DSA 29: Kinder der Nacht - Lena Falkenhagen - E-Book

DSA 29: Kinder der Nacht E-Book

Lena Falkenhagen

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Beschreibung

Zweiter Band der Rabenchronik Ich riß an den Ketten, die meine Gliedmaßen und den Kopf fesselten, und mußte mitansehen, wie er das Mädchen nieder auf die Liege drückte. Ich sah die Gier in seinen Augen, das blitzen der scharfen Zähne. Er würde sie töten - das wußte ich -, und ich war dazu verdammt, alles miterleben zu müssen. Er und ich, wir kannten die gleiche Gier, er aber wußte nichts von Borons süßer Gnade.

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Lena Falkenhagen

Kinder der Nacht

Rabenchronik II

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 29

Kartenentwurf: Ralf Hlawatsch E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-453-12699-8 (vergriffen) E-Book-ISBN 978-3-86889-903-0

Widmung

»IchtreibeineinemMeerderVerwunderung.Ichzweifle;ichbange;ichdenkeseltsameDinge,dieichmeinereigenenSeelenichteinzugestehenwage.« BRAM STOKER

Gewidmet sei dieses Buch Claudia Weißmann-Stahl, deren Heldin sich hinterlistig in die Rolle der Hauptperson des Romans geschlichen hat (was erwartet man auch von Phexgeweihten), und Heiko Buchholz, Matthias Köhler und Oliver Baeck, die mit mir über Monate von Nacht zu Nacht herausgefunden haben, was es heißt, Vampir zu sein.

Einen ganz lieben Dank sagen möchte ich den Albernischen Edlen und Baronen, die mir mehr oder minder kurz ihre Helden ausgeliehen haben.

PROLOG – Ratten gegen Ratten

Die Ratten kamen.

Wie ein pelziges Heer wogender Körper, wieeine Armee, geleitet durcheinenGeist, wie ein Fluch strömtensie aus den schmutzigen Gassen des Orkendorfes, aus den stinkendenLöchern der alten Kanalisation, aus jedem Schatten, jedem Schlupfwinkel. Auf kurzen Beinenhasteten sie übereinander, kletterten über ihre Artgenossen und begruben sieunter sich. Manche blieben dabei auf der Strecke, von denKrallen und scharfen Zähnen ihrer Brüder und Schwestern verletzt. Dochdie lebende Lawine, die noch immer viele Körper zählte, wälztesich näher auf zwei dunkle, nächtliche Gestalten zu, die miteinanderrangen und heftige Schläge gegeneinander führten und doch das Schweigender Nacht mit kaum einem Laut durchbrachen.

Das Heer der kleinenKrieger kam fiepend und kratzend näher.

»So stehst du nun aufihrerSeite, du Tor?« höhnte eine Stimme. »Sie ist allein.Ihr seid allein!Ihrseid jene Kreaturen, die die Menschenfürchten! Warum also ihnen helfen, ihnen vertrauen? Sie vernichten euchebenso wie uns, wenn sie eurer habhaft werden! Es gibtkeinen Unterschied, du Narr!«

Sein Gegner schwieg verbissen und versetzte demSprechenden einen Hieb mit dem Dolch. Nur wenig Blut floßaus der Wunde.

Ein hartes Lachen hallte durch die Gasse, Spottund Niedertracht klangen in der Stimme mit, als der Verwundetezischte: »Du bist nicht anders als ich, Narr, du bistein ebenso abscheuliches Ungeheuer, geboren zum Töten! Daß du dichdeinem Rabengott und seinem täubchengleichen Töchterchen zu Füßen wirfst, tilgtnicht deine Schuld!« Der Sprechende lächelte breit und entblößte dabeiein perlweißes Gebiß, dessen Eckzähne sich lang und spitz vonden anderen abhoben. Dann sprang er vorwärts, um sie demGegner in den Hals zu schlagen.

Ebenso schnell, wie der Angriffausgeführt wurde, wich der kleinere der beiden zur Seite, wasden verwundbaren Hals schützte, doch die spitzen Fänge seines Feindesschlugen ihm nun in die Schulter. Als der Verwundete sichzurückwarf und vor Schmerz keuchte, rutschte die Kapuze von demweißblonden Schopf eines gerade einmal zwanzig Winter zählenden jungen Mannes.Der Bursche versuchte einige Augenblicke lang vergeblich, den Feind abzuschütteln,dann wurden auch seine Eckzähne zu wahren Raubtierfängen, mit denener sich in der Schulter des Dunklen verbiß.

Die pelzige Flutströmte in die Gasse.

Keuchend rangen die Kämpfenden miteinander, als sichdas Trippeln und Kratzen Hunderter Rattenkrallen näherte. Der Blonde löstesich hastig von seinem siegessicheren Gegner und sprang zurück. Ersicherte seinen Rücken an der Hauswand und hob den langenDolch, an dessen Parierstange kleine Rubinsplitter im matten Mondlicht glitzerten.

»Kommund hilf mir, diese Stadt in Angst und Schrecken zuversetzen, Fion«, lachte der Dunkelhaarige, als die wogenden Rattenleiber umseine Beine herumstrichen. Er stand mitten unter ihnen, und sieversuchten nicht ihn anzugreifen. »Sonst werden meine kleinen garstigen Freundehier deinem jungen Unleben schnell ein Ende bereiten!«

Die widerlichen Nagersammelten sich quiekend und zähnebleckend in einem engen Halbkreis umden Blonden, der sich hastig umsah. Die Gasse staute sichvor Ratten, die sich drängten und auf die Rücken ihrervorderen Artgenossen kletterten, um näher zu kommen, näher zu ihm.Noch machte die vorderste Reihe keine Anstalten, auf ihn einzudringen.Noch nicht. Er schob den Dolch langsam in die schlichtelederne Gürtelscheide zurück und suchte mit den Augen denNachthimmel ab.

»Nun?« wollte sein Gegner wissen. »Dieses pelzige Pack vergehtvor Gier nach deinem Blut,Rabenbrut!«

Derjenige, der Fion genanntwurde, entdeckte, was er suchte, spuckte abfällig in die brodelndeRattenmeute und antwortete mit gefährlich leiser Stimme:

»Dhaman, die Nacht wirdkommen, in der ich dir dein verfluchtes Rattenfell über dieOhren ziehen werde!« Gleichzeitig sprang er senkrecht in die Höhe,ergriff die Dachkante des kleinen Häuschens und schwang sich aufdas Dach, während die Rattenflut auf den wütenden Schrei ihresMeisters hin dort zusammenschlug, wo Fion noch einen Wimpernschlag zuvorgestanden hatte. Von Dhamans Willen angetrieben, versuchten die Tiere dieWand zu erklimmen. Andere folgten und begruben ihre Brüder undSchwestern unter sich, bis wieder andere kamen und so ander Steinwand eine Treppe aus zuckenden und fiependen Leibern emporwuchs.

Dhamangriff sich eines der Tiere, biß ihm den Kopf ab,legte das Haupt in den Nacken und ließ sich dashervorspritzende Blut aus dem kleinen Körper in den weit geöffnetenRachen sprudeln. Dann warf er den Kadaver fort.

Die lebende Rampekroch inzwischen immer näher an die niedrige Dachkante. Fion, deroben kauerte, wich weiter zum First zurück. Immer wieder blickteer beunruhigt zum Himmel. Endlich hörte er aus der Ferneein vielstimmiges Krächzen. Er konnte Dhaman heutewiedernicht vernichten,doch die Nacht würde kommen, in der nur noch einervon ihnen den Kampfplatz verlassen würde. Nun aber kauerte ersich auf dem Dach zusammen und breitete die Falten desschwarzen Mantels über sich. Er verdrängte die Geräusche der blutgierigenRatten, der zur Rettung nahenden Raben und sogar das LachenDhamans aus seinem Kopf.

Gerade als die Schar der Vögel aufdie Rattenmeute niederging und die ersten Nager mit scharfen Schnäbelnund Krallen zerfleischt wurden, erhob sich vom Dach ein großerRabe, stieß ein drohendes Krächzen aus und schoß gen Boroninseldavon. Ihm folgte der wutentbrannte Schrei seines Widersachers.

Auf Dhaman stießein halbes Dutzend der Boronsvögel hinab. Er zerfleischte sie mitKlauen und Zähnen. Seine Kräfte waren durch den Zorn überdie gelungene Flucht seines Feindes verzehnfacht.

Als einige Zeit späterdas ehrwürdige Glockenspiel vom Praiostempel hinüberhallte, erhob sich eine zitterndeGestalt aus einem dunklen Türeingang. Die ersten Strahlen des neuenMorgens tauchten Havenas Gassen in zartes Rosa, doch der nochzuckende Berg aus Rattenleibern an der Hauswand bewies, daß dieErinnerungen an die Nacht nicht vom Premer Feuer kamen. DerBoden war knöchelhoch mit Kadavern, Blut und Federn bedeckt. Durchdiesen weichen Grund bahnte sich die alte Frau, die nachArt der Krakeninseler Fischer gekleidet war, ihren Weg.

»Der Bursche hatnicht gehört auf die alte Tuar«, hätte ein spitzohriger Lauscherdie Alte in ihre erloschene Pfeife murmeln hören können. »Hatnicht gehört! Aber Tuar hat ihn gewarnt: Laß dir nichtmehr nehmen, als du geben kannst, der Alte ist gierig,hat sie gesagt, wird dich verschlingen!« Kopfschüttelnd ließ sie dieblutgetränkte Gasse hinter sich, doch vergessen würde sie die Schreckender nächtlichen Schlacht, Ratten gegen Raben, nie.

KAPITEL 1 – Monolog – Gnade und Gier

DieGier jagte niederhöllische Schmerzen durch meinen toten Körper und tauchtemein Bewußtsein in rote Träume. Ich wußte, daß ich Hunger hatte unddaß ich diesen Hunger stillen mußte, um zu leben.

»Leben« –nun, das ist vielleicht nicht das richtige Wort. Passender wärevielleicht »um vorhanden sein zu können«, denn mein Leib warso tot wie die Leichen der auf der Boroninsel Begrabenen,und doch konnte ich handeln, denken, Schmerz empfinden, denn ichwar einKind der Nacht,ein Vampir.

Sagarta hatte mich dazugemacht, die Dienerin des Raben, oberste Geweihte des Havener Borontempelsund selbst einKind der Nacht.Es sollte die Sühnefür meine Taten sein, die so vielen geliebten Menschen dasLeben und – vielleicht – die Seligkeit ihrer unsterblichen Seelengekostet hatte. Ich hatte Antiarna getötet – unwissend, daß sieals einzige Dhaman ui Mharfad, das bösartigeKind der Finsternisund Werkzeug des Namenlosen, hätte vernichten können. Nun war es anmir,dieszu tun. Doch der Hunger hatte die Gedanken an Pflicht undBuße fortgewischt, als ich damals, in der ersten Nacht nachmeinem Tod, die Boroninsel durch den unterirdischen Gang verließ, denSagarta mir gewiesen hatte. Allein ihre Warnung hallte noch durchmeinen Geist: »Du mußt das Blut der Menschen trinken, umvorhanden sein zu können, doch höre! Zügle deine Gier! Berauschedich nicht zu sehr an ihrem Blut und deiner Lust,achte das Leben! Denn Borons Fluch ist es, das Lebenzu schauen, sich danach zu vergehen und es doch niewieder zu erhalten. Wir sind nur der Schatten, die Kehrseitedes Lebens, dazu verdammt, uns in ewiger Erinnerung an dasMenschsein zu verzehren. Doch Marbo gewährte uns die Fähigkeit, Liebezu empfinden und Gnade zu üben. Nutze sie wohl, dennso allein bewahrst du dir den Schatten der Menschlichkeit, diedu einst besaßest!«

Schatten – sie waren nun meine Heimat. DerDunkelheit gleich schlüpfte ich aus dem nach feuchter Erde riechenden Gangende, das sich zueinem Seitenarm des Großen Flusses hin öffnete, und kletterte die Böschungempor.

Es war noch nicht spät, vielleicht eine Stunde nach Sonnenuntergang,so daß die Straßen voller Menschen waren. Die Gier undder Duft ihres Blutes sandten mir Schauer den Rücken hinab,der Hunger rief quälende Schmerzen hervor. Und doch zögerte ich,denn in jedem Menschen, den ich beobachtete, entdeckte ich ungeahnteSchönheit. Die Schönheit des Seins, des Lebens, dieses größten allerGeschenke, das die ewigjunge Tsa den lebenden Wesen täglich aufsneue macht. Nun, da das Leben mich verlassen hatte, entdeckteich sein wahres Wunder und beugte die Knie vor soviel Vollkommenheit.

Wie erschrak ich bei dem Gedanken, diese Vollkommenheit zuzerstören, Leben zu nehmen! Und doch erinnerte mich gleichzeitig derrasende Schmerz in meinem Innern an den Hunger, der inmir tobte.

Schritte auf festgetretenem Grund: Ein junger Bursche in denaufreizenden Gewändern des Rahjagewerbes näherte sich mir, ein romantisches Liedchenpfeifend. Meine Augen sahen in der Dunkelheit nun ebensogut wievor meinem Tod im Licht, der Geruch seiner Haut mitzartem Rosenseifenduft erregte mich. Versuchsweise ließ ich die Eckzähne ausihren Höhlen im Oberkiefer gleiten – sie waren in derTat lang und spitz –, zog sie jedoch sofort wiederein. Als er an mir vorbeigehen wollte, trat ich ausden Schatten.

»Huch! Oh, Herr, habt Ihr mich aber erschreckt! Ichhabe Euch gar nicht wahrgenommen!« Als sein Blick nun übermich glitt, dankte ich Sagarta still dafür, daß sie meinenblutverkrusteten Stallburschenkittel gegen saubere, feinere Gewänder aus schwarzer Seideeingetauscht hatte. Der Stallbursche Fion war tot, es gab nunnur noch einKind der Nachtgleichen Namens.

»Entschuldige!« hörte ichmich sagen. »Das lag nicht in meiner Absicht.« Der Hungerregte sich in mir, als ich seine langsam abebbende Angstroch und sah, wie die Ader an seinem Hals diehelle Haut darüber im Rhythmus seines Herzschlages wölbte.

Der Bursche bemerktemeinen gierigen Blick, setzte ein einladendes Lächeln auf und fragte:»Ist Euch nach einem angenehmen Abend in trauter Zweisamkeit, jungerHerr? Der Boronmond ist ungemütlich, Euch muß kalt sein! BeiRahja, Ihr tragt ja nicht einmal einen Umhang!«

Ich nickte, unfähigzu einer Antwort. Das zarte Pochen an seinem Hals hattemich in den Bann freudiger Erwartung versetzt.

»Mein Name ist Cairbre,Herr«, plauderte der junge Gesellschafter. »Ich kenne ein hübsches, sauberesDomizil ganz hier in der Nähe, wo Ihr auch EurenHunger stillen könnt, wenn Euch danach ist.« Wieder nickte ich stumm. Cairbrehakte sich bei mir ein und führte mich die Straßehinab, offensichtlich durch mein Erscheinungsbild davon überzeugt, daß ich seineDienste würde bezahlen können. Er schüttelte sein halblanges rotbraunes Haar, dasihm im Pagenschnitt in die Stirn hing, und blinzelte mirfröhlich zu. In einer dunkleren Ecke hielt er noch einmalinne, offensichtlich, um mir einen Vorgeschmack auf seine Künste zu geben,denn er drängte sich näher an mich heran und küßte mich. Sein köstlicherGeruch raubte mir fast die Besinnung. Ich fuhr mit denLippen seinen Hals entlang, der von einer Gänsehaut überzogen warund kostete mit der Zunge seinen Geschmack, während meine Eckzähneohne mein Zutun hervorglitten. Schließlich biß ich fast zärtlich indie verlokkend pulsierende Ader.

Cairbre stöhnte leise auf, mehr vor Erregungdenn vor Schmerz, doch als ich die ersten hervorsprudelnden Tropfenseines Lebensquells auf meinen Lippen und meiner Zunge spürte, wares um meine Beherrschung geschehen. Ich drängte den Burschen tieferin die Schatten, hielt seinen nachgiebigen, anschmiegsamen Körper fest inden Armen und sank langsam mit ihm zu Boden. Dierote Flut seines süßen Blutes überschwemmte meinen Geist. Ich trankgierig, denn jeder Tropfen bereitete mir lustvolle Erregung, die sich,der Rahjaekstase gleich, bis ins Unerträgliche steigerte. Und so saugte ichden herrlichen Quell begierig in mich hinein. Schließlich erschlaffte derKörper in meinen Armen, und ich sank gesättigt und trunkenvor Wärme und Wohlgefühl über ihm zusammen.

Einige Augenblicke lang lagich dort, auf einer Welle des Glücks und der Zufriedenheit treibend,bis ich langsam auftauchte und mir meiner Umgebung bewußt wurde.

Entsetzenwischte die abklingende Erregung mit einem Streich fort, als ichdes bleichen, toten Körpers Cairbres gewahr wurde, dessen Gesicht immernoch genießerisch verzückt schien. Er war tot – von mirermordet! Einem hirnlosen Raubtier gleich, das seinen Hunger nicht anderszu stillen vermag als durch das Töten, hatte ich seinLeben genommen. Ich fürchtete mich vor mir selbst, vor demUngeheuer in Menschengestalt, zu dem ich geworden war.

Ich wollte weinen,fühlte alle Traurigkeit der Welt schwer auf meiner Brust lasten– doch keine Tränen verließen meine Augen, es gab keineErleichterung für mein Herz.

Schuldbewußt mußte ich an Rhuad denken, denPrinzen Albernias, der vielleicht in diesem Moment im Fürstenpalast anden Stallknecht dachte, dem er einst seine Zuneigung geschenkt hatteund den er aufgrund von Dhamans schwarzer Magie für einemörderische Kreatur der Nacht hielt, die hemmungslos und grausam getötethatte. Ein trockenes, bitteres Lachen stieg in meiner zugeschnürten Kehleauf und schüttelte mich, denn war ich nicht genau dasgeworden, was Rhuad in mir sah? Was unterschied mich nochvon Dhaman, demKind der Finsternis?

Hatteichdenn eingrößeres Recht darauf vorhanden sein zu können und zu tötenals er?

Zorn und Trauer regierten mein kaltes Herz.

Ich hob CairbresOberkörper an, um ihn aufzunehmen und leckte dabei wie selbstverständlichdie kleinen Wunden an seinem Hals. Wie staunte ich, alsdie Haut daraufhin makellos und unverletzt zurückblieb! Keine Spur desBisses war mehr zu sehen, so als sei der Burschefriedlich entschlafen.

Ich trug den Toten zu dem unterirdischen Gang zurück,schmiegte sein bleiches, langsam erkaltendes Gesicht an meine Wange. Baldhatte ich die finstere Rabenhalle erreicht, doch auch hier konnteich so gut wie noch vorgestern in der Mittagssonne sehen.

Langsamschritt ich zur Sagarta, die vor der Rabenstatue kniete und legteden schlaffen Körper auf den Altarstein.

»Du sagtest, Priesterin, ich könntedas verursachte Unglück wiedergutmachen! Statt dessen lastet ein weiteres Lebenauf meinem Gewissen. Wie viele Menschen werde ich noch töten,Sagarta?«

Sie schwieg, hob aber den Kopf und sah mich an.Sie war schön: die rabenschwarzen Augen unergründlich, die roten Lippenernst – so stellte ich mir Marbo, Borons gnadenreiche Tochter,vor. Der Ausdruck in ihren Augen war schwer zu deuten,als sie mich und den Toten musterte, sich von denKnien erhob und mit ihren langen Fingern fast liebevollüber Cairbres Wangen strich. Nach einem schier ewigen Schweigen wandtesie sich von ihm ab.

»Du bist der Todesbote, der ArmBorons. Du lebst vom Töten, wie eine Löwin oder einWolf. Erschreckt es dich?«

Ich konnte nicht glauben, daß dies ihreeinzige Antwort sein sollte, und fragte zornig: »Was aber unterscheidetmich dann von Dhaman? Warumihntöten, wenn ichebenso willkürlich und unerbittlich töte wie er? Das macht keinen Sinn,Sagarta!«

Sie kam näher, bis sie direkt vor mir stand, undsah zu mir auf. Ihre Lippen berührten dabei fast diemeinen. »Hast du nicht die Gnade Marbos gespürt, die Ehrfurchtvor Tsas Schöpfung? Hat dich nicht Liebe zu diesem Jungenerfaßt, der dich nähren würde? Hast du nicht bereut, was du getan hast, bitterlichbereut und Marbo um Tränen für deine einsame Trauer angefleht?«

Ichnickte stumm und traurig.

Da lächelte die Priesterin sanft, der mildenMarbo nun noch ähnlicher als jemals zuvor. »Siehst du, alldiese Gaben unterscheiden dich von Dhaman. Er achtet die Lebendennicht, er haßt sie, von ewigem Neid auf ihre unsterblichenSeelen zerfressen. Er liebt den Quell seiner Nahrung nicht, erquält ihn und spielt grausame Spiele mit ihm. Er bedauertden Tod seines Opfers nicht, denn er kennt keine Reue,nur seine Gier und seinen Haß. Und er trinkt undtötet zuallerletzt, um den Namenlosen zu stärken und ihm einDiener zu sein, du aber trinkst und tötest, um Boronzu dienen. Wie viele du noch töten wirst?« Sie wandtesich wieder Cairbres Leichnam zu. »Ich weiß es nicht. Esliegt allein an dir. Doch bewahre dir die Achtung vordem Leben, sie ist es, der du dein Gewissen verdankst.«

Miteinem Blick zu den schwarzkristallenen glitzernden Augen der Rabenstatue nahmsie meine Hand und führte mich vor den Altar. »Glaubstdu wirklich, du könntest jemanden töten, wenn es Ihm nichtgefiele? Du bist Sein Geschöpf, Sein Werkzeug. Der Hammer gehorchtdem Schmied, die Sense dem Bauern. Du gehorchst Boron.«

Ich sahzu den harten Augen des Raben auf, bei deren Anblickmir noch immer kalte Schauer den Rükken hinabliefen, und meineZweifel zerflossen. Boron, der Alte, der Ewige, der Dunkle. Warder Tod nicht Seine Gabe, Sein Geschenk an die Menschen?

»Undkönnte dieses Geschenk nicht schöner überbracht werden, als durch denKuß einesKindes der Nacht?« Sagarta mußte wieder einmalmeine Gedanken gelesen haben. »Sieh ihn dir an, Fion, seinGesicht – ist es nicht voll der rahjaischen Erregung, voller Freude,voller Friedlichkeit? Wäre er nicht freudenvoll in deinen Armengestorben, vielleicht hätte ihn in zwei Wochen ein grausames, schmerzhaftesFieber dahingerafft. Borons Wille ist unergründlich.«

»Aber ist unser Dasein nichtunheilig, so wie Dhamans? Wir tragen Praios‘ Fluch genau wieseinesgleichen, denn die Sonne verletzt uns. Der Götterfürst schleudert unsSeinen Zorn entgegen! Was sind wir dann anderes als unheilig?«

Sagartanahm meine Hand und führte sie an ihre Lippen. Mitspitzen Zähnen biß sie hinein: Ein kurzer Schmerz durchzuckte mich,so daß zwei einzelne Blutstropfen aus kleinen Wunden auf demHandrükken hervorquollen. Dann leckte sie mit der Zunge darüber, undwie zuvor bei dem toten Cairbre schlossen sich die Rissein der Haut sofort. Sie lächelte hintergründig.

»Und was sagst dudazu? Bevor ich einKind der Nachtwurde, war ichso magisch wie ein Stück Holz im Großen Fluß. Nunaber vermag ich Wunden zu schließen, des Nachts zu sehen,anderer Leute Gedanken zu lesen, meine Sinne zu schärfen, meinekörperlichen Kräfte zu stärken und vieles mehr. Die Götter mögennicht immer Praios‘ Meinung sein, denn Hesinde segnet uns ehermit ihren Gaben, als daß sie uns verflucht. Auch Phexhat sich auf Borons Seite geschlagen und schenkt uns dieKraft, mit den Schatten zu verschmelzen und die Nacht zuregieren.

Die Tempel der Tsa und der Peraine allerdings solltestdu fürchten, denn diese Göttinnen lieben sowohl Leben als auchWachstum, und wir verkörpern Tod und Stillstand. Die anderen derHeiligen Zwölf neigen dazu, uns zu ignorieren – doch wirklichwillkommen heißen dich nur die Diener Borons, Phexens und Hesindesin ihren Heiligtümern. So tragen wir FluchundSegen derZwölf.«

Ich traute meinen Ohren kaum und fragte deshalb vorsichtig nach:»Und ... ich kann jetzt ... zaubern?«

Zu meinem Schrecken undEntzücken zugleich nickte die Priesterin.

»Ja. In den nächsten Monden werdeich dich lehren, was du wissen mußt, was deine neuenKräfte dir gestatten und wie du sie am besten nutzenkannst. Dann erst bist du bereit, gegen Dhaman zu kämpfen.«

»Warumtust du es nicht? Warum vernichtest du Dhaman nicht? Dubist viel älter, viel machtvoller als ich, dir wäre derErfolg sicher!«

Der Blick der Priesterin wurde hart, als sie michnun ansah. »Nein, Fion. Dies ist dein Kampf. Niemand anderskann ihn für dich kämpfen, denn es ist auch derKampf um deine Seligkeit, den Marbo dir gestattet. Bedenke dasimmer! Gibst du auf oder versagst du, bleibt dir derPlatz in Borons Hallen verwehrt. Zudem«, sie richtete ihre Blickenun wieder auf den Altar und den Toten darauf, »ist meinPlatz ein anderer. Das Leben der Sterblichen dieses Zeitalters istmir fremd geworden, ich verstehe sie nicht mehr und findemich kaum noch unter ihnen zurecht. Du aber weißt umihre Bedürfnisse und Vorlieben, du bist ein Kind dieser Zeit.Du kennst den Feind und den Platz, an dem ermit Vorliebe haust: den neuen Palast. Und dort hast dunoch immer Verbündete.«

Traurig schüttelte ich den Kopf. »Nein, Sagarta, darinirrst du. Niemand dort liebt mich mehr, ich habe ihnenallen Schmerz zugefügt – oder sie glauben, ich hätte esgetan. Dort ist kein Platz mehr für mich.« Wieder wünschteich mir heftig, daß Tränen meine Trauer hätten lindern können.Doch Tote weinen nicht.

In den nächsten Tagen begann Sagarta,meine Fähigkeiten zu schulen. Zwei oder drei Nächte lang warich auf der Boroninsel umhergewandert, grübelnd, ob ich über meinenneuen Zustand glücklich oder eher entsetzt sein sollte. Ich kamzu keinem Schluß. Sicher, Boron und Hesinde, vielleicht auch Phex, gabenmeinem Dasein ihren Segen. Doch für die anderen Zwölf warsie ähnlich unheilig und widernatürlich wie die Dhamans, der demNamenlosen diente.

Ich gewöhnte mich langsam daran, daß mein Herz nichtmehr schlug, daß ich nur zum Sprechen Atem holen mußte (amAnfang bemerkte ich mit großem Schrecken, daß das Luftholen nunnicht mehr wie von selbst ging, sondern ich mich um jedenAtemzug bewußt kümmern mußte – bis mir auffiel, daß ichdie Luft nicht mehr benötigte) und daß meine Sinne raubvogelgleichgeschärft waren.

Auf diesen Spaziergängen mieden mich die drei anderen DienerBorons, die sterblich waren. Vermutlich hatte Sagarta sie angewiesen, sichvon mir fern zu halten. Ich war froh darüber, daich doch nicht wußte, wann und mit welcher Heftigkeit derHunger wieder über mich käme.

Sagartas Worte wogen schwer. Ich lernteaus ihnen, daß ich nicht tötenmußte,um vorhanden seinzu können, und daß ich das auch möglichst vermeiden sollte.Sie hatte gesagt, ich müßte mir die Achtung vor demLeben bewahren, und dazu war ich fest entschlossen. Doch ichvermied, an den hübschen Cairbre und meine Gier zurückzudenken undgestand mir nicht ein, daß es vielleicht wieder genauso kommenkönnte, daß ich wieder die Beherrschung verlieren könnte.

In der viertenNacht stand Sagarta hinter mir. Nicht einmal mit meinen neuerdingsso scharfen Sinnen hatte ich sie kommen hören. Sie reichtemir die Hand und sagte: »Folge mir!«

Sie führte mich durch denunterirdischen Gang, den ich in der Nacht meiner ersten Jagd genommen hatte,in das dunkle Havena, mitten unter Menschen. Zuerst hatte ichAngst und sträubte mich, mir war, als müsse mich jeder Sterbliche als das erkennen, was ichgeworden war. Doch bald ergriff mich wieder jene Ehrfurcht, diemich wie ein staunendes Neugeborenes in diese neue, fremde undfaszinierende Welt blicken ließ.

»Verbirg den Hall deiner Schritte!« befahl mirdie Priesterin manches Mal, oder: »Verschmilz mit den Schatten!« Ichbemühte mich, ihren Anweisungen zu gehorchen, und tauchte in diewunderbare Welt der Magie ein. Endlich spürte ich am eigenenLeib dieses Kribbeln, das Verweben der Kräfte um mich herum,von denen ich schon immer gewußt hatte, daß sie vorhandenwaren. Welch ein Geschenk, welch Gabe der weisen Göttin! Wiemein Vater es mich gelehrt hatte, flüsterte ich ein Dankgebetan Hesinde.

Bald hatte Sagarta mich ins tiefste Orkendorf geleitet, zumAlten Hangplatz mit den beiden hohen und knorrigen Eichen.

»Hier istguter Jagdgrund«, sagte sie und wies mit einer spärlichen Gesteauf die betrunkenen Schiffer und Streunerinnen, Freudenmädchen und -burschen, Bettlerinnenund andere dunkle Gestalten.

»Wen würdest du wählen?«

Ein rothaariges junges Mädchenhalf ihrer stockbetrunkenen Mutter auf die Beine, die kaum alleinstehen konnte. Ein halbes Dutzend Liebesdienerinnen und -diener flatterte –wie Schmetterlinge um duftende Disteln – um eine Gruppe Thorwal-Piratenherum, die anscheinend eine Taverne zum Verprassen der Heuer suchten.Eine schlicht gekleidete Frau mit einem Bauchladen pries Muscheln undTreibgut aus der Unterstadt an, während unter den Galgenbäumen, dieunter dem Fürsten Toras traurige Berühmtheit erlangt hatten, eine hübsche blonde Bardin saß und zumLeierspiel denLiebesgrußsang. Ihre Stimme klang von vielen PremerFeuern und dem Grölen von Trinkliedern rauh, besaß jedoch einenZauber, dem man sich schwer entziehen konnte. Eine kleine Zuhörerschaft,die trotz des Boronwetters an dieser merkwürdigen Szenerie ausharrte, umihr zu lauschen, hatte sie bereits in ihren Bann gezogen.

Ichzuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Irgend jemanden ...Ist es nicht gleich?«

Mit einem Blick über den Platz begann Sagarta ihre Lektion.»Thorwaler sind niemals gut, sie wissen sich zu wehren undlösen sich selten von ihren Freunden. Zudem schmeckt ihr Blutmeist nur nach Premer Feuer – furchtbar. Du könntest dirjemanden aus der Menge dort wählen und beobachten, ob ermit Freunden hier ist oder allein. Deine Beute sollteimmerallein sein, denn auch wenn deine Kräfte gestiegen sind, verursachtein Kampf meist mehr Ärger als Nutzen, er würde unnötigesAufsehen erregen. Auch die Bardin dort wäre sicherlich passend, dennwenn sie allein nach Hause geht, ist sie ein leichtesOpfer: Sie sieht nicht sehr kräftig aus. Vielleicht hält sie auch Ausschaunach Gesellschaft für die Nacht. Du könntest ihre Bekanntschaft machen.Sie wird nicht unterscheiden können, ob ihre Lust vom Liebesspieloder deinem Kuß herrührt. Trinke so viel von ihrem Blut,daß es dich sättigt, sie aber nur matt und geschwächtist. Dumußtnicht töten.«

Mit meinen neuen Sinnen musterte ichdie Bardin näher: Sie hatte ein feines und hübsches Gesichtmit porzellangleicher Haut und einer zierlichen Nase, die Lippen waren verlockend üppig. Das glatte hellblonde Haarverlieh ihr ein zerbrechliches, geradezu edles Aussehen, und der schelmische,unschuldig-kokette Blick unter den geschwungenen Brauen mochte sicherlich von vielender Umstehenden als Einladung verstanden werden.

Sie beendete das wehmütige Liedmit einem leise ausklingenden Akkord und schloß kurz die Augen,als müsse sie selbst erst daraus auftauchen. Auch die Zuhörerverhielten noch einen Augenblick den Atem, dann regneten Kupferstücke indas bereitgelegte Leierfutteral. Viel war es nicht, und ich wundertemich darüber, daß jemand wie sie nicht am Königshofe vorsprach, umsich mit einer Darbietung vielleicht etwas Silber und dadurch eingemütliches Dach über dem Kopf zu verdienen.

»Ich sehe, du hastdein Opfer gewählt«, stellte Sagarta, ohne eine Miene zu verziehen,fest.

»Ja. Sie interessiert mich.« Innerlich jedoch zitterte ich vor Angst,daß ich auch sie töten könnte. Es würde noch langedauern, bis ich die Rolle als Todesbote annahm.

»Wirst du aufmich achtgeben?« fragte ich leise, doch als ich keine Antwortbekam und zu den Schatten zu meiner Rechten spähte, warSagarta nirgendwo zu sehen.

Mit flinken Fingern sammelte die Fraudie Kupferstücke zusammen und ließ sie in das Lederbeutelchen anihrem Gürtel gleiten. Ich näherte mich leise und unauffällig, wieSagarta es mich gelehrt hatte, und warf einen Heller zuden letzten Kreuzern, die die Bardin gerade aufhob.

»Das war wunderschön«,meinte ich ehrlich. Die junge Frau sah auf, nachdem auchdiese Münzen in ihrem Beutel verstaut waren, doch das keimendeLächeln auf ihren Lippen erstarrte, als sie meiner gewahr wurde.Ihre Augen verengten sich zu mißtrauischen Schlitzen, das Blut wichaus ihrem Gesicht, und sie musterte mich wachsam. Wie früherdas Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisungen, aus dem Vater mich dasLesen gelehrt hatte, lagen die Gefühle der Sängerin plötzlich offenvor mir, und ebenso einfach konnte ich in ihnen Angst,Abneigung und Mißtrauen lesen.

Wußte sie, was ich war? Kannte siemich gar aus dem Fürstenpalast? Oder besaß sie ebenfalls magischeKräfte?

»Wer bist du?« fragte sie mich nun schroff. Ihre Stimmewar ein dunkler Alt mit rauhem Unterton. Wie beiläufig griffsie nach ihrem Gepäck, unter dem sich auch ein reichbeschnitzterKampfstab befand.

»Fion«, antwortete ich wahrheitsgemäß, auch wenn ich mich imgleichen Moment fragte, ob nicht eine Lüge besser gewesen wäre.

»Waswillst du, Fion?« war ihre abweisende Reaktion, das elfengleiche Gesichtnoch immer zur mißtrauischen Maske erstarrt.

Ich zwang mich zu einemLächeln – diese Reaktion hatte ich nun wahrlich nicht erwartet!Um das Eis zu brechen, sprach ich mein Kompliment einzweites Mal aus: »Ich wollte Euch meine Anerkennung aussprechen. Ichhabe denLiebesgrußnoch nie so schön gehört.« Als dieBardin sich etwas entspannte, fuhr ich, wieder mutiger, fort: »Ichdachte, daß Eure Kehle trocken sein müßte und Euch ein Biernun sicher gut täte.«

»Und Ihr seid gewiß kein Schwarzmagier?«fragte die Frau vernehmlich besorgt. »Sehe ich denn so aus?«lächelte ich, doch die Antwort war ein Nicken.

»Da wo ichherkomme, sehen die Schwarzmagier so aus wie Ihr: bleiche Haut,schwarze Seidenkleidung und so ein seltsam intensiver Blick. Aber ichsehe schon: Ihr tragt gar keinen Stab bei Euch, dakönnt Ihr ja kein Magus sein!« Nun schien sie etwasberuhigt.

»Ich heiße Idra!« Ich ergriff die ausgestreckte Hand und schütteltesie, wunderte mich allerdings ein wenig über den unerwartet festenHändedruck.

»Wo kommt Ihr her, daß Ihr solche Gestalten kennt?« fragteich mit echter Neugierde, denn ihr Akzent sprach dafür, daßsie keine Albernierin war.

»Aus Brabak!« war die einfache Antwort, undtatsächlich hatte selbst ich schon von den finsteren Brabakern gehört,obwohl ich in meinem bisherigen Leben als Stallknecht am Fürstenpalastdes magiefeindlichen Havena (und obwohl mein Vater ein Hesindegeweihter gewesenwar) nur wenig über Zauberei erfahren hatte. Man sagte, dieMagier dort riefen Dämonen und Geister und paktierten mit namenlosenschwarzen Mächten.

Idra hängte die verpackte Leier über die Schulter, mustertemich noch einmal prüfend. Ich wurde den Eindruck nicht los,daß ihr Mißtrauen nicht gänzlich beseitigt war.

»Nun gut, Fion. ›Im Bauch ein Bier / ist ein Pläsier/ auch für den Ma – gier!‹ sagen wir untenin Brabak. Gehen wir in dieFanfare!«

Ich nickte, auchwenn ich nicht wußte, welche Schenke Idra meinte, doch siesteuerte schnurstracks auf ein großes Gebäude am Hangplatz zu, dasschon recht heruntergekommen aussah.

Von drinnen drang Lärm und heller Lichtschein.Ich zögerte kurz – der Gedanke an ein Feuer beunruhigtemich etwas.

»Kommst du nun, oder ist dir plötzlich eingefallen, daßdu kein Geld mehr hast?«

»Nein«, sagte ich, schalt mich einenNarren und ging mit Idra hinein.

Der Schankraum war groß undgut gefüllt. Die Holzdielen am Eingang knarrten, als Idra darüberschritt.Die Raumdecke war niedrig wie in einer Wohnstube, und ander dem Eingang direkt gegenüberliegenden langen Seite des Raumes prasselteein Feuer in einem offenen Kamin, über dem ein Kesselhing. An dem Rauchabzug über dem Kamin hing ein Travienbildniszur Sicherung und Heiligung der göttlichen Gastfreundschaft.

Die Bardin wollte schonauf die Feuerstelle zusteuern, doch ich hielt sie am Armzurück und wies auf einen Tisch am Fenster, das zumHangplatz hinauswies und dessen Läden gegen die Boronskälte fest verriegeltwaren. Wieder glomm Mißtrauen in ihren Augen, doch dann zucktesie mit den Schultern und folgte mir. »Du bist derGastgeber!«

Als der Blick des Wirtes aufmerksam über seine Gäste schweifte,hob ich eine Hand und rief: »Zwei Havenabräu!« und wandtemich wieder der Spielfrau zu. Hatte ich jemals beabsichtigt, ihrBlut hier in der Taverne zu trinken, wußte ich nun,daß mir das unmöglich sein würde: Nicht nur, daß zuviele zufällige Beobachter anwesend waren, nein, ich fühlte das BildTravias auch fast in meinem Rücken brennen bei dem Gedankendaran, das Ihr heilige Gastrecht hier in Ihrem Angesicht zubrechen.

»Du bist ein seltsamer Vogel, weißt du das?« brach Idradas anfängliche Schweigen. Ihr Ton verriet dabei Wachsamkeit, doch auch einwenig Neugier.

»Ein Nachtvogel«, erwiderte ich, denn langsam begann mir diesesSpiel zu gefallen. »Wie kommt eine Spielfrau aus Brabak dazu,hier in Havena unter den Galgenbäumen Lieder aus Nostria zusingen?«

Endlich lachte sie und entspannte sich. Sie blickte aus hellblauenAugen unschuldig zu mir auf, klimperte mit den Wimpern undneckte mich: »Und wie kommt ein Nachtvogel wie du dazu,Bardinnen aus Brabak, die in Havena unter Galgenbäumen nostrische Liederträllern, auf ein Bier einzuladen? Bist du von hier?«

»Ja.Ich bin gebürtiger Havener. Aber du hast meine Frage nichtbeantwortet.«

»Bist du ein Phexensjünger?« Idra deutete auf meine Mantelfibel –den silbernen Halbmond, den ich von Antiarna ›geerbt‹ hatte.

»Nein. Dasist ein Erbstück.«

»Ach so«, sagte die Bardin, sah zu demWirt auf und nickte dankend, als er das Bier voruns stellte. Ich zahlte die Zeche sofort.

»Heda, Wirt, warum hatdein Lokal einen solch seltsamen Namen?« fragte Idra. »Havena Fanfareklingt ehernach einer Postille oder Gazette!«

»Da hast du recht, Süße. Istja auch das alte Haus von derFanfare.Die sitzenjetzt irgendwo in Unterfluren, glaub‘ ich. War ihnen wohl nichtfein genug hier.«

Idra nickte ihm zu, als er sich entfernte.

»Duhast meine Frage noch immer nicht beantwortet!« sagte ich leise.»Oh – richtig. Nun, das ist eigentlich nicht so aufregend.Ich bereise die Welt auf der Suche nach neuen Liedernund Texten und Gegenständen für neue Spottverse! Dabei kommt maneben herum.« Idra nahm einen tiefen Zug aus ihrem Humpen,während ich den meinen unangetastet ließ und bisweilen in denHänden drehte.

Dann griff die junge Frau wieder zu ihrer Leier,nahm die schützende Hülle ab und sprach mehr als daß sie sang: »›Die Frau sitzt schief / auf dem Shadif/ sie sollte sich strecken! Rief der Kater / einenguten Rat er / ihr zu / und begab sichzur Nacht.‹ Na gut«, gab sie dann zu, »gut istdas nicht, aber die Frau war ganz schön wütend –hab‘ heftig eine auf die Nase bekommen für den Spruch.Sie ist jetzt übrigens eine gute Freundin ... Wir sindgemeinsam ein bißchen durch die Gegend gezogen.«

Dann gähnte sie einmal,streckte sich und verpackte das recht kostbar wirkende Instrument wieder.Sie stürzte den Rest des Bieres hinunter und bedankte sichrecht artig: »Nun, Fion, vielen Dank jedenfalls für das Spülender trockenen Kehle, doch ich bin müde und habe mireine Mütze Schlaf redlich verdient, denke ich!«

Ich tat noch einmalso, als nippte ich an dem Humpen, stand dann ebenfallsauf und bemühte mich um einen galanten Ton: »Das Orkendorfist unsicher, ich werde dich nach Hause geleiten.«

Ich erntete einenamüsierten Blick, schließlich zuckte sie mit den Schultern und ergriffihr Gepäck.

»Gut. Ich wohne imLorbeerzweig,das ist gar nichtweit. Eigentlich nur quer über den Hangplatz! Aber ich werdemich sicher sehr behütet fühlen.« Sie nickte und zwinkerte mirzu, halb scherzend, halb kokett.

Tatsächlich war derLorbeerzweiglächerlich nahe:kaum dreißig Schritt gen Hafen. Der Eingang lag glücklicherweise imSchatten. Hier wollte ich mich von Idra verabschieden.

»Weißt du, daßdu genauso heißt wie unsere Königin?« fragte ich ein wenigwehmütig – ich mußte an meine ehemalige Heimat, den Palast,zurückdenken.

»Das scheint euch hübschen Burschen hier wohl nicht zu gefallen,wie? Letzten Mond bin ich auch jemandem begegnet, dem ichsehr gewogen schien – bis ich ihm meinen Namen nannte.«Das schien sie allerdings eher zu belustigen als zu ärgern.

»Nein,ich habe nichts gegen den Namen, wirklich nicht. Zudem istes eine Ehre, den Namen der Königin zu tragen: Sieist sehr großzügig und klug!«

»Das klingt ja so, als würdest du sie persönlich kennen!«

»Ichbin ihr mal begegnet«, versuchte ich mich herauszureden. »Sag, schöneIdra, schenkst du mir zum Abschied einen Kuß?«

»Nun, schöner Fion, wenn dasalles ist, was du heute von mir verlangst, sollst du ihn haben!«

Ich tratnäher an Idra heran, küßte sie sanft, dann führte ichmeine Lippen ihren Hals hinunter. Meine Zähne glitten hinaus, undich wollte eben siegessicher zubeißen, da schob sie mich scherzhaftschimpfend von sich. Die hellen Augen weiteten sich, als siemeiner Zähne gewahr wurde, die ich nicht schnell genug wiedereingezogen hatte.

Die Reaktion der Spielfrau verblüffte mich völlig: Anstattum Hilfe zu schreien, wegzulaufen oder in Ohnmacht zu fallen,wie manche hohen Damen es so gerne taten, ballte siedie Faust und schmetterte sie mir mit voller Wucht gegendas Kinn, so daß ich nur noch Sterne sah.

Mein auserwähltesOpfer schien nicht nur ein kokettes und selbstbewußtes, sondern auchein jähzorniges Persönchen zu sein, denn ich erhielt die heftigsteTracht Prügel meines bisherigen Lebens: Idra kratzte, schlug, trat aufmich ein und biß mich. Sie glich eher einer Straßenkatzeals der süßen Bardin, als die ich sie kennengelernt hatte.

Vielleichthätte ich sie überwältigen, zu Boden ringen oder niederschlagen können,wäre ich von dieser heftigen Attacke nicht so vollständig überraschtgewesen.

Sagarta rettete die Situation glücklicherweise, bevor ein Fremder auf unsaufmerksam wurde. Sie bemerkte: »Meine liebe Freundin, ich glaube, dasist genug!« Prompt hielt der Prügelhagel inne, und ich mühtemich auf die Beine, während Idra sagte: »Oh, meine Liebe,wie schön, dich zu sehen!«

»Würdest du uns auf dein Zimmergeleiten?« fragte die Priesterin leise. »Aber ... der Kerl daist ein Ungeheuer, ein ...«

»Er wird dir nichts tun, meineLiebe, glaube mir«, war Sagartas schlichte Antwort, die die Bardinzu überzeugen schien. Sie warf mir noch einen düsteren Blickzu und ging hinein.

Als wir das kleine Pensionszimmer erreicht hatten,bat Sagarta Idra, sich auf das Bett zu setzen, wasdiese auch gerne tat. Die Priesterin legte ihr nun dieHände auf die Schläfen und begann, eine Formel auf Bosparanozu rezitieren, und bald sank der schlanke Körper Idras aufdas Bett zurück.

Leise winkte Sagarta mich näher. »Nun kannst duvon ihr trinken. Doch vorsichtig und nicht zuviel! Dann lösche ich ihreErinnerung an deine Ungeschicklichkeit von eben. Du solltest mit mehr Bedachtvorgehen, Fion!«

»Ja, Herrin«, murmelte ich beschämt, beugte mich über Idraund biß in ihren Hals. Ich trank langsam und wenig,obwohl sie köstlich schmeckte. Entgegen meiner Erfahrungen bei der ersten Jagd gelang esmir mühelos, mich zu beherrschen und ihre Wunde wieder zuschließen. Als ich zurücktrat, beendete Sagarta den Zauber, woraufhin wir denLorbeerzweigund das Orkendorf gen Boroninsel verließen. Ich hatte wieder einmalerfahren, daß das Vampirsein gelernt sein wollte.

KAPITEL 2 – Die sichelförmige Mada

Irgendwo pfiffjemand die ›Efferdnacht‹. Die wehmütigen Töne verhallten in der einsamenGasse, nur der regelmäßige Takt von Schritten war hörbar. Dannverstummten auch diese letzten Geräusche in der Nacht: Die Gestalt,die sie verursacht hatte, verschmolz mit den Schatten eines Gebäudes.Atemlose Stille hing über diesem Teil Havenas, dem Herzen desOrkendorfes, wo sonst übles Gesindel und Abschaum seinen zwielichtigen Geschäftennachging. Ein leises Keuchen zwischen zwei Häusern brach die Spannung,und die hochgewachsene Gestalt setzte sich lautlos in Bewegung. Flink