sie sich mit ihren achtArmen vor Lachen die Bäuche halten.« Doch die Stimme seinerSchwester klang gar nicht heiter, fand Praiodan, und er konntesie gut verstehen. Selbst nach unzähligen Fahrten durch Havenas versunkenen Stadtteil sträubten sich ihm noch immer die Haarebei dem Gedanken daran, wie Liara damals von einem derschrecklichen Ungeheuer ins Wasser gezerrt worden war.

Die Alte Stadtwar verflucht, das wußten selbst die Kinder, schreckliche Kreaturen haustenin den versunkenen Häusern. Die alten Fischerinnen und Netzknüpfer erzählten von schwarzen Seeschlangen, vielarmigen Krakenwesen und tödlichen Muränen, ja garvon riesigen Sargmuscheln, die ihr Opfer einschlossen und nicht wiederfreiließen, bis es elendiglich ertrunken war.

»Und außerdem weiß ichgar nicht, was an einem Algenteppich so schlimm sein soll«,murmelte Praiodan in einem Anflug von jugendlichem Trotz, derseinem Alter eigentlich gar nicht gut stand. Er wußte auchnicht, was ihn immer überkam, aber er konnte Thal einfachnicht das letzte Wort lassen – vielleicht weil sie sichimmer so unglaublich viel klüger und weiser vorkam als alleanderen.

»Das da zum Beispiel!« rief die Elfe nun warnend, dennin dem Algenteppich begann das Wasser zu brodeln. Platschend schossenaus dem grünen Geflecht sicherlich ein Dutzend wurmartige Kreaturenmit weit aufgerissenen Mäulern heraus und auf das Boot mitseinen vier Insassen zu. »Springegel!« fluchte die rothaarige Anführerin,während Praiodan laut aufschrie, als eines der Tiere ihn ander Brust traf – die Laterne polterte zu Boden. Schnellwie der Wind sprang Thalionmel vor, wischte dem Gefährten denEgel mit der Dolchklinge vom Lederwams und zertrat denekligen Schmarotzer.

Praiodan lag auf dem Rücken im heftig schwankendenBoot und rang entsetzt nach Luft, als er einen saugendenLaut und Fhanns kurzen Schrei hörte. Der blonde Hüne saß auf der Ruderbank, über derauch Praiodan lag, so daß ihn die wabbeligen Körper, diesich mit den Mäulern an Fhanns Lederrüstung festgesaugt hatten,fast berührten.

Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete der rothaarige Manngelähmt, wie Fhann sich keuchend vornüberwarf, als sich einer derRüssel der Springegel in seinen Körper rammte, und aufzuckendrückwärts von der Ruderbank fiel, als auch die beidenanderen zustießen. Im Schein der Laterne, die – den Götternsei Dank – nicht verlöscht war, sah Praiodan, wie demVerletzten Blut aus dem Mund lief und neben den welsartigenSchlünden der Egel aus den Wunden hervortrat.

»Ah! Blutsauger!« schrie Thalionmelmit einem Ton, wie Praiodan ihn bei ihr noch niegehört hatte, stürzte sich achtlos über ihn hinweg auf denam Boden liegenden Fhann und attackierte die riesigen Blutegelmit so blinder Wut, daß man fast um deren Opferfürchten mußte.

Mit einem lauten Schmatzen löste sich eine derverletzten Kreaturen und rutschte unter der Ruderbank auf PraiodansSchulter, der den glitschigen Körper sofort wie von Sinnenergriff und mit einem Schrei des Entsetzens über Bord schmiß.Rondriane fing eine zweite, die sich von Fhanns Brustkorb löste,vorsichtig auf und warf sie hinterher, die dritte glitt, bereitsvon der rasenden Elfe in eine blutige Masse verwandelt, schließlichauch herab und wurde von der Anführerin mit einem gezieltenTritt ins Wasser befördert.

»Sind sie weg?« fragte Praiodan, während Thalionmel schluchzend und über und über von Blut bedecktzusammensackte. Er stellte die Sturmlaterne wieder auf und schob Thalionmel aufeinige der prallen Beutel im Bug, um seiner Schwesterzu helfen, den verletzten Fhann ins Heck zu ziehen.

Rondriane nickteund biß sich auf die Unterlippe – wie ihr Bruderwußte, eines der wenigen Anzeichen von Besorgnis, die die sonstso kühle und beherrschte Frau zeigte. »Da steckt noch einStachel drin«, sagte sie und wies auf die Brust desVerletzten, wo in der Tat die Waffe des Riesenspringegels nochherausragte. »Es ist nicht gut, wenn man sie umbringt,während sie noch saugen, die verfluchten Dinger bekommt man nurschwer wieder heraus.« »Und was tun wir jetzt?« fragte Praiodan,dem bei dem Anblick ganz schlecht wurde.

»Du nimmst Fhanns Riemen,und wir rudern hier jetzt erst mal weg. Der Elfeist das anscheinend ein wenig auf den Magen geschlagen.«

Praiodan gehorchteund ruderte panisch, warf jedoch immer wieder einen Blicküber die Schulter auf Thalionmel, die zusammengekauert im Bug lagund wie irrsinnig vor sich hinbrabbelte: »Armer kleiner Mi, hastdoch niemandem was getan ...«

»Dort vorn an der Mauer legenwir kurz an«, zischte Rondriane. »Ich muß der Frauerst mal wieder Verstand einbläuen!« Praiodan vertäute schließlich das Bootan einem rostigen alten Haken der verfallenen Mauer undsah zu den beiden Frauen hinüber.

Rondriane erhob sich von derRuderbank und näherte sich der jammernden Thalionmel mit einigentaumelnden Schritten, die das Boot zum Schwanken brachten. Sie griffdie jüngere Frau beim Schlafittchen und schüttelte sie durch. »Verdammt,Mädchen, reiß dich am Riemen! Bist du denn von allenguten Geistern verlassen? Hörst du!« Wieder und wieder schüttelte sie die Elfe, die wie von Sinnen schluchzte.

»Thal«, grolltedie rothaarige Anführerin, »wenn du jetzt schlapp machst, nehme ichdich nie wieder mit, das schwöre ich dir hoch undheilig bei Efferd. Ich muß mich auf meine Leute injeder Lage verlassen können, und wenn deine zarten Elfenaugen keinBlut sehen können, dann, tut mir leid, bist du zumBierausschenken geboren und nicht zum Schmuggeln! Hörst du!«

Brüllend fuhrThalionmel sie an: »Laß mich in Ruhe, Hölle, duhast ja keine Ahnung!« Der Klang ihrer Stimme hallte gespenstischdurch den dunklen Nebel, und Praiodan schlang sich fröstelnd dieklammen Arme um die Beine.

»Überall Blut, und der Hals völligaufgerissen, und die kleinen Augen stierten plötzlich so groß undängstlich ... Und die Ungeheuer, die Ungeheuer haben seinBlut getrunken!« Thalionmel schluchzte erneut und wischte sich ärgerlichdie Tränen von der Wange. Bei ihren Worten erinnerte sichPraiodan wieder an die Gerüchte über eine gräßlich Mordserie vorein, zwei Jahren in Havena, die angeblich von einemWerwolf oder Vampir begangen worden war. Eine der Leichen, einkleiner Junge, hatte auf dem Hinterhof des GasthausesEsche undKorkgelegen, jener Schenke, in der Thal arbeitete. Wiedem auch sei, das lag lange zurück. Mit einem Seitenblickauf Fhann stellte Praiodan fest, daß es dem großen Mannoffenbar gar nicht gutging: Er atmete nur flach und warsehr blaß.

Trotzdem redete Rondriane weiter auf die Elfe ein.

»Das istmir egal. Wir sitzenjetztin demselben Boot und brauchendich, dein Mi ist mir da wurscht. Streng dich anund hilf uns, und du bleibst dabei. Wenn nicht, kannstdu wenigstens beten, daß wir dich hier rausbekommen, aber dannkannst du mich mal!« Der Bruder der Anführerin atmete vorErleichterung auf – er hätte es Rondriane zugetraut, dieElfe gleich über Bord zu werfen. Er wandte sich abund blickte wieder sorgenvoll zu Fhann.

»Schwester«, meinte er schließlich hastig,denn der Verletzte lag dort wie tot. »Der Blonde stirbtuns unter den Händen weg! Wir müssen schnell etwastun.« Rondriane blickte herüber, nickte und fauchte die Elfe wütendan. »Also, wenn du dir deinen Platz in diesem Bootsichern willst, dann benutze deine Magie, und rette Fhann!Warum habe ich mir nur von dir einreden lassen, daßich dich brauchen könnte, verdammt!« Auch wenn die Schmugglerin dieAngst der Havener vor Magie teilte, wußte sie aus Erfahrung, daß man mit Zauberei auch viel Gutes tun konnte. ZumBeispiel heilen.

»Mach schon!« zischte sie. »Fhann hat nicht mehr vielZeit!« Thalionmel haßte die Rothaarige in diesem Moment. Mi wartot, zerrissen, ausgesaugt, ermordet, und sie verspürte Trauer und wollteweinen, bis sie nicht mehr konnte. Die gräßlichen blutsaugerischen Egelhatten die Elfe erschreckt und die Leiche des Jungen vorihrem geistigen Auge erscheinen lassen, wie sie damals am Brunnengelegen hatte, kalt, verrenkt, tot. Thalionmel wollte nur noch inihr Bett und heulen, bis ihre Schwester Aldare käme undsie tröstete. Sie holte tief Luft, um die Tränen amFließen zu hindern. Fast hatte sie es vergessen – Aldarewar ja auch nicht mehr da und hatte sie alleingelassen in dieser Stadt voller blutrünstiger Kreaturen und Scheißkerle ...Statt dessen war ihr Schwesterherz ihrer elfischen Seele hinterhergelaufen, wilddrauflos, ins Ungewisse. Alle ließen sie einsam zurück oderschrien sie an, genau wie Rondriane.

Doch die Fahrten durch dieUnterstadt mochte sie nicht missen, sie zeigten ihr, daß siegenug Mut und Geschick besaß, um wie Aldare einfach etwasallein zu entscheiden, etwas zu tun, mit dem die anderennicht einverstanden waren. Ein Geheimnis zu bewahren. Wenn dieSchwester doch einmal zurückkehren sollte, würde sie ihr triumphierend vonihren Abenteuern berichten, die sie in der Verfluchten Stadterlebt hatte.

Noch einmal sog sie tief den Atem einund verbannte die Gesichter von Aldare und Mi, umschließlich schwankend vom Bug hinüber ins Heck zu stapfen, vorbei an der blöden Rondriane und ihrem Hasenfußvon Bruder. Fhann sah in der Tat gräßlich aus. Mindestenszwei der Riesenspringegel hatten ihre Stachel in den Brustkorb deskräftigen Mannes gerammt, und einer war in der Wundeverblieben. Eigentlich sah der Schmuggler schon fast tot aus,und wieder schob sich das blasse Gesicht des kleinen stummenJungen vor ihr inneres Auge; sie verdrängte es jedoch ärgerlich.Sie legte dem Mann eine Hand auf die kühle Stirn,die andere auf den zerschundenen Brustkorb, versuchte, sich zuberuhigen, und stimmte den Gesang der Elfen an:»bhalsama salabian d‘ao, bhalsama sala bian d‘ao, bhalsama sala bian d‘ao«,sang sie immer und immer wieder, zuerst verbissen und zornerfüllt,mit der Zeit entspannter und ruhiger. Sie würde ihnheilen. Praiodan beobachtete die Elfe mißtrauisch. Er haßte Magie, fürchtetesich vor ihr und verbannte üblicherweise allein jeden Gedankenan sie aus seinem Kopf. Er hatte gräßliche Geschichten darübergehört, wie Schwarzmagier einfache Leute gefangen und gefoltert, fürihre Zauberexperimente mißbraucht oder in Kröten oder Fliegenpilze verwandelt hatten.Bei Zauberei konnte ständig etwas schiefgehen, man wußte einfach niegenau, woran man war. Aber wenn Thalionmel Fhann damit heilenkonnte ... Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete er die schönenlangen Finger der Elfe, die auf der Brust des Verwundetenlagen. Narrten ihn seine Sinne, oder übertrug sich gerade einsanftes goldenes Leuchten von der Zauberin auf den Schmuggler?

»Praiodan, nimmden Dolch, und paß auf, daß wir nicht überrascht werden!«befahl Rondriane barsch. Sie mußte den ängstlichen Blick des Brudersbemerkt haben. Dankbar gehorchte Praiodan und blickte hinaus überdie dunkle, blubbernde Wasserfläche. Ja, die Unterstadt ängstigte ihn noch mehrals die Magie, aber vor ihr konnte er sich inacht nehmen, er wußte, wo sie war, und konnte siehinter sich lassen. Mit der Zauberei stellte sich das nichtganz so einfach dar.

Angespannt beobachtete er eine der vielen Inselchen in der Nähe. Manchmal fragte er sich, wer hierwohl früher gelebt haben mochte und was die Menschenim Augenblick des Todes durch die Fluten empfunden hatten. Warensie im Schlaf vom Wasser überrascht worden? Beim Liebesspiel? BeimStehlen, Morden oder Beten? Dunkle Büsche raschelten in der fauligenBrise, und ein Baumstamm löste sich langsam von derInsel. Hatten hier Ehegatten gezankt oder sich vertragen? Was warmit den Gefangenen geschehen, die eingesperrt worden waren? War Zeitgeblieben, sie zu befreien, damit sie wenigstens eine Chance bekamenwegzulaufen, oder waren sie in ihren Kerkern elendiglich ersoffen?Praiodan zitterte, denn er hatte selbst bereits hinter Gittern gesessen.Der Gedanke, eingesperrt zu sein, während die Flut in derZelle stieg, erfüllte ihn mit bleierner Angst.

Geisterhafte Nebelschleier zogen überdas dunkle Wasser und warfen das Licht seiner Laterne zurück,ohne daß es dem Mann in irgendeiner Weise nutzte. Jetzt,da er die Schwaden beobachtete, schien es ihm fast, alsvollführten sie einen Tanz für ihn, als wollten sie seineSinne narren und ihn erschrecken. Leise räusperte sich Praiodan, umeinen Laut von sich zu geben, der ihn gemahnte, daßer noch nicht verhext war oder eingeschlafen ...

Der Baumstamm triebgeruhsam auf das Boot zu, und nun ahnte Praiodan, wasThalionmel gegen das Licht gehabt hatte: Der helle Lichtkegel beleuchteteeinen bestimmten Bereich um das Boot herum sehr gut, aberdahinter herrschte Dunkelheit, in der die geblendeten Augen erst rechtnichts erkennen konnten. So konnte Praiodan nun nicht genauausmachen, was ihm an dem Baumstamm so merkwürdig vorkam.Denndaßer seltsam war, bemerkte der Schmuggler immer deutlicher. Er triebnicht steif und starr, sondern machte jede Bewegung der Wellen mit,umgeben von einem eigenartigen Algenteppich.

Unruhig warf Praiodan einen Blick zurückzu Thalionmel und ihrem Patienten. Noch immer schimmertenihre Hände golden, doch die Wunde auf der Brust desMannes hatte sich halb geschlossen! Der harte Stachel des Untiereswurde wie von Geisterhand aus dem heilenden Fleisch herausgetrieben und kippte schließlich zur Seiteum, während Thalionmel vor Anstrengung ächzte und ihr der Schweißvon der Stirn lief.

Hastig drehte sich Praiodan wieder weg, denntrotz der heilsamen Wirkung erschreckte ihn dieses Ereignis sehr.Das war ... widernatürlich.

Gesang drang an seine Ohren. Er schüttelte ungläubig denKopf, um die Müdigkeit und Furcht zu verscheuchen, doch ließensich die hymnisch aufund abschwellenden Klänge nicht vertreiben. ImRhythmus seines Herzschlages vibrierte eine Pauke so dumpf, daß Praiodan sie mehr im Bauch spürteals tatsächlich hörte. Ferne Worte in einer ihm unbekanntenSprache fanden durch die Schwaden und schickten ihm einen Schauder über den Rücken– wer hier die Muße fand, dunkle Gesänge anzustimmen, hatte entwederÜbles im Sinn oder war nicht ganz dicht! Oder beides,setzte der Mann voller Unbehagen hinzu.

Hastig drehte Praiodan denDocht der Lampe herab und stülpte das dunkle Tuchwieder darüber. Rondriane merkte kurz auf und setzte zum Sprechenan, doch als ihr Bruder leise zischte, sie solle ruhigsein, verstummte auch sie und lauschte in die Nacht hinein.Der schwache Mond beleuchtete die Umgebung mit blassem Licht. Nochimmer empfand Praiodan dieses rhythmisch zitternde Gefühl im Magen, dochdie Stimmen schienen sich inzwischen ein wenig entfernt zuhaben. Schon wollte der Mann wieder aufatmen und mitseiner Schwester über seine Hirngespinste spotten, da zerriß derNebel, und wie aus einem Dutzend dunkler Kehlen hörtePraiodan den rituellen Gesang nun ganz deutlich. Fast erinnerteihn die Melodie an die heiligen Lieder des Efferd, dochwährend diese vom Rauschen der Wellen und der Ewigkeit desMeeres sprachen, erzählte dieser Gesang von den unzugänglichen Abgründender Tiefsee und den lauernden Muränen. Mißklänge, die die Efferdlieder verkehrten und verunstalteten, ließen die Lauscher erzittern, ohne daßsie hätten sagen können, wodurch dieser Eindruck hervorgerufen wurde.

Praiodan drücktesich tiefer in das Boot und hoffte, daß die zauberndeElfe nicht wieder unvermittelt herumschrie. Er meinte, daß derKlang der Pauke sich näherte, denn seinem Magen wurde immermulmiger zumute. Die Stimmen schwollen stärker an, und Praiodan war sich nun ganz sicher,daß er diese Sprache noch nie gehört hatte. Mehr einem schlangenartigen Zischeln gleich denn Worten, zauberte der Gesang eineGänsehaut auf Arme und Nacken des Mannes. Im Schein desMadamals glitt ein langes, flaches Boot vorbei, das kaumvon den Nebeln verborgen wurde. Aufrechte Gestalten, durch Kapuzenmäntel verhüllt, standen darin und schienen sich der Gefahrenihrer Umgebung nicht bewußt zu sein. Geisterhaft bewegte sichdas Boot weiter und verschwand schließlich wieder im Nebel,bevor Praiodan und Rondriane aufzuatmen wagten.

»Was war das?« fragte Rondrianeerschüttert. Doch auch ihr Bruder fand nicht die richtigen Worte.»Ich will es gar nicht wissen, glaube ich. Ich will‘snicht wissen. Irgend etwas Unheiliges.« Als seine Schwester nickteund zustimmend schnaubte, flüsterte er hinüber, »Meinst du, ich kanndie Lampe wieder hochdrehen?«

»Augenblick noch. Wir wollen ganz sicher sein,daß uns niemand sieht oder hört.« Und so harrte Praiodannoch ein Weilchen aus, bis von den unheimlichen Gestaltenkein Ton mehr zu hören war.

Wieder beruhigte ihn der Schimmerdes Lichtkegels, den er dieses Mal jedoch noch kleinerhielt. Travias Schein würde sie schon beschützen.

Etwas schlug dumpfgegen den Bug und brachte das Boot sanft zum Schaukeln.Das mußte der Baumstamm sein, den er vorhin nochdort hinten hatte treiben sehen. Praiodan lehnte sich leicht überBord, um nachzuschauen, was ihn daran so gestört hatte.

Die brechendenAugen eines schönen Gesichtes starrten Praiodan gequält an, und erschrie erschrocken auf, als eine blutige Hand aus dem Wasser schoß und seinen Kragen ergriff.

»Rondriane! Eine L-Leiche!«brüllte er seiner Schwester zu und versuchte, den Griffder Hand vom Stoff seiner Jacke zu lösen. »Hilfe! Hilfe!«Sein Herz raste.

»Ich bin ja da, Praiodan, halt doch malstill!« Rondriane drückte ihren jüngeren Bruder energisch wiederauf die Bank zurück, damit er nicht aus lauter Hastaus dem schaukelnden Boot fiele, und ergriff dann ihrerseits dieHand, um sie zu lösen. Die Finger waren kühl, abernicht leichenkalt.

»Verdammt!« entfuhr es ihr. »Der lebt noch! Hilf mir!«Und zum Entsetzen ihres jüngeren Bruders machte sie sich daran,den Körper ins Boot zu hieven.

»Hilf mir schon! Das ist keinUntoter! Der lebt noch!« Tatsächlich gelang es ihnen gemeinsam, denKör-

per aus dem Wasser zu ziehen und nun auch nochauf den Boden des Bootes zu legen. Rondriane strich dielangen schwarzen Haare aus dem Gesicht und bemerkte erstaunt, daßes sich um eine schöne Frau mit südländischen Zügen handelte.Im Schein der Lampe erkannte sie sogar noch den verwaschenenKohlestrich um die Augen und den goldenen Ring im zierlichenNasenflügel der Frau, die kaum mehr atmete.

Ihre Lippen bewegtensich kaum merklich, und Rondriane schüttelte Thalionmel heftig an derSchulter. »Thal! Du mußt sie heilen, schnell! Sie stirbtsonst!« Müde und ausgelaugt gab die Elfe unwirsch zurück: »Binich Rohal? Ich kann nicht mehr! Ich habe meine ganzeKraft für Fhann verbraucht, und falls du‘s wissen willst, mirist zum Kotzen.« Offensichtlich hatte sie den weiteren Gastin ihrem Boot noch gar nicht so richtig wahrgenommen.

»Verdammt«, fluchtedie Anführerin und wandte sich wieder der Südländerin zu. »Sieist bestimmt Novadi. Die Tulamiden tragen keine solchen Nasenringe,glaube ich!« murmelte sie. Schnell verstummte sie allerdings, als mühsameWorte über die Lippen der Sterbenden drangen. »Perle ...«, hauchtesie, und mit einem entsetzlichen Seufzer wieder: »Die Perle...« Augenblickeverstrichen, in denen die Geschwister und die mittlerweile sehraufmerksam gewordene Elfe auf weitere Worte hofften. Dann sprachdie Novadi in ihrer fremdartigen Sprache weiter, die die dreiSchmuggler nicht verstanden.

Doch im Sterben flüsterte die Novadi die dritteStrophe des Liedes der Dünen, jene Strophe, die sie zwarvon ihrer Mutter gelernt, aber noch nie gesungen hatte.Doch sterbend kamen ihr die Worte des unbekannten Dichters leichtüber die Lippen, und die Träne floß unerkannt über ihr feuchtesGesicht.

Sehet das Shadif, so kühn, mit

den Nüstern wiezärtliche Seide

Klug ist es, mutig und flink,

treu seinemHerren ergeben

Wie es in Anmut und Stolz grast

aufder kärglichen Weide

Ist es des gläubigen Kriegers

erhabenste Freudeim Leben.

Aber schon nahen brandschatzend

sich der UngläubigenHeere

Und der Krieger voll Zorn prescht

vorwärts, die Feindezu strafen

Doch da sinkt nieder sein Tier,

getroffen vomfeindlichen Speere

Einmal noch schaut‘s seinen Herrn,

liebend, dann istes entschlafen.

2. Kapitel – Fatas

Efferdanui Bennain war einer der wenigen Menschen, die nicht demHerrn Efferd geweiht waren und die Erlaubnis besaßen, dasinnerste Allerheiligste des alten Tempels des Meeresgottes zu betreten. Dieswar der älteste Efferdtempel in Havena; er hatte dasgroße Beben überstanden, ja – wie manche sagten – sogaraufgehalten, bevor es den östlichen Teil Havenas ebenso zerstören konnte wie den westlichen. Der Tempel, der den meistenGläubigen offenstand, war das Haus der göttlichen Wogen inOberfluren nahe dem Fürstenpalast. Zwar durften die Gläubigen, die zumAlten Tempel kamen, auch hier gerne in der vorderen Bethalleihre Andacht verrichten oder den Predigten des Hohengeweihten Grausteinlauschen, die heiligen Zeremonien allerdings wurden allein im Kreis derEfferdgeweihten abgehalten.

Wie immer von tiefer Ehrfurcht ergriffen, schritt Efferdanzügig die Stufen empor und unter dem Delphinrelief hindurchin eben jene Vorhalle, in der bereits drei weitereHavener um die Statue versammelt waren, vor der ein künstliches Becken, gefülltmit Meereswasser, stand, und beteten. Das Abbild zeigte den Gottmit Menschenkörper und Delphinschwanz, in einer Hand den Dreizack, inder anderen eine Muschel, aus der stetig Wasser indas geheiligte Becken darunter sprudelte.

Das Plätschern des Wassers erfüllte dengroßen offenen Raum und hallte von den Wänden wider,und gemeinsam mit dem durch die grün und blau getönten Butzengläser gefärbten Licht verwandelte es die Halle in einUnterwasserparadies.

So viel Heiligkeit ging von den uralten Marmorwändenaus, daß Efferdan stets die sich ewig wandelnden Hymnenzu hören meinte, die hier über die Jahrtausende gesungen wordenwaren. Schon als kleiner Junge hatten die Geweihten ihnhier willkommen geheißen, damals, als seine Frau Mutter, die FürstinThornia, ihn hierhergesandt hatte, um in den Tempeldienst zutreten und Efferdnovize zu werden. Larona Seeträumerin, die damalige Hohegeweihtedes Tempels und jetzige Hüterin des Zirkels der Efferdgeweihtenschaft, hatte viel Zeit mit dem Knaben verbracht und seineGaben geprüft, ihn schließlich jedoch wieder heim in den Palastgeschickt und erklärt, daß er nicht berufen sei. Efferdan danktedem Unergründlichen noch heute dafür, daß seine Mutter gestorben war,bevor sie jene Botschaft erfuhr, sie hätte ihr wahrlichdas Herz gebrochen. Sie hatte den späten Sohn als Geschenk Efferds betrachtet und ihm aus ganzer Seele die Weihegewünscht.

Trotz alledem wußte Efferdan, daß er ein Band zu demMeeresgott besaß, soweit ein Sterblicher sich erdreisten durfte, solches zubehaupten. Damals, als Knabe, hatte er vor dem inneren Altargehockt und war eins mit der Brandung gewesen, hatte dieGesänge der Wale gehört und die kühlen Berührungen vonFischleibern auf der Haut gespürt. Er wäre gerne im Tempelgeblieben, hatte die Entscheidung der Geweihten jedoch still hingenommen. Jetzt,da man ihn rief, verspürte er eine tiefe Freude, daßer es war, den die Efferdkirche rief. Die Nachricht hattejedoch Sorgen geweckt, so daß er sich eilte, ihr zufolgen.

Inzwischen galt Efferdan als einer der gelehrtesten Kenner der Wassertiereund ihrer Verhaltensweisen in ganz Albernia, er hatte zu Studienund Lehrzwekken bereits die Tempel und Universitäten zu Methumis, Bethana und Al‘Anfa aufgesucht und seit dreißig Jahren ganzpersönliche Erfahrungen mit den Kreaturen der Unterstadt gemacht, ohnedaß ihm jemals etwas geschehen wäre. Dieser letzte Aspekthatte ihn selbst nach und nach verblüfft, denn noch niemalshatte ihn eine der Seeoder Sumpfkreaturen dort draußen angegriffen,allein vor jenem Gezücht mußte er sich fürchten, das nichtunter Efferds Herrschaft stand – und vor den Menschen, diesich dort aufhielten und meist ihre ganz eigenen Zieleverfolgten. Efferdan wußte von denNebelgeisternund hatte ihrekleinen flachen Frachtboote schon so manches Mal durch die Dunkelheitgleiten sehen. Anders als so viele leichtgläubige Havener schrieb erihnen nichts Überirdisches zu, außer vielleicht ihren Mut, sich inso gefährlichen Gewässern zu bewegen. König Cuanu – Efferdans zwanzig Jahreälterer Bruder – hatte ein hohes Kopfgeld auf jeden einzelnender Schmuggler ausgesetzt, das sich der Gelehrte jedoch nicht zuverdienen trachtete. Irgendwie dienten doch auch sie dem Gottder Meere, fand er, wenn auch auf gänzlich andere Artals er selbst.

Efferdan wischte diese Gedanken fort und schritt nunauf die Statue und das Becken zu, kniete davor niederund ließ beide Hände kurz in das Wasser gleiten,um sich schließlich mit den feuchten Fingern die Stirn zubenetzen. »Dein Segen über mein Haupt, Herr«, murmelte er dabeileise und erhob sich wieder. Dann ging er auf denschweren Samtvorhang mit dem Muster sich scheinbar ineinander verwebender grünerund blauer Algen zu, horchte kurz, bevor er ihn anhob,und schritt schließlich hindurch, in das Allerheiligste des Tempels.

Eineweitere Efferdstatue von ähnlicher Machart wie die in der Vorhalle stand ander Wand gegenüber des Eingangs, nur daß sie neben demDreizack statt einer Muschel einen großen Gwen-Petryl-Stein emporhielt, derein stetes und kühles bläuliches Licht spendete. Im Gegensatz zudem Jüngling, den die erste Statue gezeigt hatte, trugdieser Efferd einen langen Bart und dichte, buschige Brauen,unter denen die großen Augen strafend funkelten. So war derGott nun einmal – sprunghaft und wandelbar, launisch und unergründlich.Mal meinte man, ihm Mitleid und Güte zuschreiben zu können,dann wieder riß er mit Fluten und Stürmen vielleicht Hundertein den nassen Tod. Trotz der ungnädigen Augen hatte Efferdan vor diesem uralten Efferd aus Alabaster niemals Angstempfunden – eher Respekt, wie vor einem machtvollen Vater,denn den seinen hatte er niemals kennengelernt.

Auch hier erweckte dasdurch Butzenfenster und die große Dachkuppel bläulich gefärbte Licht denEindruck einer Unterwasserwelt, gefördert durch die uralten Wandmalereien, die inallen nur erdenklichen Grün- und Blautönen gehalten waren und jedebekannte Wassertierart und -pflanze zeigten. Efferdan liebte es, dieseBilder zu betrachten und im Geiste mit den echten Exemplarenzu vergleichen, denen er bereits begegnet war; er kanntesie alle beim Namen und wußte sicherlich ebenso viele Detailsüber ihre Eigenarten und Besondernisse wie Graustein, der Hohegeweihte. DemUnergründlichen sei Dank, die riesige Flutwelle des Seebebens 291 vorHal hatte vor diesem uralten Tempel halt gemacht, von demman sagte, daß er vor mindestens 1600 Götterläufen errichtetworden war, als Dank der Havener an Efferd für diegelungene Vertreibung der Orkhorden aus ihrer Stadt – langebevor die Bennains überhaupt albernischen Boden betreten hatten.

Doch dasHeiligtum dieser Tempelhalle war nicht etwa die Statue des Meeresgottes,sondern eine runde Öffnung im Boden, die hinunter in eineblaß-bläulich leuchtende Kaverne führte. Dort unten wohnte Lata, die Drachenschildkröte,Abgesandte des Efferd selbst und uralt. Wenn Efferdan hierherkam, ergriffstets beklemmende Ehrfurcht sein Herz, denn hier, in Havena,hatte sich nach dem Großen Beben in den Kavernenunterhalb des Tempels eine wahrhaftige Alveraniarin eingenistet. So wiedie Geweihten der Rondra Kor als Sohn der Göttin verehrten,so betete man Lata als Tochter Efferds an, mit demwesentlichen Unterschied, daß Latahierwar, hier in Havena.

Undwie immer, wenn er hierherkam, brachte Efferdan Lata eineganz besondere Opfergabe dar. Von seiner letzten Fahrt in dieUnterstadt hatte er einer Sargmuschel ihren Schatz entnommen – einaltes Amulett, das sich im Laufe der Jahrhunderte völlig mitPerlmutt überzogen hatte. Zwar hätte ihn dieses Wagnis fast dierechte Hand gekostet, doch er hatte gewußt, daß dieses Kleinodder Drachenschildkröte angemessen wäre.

Also kniete Efferdan vor dem Loch imBoden nieder und richtete in Gedanken seine Worte undGebete an Lata, zog das Perlmuttamulett hervor und hieltes über den Durchlaß. Niemals wagte er, seine Gaben direkthinunterzuwerfen, aus Furcht, sie könnten die Alte stören. Deshalb schritter schließlich auf den Altar zu, der vor derStatue stand, und legte das Schmuckstück darauf nieder. Die Geweihtenschaftwürde es dann schließlich hinuntertragen.

Mit einem letzten Gebet verabschiedete sichEfferdan von dem Gott und seiner Tochter und stelltesich an die Seite des heiligen Raumes, um darauf zuwarten, daß man ihn ansprach.

»Efferdan!« Der Prinz hieltinne und wandte sich zu dem mit Vorhängen abgetrennten Nebenraum,aus dem gerade eine Geweihte hervorgetreten war.

»Ilarea, seid gegrüßt!« antworteteer mit ebenso gedämpfter Stimme. Die Geweihte, die ähnlich weißblondes Haar hatte wie Efferdan selbst und es auch wieer lang über den Rücken fallen ließ, schritt gemessenauf ihn zu. Die blaugrünen Gewänder einer hohen Geweihten flossen umihre drahtige, fast dürre Gestalt, an den Schultern und am Kragenbedeckt mit schillernden Perlmuttscheiben. Ilarea Efferdtreu benahm sich sonstselten so feierlich, fiel Efferdan auf, er kannte sie alsausgesprochen launische Person, die innerhalb weniger Herzschläge zwischen lachender Freundlichkeitund überschäumenden Wutausbrüchen schwanken konnte, besonders in den seltenenFällen, wenn Efferdan sie beim Wettschwimmen geschlagen hatte –was bis jetzt erst zweioder dreimal vorgekommen war. DaGraustein, der Hohegeweihte des Gottes in Havena, leider ein ebensowechselndes Gemüt besaß, war Efferdan schon bisweilen unfreiwilliger Zeugeso lauter Streitgespräche geworden, daß das Gebrüll über den Hafenhinweg bis ins Orkendorf zu hören gewesen war.

Ilarea winkteden Prinzen nun in das kleine Gemach, in demder oder dem jeweilig nachts anwesenden Geweihten ein Bett,ein kleiner Tisch mit drei Stühlen und eine Kommode zurVerfügung standen. Die Geweihte bot Efferdan einen Platz am Tischan, bevor sie sich selbst setzte. »Wir haben Euch indas Haus Efferds gerufen, Prinzliche Hoheit, um Euch und mitEuch Eure Familie zur Beratung hinzuzuziehen. Hier im Tempelist ein Ereignis eingetreten, das sich so nicht vorhersagen ließund das auch die Bennains als Herrscherfamilie Albernias direktbetrifft: Die Efferdperle ist verschwunden.« Sie schwieg einen Moment, bevorsie fortfuhr: »Wir vermuten, daß der Gott sie wieder zusich genommen hat.« Sie ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut,denn dies würde möglicherweise auch bedeuten, daß kein Segenmehr auf diesem Haus lag.

»Die heilige Perle? Hier? Aus demTempel verschwunden?« Der Prinz wagte es nicht zu glauben,doch Ilarea nickte.

»Wann ist das geschehen?«

»Letzte Nacht. Graustein bemerkte es,als er zur Kaverne hinabging.« Die Geweihte saß mit aufdem Tisch gefalteten Händen da und blickte den Prinzen aufmerksaman.

Efferdan dachte an die Kaverne und ihre göttliche Bewohnerin. »Wasist mitIhr?«

Der Geweihten war klar, wen er damit meinte,doch sie mußte wiederum mit den Schultern zucken. »Luan hatteüber Nacht Dienst im Tempel, hier in diesem Raum. Erhat eigentlich einen recht leichten Schlaf, doch er ist nichtaufgewacht. Das Gebäude ist immer offen, auch nachts, weshalb natürlichkeine Spuren zu sehen wären, wenn es ein weltlicher Diebgewesen sein sollte ... Graustein aber meint, die Perle sei entwendetworden. Der Hohegeweihte wird übrigens gleich zu uns stoßen –er befindet sich noch im Gebet.«

Efferdan kannte sich nicht halbso gut mit Menschen aus wie mit den Meeresbewohnern,und doch sagte ihm Ilareas Gesicht, daß sie zweifelte. »Anwas glaubt Ihr denn – einen Diebstahl?« Zum dritten Malzuckte die Priesterin unsicher mit den Schultern. »Es war vornun zwanzig Jahren, daß Graustein die Perle in Latas Kaverneauf dem Grund des Sees fand, dessen Zufluß hinaus zurUnterstadt führt. Er pflegte dort recht häufig zu schwimmen. Zwarwar ich erst zehn Jahre alt, aber ich erinnere michan diesen Tag, als wäre er gestern gewesen. Der 16. Ingerimmist der Tag des Großen Bebens, das damals genaudreihundert Jahre zurücklag, und an jenem Tag sandte Efferduns die Perle, nachdem wir am Bennaindamm mit vielen hundertGläubigen eine Zeremonie abgehalten hatten. Seine Gabe war ein ZeichenSeiner Vergebung – nach dreihundert Jahren verzieh Er Havena, wasIhn damals so erzürnt hatte. Efferd mag ein launischer undwankelmütiger Herrscher sein, Prinz, doch mir erschien dieses Geschenkimmer als eine Art Schlußstrich. Eine Belohnung für die Demutund Treue, mit denen wir in den letzten Jahrhunderten bewiesenhaben, daß die Stadt der Gaben des Gottes wieder Wertist.«

Grübelnd nickte Efferdan. Havena war vor der Katastrophe führendin der Seefahrt und im Güldenlandhandel gewesen, sagte man,doch dreihundert Jahre hatten nicht ausgereicht, diesen Status wieder zu erreichen,und die Stadt hatte kaum ein Drittel der Einwohnerzahl wiedererlangt, die laut derÜberlieferungen bei dem Seebeben vernichtet worden sein mußten. Undinzwischen hatten die Schiffe und Kontore des Horasreiches denenAlbernias längst den Rang abgelaufen. Viele Kais und Ladekräne imHafen verfielen zusehends und waren kaum noch zu gebrauchen,und während natürlich noch fast alle Westküstenrouten Havena als Anlaufpunktenthielten, blieb doch ein Großteil der Schiffsanlegeplätze leer. Dazukam der Krieg im Osten, der auch die westlichen Provinzengnadenlos geschwächt hatte, und das wieder blühende Schmugglerunwesen, bei demim Jahr viele tausend Silbertaler an den Zollämtern vorbeigeschleustwurden. Seine Nichte Invher war die Erbin einer schweren Krone.

»Krone