DSA 27: Die Boroninsel - Lena Falkenhagen - E-Book

DSA 27: Die Boroninsel E-Book

Lena Falkenhagen

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Beschreibung

Erster Band der Rabenchronik Mein Blick schweifte zur düsteren Boroninsel jenseits des Hafenbeckens. Bis vor wenigen Tagen noch hätte ich nicht gedacht, daß irgend jemand so töricht sein könnte, die Insel freiwillig zu betreten, und heute stand ich selbst vor diesem Schritt. Ich wußte, ich mußte mich Boron stellen, oder der Gott der Toten würde meine Seele in ewige Verdammnis senden.

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Lena Falkenhagen

Die Boroninsel

Rabenchronik I

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 27

Kartenentwurf: Ralf Hlawatsch E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-453-12684-X (vergriffen) E-Book-ISBN 978-3-86889-902-3

Widmung

IchwareinneugeborenerVampirundweinteüberdieSchönheitderNacht.ANNERICE

GewidmetseidiesBuchalljenen,diesovielFreudeanHavenahabenwieich.

MitDankanHeiko,dereineunersetzlicheQuelle desZuspruchesfürmichist,undanKarli,fürbereitwilligesGegenlesen.

Prolog – Borons Arme

EinRabekrächzte.

Ichglaube,erwecktemich,dennderseltsamklagendeTonseinesSchreisdrangalserstesinmeinBewußtsein. Mühsam hobichdenKopf–erschmerzte.DieAugenwarenverklebtundtrübe,alshättesicheinSchleierdarübergelegt.MitderHandtasteteichnachderWange,diesichsteifundkaltanfühlte,undstießaneineharteKruste.Blut?Ja,Blut,dasgleicheBlutwieaufmeinenHänden,meinemHals,meinemKittel–meinBlut.IchführtedieFingerweiter,zurStirn,woeinePlatzwundenochimmerdumpfpochte.DochdieBlutungwarzumStillstandgekommen.

LangsamkehrteLebeninmeinekaltenGliederzurück,undichnahmauchdenSchmerzinderSchulterwahr,dasverkrampfteZiehenindenBeinen.DerAtemgingnurschwer,dieLungebrannte.MeinganzerKörperwarzerschunden.

AmschlimmstenaberwarderSchmerzinmir:dieTrauer.Ichwollteweinen,wieichesfrüherimmergetan hatte, eng geschmiegtan den Busen meiner Mutter.ZornmischtesichzuderTrauer,derZorndesHilflosen,dernichtsbewegen,nichtsändernkann,undichwollteaufirgendetwas,irgendjemandeneinschlagen,wollteschreien.DochkeineTränebenetztedieblutverschmierte Wange,dieFäusteballtensichhilflos,undkeinSchreientrangsichmeinerKehle.Ichkonntenichtmehrweinen.ZuvielwargeschehenindenletztenWochen,zuvielhattesichverändertinmeinemLeben.IchsahdasGesichtmeinesVatersvormir,dieseseinstmalsfreundliche,offeneGesicht,nunvonnamenlosemHaßverzerrt.Ichsah,wiesichmeinDolchtiefinseinHerzgrub.IchsahmeineMutter,derstolzeBlickihrerAugengebrochenundleer.»Fion...«stammeltesie.

»Fion!«ImmerwiedersahichdieseGesichter,wievorherschoneinDutzendMaleinmeinenTräumen.»Fion...«

»OGötter!Boron,hilf!«IchpreßtedieFingeraufdieOhren,aberderHallvonMuttersStimmeverklangnicht,würdeniemalsverklingen.Übelkeitschütteltemich,ichwürgte,dochmeinMagenwarleer.

Ichrafftemichauf,sodaßichaufdenKnienzusitzenkam.StrohwaruntermeinenFüßen,darunterHolz.BratengeruchdrangmirindieNase.IchhatteHunger,schrecklichenHunger;dochderGedankeangebratenesFleischzwangmichneuerlichzumWürgen.JetztschmerztederKopfnochheftiger.

DerEssensduftbrachtemeineGedankenwiederzurückzudemOrt,woichmichgeradebefand.WarichvonSinnengewesen?Zumindestentsannichmichwederdaran,woichwar,nochdaran,wieichhierhergekommenwar.MeinBlickschweifteumher,nachVertrautemsuchend,undendlicherkannteich,woichmichbefand:aufdemZwischenbodenderScheunedesEscheundKork.StrohbündeltürmtensichzugelbenTrolltreppenandenWändenbishochunterdashölzerneSchrägdach.DortobenlagenBalkenauflotrechtenPfeilern,reichtenvomBodenbiszumäußerenRanddesDaches.SenkrechteStützentrugenweiterinnendasDach;manmußtesichumsieherumschieben,wennmanaufeinemderliegendenBalkenvondereinenSchrägseitezuranderengehenwollte.DieHolzschnitzereien,diedortobenandenhöchstenStützbalkenangebrachtwaren,sahichfastvormir:Jahreszahlen,NamenundseltsamgezackteZeichen,vondenenKinderannehmen,daßihnenmagischeBedeutungeninnewohnen.RötlichesAbendlichtdrangdurcheinehalbgeöffneteHeuluke,dieimWindschwangundbisweilenmitdumpfemKlangzufiel.Eswarkalt.

Ichrafftemichauf,standaberrechtunsicheraufdenFüßen.IchwarkeinTroll,darumfielesmirschwer,mireinenWegdurchdieStrohbündelzubahnen,vorbeianderStiege(diehinunterzumfestgestampftenBodenderScheuneführte)hinzurHeuluke.EinBlickdurchdenlinken,denklapperndenLadenzeigtemireineschattigeStraße,gepflastert,aufdernurwenigeMenschenunterwegswaren.DieScheunelaganeinerderstillenSeitengassen,dievondergroßen,belebtenFürstenalleeabzweigtenundtieferinsOrkendorfführten.

EinkalterWindstoßfegtedenBratengeruchbeiseite,dermeinenMagennochimmerzumRevoltierenbrachte.IchsogdieLufttiefeinundschloßdieAugen,lauschtemeinemHerzschlag.

ZurückbeimeinemkaltenLagerineinerStrohmulde,inderichschonsomanchfröhlicheStundeinerfreulicherBegleitungverbrachthatte,sahichdenDolch.ErlagblutverschmiertzwischendengelbenHalmen,beschienenvoneinemschwachenLichtstrahl,derdurcheineRitzeimDachfiel.Ichstarrteihnan,alskönneichihnverschwindenlassen,ungeschehen machen, wasmit ihmgetanwordenwar.Docherblieb,woerwar,undesheißt,daßnichteinmaldieGötterinderZeitzurückwandernkönnen,umbegangeneFehlerwiedergutzumachen.

IchnahmdenDolchauf–er wogschwerinmeinerHand–undrichtetedieSpitzeaufmeinHerz.BraunesBlutbeflecktedieschönehelleKlinge.WesSchuldwareinTod?DesDolches?DerHand?DesHerzens?Wessen,wenndasHerzihnnichtwünschte,dieHandsichsträubte,derDolchihntrotzdembrachte?

MeineHandzitterte.MeineSchuldwares,nurmeine,daranließsichnichtdeuteln.UndeineSchuldmußbezahltwerden,sobesagenesdieGesetzevonPraiosundKönig.

DieSpitzedesDolchesruhtenunaufmeinerBrust –einleichterSchmerzverkündete,daßdieHautschongeritztwar.DochdieHandzittertenochimmer,dieWaffewarsoschwer,daßichsiekaumhaltenkonnte.HätteichgenügendKraft,denStichzutun?BraunesBlutaufderKlinge.Würdeessichmitdemrotenmischen?IchbetrachtetedenDolch,wieichesschonsohäufiggetanhatte–dochnichtmehrfreudentrunkenüberdiegroßzügigeGabeausedlerHand,nichtmehrstolzüberdieEhre.Ichbetrachteteihn,alssäheichihnzumerstenMal:diegeschwungeneParierstange,diewieeinsanftesSaussah,andenEndenkleineLöwinnenköpfemitaufgerissenenMäulern,dieAugenauswinzigenRubinen.MeinBlickwandertezudemGriffausfesterSteineiche,zudemrundenstählernenKnauf,andemeineQuasteausstruppigenFädenhing.AndenabgeflachtenSeitendesKnaufeswarenMusterindasMetalleingearbeitet;ichkratztediebrauneKrustefort.ZumVorscheinkameinWappenschild,indemsichzweiSchwerterkreuzten.

MeineHandmitdemDolchsankhinab.DieGabeeinessotapferenMannesfüreinetapfereTat–nichtfüreinenTodvoneigenerHand.DochwardasGeschenknichtschonbesudelt,dieGunstvertan?Ichwußteesnicht,konntenichtentscheiden,obRechtoderUnrechtgeschehenwar.Werwarich,daßichsolcheszubeurteilentrachtete?EinGeweihter?EinPrinz?EinKönig?LachenentrangsichmeinertrokkenenKehle,dochohneFreude.EinStallknecht,dersichzumRichterüberLebenundTodaufschwingt,wohattemandergleichenschongehört?DaswarSachederadligenodergeweihtenHerrenundDamen.

Geweiht...EinGesichtstiegvormeineminnerenAugeempor,einblassesGesicht,schönundtraurig,umrahmtvonschwarzemHaar.AuchdieAugenwarenschwarzgewesen,undichhattedasGefühlgehabt,daßsiebisinmeinInnersteszuschauenvermochten.Kaltwarmirdabeigeworden,dochderBlickderPriesterinhatteMitleidverkündet.Hattesieesgewußt?Schondamals?DochdiesesDamalswarjageradeerstübereinenMondher,sovieleswargescheheninsokurzerZeit...

IchhatteBorongefrevelt,dessenwarichmirgewiß.DochsichhierdasLebenzunehmen,hieße,sichdemUrteildesDunklenGotteszuentziehen.Wennichsterbensollte,danndurchdasGerichteinerGeweihten.Kurzzögerteich,schloßdanndieFingerfest umdenGriffdesDolches.IchnahmnichtdieStiegezumBodenderScheunedesEscheundKork,sondernkehrtezurückzurLukeinderAußenwand.IchöffnetedieLädenhalb,dannließichmichmühsamdiezweiSchrittzurStraßehinab,dieichsonstachtlossprang.ZwarschmerztederKörpernoch,aberdaraufkamesnunnichtmehran.Ichwußte,daßdiePriesterinnurzueinemUrteil kommenkonnte,doch sie sollteesimSinneBoronsfällen,nichtichUnwissendermitnamenloserSchwärzeimSinn.IchbegabmichaufmeinenWeg.

Obmanmichnochsuchte?Ichkonnteesnichtsagen.Ichachteteauchnichtdarauf.DieGassegeradeaus,rechtsentlangundaufdieFürstenallee.IchkanntediesenTeilHavenasnichtgut,dochmeineFüßefandenihrenWeg.DieMenschenimabendlichenOrkendorfstarrtenmichan–selbsthiermußtemeinÄußeresungewöhnlichwirken.AugenpaarumAugenpaarzoganmirvorbei,mustertemich,meinenDolchundschautedannunbeteiligtanmirvorbei.Hierkümmerteeskeinen,wenichgetötethatteundwarum.Hierkanntemanniemandenundhattenichtsgesehen.ImDreckderFürstenalleetummeltensichspielendeKinder,undHundebalgtensichumAbfälle,HurenundLustknabenverschwandeninSeitengassen,alsichkam.IchrochnachÄrger.

EndlichstandichamKai,vormirdasHafenbecken.DieletztenStrahlenderAbendsonnestreiftenmeinGesicht,wärmtenesjedochnicht.DerHimmelimWesten,überdemMeerderSiebenWinde,warindunklemPurpurgerötet,WolkentürmtensichzuflauschigenGebirgen.EineBövomFlußließmichfrösteln,mitsichtrugsiedenfauligenOdemderverfluchtenUnterstadt.

IchsahzurückzurStadt.SchönwarHavena,trotzdesGestanksunddesDrecks.Soschön,daßesmirdieTränenindieAugentriebindemBewußtsein,dieGassenundMärkteniewiederzusehen,niewiedermiteinerSchankmagdzuschäkern,niewiederdenDuftderköniglichenGärtenzuerhaschen,indenTavernenundSchenkenaufdenHahnenschreizuwarten.

NunschweiftemeinBlickzurBoroninsel,diefinsterimHafenbeckenlag,vonfastallenViertelnHavenasaussichtbar.BisvorwenigenTagenhätteichniemalsgedacht,daßjemandandersalsdieunheimlichenGeweihtensotörichtseinkönnte,dieInselderTotenzubetreten;heutestandichselbstamUferdesGroßenFlussesundkonntenochimmerentscheiden:EntwederstürzteichmichhierindiekaltenFluten,oderichginghinüber.Dochichwußte,ichmußtemichBorondortstellen,oderderGottderTotensandtemeineSeeleinewigeVerdammnis.

IchgingzudemSteg,aufdemichfrüherschon gewesenwar,umeinenTotenindieTotenbarkezulegen.DerLeichnamwarvonderPriesterinabgeholtworden.Aufmichwarteteniemand.

AndenbenachbartenStegendümpeltenkleineFischerbooteankurzenStrickenaufdemWasser;derGeruchnachFischwarallgegenwärtig.Ichginghinüber.Möwenkreischtenklagend–einLaut,denichschonimmermitHavenaverbundenhabe.HavenaisteinetraurigeStadt.

Aus einem der Fischerboote ragteein Paar Stiefel. Schnarchen drang unter der Wachshaut hervor, dieüber den Holzrumpf gebreitet war, und ich roch Gebrannten.Grob trat ich mit dem Schuh gegen die Stiefel,und prompt verhielt das Schnarchen. Die Wachshaut bewegte sich,jemand rappelte sich umständlich auf, und ein Gesicht schob sichunter dem Stoff hervor: strähniges graues Haar über einemfaltigen Gesicht mit einer großen roten Nase, wulstige Lippen,dahinter Zahnstummel, zwischen denen eine erloschene Pfeife hing. Diegeröteten Augen blinzelten, weiteten sich dann, und ein ungläubiger Blickwanderte zu einem gehobenen Schnapskrug.

»Du siehst richtig, Weib«, sagte ich,wunderte mich selbst über den festen Klang meiner Stimme. »Legdie Ruder ein und schiff mich zur Boroninsel.«

Wieder weiteten sichdie Augen, und die dicke Frau kratzte sich unter derspeckigen Lederschürze am Busen. Was sie sah, konnte ich nurahnen, doch es mußte zum Ziel meiner Reise passen: derInsel Borons, des Gottes, der den Tod bringt. Aufder Boroninsel verweilen nur der Todesgott, seine Priester unddie Toten, die dort Monumente erhalten, die niemand sehen will.Wir Havener meiden den Tod, bis er an uns herantrittund den Preis für das Leben fordert.

Die Alte nun wälzteihren massigen Leib herum, stopfte die Wachshaut unter die Ruderbankdes bedenklich schwankenden Schiffchens und nickte. »Komm«, murmelte sie anihrem Pfeifenstiel vorbei. »Die zu den Toten wollen, soll man nichtaufhalten!« Ein meckerndes Lachen drang aus ihrer Kehle, doch inihren Augen stand Furcht. Mir war es recht.

Ich bestieg daswacklige Gefährt, und während sich die Schifferin in die Riemenlegte, schöpfte ich mit einer Hand Wasser, um mirdas Gesicht notdürftig zu reinigen. Die Wunde an der Stirnsparte ich aus, ich wollte sie nicht wieder aufreißen.

Ich sahdem untergehenden Praiosschild entgegen, das nun, groß wie ein Wagenrad,langsam im Meer der Sieben Winde versank. Er würde unterder Derescheibe hindurchrollen, um sich dann aus Richtung Rahjawieder zu erheben. Ein neuer Morgen würde kommen – nichtjedoch für mich. Ich schluckte.

Schlag für Schlag tauchten die Ruderblätterin das glatte Wasser, kräuselten es, ließen Wellenkreise tanzen,glitten haarscharf über die Oberfläche, eine silberne Spur Wasserfädenhinter sich herziehend. Und wieder senkten sich die Blätter insWasser, in einem fort.

Dann verlangsamten sich die Ruderschläge derFischerin, und unwillkürlich sah ich auf: Nahe lag dieBoroninsel, so nahe. Der hohe Tempel ragte gewaltig vor unsauf, finster und furchteinflößend. Doch nicht deshalb trieben wir nunungesteuert im Hafenbecken, nicht die drohende Boroninsel allein hatte dieAlte innehalten lassen: Aus den Wassern stiegen Nebel empor, zunächstdünne Schlieren, die geisterhaft über den schwärzlichen Fluten hingen, sichjedoch bald verdichteten und zu dicken Wolken ballten. Diese Nebelschwadenwälzten sich uns nun entgegen, griffen mit dünnen kaltenFingern nach uns und dem kleinen Boot, bis wir, vomSchwung der letzten Ruderschläge weitergetragen, ganz darin eintauchten.

Im selbenMoment stieß die Schifferin ein entsetztes Keuchen aus, ergriffdie Ruder und legte sich ins Zeug wie eine Rasende.

»Willdich haben, der Gierige Alte, hm?« murmelte sie in sichhinein, so daß ich es kaum verstand. »Hast ‚ne dringendeVerabredung mit Seinem Schnabel?« Ich wußte, daß sie keine Antworterwartete. Zwischen den Schultern und unter den Achselhöhlen bildeten sich bald dunkle Flecken auf ihrem Kittel, und vomSchweiß und Nebel klebten ihr die Haare am Kopf. Nochimmer murmelte sie Worte in die erloschene Pfeife, derenSinn mir verschlossen blieb.

Ich sah unserem Ziel entgegen, das nunnicht mehr als ein nächtlicher Schatten war, der sich unszu nähern schien. Ob Er wirklich auf mich wartete,der ›Gierige Alte‹?

Mein Grübeln wurde jäh von einem Ruck und dem Knirschendes Schiffsrumpfs auf dem Strand des Eilands unterbrochen: Ichwar am Ziel. Mit klammen Gliedern kletterte ich aus dem Boot und wandte michan die Fischerin. »Höre, Alte, ich nenne keinen Kreuzermein eigen. Doch wenn du magst, nimm diesen Dolch. Erist sehr wertvoll, davon kannst du ...«

Doch die Frau unterbrachmich hastig: »Nichts soll er mir geben, hat schon genugzu geben, nicht? Die alte Tuar will ihm nicht auchnoch was nehmen, will sie nicht ... Will auch nichtnachts auf der Insel der Toten bleiben!« Sie versuchte hastig,ihr Boot mit einem der Ruder vom Strand abzustoßen.Ich half ihr dabei.

»Sollst aufpassen, Bursche, der Alte ist gierig«– sie dämpfte die Stimme –, »gibt sich nicht mit einemStückchen zufrieden, nein, nimmt immer alles, wenn du nicht aufpaßt!Hör auf die alte Tuar, hör auf sie: Laß dir nicht mehr nehmen,als du geben kannst, hörst du?« Das Klatschen von Ruderblätternauf der Wasseroberfläche und Tuars immer gedämpfter klingende Stimmekündigten an, daß sie sich entfernte, denn sehen konnte ichsie in dem Nebel schon bald nicht mehr.

Doch ich schauteihr noch lange nach. Ohne sie – die Alte, dieich kaum kannte – kam ich mir einsam und verlassenvor. Wie ich ihr durch die Schwaden in die Dunkelheitnachblickte und dem verhallenden Platschen der Ruder lauschte, konnte ichmir einbilden, daß sie noch nahe war, daß ichnicht allein war am Strand dieses unwirtlichen Eilands, während dieNacht mich umschloß. Ich wußte, würde ich mich umdrehen, wäredie Frau weit fort, und ich müßte mich meinem Schicksalstellen.

Kein Laut war mehr zu hören – kein Ruderschlag. Das Atmen fiel mir schwer,und doch sog ich die Luft tief ein und wandte mich um, gingden mit dunklen Steinen übersäten Strand hinauf.

Bald schon stieß ichauf einen schmalen Weg, der ebenfalls vom Strand ins Inselinnere führte, doch von einer Stelle etwasweiter südlich, als Tuar mich abgesetzt hatte. Der Strandwar nur ein dünner Streifen, dahinter war die Erde mitdürrem Gras bedeckt.

Ein Rabe krächzte.

Ich schaute auf und fand ihnin der Nacht als mondbeschienenen Schemen, auf einem Grabstein sitzend,in den das Gebrochene Rad eingearbeitet war. Er sah mich an, und kalteSchauer liefen mir den Rücken hinab. Sein Blick drang in mein Herz,und er schien zu krächzen: ›Geh weg, geh weg, Mensch!Du lebst noch, du hast hier nichts zu suchen! Gehweg! Geh weg!‹ Er krächzte wieder und wieder.

Ich gab keineAntwort, sondern ging stumm meines Weges, das Haupt gebeugt.Rechts und links ragten weitere Grabsteine auf, doch ichsah nicht mehr auf. Der Weg unter meinen Füßen warsteinig und von Flechten und Moosen überwuchert. Dann dräute eingrößerer Schatten im Mondlicht, und ich hielt inne.

Der Tempeldes Boron erhob sich schwarz vor mir. Große und schwereBasaltsteine fügten sich silberbeschienen zu einer schwarzen Mauer, jeder einzelne sohoch, daß er mir bis zur Brust reichte. Das Gebäudewar kantig und schmucklos; ich stand vor seiner langenFront, unmittelbar vor dem Portal. Es öffnete sich ins Innere,ohne Torflügel, ein Gang erleuchtet von schwachem, unwirklich blauem Licht.

Vonwem nur mochte dieser gewaltige Tempel erbaut worden sein?Denn daß er gewaltig war, daran bestand kein Zweifel, dasDach mochte sich mehr als zwölf Schritt über dem Bodenbefinden. Ich hatte ein solches Bauwerk noch nie gesehen –auch keine Gebäude, die ihm ähnelten. Es sah uraltaus. Mochte es aus der Zeit vor dem Großen Seebebenstammen? Ich konnte mir kein älteres Gebäude vorstellen; fast schienes, als sei es gemacht, der Vergänglichkeit Deres zutrotzen.

Ich tat einige langsame Schritte vorwärts, durchschritt das Portalund gelangte in einen Gang. Mit einer Hand berührteich immer die rechte Mauer. Kaum hatte ich wenige zaghafteSchritte in das Halblicht getan, da erkannte ich dieQuelle der seltsamen Helligkeit: Gwen Petryl, Efferdsfeuer, das Licht derGötter. Blinzelnd gewöhnten sich meine Augen an das milde Licht,und jetzt konnte ich den Gang mustern, in demich mich befand. Er war hoch, umfaßte die gesamte Höhedes Gebäudes bis zum Dach. Genauso breit wie dasPortal, mochte er ganze vier Schritt messen.

Der glimmende blaue SteinbefandsichmirgegenüberaneinerWand,aufdieichzuging.EinigeSchrittenoch,danneröffnetesichmirinseinemScheineineTreppe,diehinabführteindieDunkelheit.OberhalbihresunterenAbsatzesaneinerWandwardasReliefeinesriesigenRabenzusehen,derinseinemSchnabeldenGwenPetrylhieltundmichmitseinemeinenAugeanzustarrenschien.

Ich schaute mich weiter um und bemerkte nun die indie Wände geschlagenen Bilder: Unmittelbar neben mir, über die gesamteLänge von Gang und Treppe, erstreckte sich die Darstellungeiner hitzigen Schlacht. Vorn links schwang sich ein großer schwarzerRabe gerade über das Schlachtfeld, und wo er entlangflog, da starben dieMenschen in Scharen. Die Darstellung des Sterbens war so vielfältigund so unmittelbar, daß ich wie gebannt stehenblieb. Ich saheine Kriegerin, in deren Leib eine große Hellebarde steckte.Die Frau klammerte sich noch im Sterben daran fest, ihrAntlitz zeigte gräßliche Schmerzen. Neben ihr starb ein Mann mitgekröntem Helm gemeinsam mit seinem Pferd im Feueratem eines Drachen– er verbrannte bei lebendigem Leib. Seine Augen ...seine Augen waren schrecklich und schienen mir zu folgen, wohin ichmich auch wandte. Sie waren im Todeskrampf gen Alveran verdreht und traten fast aus den Höhlen.

Ich hatte Menschen sterbensehen, zwar nicht in der Schlacht, doch der Tod ändertsein Antlitz nicht, gleichgültig, wie er sein Opfer ereilt.

Ich entsannmichnochgenauderAugen,derGesichter,qualundschmerzverzerrt,dochdiesegemeißeltenWandbilderzeigteneinenhundertfachenTod.SiezeigtendenMörderundseineWaffe,dieindenLeibdesvonBoronVerurteilteneindrang,zeigtendasLeiden,denTodeskrampf,denAugenblickdesInnehaltens,gefolgtvomErschlaffendesKörpers,immerwieder,überall–derTodwarallgegenwärtig.AbgeschnitteneKöpfe,aufgerisseneWänste,blutende, verstümmelte Gliedmaßen, und über allden grausigenGeschehnissensankenwieschwebenddieFedernderRabenschwingenieder.DieBilderderTotentratenausdemSteinhervor,verschwammen,wurdenfarbig,echt.IchhörteKampfgetümmelundKreischen,dieFeuerlohedesDrachenhüllteauchmichinglühendheißeFlammen,TodesschreiegelltenmirindenOhren–und,lauteralsalles andere, erklang das Krächzen eines Raben ...

Keuchend –ich hatte nicht bemerkt, daß ich den Atem angehalten hatte,während ich die beklemmenden Bilder studiert hatte – rangich nach Luft. Schwarze Flecken tanzten mir vor den Augen,und die Wände um mich herum schwankten. Um nicht nocheinmal zu dem Schlachtengemälde schauen zu müssen, das zwar wiedergrau und starr war, aber immer noch voll der grausamenErinnerungen der Sterbenden, sah ich zur Treppe hinüber, zu demRabenrelief. Nun las ich die Lettern, die seine Gestaltin silbernem Bogen umrahmten:

ERNIMMTSICH,WASSEINIST

DasRabenprofilblinzeltemichan,dieSchwingenwarenangelegt,eineKralleerhoben,imSchnabelglimmtederbläulicheStein.GwenPetrylgiltalsGabederGötter–dieGabe,dieBorondemMenschenbringt,istderTod.

Ichatmetetiefdurch.DieTreppevormirführteinundurchdringlicheDunkelheit, undichzögertenicht,dasLichtdesEfferdfeuers zuverlassen.StufefürStufeführtemichhinab,meinSchattenhuschtevorweg.DerSteinaufdemBodensahrissigundaltaus,dieKantenderStufenwarenvonvielenFüßenabgeschliffenundrund.Warenhier,imTempeldesTodes,einstmalssovieleMenscheneinundausgegangen?HattemandemDunklenGottinHavenavorJahrhundertensohingebungsvollgehuldigt?

DieRechteimmeranderunebenen,gefurchtenWand,tauchteicheinindieSchwärze,dieichwillkommenhieß.UnterdenFingernspürteichdieWölbungenundVertiefungenvonSteinmetzarbeiten,diesichinmeinemGeistzuschauerlichenTodesszenenzusammenfügten,gegenstandsloszwar,dochaufwühlendunderschreckend.LieberstolperteichblinddurchdieGänge,alsdasGrauendersteinernenTotentänzemiteigenenAugenzuschauen!

DieLuftrochmuffig,abgestanden,meinelangsamenSchrittehalltenlautaufdemStein.EinFiepenschrilltedurchdenGang,vielfachzurückgeworfen.EineRatte?Hier?Ichhoffte,daßBorondenTotenSchutzgewährtevordenwiderwärtigenNagern.

Ichzögertenicht, mäßigtekaummeinenSchritt.DerhallendeKlangmeinerSchuhewurdelauter,ichhattedasGefühl,daßsichderGangerweiterthatte. Womochteichmichnunbefinden,wasumgabmich?MeinePhantasiemalteerschreckendeBilderindieSchwärze,genährtvondenErinnerungenandasWandgemäldedesGanges.Rocheshiernichtsüßlich,nachTodundVerwesung?IchtrautemeinenSinnennichtmehr,meineAugengaukeltenmirhellenLichtscheininderFinsternisvor.IchblinzeltedenSchweißausdenAugen,währendmeineOhrendenätherischenGesangeinerFrauenstimmezuvernehmenglaubten.HellundklarstiegenundfielendieTöne,ohne Worte, ohne Sinn. Nicht klagendklang es, keineTrauerschwanginderStimmemit,diegespenstischdurchhohleGängezuhallenschien.KonnteesimHeiligtumBoronsGeistergeben?OdernarrtenmichmeineSinnenunvollends?

FußfürFußgingichweiter,langsamernun,daichohnedenHaltderMauerzumeinerRechtenvorankommenmußte.WiedertanztenhelleLichtpunkte,undichvermeinte,einunregelmäßigesEchomeinerFußtrittezuvernehmen.IchverhieltmeinenSchritt.DeutlichhörteichTappen, daseinenHerzschlagspäterebenfallsverstummte.Mirwurdekalt.Ichwartete,biszumäußerstengespannt,langeAugenblicke.DannließichdenangehaltenenAtemleiseentweichen.Ichwarnichtallein.

Undtatsächlich.Schritte,festernun,bewegtensichsicherdurchdieDunkelheit.DertanzendeLichtfleck, denichvorkurzemzuerkennengeglaubthatte,vergrößertesich,strahlteHelligkeitab,bisichimScheineinerLaterneeineGestaltsah.EineschwarzeRobeverbargdenLeibimHalblichtsovollständig,daßnurihrAntlitzalleinüberdemBodenzuschwebenschien.EinblassesGesicht,umrahmtvonschwarzemHaar.KohlengleichedunkleAugen,derroteMundeinestrengeLinie.SchonbeiunserererstenBegegnunghatteichmirnichtssosehrgewünscht,alsdaßsichdieseernstenLippenzueinemLächelnvollFreundlichkeitverzögen,daßdasharte,traurigeGesicht,dasjeglicheFröhlichkeitzunichtemachte,Mildezeigenmöge.Jetzt,andiesemdüsterenOrt,wünschteichesmirmitjederFasermeinesLeibes,sehnteichmichnachetwasWärmeinderKältemeinerSeele.

DieFraubewegtesich,undStoffraschelte.DieLippenöffnetensich,undeinefastunhörbarleise,abervolleundwohltönendeStimmedranganmeinOhr.»SeiwillkommenimReichderToten,Sterblicher.WasführtdichzuIhm?«Undsiesahmirweiterunverwandt in dieAugen, dasGesichteine starreMaske.

MeinGeistwarleer.IhrekohlschwarzenAugendurchbohrtenmich,undichfühltemichnacktundbloß.EinTeilmeinesBewußtseinsformtedieWorte,derenthalbenichgekommenwar:»Ichbinhier,weil Ermichrief.Ichbingekommen,SeinenRichtspruchzuhören,dennichhabegefrevelt.«MeineBeinegabennach,undichfandmichkniendaufdemBodenwieder.MeinHerzraste.

DiePriesterinwandtedenBlicknichtvonmeinenAugen,langsamverzogensichihreMundwinkel,einkleinwenignur,dochichhieltdenAteman:Sielächelte!AuchdieAugenblicktennunwärmer,nichtmehrkaltundhart,undplötzlichwußteich,daßesnebenBoronsUnbarmherzigkeitauchnochMarbosGnadegab.MeinwilderHerzschlagverlangsamtesich,undichwurdeganzruhig.Wasauchimmermicherwartete,eswürdekommen.Ichhattealleshinter mirgelassen, dem Lebenoben auf jenenStufenentsagt.NungaltnurnochderAugenblick.

Daszarte,etwasungeübteLächelnderFrauhatteeineatemberaubendeSchönheitaufihrAntlitzgezaubert.DieZügederfeinenHauterinnertenmichaneineweißeBüsteimFürstenpalast,die die Baronin Nahema von Dela zeigte, die Ratgeberin desFürsten Toras. Wie das alabasterne Abbild der Frau aus längstvergangenen Jahrhunderten strahlte das Gesicht der Priesterin vollkommene Ruhe aus,auch in ihren Augen stand – wie bei unsererersten Begegnung auf dem Kai – das Wissen um dieeigene Macht geschrieben. Die schmalen schwarzen Brauen hoben sichnun ein wenig, fast spöttisch. Sie hob leicht die Hand,um mir zu bedeuten, mich zu erheben, wandte sich umund schritt mir voran durch die Halle.

Am Schall meiner Schrittein der Dunkelheit hatte ich erkannt, daß ich mich ineinem großen Raum befand, doch nicht einmal im Scheinder Laterne erkannte ich seine wahren Ausmaße. Wir bewegten unsin einer Kuppel aus flackerndem Licht, um die die Dunkelheitherumfloß: Vor uns teilte sie sich, doch hinter uns glittsie wieder zusammen wie die dunklen Fluten der Unterstadt.Die Priesterin bewegte sich vor mir so sicher durch denRaum, als wisse sie genau, wohin sie sich wenden müsse;die Laterne ließ sie unbeachtet herabhängen. Sie schien kein Licht zubenötigen, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, doch mir spendetedas bißchen Helligkeit Sicherheit und Wärme.

Der Schein unserer kleinen Laternefiel auf Schwärze, die nicht vor dem Licht floh: Eingroßer Schemen ragte vor uns auf. Ich sah genauer hinund erkannte die Umrisse einer bestimmt doppelt mannshohen Rabenstatue,deren Augen schwarzkristallen glitzerten. Sie blickte auf mich herab, barjeder Freundlichkeit, und hier, vor Seinem Antlitz, wurde mir zumersten Mal wirklich klar, was Sein Richtspruch bedeuten konnte.Nicht Mitleid noch Gnade sprachen aus den harten Rabenaugen, keinFunken Barmherzigkeit stand darin geschrieben. Doch war ich nicht gekommen,um zu sterben?

Vor der Statue stand ein ebenmäßiger großerBasaltblock, darauf ein eiserner Leuchter mit fünf schwarzen Kerzen.Auch in diesen Stein hatte sich schon eine kleine Muldeeingeschliffen, in der ich nun, da die Priesterin zum Altartrat, braunverkrustete Reste erkannte. Die Frau öffnete die Abdeckungder Laterne, holte die Kerze heraus und entzündete damit diefünf Lichter auf dem Altar.

Dann wandte sie sich um. »ImNamen des Schwarzen Raben spricht zu dir, Sterblicher, Sagarta.Ich bin Auge und Ohr des Dunklen Gottes und werdedir Seinen Richtspruch verkünden. Berichte nun, was sich zugetragen hat und weswegen du hier vor dem Angesicht Boronsstehst. Doch bedenke: Er ist der Tod, und Sein Gericht nicht milde. Hastdu Ihn dir einmal zum Richter erkoren, ist Sein SpruchGesetz.« Ich nickte stumm.

Sagarta wies mir einen Platz auf einem der schwarzenKissen vor dem Altar zu, und ich setzte mich. Ichlockerte die verkrampfte Linke, und klappernd fiel der Dolch zuBoden. Sagarta betrachtete ihn kurz, setzte sich mir dann gegenüberund nickte mir zu, die Geschehnisse zu berichten, derenthalben ichgekommen war.

1. Kapitel – Wiedersehen

»Schau,Fion,wiedasGoldglänzt!«flüsterteFianna.SiestießdenZeigefingerindenfeinenStaub,vondemeine helle Schichtan derKuppe haften blieb. »EsglitzertgenausowiedieJuwelenderFrauIdra.NurdaßessofeinnochvielschöneraussiehtalsimStück!«Fiannamühtesichnun,denGoldstaubwiederindasflacheGefäßzustreifen,ausdemsieesaufgenommenhatte,dochdiepudergleicheKostbarkeithattesichindieFurchenderHautgelegt,undderFingerschimmerteimmernochgelbgolden.

»Fianna,sind die Stäube vermischt? Du weißt doch, daß die Weise FrauHesinde es nicht gern sieht, wenn bei der hohen Kunstder Alchimie getrödelt wird.« In der freundlichen Stimme des Mannesschwang ein tadelnder Unterton.

Fianna fuhr herum, strich sich mit derLinken die braunen Locken aus dem Gesicht, während sie dieRechte mit dem Goldstaub hinter dem Rücken verschwinden ließ,wo sie nun Zeigefinger und Daumen heftig aneinanderrieb, um denverräterischen Schimmer abzustreifen. Fion beugte sich derweilen tief übersein Flechtwerk aus Wirselkraut; die langen weißblonden Strähnen hingen ihm in die Stirn und verbargenungenügend, daß er sich nur mit Mühe ein Grinsen verkniff,indem er sich fest auf die Lippe biß.

Ganz dasBild sechzehnjähriger Unschuld, färbten sich Fiannas Wangen leicht rötlich, sieschlug die Augen nieder und stammelte: »Ja, Euer Gnaden,das weiß ich schon. Der Dechsenschwanz ist ja auch zerstäubt, ich muß ihn nur noch mit dem Goldstaub vermischen.«Sie wandte sich wieder ihrem Tischchen zu und betrachtete dieFinger: Ihre Bemühungen hatten nur dazu geführt, daß derGoldstaub nun fein auf DaumenundZeigefinger verteilt war. Sounauffällig wie möglich rieb sie den Staub in den Drecklappen,der immer bereitlag, und übertrug so den Goldfleck darauf. Miteiner geschickten Bewegung kippte sie den feinen Goldstaub in dasGefäß mit dem pulverisierten Eidechsenschwanz und vermischte beides sorgfältig mit dem Stößel.

Fionwar nun mit dem Flechten der Wirselkrautblätter fertig. Erhatte sie so locker wie möglich zu kleinen Netzen gebundenund jedes einzelne immer wieder an das Gefäß angepaßt, indem die Zutaten dann noch eine Woche ruhen mußten. Zufriedenbegutachtete er sein Werk: Keines der Flechtwerke ragte überden Rand hinaus, und keines war zu klein, als daßes den Inhalt der Tiegelchen nicht vollständig abdecken konnte.

»Sehr gut,Fion. Das ist genau richtig. Ich hätte es nicht bessergekonnt.« Der Hesindegeweihte Dialann drehte und wendete die Blattnetze inden Händen und nickte noch einmal. In sein hellblondes Haarmischten sich die ersten grauen Strähnen, die grauen Augen gemahntenan einen sturmumtosten Tag auf hoher See. Seine Miene warernst, doch freundlich, und er hatte immer ein Lob fürdie jungen Leute bereit. Seine hochgewachsene Gestalt überragte Fionum gewiß einen halben Spann, doch war der Jüngere kräftigergebaut. Alles in allem sah Fion ihm sehr ähnlich. Indie grüngelben Roben eines Hesindepriesters gehüllt, verriet nur diefleckige Lederschürze, daß Dialann ein passionierter Alchimist war; der goldene Schlangenreif, der seinen Hals zierte, mochte dazu schlecht passen.

»Danke,Euer Gnaden!« Fion freute sich sehr über das Lob, denndie Alchimie war eine schwierige Disziplin, in der kleineFehler schreckliche Auswirkungen haben konnten. Doch den Unterricht, denDialann ihm und Fianna in ihrer freien Zeit erteilte,liebte Fion über alles, ebenso das Laboratorium, in dem siearbeiteten. Verstaubte Regale mit Tiegelchen, Schatullen, Glasphiolen mit farbigenFlüssigkeiten, Ölbrennern und Dreifüßen, gläsernen Destillierkolben, tönernen undsilbernen Mörsern mit ebensolchen Stößeln, Filtern, Bronzeund Tonfläschchen,deren Etiketten die verschiedensten Inhalte kennzeichneten, wie etwaGratenfelserSchwefelquell, Heiltrank, Schlaftrunk, Antidot,Säckchen mit Meditationskräutern ... Unddas meiste davon roch ganz wunderbar, besonders die Meditationskräuter.

Fiannatrug den Mörser heran und stellte ihn vorsichtig nebendas geflochtene Wirselkraut auf den Steintisch. Dialann würde nun auchihr Werk begutachten. Der Hesindegeweihte nahm prüfend eine Prise des Gemischs auf und ließ es zwischen den Fingern wieder hinabrieseln. Fion und Fianna hatten erwartet, daßihm der Goldstaub – wie bei Fianna – an denFingern kleben bleibe, doch war er inzwischen so vollständig mit dem Pulver desDechsenschwanzes vermischt, daß kein Hauch mehr an Dialanns Kuppen haftete.DerGeweihtenickte.»Dasistebenfallsäußerst gut gelungen. Das Pulver ist sehr schwierigherzustellen.DuhastsehrgeschickteHände,Fianna!«DerMannsahdasMädchenzufriedenan,dasvorFreudeeinwenigaufdenZehenspitzenwippte.

DochdannhieltFiannaruckartiginneundfragtedenGeweihtenvorsichtig:»Sagt,EuerGnaden,wiewirkensichdieMengenbemessungenaufdasGelingendesHeiltrankesaus,zumBeispielwennmanetwasfalschabgewogenhat?«

DialannließbereitseinenTeildesPulversindengroßenMörsergleiten,bewegtedasGefährteinwenighinundher,damitderBodengleichmäßigbedecktwar,undgriffnacheinemderWirselnetze.ErhieltesmitbeidenHändenüberdenMörser,umdasKrautmöglichstanallenSeitengleichzeitigmitdemPulverinBerührungkommenzulassen,währenderantwortete:»AufdieMengenkommtesnatürlichganzbesondersan.BeidemGoldstaubzumBeispielistdasäußerstwichtig.HastdueinenHauchzuwenig,istderganzeTrankverdorben.«EinLächelnumspielteseineLippen,alser dasKräutergeflechtindenMörsergleitenließ.Fiannawurdeeinwenigblaß,ihrevollenLippenverzogensichzudünnenStrichen,dierehbraunenAugenwurdengroßundrund–dochsieschwieg.FionkanntediesenTonDialannsundglaubtenicht,daßestatsächlichaufeineFingerspitzeGoldstaubankam...WiederunterdrückteereinGrinsen.

DerältereMannschichtetenunnochzweimalabwechselndPuderundKrautindasGefäß,umschließlichdieSchüsselmitdemMorgentauzuergreifen.

»Fion,nimmdasTuch«,sagteDialannruhig,undderAngesprochenetatwieihmbefohlen,ergriffdasblaueSamttuchundhieltsichbereit.Miteinemsehrflachen kellenartigenLöffel schöpfte der Geweihte nundieFlüssigkeitabundträufeltesielangsamaufdieobersteLagederKräuter.Sobalderdamitfertigwar,gaberdenleisenBefehl:»DasTuch!«UndFionlegteraschdenStoffüberdasGefäß.

Dialannentspanntesich.»Gut.Soweitfürheute.WennihrmorgendieZeitfindet,fahrenwirmitderKalligraphiefort,mitdemTrankkönnenwirsowiesoerstineitlerWocheweiterarbeiten.Fianna,duräumstnocheinwenigmitmirauf;Fion,deineMutterwartet.«

FiondrehtesichraschzurTürum,wotatsächlichseineMutterstand.Cailynwareineherbe,aberrechtschöneFrau.Siehieltsichstetseinwenigsteif,besondersinGegenwartvonhöherenHerrenundDamen.IhrerotenLockenhattesiezueinemPferdeschwanzgebändigt,unddieZügewärensinnlichzunennengewesen,hättedanichtfastimmerderetwastraurige,verkrampfteZugumihrenMundgelegen,dersiehartundunfreundlichwirkenließ.SeltenlegtesiediesenZugab,undwennsieestat,dannindenAugenblicken,dasieDialannmusterte,wiejetzt.FionstreiftedieSchürzeabundtratzuseinerMutter,dieihmvorandenRaumschonverließ.

DochderjungeManndrehtesichaufderSchwellenocheinmalzudemGeweihtenum,derdasfrischgefüllteGefäßgeradevorsichtigzumFenstertrug,umes hinter dessen Butzenglasscheiben den noch schwachwärmendenPraiosstrahlendesTraviamondesauszusetzen.»SollichdirnachhernochdieSchweifhaarebringen,Vater?«fragteFion.Dialannnickte,währendersichdieÄrmeldergelbgrünenRobe hinunterkrempelte und die Schürze abnahm. »Ja,bitte,Fion,undzwarvonderkrankenStute,ja?«FionnickteundwandtesichzumGehen.

Fiannafragtehastig:»TreffenwirunsspäterimStall?«

FionschüttelteheftigdenKopf.»Hastduesnichtgehört?Rhuadistwiederda!ErhatsichervielvonGaremundLowangenzuberichten!«Damitginger,umseinerMutterbeiderabendlichenFütterungderköniglichenPferdezuhelfen.

FiannasahFionnocheinenAugenblicklanghinterher.Rhuad war wieder da? Der Prinz?Sieschluckteschwer,wischtemitdemLappenziellosaufdemSteintischherum.Wiegutnur:Dialannließesnichtzu, daßFion die Unterweisungen schwänzte! EineStundeamTagverbrachtesiealsozumindestmitFion,eineStunde,inderRhuadvergessenwar.

»Siehzu,daßderBraunenichtkeilt!Ersollsichdasgarnichtangewöhnen!«CailynverschwandüberdieStiegenachoben,wosieundFionsicheinekleineKammerteilten;überihremArmstapeltensichlöcherigePferdedecken,dieeszuflickengalt.

FiontätschelteSiocthadenHals,bewundertenocheinmaldasprachtvolleeisgraueFelldesgroßenHengstes,dergemütlichseinenHaferzerkleinerteunddenmenschlichenStörenfriedmiteinemSeitenblickdeslangbewimpertengroßenAugesbedachte.SiocthawurdenurvonKönigCuanuundPrinzessinInvhergeritten,diedienötigestarkeHandbesaßen,ihnzuzügeln.

DerKnechtschloßdiezusätzlichgesicherteVerschlagtüresorgfältig,damitdaskraftvolleTiersienichtaufsprengenkonnte,undfüllteseinenEimerausdemFutterkastennach.

DamitgingerzumanderenEndederStallgasse,öffnetedieTürdesletztenVerschlagsundbegrüßtedenübermütigenGalahanmiteinemKlapsaufdieFlanke.WährendSiocthagroßundwuchtigwar,wirkteGalahanelegantundwendig.DerBraunestanddemgrößerenGrauenvermutlichanSchnelligkeitinnichtsnach–inseinenAdernfloßschließlichdasBlutderGoldfelserShadif.

RingsherumwarendasgenüßlicheMahlenundScharrenderanderenTierezuhören,dieschongefüttertwaren,esrochintensivnachStroh,MistunddenAusdünstungenderPferde–Eindrücke,dieFionzeitseinesLebensmitderVorstellungvon›zuHause‹verbundenhatte.

Der Braune warf den Kopf auf und ab und schnaubteungeduldig.DieVorderhufescharrtendasStrohbeiseite,derSchweifpeitschtedieFlanken.»He,Brauner,he,nurruhig!«rauntederKnechtdemjungenHengstzu.DasPferdsollteerdemnächstbesseralseinesdererstenfüttern,nichtalsletztes,dann wäreesauchnichtsounruhig.FionliebtedenHengst–erwarsowildundfrei.ErließnurMenschenansichheran,dieermochte,undFiongehörteglücklicherweisedazu.

DerStallknechtstrichamHalsdesHengstesentlang,drängtedasschwereTiermitsanfterGewaltbeiseite,umdieRaufemitHaferzufüllen.Staubstiegauf,alserdenEimerentleerte,undFionriebsichdiejuckendenAugen.DerprachtvolleGoldbraune,derden edlenNamen›FlammevonKuslik-Galahan‹trug(allerdingsnurkurz›Galahan‹odereben›Brauner‹genanntwurde),warvorzweiGötterläufeneinTsatagsgeschenkderKronprinzessinInvheranihrenBruderRhuadgewesen.

EinroterBlitzschoßdurchdienurangelehnteStalltürherein–Lasógkamimmerpünktlich,wenngefüttertwurde,undaufderStallgassevordemVerschlagjaulteesbalddaraufungeduldig.DerHundklopftemitderdichtbehaartenrötlichbraunenRuteaufdenBodenundsahausgroßendunklenAugenherzerweichendzuFionauf,wannimmerdereinenBlick aus dem Verschlag warf. Endlich hatte der StallknechteinErbarmen,griffinseineSchürzentascheundkramteeineWurzelhervor,brachsieentzweiundwarfdenkleinerenTeildemHundvor,dersichgierigdaraufstürzteundmitsiegreicherhobenerRutewiederzurStalltürhinausverschwand.LasógwarderLiebling der Dienerschaft undschrecklichverwöhnt.

FionschobsichnunandemgierigfressendenPferdvorbeihinausausdemVerschlag,alsereinPfeifenhörte–seinHerzschlugschnellervorFreude.

EswardieeinfacheMelodieeinesfröhlichenbäuerlichenTanzliedesnamens›MinjasHochzeit‹,dasFiongutkannte–undauchdenjenigen,deresgernpfiff.Ersahsichum.

ImRahmendesStalltorslehnte,dieHändevorderBrustverschränkt,RhuaduiBennain,dereinzigeSohnKönigCuanus,seindrittesKind.ErstandinderTür,wieeresimmergetanhatte:dunklesbraunesHaar,dasihm,inderMittegescheitelt,indieStirnfiel,dunkelblaueAugen,indenenesjederzeitneckischfunkelte,vonlässigerHaltungundschmalerStatur–daßRhuadallerdingsnichtschwachwar,hatteFionschonoftfeststellenmüssen.WiegewöhnlichtrugerelegantedunkleKleidung,diefürdiekühleJahreszeitvielzuleichtschien:einschwarzesSeidenhemdmitPerlmutterknöpfen,eineengeschwarze Hose und, als einzigen ungenügenden SchutzgegendieKälte,einendünnenManteldergleichenFarbe,amKragenmitdemseidigenFelldesSchattenlöwenverbrämt.

AufdenLippentrugderPrinzjenesunvergleichlicheLächeln,daservonseinerschönenMuttergeerbthatte,vondemerallerdingsweithäufigerGebrauchmachtealsdieKönigin:NureinMundwinkelschwangsichnachoben,aberbeideendeteninfeinenGrübchen,währenddieAugenfreudigblitzten.Eswareinstrahlendes,gewinnendesLächeln,vollHintergründigkeit,konnteesdochFreude,IronieundSpottgleichermaßenausdrücken.Fionwarnochniemandembegegnet,dersichRhuadsLächelnentziehenkonnte,demesgelungenwäre,dabeiernstzubleiben–erselbstschongarnicht,undsolächelteerfreudigzurück.

»Na,meinStallknecht,istdieArbeitgetan?«RhuadhatteeineschönemelodischeStimme,dieauchsehrleiseihrevolleWirkungentfaltete–Fionhatte esnochniemalserlebt,daßRhuadgeschrienodergebrüllthätte.

»Nochnichtganz,meinPrinz.EuerBraunerfrißtnoch,dannbrauchterfrisches Wasser, und das Sattelzeug will auch geputzt werden– Gareth hat keine anständigen Stallknechte, wie?« Er hieltden Nasenriemen des an der Verschlagtür aufgehängten Zaumzeugshoch, dessen Leder abgewetzt und brüchig war.

Rhuads Lächeln wurdenoch ein wenig breiter. »Nein, und unanständige auch nicht!« Daraufhintrat er schnell näher und zog Fion zu einer rauhenBegrüßung in die Arme. »Es tut gut, dich zusehen, Fion. Ich war zu lange fort.«

Fion nickte. Nach Erhaltder Magierweihe in der Lowanger Akademie war der Prinz fürweitere zwei Jahre in die ferne Stadt zurückgekehrt, um dort›interessante Studien‹ nachzuholen, wie er sich ausgedrückt hatte. Zwarwar er im letzten Praios, vor drei Monden, kurz inHavena gewesen, um den Tsatag Königin Idras mit seiner Familiezu begehen, doch war er nur für wenige Tagegeblieben. Just in dieser Zeit war Fion selbst mit Coír (Fiannas Vater,der den Bediensteten am Königshof vorstand) nach Fairnhain gereist, um den Hengst