Die liebe Angst - Liane Dirks - E-Book

Die liebe Angst E-Book

Liane Dirks

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Beschreibung

Der Romanklassiker zum Thema sexueller Missbrauch bleibt ungebrochen aktuell »Euer Vater hat wieder etwas angestellt«, sagt die Mutter zu den Kindern, wenn sie die Koffer packt. Und da ist sie wieder, diese »liebe wütige Angst«, wie Anne, die zu Beginn der Geschichte vier und am Ende elf Jahre alt ist, dieses Gefühl des Unbeschützten nennt. Das Mädchen erzählt die Geschichte seiner Kindheit, von der Liebe zum Vater, der mit seinen Träumen und Märchen alles verzaubern kann, der seine Sehnsüchte aber auch mit Alkohol und Sex stillt und dabei nie satt wird und seine beiden Töchter sexuell missbraucht, über Jahre hin. In den dreißig Jahren seit der Erstveröffentlichung hat Liane Dirks die Debatten um das Thema begleitet und mit Betroffenen biografisch gearbeitet. In ihrem Vorwort zeigt sie die Langzeitfolgen für die Opfer auf, aber auch die Bedeutung des Themas für unsere Gesellschaft: Eindringlich fordert sie eine tief gehende Debatte über Wertschätzung und Schutz unserer Kinder, aber auch über ein neues Verhältnis zu unserer Sexualität, jenseits von Sadomaso.

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Seitenzahl: 184

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Liane Dirks

Die liebe Angst

Roman

Kurzübersicht

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> Inhaltsverzeichnis

> Über Liane Dirks

> Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

MottoVorwortDie liebe AngstDankNachwort
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Unsre Schwester ist klein und hat keine Brüste. Was sollen wir mit unsrer Schwester tun, wenn man um sie werben wird? Ist sie eine Mauer, so wollen wir ein silbernes Bollwerk darauf bauen. Ist sie eine Tür, so wollen wir sie sichern mit Zedernbohlen.

Das Hohelied Salomos 8,8

Es war einmal ein arm Kind und hatt kei Vater und kei Mutter war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat greint Tag und Nacht. Und weil auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verreckt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warens klei golde Mück, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein

Georg Büchner, Woyzeck

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Vorwort

Als ich Kind war, gab es einen Satz, den ich über die Maßen liebte und zugleich mehr als alles andere fürchtete. Er war mir Verheißung und Fluch, er bot den Ausweg und prophezeite zugleich etwas ungeahnt Schreckliches. Sonnenhell stand er über mir, und doch, wenn das, was er besagte, tatsächlich der Wahrheit entsprach, dann kam er auch einem Todesurteil gleich, zumindest dem Ende von allem mir Bekannten. Ja, so weit ging meine Furcht und doch entschied sich etwas in mir für das Sonnenhelle. Und dies war der Satz: Die Sonne bringt es an den Tag.

Eine unumstrittene Wahrheit, eine Tatsache: Jeden Tag bringt die Sonne uns den Tag und zeigt uns alles, was es gibt, in Licht und Schatten. Aber natürlich bedeutet dieser Satz viel mehr, sie bringt »es« an den Tag und dieses »es« ist das Verborgene, das Geheime, das Verbotene und es ist das Grausame und es ist das, was nicht richtig ist. Ich wusste als Kind, dass etwas nicht richtig war und dass ich ebendies nicht sagen durfte. Das war mir mehr als eingeschärft worden. Sollte ich es dennoch sagen, laut heraus, sodass alle Welt es hören konnte, dann würde ebendiese Welt antworten, und zwar damit, dass ich nicht richtig war. Ich saß als Kind in einer Falle. Sagte ich, was nicht richtig war, dann würde alles bisher Gewesene, alles was mich hielt – man nennt es Familie und damals, als Kind, kannte ich noch nichts anderes –, zusammenbrechen, und ich wäre daran schuld. Oder: Man würde sagen, dass ich log, und alles bis dahin Erlebte würde ich weiterhin erleben, allerdings in verschärfter Form. Zum Glück war also die Sonne da, die ja viel mächtiger war als ich und viel größer, sie würde es für mich erledigen: Es an den Tag bringen. Allein, die Sonne schien unendlich viel Zeit zu haben und die Schmerzen in der Nacht, die panische Angst, die sich in den kindlichen Körper einfraß, sie nahmen überhand. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und half nach und ich glaube heute, die Tatsache, dass ich nachhelfen konnte, hatte sehr viel damit zu tun, dass das Gefühl für richtig und falsch stark in mir ausgeprägt war. Etwas in mir war stark, es konnte der Sonne helfen, egal was danach geschah, Licht war besser als Dunkelheit. Der Vorhang sollte aufgehen und nicht länger zu, Letzteres war stets der Auftakt zu dem gewesen, was mir geschah und um was es hier geht.

 

Kindesmissbrauch ist nicht lustig. Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt. Kindesmissbrauch ist ein grausames Verbrechen.

Sie werden zustimmen, wenn Sie diese Sätze lesen.

Aber stimmen Sie auch zu, wenn ich schreibe, Kinder wissen, was richtig und was falsch ist?

Neuere Studien aus dem Bereich der Neurowissenschaften, der Psychologie und der Erziehungswissenschaften belegen, dass Kinder mit einem Moralgefühl auf die Welt kommen; sie haben eine Ethik, wenn sie auf die Welt kommen, sie bringen Grundmuster helfenden Handelns mit. Bereits im Säuglingsalter teilen Kinder und sie nehmen Anteil. Sie helfen, sie sind achtsam, auch wenn sie niemand dazu auffordert, ja gerade dann. Kleinkinder haben nachgewiesenermaßen ein Gefühl für Gerechtigkeit, sie stellen sich zugunsten Schwächerer zurück. Ist das nicht eine sensationelle Nachricht? Der Mensch ist gut! Zumindest von Haus aus, von Beginn an.

Ein seltsames Gefühl überkommt einen beim Betrachten der Experimente, die es braucht, um diese Aussage als eine wissenschaftliche abzusichern. Unermüdlich, ja mit geradezu äußerster Barmherzigkeit, zeigt das Kind dem unbeholfenen Erwachsenen im Experiment, wo die Tür zu öffnen ist, gegen die er ständig anrennt, damit er endlich seine Bücher ablegen kann, sein Ziel erreicht. Selbst wenn die Mutter vom Geschehen ablenken will, das Kind steht auf, um zu helfen. Wie sehr müssen wir die Menschenwürde austesten, bis wir an sie glauben? Wie viele Versuche müssen wir noch machen, bis wir akzeptieren, dass Kinder ganze Menschen sind?

 

Erst im Jahr 1962 entdeckte ein amerikanischer Kinderarzt das Syndrom des »battered child«. Der aus Breslau stammende Dr. C. H. Kempe wurde wegen dieser Entdeckung zweimal für den Nobelpreis nominiert. Ihm haben wir das Wort zu verdanken: »child abuse«, Kindesmissbrauch. Ein Begriff, der inzwischen zu unserem Alltagswortschatz gehört, fast hat er schon Spuren von Abnutzung. Aber man mag sich erinnern: Bis weit in die 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein hielt man in psychoanalytischen Kreisen noch immer die Schilderungen von sexuellem Missbrauch für Wahnvorstellungen, für das, was man einst als Hysterie bezeichnete. Ausgerechnet derjenige, der das Phänomen des realen, sexuellen Missbrauchs und des Inzests bereits ein knappes Jahrhundert vor Dr. Kempe aufgedeckt hatte, hatte es kurz danach wieder verleugnet. Der Mann hieß Freud. Sein Vortrag, gehalten im Jahre 1896 vor einem kleinen Kreis Wiener Kollegen, in dem er thematisierte, dass es Väter gab, die ihre eigenen Töchter missbrauchten, war nicht gut angekommen. Für die Durchsetzung und Weiterentwicklung seiner Theorien war es besser, das heiße Eisen nicht mehr anzufassen bzw. es anders zu schmieden. Ein Jahr später, 1897, behauptete Sigmund Freud das Gegenteil und sorgte dafür, dass wir es fortan mit Fantasien zu tun hatten und nicht mehr mit realem Inzest oder sexueller Gewalt an Kindern durch Nichtfamilienangehörige. Jahrzehnte mussten vergehen, bis endlich Freuds Ziehsohn, Sándor Ferenzci, sich vom mächtigen Übervater in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts distanzierte in einem Vortrag mit dem bezeichnenden Titel »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind«. Mit diesem Vortrag wurde die Traumatologie begründet, Ferenczi zeigte auf, zu welchen Störungen das reale traumatische Ereignis des sexuellen Übergriffs führt, zu wie viel Not, Verzweiflung, Krankheit, Leid, zu welch bisweilen lebenslangen Folgestörungen. Allein, Ferenczi blieb so gut wie ungehört.

Die Sonne bringt es an den Tag.

Wie viel Leid, wie viele Krankheiten und Zweifel, wie viel Selbstzerstörung wäre den Opfern von Kindesmissbrauch erspart geblieben, hätten mehr Menschen den Mut gehabt, ihnen zu glauben und sich dem gesellschaftlichen Konsens, dem Tabu, damit zu widersetzen? Ein Tabu, das sich aus der Annahme speist, dass Kinder lügen und dass Erwachsene, die sich an ihre Kindheit auf nicht zu akzeptierende Art erinnern, ebenfalls lügen. Und wie viel mehr Kraft, Unbeschwertheit, Lebensfreude hätten diese Menschen in unsere Gesellschaft bringen können, wenn gerade diese Kraft nicht auf perfide, grausame Art und Weise unterdrückt worden wäre?

 

30 Jahre ist es her, dass ich das Buch »Die liebe Angst« schrieb. Ich schrieb es zu einer Zeit, als die Partei Die Grünen gerade neuen Wind in die politische Landschaft brachten, ein Wind, der auch meinen Überzeugungen Auftrieb gab; ich war gegen Atomkraft, für Abrüstung, für mehr Umweltbewusstsein. Ich lernte Petra Kelly und Joseph Beuys persönlich kennen und hatte kurzfristig ein Gefühl davon, wie es ist, endlich angekommen zu sein inmitten der Gesellschaft. Aber genau zur selben Zeit plädierten »Die Grünen« dann dafür, die Pädophilie straffrei zu stellen, sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern zuzulassen. Die Hoffnung, die Befreiung der Gesellschaft sei auch meine Befreiung, sie würde mir endlich die Möglichkeit geben, meine Wahrheit sagen zu können, und das war die der angstbesetzten Nächte, sie war dahin. Ich war wieder dort, wo ich als Kind schon war, in der Falle; es gab kein Entrinnen, um dazuzugehören, musste man sich selbst verleugnen. Kindesmissbrauch als ebendas zu benennen, was er ist: Missbrauch – es war nicht opportun. Und doch tat ich, was ich schon als Kind getan hatte, ich brachte meine Wahrheit in die Welt, auch wenn ich sehr lange dafür brauchte und der Prozess des Schreibens keineswegs einfach war. Diesmal stärkte mich noch eine weitere Erkenntnis. Der Umgang mit dem Kindesmissbrauch ist nur eine zugespitzte Form eines generellen Phänomens: Wir trauen ja fast alle unseren eigenen frühen Wahrnehmungen nicht, dem tief eingeborenen Gefühl von richtig und falsch. Ich wusste also, dass ich nicht allein war, und ich wusste, dass man Inzest nicht erlebt haben musste, um mitfühlen zu können, um auch bei sich Aspekte dieses Vorgangs in abgewandelter, milderer Form entdecken zu können. Und das ist ja die Voraussetzung für Verständnis und Mitgefühl.

 

Als im Jahr 2013 die Debatte um ebendieses Verhalten der Partei ausgelöst wurde, da erinnerte ich mich wieder an meinen Satz aus der Kinderzeit: Die Sonne bringt es an den Tag.

Aufarbeitung ist gut, sie tut not. Letztlich ist und bleibt sie die einzige Chance für eine Art der Heilung. Aber zu dem Bewusstsein derer, die aufarbeiten wollen bzw. sollen, sollte auch die Erkenntnis gehören, dass dies erneut auf Kosten derer geschieht, deren Leid durch die Aufarbeitung wieder wachgerufen wird. Besonders deutlich wurde dies zuletzt am Fall der Odenwaldschule. Erschütternde Berichte erwachsener Menschen aus ihrer Schulzeit, in der ihnen so viel Leid angetan wurde, und kaum jemanden ließen diese Berichte kalt, eben weil man sah, dass selbiges Leid wieder wach wurde. Der Fall verdeutlichte aber auch, dass die Opfer der Taten einen Schutzraum brauchen, in dem sie sich anvertrauen, eine Öffentlichkeit, in der sie als Mensch gesehen werden und ihre Menschenwürde gewahrt bleibt. Die Grenzverletzung wiederholt sich, wenn das eigene Schicksal in einem quotenträchtigen Film erscheint, so geschehen im Fall des ARD-Films »Die Auserwählten«. Mag die Absicht des Films auch gut gewesen sein, der Umgang mit den Betroffenen war desaströs unreflektiert.

 

Viele Menschen fragen sich, wieso Missbrauchsopfer sich oft erst so spät zur Tat äußern. Oft wirft man ihnen das sogar vor. In der Nähe von Köln führte der Fall eines Pfarrers dazu, dass eine ganze Gemeinde kämpfte, um ihren geliebten Pfarrer im Amt zu halten, nachdem bekannt geworden war, dass er mehr als dreißig Jahre zurück Kinder missbraucht hatte. Er gab die Taten zu. Aber warum meldeten sich die Opfer erst so spät? Und das führte auch zu Empörung: Musste das noch sein, so lange her, konnte denn keine Ruhe sein, der Mann machte doch solch eine gute Arbeit?

Wie schön wäre es, wenn wir uns stattdessen fragen würden, wieso Menschen über derart lange Zeiträume ihnen angetanes Leid unterdrücken müssen, ihre Wahrheit nicht sagen können, sich so lange mit etwas verstecken, was sie beschädigt hat. Wie viel psychischer Druck, wie viel Angst wirken von außen und von innen auf einen Menschen ein, damit er so lange schweigt? Und die meisten, machen wir uns nichts vor, schweigen für immer. Sie nehmen lieber Antidepressiva, haben seelische und körperliche Spätfolgen und sie tun alles, um einen Teil ihres Selbst zu verstecken und zu verleugnen, einen Teil, der das genaue Gegenteil braucht, Liebe, Anerkennung, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Heilung.

Viele dieser Menschen sind durchaus erfolgreich im äußeren Leben, sind kreativ, emphatisch und in verantwortungsvollen Positionen. Viele dieser Menschen habe ich kennengelernt, sie haben mir geschrieben oder sind in meine Seminare gekommen, denn trotz der äußeren, perfekten Anpassung war und ist da immer noch innen drin diese spezifische Art von Traurigkeit und von Alleinsein, da ist dieser Ort des Schmerzes, an dem man weiß, was menschenmöglich ist. Oft habe ich den Eindruck, traumatisierte Menschen erkennen sich am Blick, sie wissen es: Du bist auch so eine oder einer, du hast es auch erlebt, den Angriff auf die Seele. Ein Erleben, das einem das Innerste nehmen wollte, das Namenlose, Reine, das unschuldige Selbst, das, mit dem wir auf die Welt kommen.

Es ist das, wonach es die Täter verlangt, weil sie es in sich nicht mehr finden können. Es ist das, wonach sie süchtig sind, es ist das, was einem Kind schon allein dadurch genommen werden kann, dass man es fotografiert, dass man sein Bild nimmt, sein Bild von ihm wegnimmt. Ein Bild, das Freude auslösen sollte, das schön ist, Nacktsein als Kind, wie viel Unbeschwertes liegt darin. Aber das Foto wird für etwas ganz anderes benutzt werden. Für einen traurigen, erbarmungswürdigen Akt der Selbstbefriedigung, der eben gerade nicht befriedigt.

Welch Aufschrei im Falle des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy, welche Ängste, die offen im deutschen Feuilleton Niederschlag fanden: Nun dürfen wir keine Nackedeifotos mehr von uns und unseren Kindern zeigen. Wie schnell wir alle Angst kriegen, eingeengt zu werden in unserem Privatleben. Nichts hatte diese Diskussion mit dem Fall zu tun. Sie zeigte nur, wie unfähig wir immer noch sind, uns einzufühlen, was da tatsächlich mit den fotografierten und später gefilmten Kindern passiert. Dreh- und Angelpunkt beim Missbrauch ist, dass das Kind in seinem Gefühl von richtig und falsch zutiefst verunsichert, ja erschüttert wird. Kinder wissen eben doch sehr genau, wenn etwas nicht stimmt. Wenn das Foto einem anderen Zweck dient als dem vorgegebenen, wenn die Spiele keine Spiele sind. Und verleihen sie ihrem Gefühl dann Ausdruck, werden sie erneut verunsichert, man glaubt ihnen nicht. Und wenn sie Erwachsene sind und sagen, dass sie daran litten, dann verharmlost man, was geschehen war. Warum?

All die vielen Fälle – die Priester innerhalb der katholischen Kirche, die Lehrer und Erzieher der Odenwaldschule, die Heimleiter und Betreuer in der ehemaligen DDR, Polanski und Edathy… Wenn wir über den Tellerrand schauen, wird es auch nicht besser, in England flog 2014 ein Pädophilenring von ranghohen Politikern auf.

Die Sonne bringt es an den Tag. Und dann?

All die vielen Fälle, in denen aufgeklärt wurde und wird, haben eine lange Vorgeschichte des bewussten, engagierten Verbergens und Vertuschens, bei der mit allen Mitteln alles gegeben wird, damit die Sonne außen vor bleibt.

Der langen Geschichte des Verheimlichens steht eine noch längere Geschichte des Erleidens gegenüber.

Und dann fällt das Licht darauf, und es ist noch lange nicht alles vorbei. Dann setzen auf beiden Seiten die Verteidigungsstrategien ein: Die Täter taktieren und verteidigen sich mit allen zur Verfügung stehenden Argumenten, selbst das Kindeswohl wird da schon mal herangezogen, der freie Sex tut dann angeblich gut. Die Opfer verteidigen sich damit, dass sie immer noch leiden. Würden sie nicht mehr leiden, wären sie unglaubwürdig. Das ist die harte Wahrheit und das hört sich nach dem an, was Missbrauch schon immer war und ist, ein böses Spiel in einem »closed shop« – wie ich es gerne nenne. Nennen Sie es eine Falle, wenn Sie wollen. Die Situation scheint ausweglos.

Aber hier kommt die frohe Botschaft, sie ist es nicht, und dass sie es nicht ist, davon erzählt unter anderem dieses Buch »Die liebe Angst«. Im Kern erzählt dieses Buch nämlich gar nicht vom Missbrauch. Es ist vielmehr die Geschichte eines Kindes, das darum kämpft, ein Kind zu sein, ein Mensch. Es kämpft um seine eigene, ihm eingeborene Wahrheit: dass es leuchten darf. Die Tatsache, dass wir in den letzten Jahrzehnten eine so große Debatte um das Thema führen konnten, was insgesamt ein immenser Fortschritt ist, haben wir all denjenigen zu verdanken, die nicht darum kämpfen, als Opfer anerkannt zu werden, sondern als Mensch wahrgenommen zu werden. Und das ist ein gewaltiger Unterschied. Allein aus der Gegenüberstellung ›hier die Opfer, da die Täter‹ wird keine Heilung erfolgen. Erst durch die Hinwendung zu den Ressourcen, die tatsächlich beide haben, nämlich ihre eingeborene Ethik, kann sich die Falle, der »closed shop«, wirklich öffnen. Das verlangt von einer Gesellschaft viel und dieses viele ist zugleich das Mindeste: die Menschenwürde, die Ethik, als eine von Geburt an mitgebrachte Seinsqualität tatsächlich anzuerkennen. Im Endeffekt würde das bedeuten, uns mehr zu lieben auf jene Art und Weise, die den kleinen Kindern zu eigen ist, Agape, das tiefe menschliche Anteilnehmen. Wir müssten dann auch mit den Tätern anders umgehen, auch das sind Menschen und somit Gewordene. Und wir würden aus diesem Verständnis heraus unsere Hilfsangebote für Betroffene besser ausrichten. Wir würden ihnen das belassen, was sie gestärkt hat in ihrer Kindheit, wir würden nach ihrer Kraft und ihrer Würde fragen, bevor wir sie nach ihrem Leid fragen. Wir würden stiller werden, wenn sie uns erzählen. Wir würden in unserem eigenen Inneren nach dem Gefühl von richtig und falsch suchen. Wann es uns verloren ging, wo wir selbst verunsichert wurden oder wo wir klar und eindeutig sind.

Auf die Frage, wie wir mit traumatisierten Menschen umgehen sollen, die uns ihre Geschichte erzählen, hat der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh einmal so geantwortet: schweigen und zuhören und sich dankbar dafür verneigen, dass wir an ihrem Menschsein Anteil nehmen dürfen.

Das wäre doch eine Vision.

Dann würden die Vertreter von Parteien und Institutionen nicht mehr mit versteinerter Miene vor die Kameras treten und sagen: Wir entschuldigen uns bei den Opfern.

Sie würden sagen: Wir entschuldigen uns bei den Menschen.

Das wäre das Ende der Ausgrenzung. Und Ausgrenzung ist der Anfang des Missbrauchs.

Und ich persönlich glaube, dass diese Vision im Bereich des Machbaren liegt.

 

Köln, im Mai 2015.

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Einmal kam eine Frau an unserem Fenster vorbeigeflogen. Ich war noch ganz klein, aber ich hab grad hingesehen, als sie flog.

Und da hab ich gelernt, dass Menschen nicht fliegen können. Sie landete mit einem dumpfen Knall auf den Steinfliesen im Hof, und meine Mutter sagte, die hat gar nicht fliegen wollen. Die wollte stürzen.

Ich dachte, stürzen könne man nur auf den Straßen, sich das Knie aufschlagen, von dem man hinterher den Schorf abpult. Stürzen konnte man also auch aus Fenstern. Wir guckten raus. Unten lag sie verquer und ruhig auf dem Stein. Alle Menschen redeten von Stürzen, Pillen, Schüssen, Stricken und Wassern, meine Mutter auch. Sie sagte, so würde sie es auch noch tun, weil sie so arm war und leider uns Kinder hatte.

Damals wohnten wir in einem großen alten Haus mit hohen Räumen mitten in Hamburg. Die Wohnungen waren noch aufgeteilt, die Küche gehörte allen. Im Schrank gab es Abteilungen, und jeder hatte eine Tasse und einen Becher, einen Teller und einen Topf, ungefähr so wie bei den sieben Zwergen. Nachts, später, gehörte sie uns allein, wenn der Papa nach Hause kam und die Kochmütze auf den Tisch legte. Sich die durchgeschwitzte Jacke abstreifte, uns anstrahlte und rote lange Fleischlappen aus der Tasche holte. Nachts aß Familie Krisch. Leise, nur das Fett spritzte laut auf in der Pfanne und wurde schnell warm weggewischt.

Nachts holte meine Schwester sich eine kranke Leber und ich mir einen kranken Magen und wir beide uns die Liebe zum blutigen Fleisch.

Auf der anderen Seite des Korridors lagen zwei weitere Räume, dort wohnten unsere Tante Erna und »Scheißenochmal«, der hieß so, weil er das immer schrie, wenn er sich auf dem Flügel verspielt hatte. Tante Erna hatte einen Ohrensessel und eine schlanke Figur. Sie war lang, dünn, hanseatenhaft, sie hatte einen Schoß, auf dem ich saß und spitze Knochen fühlte. Bei ihr gab es die Gute Nacht abzuholen mit Geschichten, Küssen, einem Stück Schokolade. In Nachthemden liefen wir über den langen Flur, ich hatte schon das geerbte von Lou an.

Im Radio gab es einen Mann mit warmer weicher Stimme, der kam nach dem Lied, in dem man mit Rosen und Nägeln bedeckt wurde, zu sanfter lieblicher Melodie. Einmal sagte er, wir sollten etwas malen, Tiere aus dem Zoo, und es dann den Eltern zeigen und sie raten lassen, was es wohl sei. Er nahm uns nicht ernst, ich spürte das und ärgerte mich. Malte eine Giraffe, die konnte ich schon. Den langen Hals würde keiner für einen Schwan halten.

Es war meine erste große Enttäuschung von Erwachsenen. Die haben sanfte Stimmen und sind jeden Abend so lieb und so pünktlich wie am Abend zuvor und nehmen einen nicht ernst. Man malt etwas und sieht etwas, und sie dürfen noch raten, was es ist, als wäre es nicht das Gemalte und das Gesehene und auch das Erlebte.

Die Giraffen kannte ich aus dem Zoo. In Hagenbeck waren wir oft, und eigentlich hatte ich dort Verwandte. Das erzählte mir meine Mutter, denn sie hatte, noch vor meiner Geburt, den Namen Jennifer für mich ausgesucht, aber dann kam meine Großmutter und hat es ihr gesagt, dass jeder Elefant in Hagenbeck so hieße, und da bin ich anhand der Liste zu dem geworden, was ich bin.

Meine Großmutter war klein und eine von den Pralldicken, denen der Busen mit sechzig noch steht, sie roch nach Parfüm, schwerem, süßlichem, und ein ganz wenig nach Mottenpulver. Sie hatte einen Mantel aus russischer Ziege mit kleinen Locken, liebte Schmuck und Ballettknaben. Ihre Wohnung war groß, und es gab dort einen dunkelhölzernen Schrank, in dem sie Schokolade hortete. Einmal, als wir zu Besuch waren, hab ich gefragt, ob es Schokolade gäbe. Sie sagte leider Nein und zeigte ihre leeren Hände vor. Da hab ich auf den Schrank gezeigt und gesagt, da sei aber welche drin, und darauf ist meine Mutter heute noch stolz.

Manchmal war ich allein bei dieser Großmutter. Ich weiß nicht, warum, sie hasste mich und ich sie, Kinder waren ihr hauptsächlich lästig, sie zeigten ihr Alter her. Sie wollte keine Oma sein, ließ sich deshalb Muttioma nennen und von meinem Vater die runzligen Wangen und Hände küssen.

Wenn ich bei ihr war, kochte sie jedes Mal Spinat, grün und suppig, und weil ich keinen Spinat mochte, bestreute sie ihn mit Zucker, das musste ich essen.

Meine Mutter hatte Traueraugen wie Ingrid Bergman und blieb ständig unerfüllt. Es hätte alles so schön sein können. Ich liebte ihre Tränenaugen und wäre am liebsten darein gesprungen und geschwommen, umplätschert vom schönsten Leid der Welt.