Krystyna - Liane Dirks - E-Book

Krystyna E-Book

Liane Dirks

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Beschreibung

Die Geschichte einer Liebe wider alle Vernunft Warschau, im Jahr 1957. Mitten in der Nacht klingelt es an der Wohnungstür der im ganzen Ostblock bekannten Satirikerin Krystyna Zywulska, die mit einem hohen politischen Funktionär verheiratet ist. Sie öffnet und steht vor einem jungen Dramatiker, dessen Vater einer der mächtigsten deutschen Filmregisseure der Nazizeit war. Thomas Harlan alias Andreas Herking bittet sie, die Auschwitzüberlebende, ihm zu helfen. Er braucht ihr Wissen, um ein Stück zu schreiben über den Aufstand der Juden im Warschauer Getto. Und er braucht sie, um die Täter zu verfolgen, die Männer, denen er mehr Schuld gibt als seinem Vater. Und er will: ihre Liebe. Das Unglaubliche geschieht: Krystyna geht mit. Sie verlässt ihren Mann und ihre Kinder, folgt ihm nach Deutschland, Paris, Jugoslawien, Mailand und Rom – und muss erkennen, dass sie nicht Schritt halten kann. Dem Furor dieses fanatischen Mannes kann sie nicht folgen. Krystyna Zywulska hat Bücher über ihre Zeit im Warschauer Getto und in Auschwitz geschrieben, aber das Geheimnis ihrer Amour fou sorgsam gehütet. Erst kurz vor ihrem Tod vertraute sie die Geschichte der jungen Autorin Liane Dirks an, die das Tonband mitlaufen ließ und daraus einen atemberaubenden Lebens-Roman machte. Mit der Geschichte der Krystyna, erstmals erschienen im Jahr 1998 unter dem Titel »Und die Liebe? frag ich sie«, ist Liane Dirks ein ergreifendes Dokument der Verstrickungen der deutschen Nachkriegsgeschichte und des Schuldigwerdens der Opfer in ihren neuen Machtpositionen gelungen.

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Seitenzahl: 179

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Liane Dirks

Krystyna

Und die Liebe?, frag ich sie

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Liane Dirks

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Dank
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Für Krystyna Zyvulska

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Und die Liebe?, frag ich sie.

Sie stöhnt.

Nun hab ich schon so gefragt, all die langen Nächte.

Sie ist müde darüber geworden und grau, der Körper sackt zusammen.

An ihren Händen trägt sie noch immer die bunten Ringe und Reifen aus Silber und künstlichem Gold. Ihr Haar ist glatt und gepflegt. Sie hat wie immer Puder aufgelegt.

Auf dem Tisch stehen ein Tee- und ein Cognacglas, mein kleines schwarzes Tonband dazwischen.

Die Vorhänge sind offen, noch ist es hell. Die Liebe, wiederholt sie.

Ja, sage, ich.

Wir werden aufhören danach, nicht wahr?

Ja, sage ich. Bitte! Noch die Liebe. Es wird das Letzte sein.

Sie strafft sich, spannt die Muskeln an. Sie stöhnt erneut.

Gut, sagt sie; es gab sie. Und ich drücke den roten Aufnahmeknopf vom Tonband.

Es gab eine Nacht, ich erzähl sie dir, aber es wird unser letztes Band.

Es gab eine Nacht. Ich habe es noch nie erzählt, und ich mache es nur einmal.

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Der Anfang war leicht.

Ich kam durch einen Tunnel und sah sie in der Ferne sitzen. Wie eine junge Frau auf einem Mäuerchen, die Beine übereinander geschlagen, der linke Fuß wippte. Sie trug einen Plisseerock in den Farben Sand und Grau. Ihr Haar war kinnlang, dick und schwer, neben ihr stand ein Mann, mit dem sie kokettierte.

Das Licht war klar an jenem Tag, als hätte ich es mitgebracht von meiner Reise, und warme Luft umstrich noch meinen Körper, der mager war, und meine Seele, die wusste, dass etwas begann.

Darf ich euch vorstellen?, fragte der Mann.

Sie lächelte, ich habe schon von Ihnen gehört.

Das wunderte mich, denn von mir gab es noch nicht so viel zu hören.

Wir lasen gemeinsam Texte in einer Schule vor.

Sie von einem Arbeitslosen, der sich bei der Stellenvermittlung als Schwein bewarb, ich irgendetwas in meiner Erinnerung eher Pathetisches von einer Frau, die für immer wegfahren wollte. Was ja schon ein Widerspruch in sich ist, »immer« und »weg«, weil man nicht immer weg sein kann, höchstens und bestenfalls immer da. Den Text hab ich später zerrissen.

Man fragte sie, wie sie so etwas Lustiges schreiben könne, und mich, wieso so etwas Ernstes, wir redeten ein wenig, bekamen Schnittchen und tranken Tee im Lehrerzimmer.

Danach gingen wir noch ein paar Schritte bis zur Bahn zusammen, sie bescheinigte mir Begabung und dass mein Text sie an einen anderen Text erinnere, den sie einmal gelesen habe, von einer Französin, glaube sie, sei er gewesen, so etwas Ähnliches, ein bisschen anders, aber er erinnere sie.

Woran ich arbeite, was ich mache, meine Telefonnummer wollte sie wissen, sie wünschte mir Erfolg, dann stieg sie etwas behäbig in die Linie 9 ein und ich in mein schmales Leben.

 

Ich wohnte damals hinter einem Durchgangszimmer am Ende eines langen Flures. An meinen Wänden hingen Poster, an eine hatte ich den Druck eines Tafelbildes von Diego Rivera geklebt. Ein Bild voll Geschichte: Hinrichtungen, Folter, Gemetzel, Indianer, Mexikaner, berühmte Persönlichkeiten, Hunde, Kinder und Luftballons. In der Mitte das Skelett einer Dame, die Calavera Catrina heißt, mit schrillem Hut, weißem Kleid und Klapperschlange um den Hals. Mit ihren Knochenfingern hält sie den Künstler fest, der klein ist wie ein Kind, Ringelsocken trägt und in der Jackentasche Frösche. »Traum eines Sonntagnachmittags im Alameda Park.« Auf meiner Reise durch Mexiko hatte ich sehr lange vor dem Original gesessen. Rivera hatte es in ein teures Hotel gemalt, dessen Foyer war von da an für jedermann offen.

Mein Rucksack stand noch an die Wand gelehnt, auf dem Boden lag mein Bett, dreigeteilt aus blauen kleinen Matratzen. Ich hatte Locken, Sehnsucht, Angst, einen abwesenden Freund und einen Job bei einer Versicherung. Insgesamt war ich ratlos.

 

Von den zwei Jahren, die vergingen, bis sie anrief, weiß ich nicht mehr viel.

Es sind natürlich Dinge passiert, ich bin umgezogen, nicht mehr so viel verreist, habe den abwesenden Freund abgelegt, mir eine einteilige Matratze gekauft und mich etwas verwegener in den Zugwind der Einsamkeit gestellt.

Als die Zeit um war, bekam ich meine Aufgabe.

Sie schob sie mir in Form eines Buches zu. Auf dem Balkon ihrer Wohnung mit Blick über die Gärten der Stadt, nachdem wir ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten, ich einen Nescafé aus einer übergroßen Tasse getrunken hatte und die gesprungenen Biesen ihres Korbstuhles mir im Hintern und in den Beinen staken – sie hatte stets den mit der Decke.

Sie fragte mich nach der Liebe. Sie war die Erste von uns beiden, die es tat. Ich zog als Antwort die Schultern hoch. Dann kam es.

Lesen Sie das!, sagte sie. So wie ein Arzt sagt: Nehmen Sie das. Es wird ihnen gut tun. Ein Rezept.

Es war eine Übersetzung. 291 Seiten. Flattersatz. Schlechtes Druckbild. Der Einband war aus glänzender Pappe mit einer Kohlezeichnung von Bäumen drauf, deren Köpfe wie schwarzer Rauch aussahen und eine Art Spalier bildeten. Innen war ein milchiges Foto von ihr, auf dem sie den Kopf verdrehte und den Zeigefinger gegen den Wangenknochen presste, wie sie es nie tat.

Im Original hieß es »Przeżyłam Oświe¸cim«.

»Ich habe Auschwitz überlebt.«

Ich bekam das Buch mit Widmung und las es in einer Nacht.

Später rief sie an und fragte mich, ob ich durch sei.

Ich bejahte.

Und?, fragte sie.

Ich habe geweint.

Sehen Sie!, sagte sie.

Aber ich weiß bis heute nicht, ob ich sehe. Die Augen allerdings sind mir geöffnet worden.

 

In der Folgezeit besorgte sie mir einen pinkfarbenen VW-Käfer für 500 Mark; sie stellte mich ihren Söhnen, Schwiegertöchtern, Enkeln und vielen Freunden vor, versuchte unentwegt mich zu verkuppeln, ließ mir abgelegte Kleidung einer reichen Freundin zukommen, die eigentlich für arme Polen bestimmt war. Sie las sämtliche meiner Texte, empfahl mir Lektüre, lud mich zum Essen, Kaffee oder ins Kino ein. Sie feierte Weihnachten mit mir, teilte mir ihre Sorgen mit, die sich entweder auf den Zustand der Welt im Allgemeinen oder auf den ihrer Schwiegertöchter im Besonderen bezogen, aß den echten russischen Kaviar auf billigem Toast mit mir und verabreichte mir weiterhin Nescafé in großen Bouletassen.

Ich erledigte Einkäufe für sie, fuhr sie in der Gegend herum, hörte zu. Sie erzählte unentwegt Geschichten von außergewöhnlichen Menschen, die das Glück gesucht hatten, es auch tatsächlich gefunden hatten, um es dann auf seltsame Weise wieder zu verlieren.

Ihr Glaube an das Glück war unerschütterlich.

 

Ich lernte ihre Vokabeln kennen:

außergewöhnlich, ungewöhnlich, begabt, schön, groß, entzückend, phantastisch, genial, zauberhaft, verliebt, tapfer.

Hauptworte waren:

Mensch, Glück, Zufall, Humor, Tragödie. Eine Tragödie.

Das Wort Geschichte verband sie mit:

eine große Geschichte,

eine lange Geschichte,

eine außergewöhnliche Geschichte,

eine komische Geschichte, du wirst lachen.

Für sie selbst galt:

absurd.

 

Als wir einmal in einem Supermarkt an der Kasse einpackten, bekam unmittelbar neben uns ein alter Mann eine Art hysterischen Anfall.

Er habe das nicht gewollt, schrie er und zeigte auf die Nummer auf ihrem Arm, er habe das niemals gewollt.

Sodann flossen ihm ungehemmt die Tränen über seine alten Pergamentpapierwangen herab, sie versuchte ihn mit dem Arm, der ihn so aufregte, zu beruhigen, aber er ließ sich nicht anfassen, schlug stattdessen um sich, raufte seine letzten paar grauen Haare, um dann heulend zusammenzusacken auf dem schmalen Stück dreckigen Bodens zwischen den zwei Kassen.

Dort lag er und winselte, während wir das Geschäft mit unseren Tüten bereits verließen.

Das war eine »komische« Geschichte.

 

Ein anderes Mal bekamen wir im Kino einen Lachkrampf, als eine völlig aufgelöste, enervierte Shirley MacLaine es kaum abwarten konnte, bis ihr brüllendes Baby endlich einschlief, um es dann allerdings – kaum war Ruhe – sofort wieder zu wecken, weil sie dachte, nun sei es tot.

Phantastisch, rief sie und lachte derart laut und schallend auf über diese Szene, in der die Mutter ins schwarze Nichts spricht: »Darling, are you still alive?«, dann den Lichtschalter dreht und das Kind rüttelt, dass sie mich damit ansteckte. Wir konnten nicht mehr aufhören zu lachen, und weil das um uns her keiner verstand, mussten wir das Kino vorzeitig verlassen, lachend noch auf dem Bürgersteig und auf dem Heimweg im Auto auch.

Das »Baby« war selbstverständlich eine Tochter gewesen. Sie starb später an Krebs, ich habe mir den Film noch einmal angeschaut.

Jack Nicholson spielte einen versoffenen, alternden Astronauten, und das »Baby« ließ am Sterbebett drei Kinder zurück, die der Mama allesamt noch einmal tapfer die Hand gaben. Der Mann des »Babys« liebte inzwischen eine andere, die ebenso schön war und nett wie die Kranke, aber insgesamt etwas gesünder, und der deshalb niemand böse sein konnte.

 

 

 

In Rom logierte sie in einer Künstlervilla.

Eine fast blinde Jugoslawin mit Namen Sheila war bei ihr, deren Mann gerade gestorben war und die deshalb aus ihren gläsernen Augen nahezu immer weinte, sie nähte Röcke für sie, mit der Hand, aus weichen Synthetikstoffen, die sie an Marktständen ertastete.

Sie sei in ihrer Schuld, meinte sie, Sheila habe einmal für sie geschmuggelt.

Ein dürrer Künstler in Cowboystiefeln, der kleine Holzschaukästen baute, in denen Püppchen Kellertreppen runterfielen oder von kleinen Männern gerade zersägt wurden, umschlich uns des Nachts.

Ein Ehepaar klärte uns über afrikanische Rundbogenhütten und die Urform der Kuppel auf. Gelegentlich kam die zu Depressionen neigende Verwalterin mit ihren Doggen vorbei, zwei eleganten Tieren, die direkt vor unseren Augen eine Katze in der Luft zerrissen hatten.

Und ein Armenier machte ihr den Hof, weil sie die Freundin von Nâzım Hikmet, dem großen türkischen Schriftsteller, gewesen war, für ihn eine Art dichtende Ikone.

Von wegen Ikone, sagte sie, wenn der wüsste.

In Polen hatte sie schon – um den Dichter nicht zu kompromittieren – in einem Zugabteil unter den Sitzen gelegen, versteckt für ein Stelldichein mit ihm. Auf dem Bahnsteig hatte sich das Festkomitee der Partei gruppiert, Hikmet stand am Fenster. Mit der rechten Hand habe er den Polen zum Abschied gewinkt, mit der linken im Rücken winkte er ihr.

Es war wie früher, sagte sie, als sie am Boden hinter dem Gepäck unter den Deutschen lag. Aber als der Zug anfuhr, kroch sie hervor, ab da war alles anders.

Hikmet hatte sie in einer Wiese voll blühender Obstbäume kennen gelernt. Er war dem Lachen einer Frau nachgegangen, aber dann dem Tod begegnet, denn als Erstes sah er nicht ihr Gesicht, sondern ihren Arm mit der Nummer unter den Blüten.

Der Armenier holte seine Freunde hinzu, wir aßen Fisch, sie kippte Wodka hinterher und erzählte immer mehr von Nâzım: die Sammlung Nippesfigürchen, die er besessen hatte, und seine große Leidenschaft für Kitsch.

Von seiner Frau mit der Spritze sagte sie nichts, das habe ich erst später erfahren, sie war überzeugt davon, dass sie ihren Mann zu Tode gespritzt hatte, aber sie war auch überzeugt davon, dass er es gebraucht hatte.

Gemeinsam sangen wir lauthals russische Revolutionslieder auf der Straße, wie: »Ich stimme meine Gitarre auf jobtwojumat’ – fickdochdeineMutter«, im Weiteren wurde dann aber doch besser die »Popowna«, die Popentochter, vergewaltigt.

Nachts ging Flutlicht an, das Gelände war mit einer Mauer und Stacheldraht umzäunt, auf der Mauer außen war Faschistengeschmier, innen fuhr ein Wachdienst zweistündlich Patrouille, um die letzten antiken Statuen vor Enthauptung oder Abtransport zu bewahren.

Und einen Dichter gab es, der sie zu einem Gespräch einlud, weil sie in Auschwitz gewesen war und er bei der SS. Sie ging nicht hin.

 

Einmal ließ ich sie allein. Ich wollte eigene Geschichten. In einem blauen Bus fuhr ich einem Maler über enge Straßen und gewundene Serpentinen in sein Dorf hinterher.

Er lebte dort als Deutscher auf deutschem Land in einem zweistöckigen Haus auf einem Berg mit einem Wald voll Schlangen. Nachts tanzten Glühwürmchen aus dem Wald, Mondlicht fiel auf einen Eichbaum, und Schlangen huschten über das heiße Steinporträt des letzten deutschen Kaisers.

Er war wach, klein, zäh, stotterte und malte große Bilder. Als ich ankam, nahm er mich sofort. Seine Bewegungen waren kurz und heftig, es roch nach Farbe, ich hielt mich gegen einen Türrahmen gepresst, während er sich in mich stemmte.

Als wir fertig waren, hatte ich blaue Flecken, und er zeigte mir seine Bilder. Am Boden auf den Kacheln standen Einweckgläser voll kleiner Skorpione, die er der Forschung halber gefangen hielt.

Wir tranken Wein vom Nachbarn, den er verwässerte, und sahen durchs Fernglas einem Mann zu, der uns von einem anderen Hügel aus ebenfalls mit Fernglas beobachtete. Die Gläser begegneten sich – vier Augen und ein langer Blick über ein schwarzes Tal.

Am Morgen gingen wir den Kaffee in einer kleinen Bar trinken und sahen die Frauen ihre Männer zu den Bussen in die Stadt bringen. Mittag presste die Hitze ins Tal, abends saßen wir im Rot der Sonne am Rande der Luft, wo die Turmsegler schrien.

Neben uns Olivenbäume, schwarz, verbrannt, stachen ihre Arme ins All, Insekten trugen Schutt auf ihrem Rücken.

 

Ich rief sie nicht an.

Obwohl ich gesagt hatte, dass ich am Abend zurückkäme, rief ich sie nicht an.

Den nächsten Tag auch nicht, nicht den übernächsten, auch nicht den dann folgenden.

Als ich wieder vor ihr stand, sagte sie:

Du bist eine!

Ich sagte nichts.

Und wo ist er?, fragte sie.

Ich will ihn nicht mehr, antwortete ich.

Wie viele Ehen hast du schon zerstört?, fragte sie.

Ich sagte nichts.

Du bist eine, sagte sie.

 

In Rom war es, dass ich zum ersten Mal seinen Namen hörte: Andreas.

Sie sagte ihn beiläufig mit einer vagen Bewegung ihrer alten Hände, die nichts Gutes bedeutete, ein bisschen zitterte und nach unten ging.

Sie sei schon einmal hier gewesen mit einem gewissen Andreas.

Anfang 60 sei das gewesen, sagte sie.

Ich fragte nicht, aber ich vergaß es auch nicht. Die Unruhe, die sie befallen hatte bei der Erwähnung dieses Namens.

 

Wir schrieben Sketche fürs deutsche Fernsehen zu zweit und gingen nachts mit der fast Blinden durch die Stadt.

In der Fontana di Trevi stand tatsächlich schon wieder eine Anita Ekberg mit Wahnsinnsbusen und begoß ihren Körper mit Sekt.

Sie sagte, das ist doch unglaublich, dasselbe Gesicht, dasselbe Kleid, derselbe Busen, glaubst du das?

Golden ging der Mond den Himmel rauf.

Wir aßen Pizza vor Giordano Bruno mit einem dicken Italiener am Nebentisch, der ein froschgrünes Hemd über seinen Bauch gespannt trug, und zwei knutschenden Männern, die immer hersahen, ob wir auch hinsahen.

Auf dem Rückweg in die Villa wiederholte sie mir den gesamten Inhalt eines Filmes von Elia Kazan, den sie mehrfach mit den Worten genial belegte. Als ich ihr sagte, sie solle endlich den Mund halten, ich höre ihr sowieso nicht zu, da ich nämlich ausschließlich damit beschäftigt sei, die Bushaltestelle für unseren Bus in Richtung Künstlervilla, also Heimfahrt, zu finden, bekamen wir unseren zweiten Lachkrampf.

Er führte zu völliger Unfähigkeit auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen.

Du willst sagen, ich erzähle dir den Inhalt eines ganzen Filmes, jedes Detail, jede Szene, von diesem genialen Menschen, damit du etwas lernst, und du …

Ja.

 

 

 

In Rom war es auch, dass ihre Krankheit begann.

Ein Spiel der Farben mit den Zahlen.

Weiß war gegen Rot angetreten.

Rot nahm ab.

50000 hatten sie gezählt.

50000, sagten sie, das ist nicht gut.

 

 

 

Ich erfuhr etwas von einer Helga, einer zartgliedrigen rothaarigen Frau mit durchsichtiger Haut, die aufrührerische Bücher geschrieben habe, die aber schon tot sei. Auf deren Balkon habe sie gelegen, ja, hier, schon einmal in Rom, krank, damals auch krank.

Von dem Hotelzimmer neben der Spanischen Treppe, in dem Sartre vor ihr gewohnt hatte, in das man sie eingesperrt hatte mit ihm, diesem gewissen Andreas, um zu arbeiten.

Von einer Rundfahrt durch die Stadt im Fond der Limousine eines Filmproduzenten, von der sie aber nichts mitbekommen habe, denn es sei ihr schlecht gewesen. Aber der Filmproduzent sei ein sehr schöner Mann gewesen, das habe sie mitbekommen, wie ein Gott hätte er ausgesehen, ein Mensch wie ein Gott.

Ich ließ mich auf Vesparücksitzen über das Pflaster tragen, die Blinde säumte die Kleider mit Tränen und Kettelstich, auf dem Weg über den Kies zu meinem Zimmer hüpften fette Kröten. Die Kröten kamen nachts und bedeckten die Wege. Wege, Wiesen, Treppenstufen voll grauem, dickem Fleisch.

Sie fotografierte mich noch, und ich entdeckte am gefangenen Zicklein neben der Villa seinen eckig gelben Blick.

 

Gemeinsam fuhren wir ab.

Eine lange Reise durch die Nacht im Schlafwagenabteil zusammen mit einer anderen alten Frau, die uns unentwegt um Rücksichtnahme bat. Da sie ein Nierenleiden habe, seit Jahren. Und ein Gallenleiden und eventuell zur Zeit wieder sogar einen Gallenstein habe und dass wir möglichst leise schlafen mögen und Verständnis dafür aufbringen sollten, dass ihr Mann des Nachts gelegentlich vorbeikäme, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen, was er auch wirklich tat.

Beruhigen Sie sich, sagte sie. Ich werde fünf Schlaftabletten nehmen, meine Nase mit einer Klammer verschließen und meinen Mund mit einem Tuch zustopfen.

Und das Rattern der Schienen mit dem zeternden Weib weg aus alten Mauern ins Ungewisse. Immer ins Ungewisse.

Das Licht der Nacht ist blau.

Es steht im Raum und zieht an mir vorüber.

 

Als ich ihr sagte, ich würde eine Analyse machen, weil ich Gesichte hätte, und dass, wenn es bei mir unvermutet klingele und ich die Tür aufmache, ich grundlos zusammenbräche und dass ich in der Nacht durch die Wohnung liefe und ganz laut schrie, ich schrie aber gar nicht, ich risse nur den Mund auf, bis der Kiefer krache, es käme nämlich gar kein Ton hervor, da lachte sie.

 

Zu ihr kamen jetzt die Ärzte.

Sie verschrieben Luftveränderung, rote Beete, Sauerkrautsaft, Eigenkottherapie, Zelltherapie, sie spritzten Iscador und sprachen von Ruhe, Bluttransfusionen und Chemotherapie. Und sie solle kein Fleisch mehr essen und Aufregung meiden.

Sie wurde müde. Der Körper fing zu hängen an.

Es begann die Zeit des Nachthemds.

Entschuldige, Liebes, ich bin noch nicht angezogen.

Entschuldige, Liebes, ich bin nur im Morgenmantel.

Entschuldige, Liebes, ich bin noch nicht ganz fertig, wie du siehst.

Freunde setzten Blumen in ihre Balkonkästen.

Der Sohn erzählte Witze:

Weißt du schon, wie die modernen Russen Tee trinken? Sie hängen sich einen Teebeutel in den Mund, schütten kochendes Wasser hinterher und lutschen dann den Zucker.

Ihr Lachen schepperte.

Und kennst du den?

Ein frisch verheiratetes Ehepaar hat sich einen Schrank bei Ikea gekauft. –

Fängt gut an, stimmt’s?

 

Ich gab ihr meinen ersten Roman zum Lesen.

Ein schöner Vater, der wunderbare Geschichten erzählen kann und die Länder schneller wechselt als die Wäsche, mißbraucht darinnen seine Töchter, die ihn lieben.

Sie sagte: Du bist eine!

Ich tippte ihre Satiren ab.

Die Nachmittage auf dem Balkon dehnten sich, meine Schenkel hatten Striemen. Wir tranken Sabra aus Israel, die Russen hatten wieder Kaviar geschickt und die Polen Bonbons.

Probier diese hier, die werden dir schmecken.

Du bist sehr begabt, sagte sie.

Ihre Werte lagen jetzt bei 60000.

 

 

 

Erneut feierten wir Weihnachten zusammen.

Sie stellte mich einer Lagergenossin mit Namen Sofia vor, die über ihre Vergangenheit nicht reden durfte, weil es der Mann verboten hatte.

Wir stießen auf die Schönheit und die Freiheit an, ließen Wunderkerzen brennen, und Sofia gab mir einen Rat: ich soll möglichst schnell Kinder kriegen, sagte sie, denn ich sei zwar ganz hübsch, aber ich sei auch arm. Und Kinder seien nun mal der Reichtum der Armen.

 

Im folgenden Jahr zog ich um, bekam einen Mann, fand einen Verlag und wurde schwanger.

Ich muss zugeben, dein Nervenarzt ist gut, sagte sie.

 

Ins Krankenhaus kam sie – von Freunden gestützt – mit einer großen Flasche Parfüm. Mein Gebärenwollen hatte unendlich gedauert, ich lagerte leichenblass auf dem hohen Bett. Sie hielt ihr graues Gesicht hinter Blumen versteckt.

Jetzt hast du alles, sagte sie. Einen Mann, ein Kind, ein Buch geschrieben! Jetzt brauchst du nur noch einen Liebhaber!

 

 

 

Später las ich ihr zweites Buch.

Ich habe alles in wohlabgewogenen Portionen gekriegt. Sie habe es in den 60ern geschrieben, unter besonderen Umständen, in Dubrovnik, allein.

Sie habe versucht mehr zu gestalten, aber sie habe nicht durchgehalten. Es sei schlecht, nicht straff genug. Natürlich sei sie immer wieder gestört worden. Aber dennoch. Sie habe Briefe aus aller Welt gekriegt, dass man so einfach und direkt die menschliche Verwirrung nicht beschreiben dürfe. Ein paar Leidensgenossen waren ihr von da an richtig böse. Und der Herr Böll habe ihr geschrieben auf einem Zettel, er sei erschüttert, und zwar so sehr, dass er lieber nichts dazu sagen wolle und auch kein Vorwort schrieb.

Ich habe diesen Zettel Jahre danach bei ihr gefunden, hundertfach, tausendfach kopiert. Er muss ihr viel bedeutet haben, ich weiß nur nicht was.

Im ersten Buch hatte ein Kind am Daumen einer Hand genuckelt, die von einem Leichenberg herabhing.

Im zweiten sprang eine Frau aus dem Fenster eines Hauses, weil sie keine Milch mehr in den Brüsten hatte.

Im dritten …

 

Mir schickte man zu der Zeit Glückwunschtelegramme und Verkaufszahlen von der Messe und lud mich mit meinem Buch in eine Talkshow ein.