Vier Arten meinen Vater zu beerdigen - Liane Dirks - E-Book

Vier Arten meinen Vater zu beerdigen E-Book

Liane Dirks

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Beschreibung

»Es gibt Linien im Leben, die haben keine Abzweigung.« Ein karibisches Bestattungsritual bildet im neuen Roman von Liane Dirks den Anlass, um die Geschichte eines leidenschaftlichen und getriebenen Mannes zu erzählen. Die Tochter ergründet sein exzesshaftes Leben – schutzlos, einfühlsam und hochpoetisch. Das Hamburg der zwanziger Jahre entdeckt Swing, Freikörperkultur und Ausdruckstanz, als Günther Dirks im elterlichen Schönheitssalon aufwächst, behütet von einem karibischen Kindermädchen. Die Mutter kreiert Düfte und Cremes, der Vater geht ins Bordell, Günther wird Jungkoch in einem Nobelhotel. Dann kommt der Krieg und führt ihn an die Ostfront, von der er mit falscher Identität bis nach Marseille flieht. Günther gründet eine Familie und nimmt sie mit nach Barbados, ins Hotel Marine. Als genialischer Küchenchef und begnadeter Geschichtenerzähler mehrt er den Ruhm des weltbekannten Hauses. Doch seit seiner Jugend ist etwas in ihm, das ihn beherrscht. Der Zwang, zum Äußersten zu gehen, der vor nichts haltmacht, auch nicht vor seinen Töchtern. Ein verheerender Hurrikan treibt die Familie zurück nach Deutschland. Dann verschwindet der Vater. Jahre später erfährt die Tochter, dass er auf Barbados im Sterben liegt. Was folgt, ist eine atemberaubende Wiederbegegnung und der Anfang eines rückhaltlosen Erzählvorgangs. Liane Dirks erzählt eine abgründige Geschichte in atmosphärischer Dichte, bildlicher Fülle und sprachlicher Präzision, die den Leser verführt und hineinzieht in ein exzesshaftes Leben.  

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Liane Dirks

Vier Arten meinen Vater zu beerdigen

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Liane Dirks

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Danksagung
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Für Volker

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Am 3. September 1922 wurde in Hamburg ein Junge geboren, und zwar just in dem Moment, als im Kaiserspeicher der Zeitball fiel, drei Meter tief und laut, sodass die Hamburger wussten: es ist Punkt Mittag. Es war ein Sonntag. Unten im Salon kehrte das Mädchen Nune die feinen Nackenhärchen des Kindsvaters weg, der ihr im Spiegel zusah dabei, gerührt von ihrem Stolz und ihrer Anmut, ihrer wunderlichen Größe und der schlanken Figur, und oben im Boudoir bat die Kindsmutter die Hebamme um ein Eau de Cologne, denn jetzt, wo es vollbracht war, wollte sie den süßlichen Geruch des Fruchtwassers und den des Blutes sofort und unmittelbar und heftig überdecken. Und abgetupft werden und gewaschen werden und am besten aufstehen, sich herrichten, um wieder ansehnlich zu sein, schön und straff.

Die Geburt war leicht gewesen. Wie ein Fisch war er herausgeflutscht, der kleine Sohn, erst der Kopf, dann der Rumpf, die Beinchen, zwischen ihnen das dicke kleine Geschlecht.

Die Hebamme, eine junge Person mit modernen Ansichten, wollte der Kindsmutter den Jungen an die Brust legen. Diese jedoch lehnte empört ab. Die Amme wartete im Vorzimmer, über den Erhalt einer ästhetischen Brustform hatte die Kindsmutter rigoros eigene Ansichten. Der Name des Jungen stand bereits fest: Günther Andreas Johannes – wie der Großvater und wie der Vater. Ein Mädchen hätte sie Isadora genannt, nach der Duncan, die sie hatte tanzen sehen und die sie bewunderte, nicht zuletzt wegen der leichten Fülle, der Üppigkeit des Körpers, der dem ihren ähnlich war.

 

Die Hitze hatte nachgelassen an diesem Sonntag, das Fremdenblatt meldete 16,3° Celsius acht Uhr morgens, Dunstspannung 11,6; für den Abend Sprühregen, Windstärke 3 Nordwest. Die Heriot aus England war bereits eingelaufen, die Orient lief ein, ebenso die Erna aus Amsterdam. Auslaufendes Schiff war die General San Martin.

Das Kind wurde gebadet, in ein Baumwolljäckchen mit rosafarbenem Kreuzstich gesteckt, gewickelt, nicht in einen Puck, sondern mit den Beinen breit, so wie es die Engländerinnen taten und die Französinnen. Endlich wurde es von der Amme genährt. Die Kindsmutter ließ nach der Waschung das Grammofon anstellen, um wahlweise Tangomusik oder Richard Tauber zu hören, und begann mit Anspannungsübungen für die Bauchmuskulatur. Ein paar Stunden darauf stieß sie liegend im Bett mit dem Kindsvater an, der nicht lächelte, sie ebenso wenig, und Nune, das Mädchen, wechselte dem kleinen Günther zum ersten Mal die Windeln. Das Tuch mit dem grünschwarzen Kindspech rollte sie zusammen und steckte es in ihrem Zimmer weg. Als sie daraufhin das Kind in den Armen hielt, schlief es, angekommen auf der Welt jenseits der Mutter, zum ersten Mal ein.

 

Zwei Wochen später stand Luise Dirks, die Kindsmutter, wieder in ihrem Salon und begrüßte ihre Kundschaft. Strich mit den Händen die Haare in den Nacken der Damen oder über die zarten Finger der handelnden Herren, die zur Maniküre kamen oder zur Rasur, zur Teilmassage oder zur Gesichtspflege. Einige hingen der Freikörperkultur an, so wie Luise und ihr Gatte auch. Sanft gebräunt waren sie in der Regel, schwärmten von der Leichtigkeit des Körpers durch gesunde Kost und Sonnenkraft und redeten sodann über den Butterpreis und den Theaterpreis. 28 Mark kostete das Pfund in diesen Tagen, genauso viel wie ein Logenplatz, wobei der Preis sich ständig änderte, taumelnd nach oben stieg. Man tauschte Nachrichten über die Familien aus, redete über Kunst und Kino und lachte über das Deutschlandlied. Die Deutschen hatten seit Neuestem eine Hymne. Richtige Sorgen hatte keiner in diesem Salon. Man zahlte mit Dollars oder Schmuck und hatte noch immer genügend Brillanten zum Tauschen.

 

Das Mädchen Nune trug eine Art Turban, aus dessen Mitte sie ihr schwarz glänzendes lockiges Haar fallen ließ. Sie war leicht geschminkt und lächelte bei allem, was sie tat. Sie tat jetzt alles gleichzeitig, die Arbeit im Salon, die Beaufsichtigung des Kleinen, Erledigungen für den Haushalt, sie war schließlich ein Alleinmädchen. Von Luise ließ sie sich dabei mit Blicken lenken. Johannes lenkte sie nicht. Er war ihr verfallen.

 

Am 9.9. meldete Johannes Dirks seinen zweiten Sohn standesamtlich an. Er wurde eingetragen in das mit rotem Leder eingebundene Buch mit dem Familienwappen: drei schwarze Merletten auf silbrigem Grund mit gegittertem Querbalken, ein schlichtes Emblem. Die Farben Silber und Schwarz, Symbol für Reue und Rache, mit Gefieder drum herum.

Als erster Sohn war Heinz eingetragen, das Kind ging in einen Reformkindergarten. Reformkindergärten und -schulen liebten die Hamburger schon immer. Die Konfession wurde mit protestantisch-lutherisch angegeben. Kurz darauf kam ein Mohel ins Haus und nahm die Beschneidung vor. Luise Dirks, geborene Berg, ursprünglich ein Spross Altonaer Juden, die vor mehr als hundert Jahren konvertiert waren zum Protestantismus oder zum Freidenkertum – sie hatte ihre Herkunft nicht vergessen. Die Beschneidung allerdings war für sie eine gesundheitliche, eine ästhetische Frage. An Religion lag ihr nichts, und wenn, dann hatte sie ihre eigene.

Mag sein, dass dies den Mohel ein wenig gestört hatte und auch dass es kein Fest gab. Er schnitt die Vorhaut jedenfalls – ob Absicht oder nicht – nur schräg zur Hälfte ab, weshalb den Jungen fortan eine Kerbe zierte oder verunstaltete, je nachdem wie man es sah.

Dies war am achten Tag nach der Geburt geschehen, am neunten konvertierte der Kleine, erst jetzt wurde er protestantisch getauft. Zwar vergaß Luise Dirks, geborene Berg, ihre Herkunft nicht, hörte aber auch gut zu bei den Gesprächen in ihrem Salon. Was unter dem Taufkleid war, interessierte den Geistlichen nicht.

 

Nune fügte dem Tuch mit dem Kindspech jenes mit dem Blut und dem winzigen Stück Vorhaut hinzu. Sie sah dem Kind in die wasserblauen Säuglingsaugen, von denen in Wahrheit niemand weiß, was sie erkennen und wie, und schrieb seit Langem ihren Verwandten daheim einen Brief. Sie müsse noch ein paar Jahre bleiben, schrieb sie. So sei es. Wie immer bat sie ihre ältere Schwester Emily um eine weitere Lieferung. »In love« schrieb sie darunter. Im Postskriptum gab sie ebenfalls wie immer die Adresse noch einmal an, die für die Ware:

Brook 9 L. Warnke & Cons. Hamburg Hafen.

Den Brief brachte sie zur Post, danach nahm sie sich wieder des Kleinen an. Sie zog ihn aus, wusch ihn ab, noch immer war es sehr warm. Vom Hof her hörte sie ein Schiffshorn. Mit ein paar Tropfen Öl rieb sie den Körper des Kleinen ein, im Besonderen das Geschlecht. Dann das Leuchten.

 

Das Mädchen Nune war eine Bajan. Sie hatte 1920 gemeinsam mit ihrem Bruder in Trinidad, wohin sie sich eingeschifft hatten, einen Dampfer der Hamburg-Amerikanischen-Packetfahrt-Actien-Gesellschaft bestiegen, der sie ins Mutterland, nach England, bringen sollte zum Arbeiten. Sie hatten jeder ein Zeugnis und eine Empfehlung dabei gehabt als Hausangestellte: a maid and a servant. Ausgestellt von ihrer verstorbenen Mam, die eine Lady war und ganz im Sinne ihrer Herkunft Sorge getragen hatte für ihre Angestellten, wie früher für ihre Sklaven. Nach dem Tod der Lady waren die beiden frei, das hätte Armut bedeutet. Das Geschwisterpaar war zu gut für Armut.

Aber das Schiff der Hapag, die Confidence, war nicht Cardiff, sondern Hamburg als ersten Hafen angelaufen. Und weil dort alle Englisch sprachen mit den Caribbeans und an Land gingen, waren die beiden ebenfalls an Land gegangen, und als man den Irrtum entdeckt hatte, waren sie schon in Quarantäne, schließlich waren sie Farbige, Mischlinge, braun, nicht schwarz. Und das Schiff war ohne sie weitergefahren.

14 Wochen hatte es gedauert, in denen die beiden abmagerten, auf Läuse, Wanzen, Flöhe und Milben untersucht und gegen selbige behandelt wurden, obwohl sich keines der Tiere bei ihnen fand, in denen man ihnen mehrfach Blut entnahm zu Forschungszwecken, dann kam die Stellenvermittlung. Herr Warnke, ein kleiner Kontorist, stellte Nunes Bruder Adam ein und Luise Dirks Nune, die eigentlich Esther hieß, aber als Erstes das hamburgsche »Nu« nachahmte, dann das »Ne«, so entstand Nune. Eine Anekdote, die sich erstaunlicherweise erhalten hat.

 

Sie muss Johannes sehr gefallen haben.

»Hymenocallis caribaae« steht auf einer Karte, die vorn das alte Hamburg zeigt und hintendrauf seine Schrift in schwarzer Tinte. Nur das: Hymenocallis caribaae. Karibisches Schönhäutchen. Eine Amaryllisart. Darunter das Jahr ihrer Ankunft: 1920.

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Johannes kam aus Eckernförde, wo seine Eltern ein Friseurgeschäft hatten. Er hatte dort gelernt, später geheiratet und sich kurz darauf wieder scheiden lassen. Was für die Eckernförder ungewöhnlich gewesen sein muss. Danach war er nach Hamburg gegangen. Er trank viel, spielte gern, was damals viele taten, und er liebte Frauen.

Wegen eines lahmen Beines, Folge jahrelanger Kinderlähmung, brauchte Johannes Dirks nicht in den Weltkrieg zu ziehen, das Schlachten der Menschen nicht zu sehen, das Stöhnen der Sterbenden nicht zu hören, weder an Ruhm zu glauben, noch an Niederlagen zu verzweifeln. Ein Teil von ihm wurde deshalb immer weicher.

Luise, einem Friseurgeschäft entstammend wie er und zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens bereits Inhaberin des Meisterbriefes, begegnete er beim Künstlerfest im Curiohaus. Es war das erste Kostümfest nach dem Krieg, das Thema war »Vulkanausbruch«, nicht mehr – wie noch 1913 – die Zukunft, Futur, »Futurumbumbum«.

Ganz Anhängerin des absoluten Tanzes ahmte Luise selbigen auf einem Tisch nach. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu den anderen Frauen fast vollständig verhüllt war – im Curiohaus tanzte man ab Mitternacht schon öfter einmal nackt –, um ihren Körper hingegen hing eine Gardine, im Gesicht stand Entrückung, jener einzigartige selbstverliebte Wunsch nach Ausdruck, den man ebenso schnell wie man ihn bewundern auch verachten kann, vielleicht war es aber auch ihr auffallend markantes Profil, die leichte Gedunsenheit der Wangen, die womöglich von schlechter Ernährung oder vom Hunger kam, er beschloss jedenfalls sofort, die Kordel, die die Taille hielt, vom Leib zu ziehen und diese Frau zu schwängern.

Hätte er sie nicht schwängern wollen und es wäre dennoch geschehen, so hätte sie abtreiben müssen.

Johannes Dirks hatte beschlossen, dass es von ihm nur eheliche Abkömmlinge geben sollte. In Hamburg fanden sich genug Adressen, die Liste der durch Johannes entstandenen und auf seinen Wunsch hin vernichteten Föten war lang. Denn so weich er auf der einen Seite war, so hart war er auf der anderen.

Luise und Johannes heirateten, legten ihr Geld zusammen, von Luise kam das ausbezahlte Erbe der Familie hinzu, von der sie sich losgesagt hatte, schon vor Jahren, völlig und ganz.

Als Heinz, das erste Kind, geboren wurde, hatten sie bereits ihren ersten Salon. Er hieß nach ihm, und das war gut so: »Salon Dirks – Schönheits-, Haar- und Ganzkörperpflege«.

Das Geschäft lag hinterm Ballindamm, der damals noch Alsterdamm hieß, mitten im Herzen Hamburgs, wo die Alster roch, die Elbe und das Meer, der Wind des Nordens, man konnte die Schiffssirenen hören, die Glocken von St. Petri, St. Nikolai und, wenn man genau hinhörte, sogar die von St. Michaelis. Im Inneren schmauchelten die Lockenstäbe.

 

An der Brust war der Kleine heftig. Es machte Nune Lust, ihn ebenfalls anzulegen. Bevor die Amme kam. Er zog dann so stark, dass sie fühlte, wie die Brust anschwoll, die Warzen dick wurden. Sogar etwas Flüssigkeit, meinte sie zu spüren, trat aus. Weil er auch biss, platzten sie. Und diese geplatzten Warzen wiederum zeigte sie ihm, Johannes, dem Eckernförder, als er ins Zimmer kam und sie fragte, was sie da mache. Und sie ihn ansah, sie lachte dabei. Sie lachte. Ihr Körper war ein Spiel. Sie spielte mit ihm wie ein Kind. Ernsthaft. Aber sie war kein Kind mehr. Nune war eine Frau, und die Gesetze kannte sie. Die Gesetze waren die der Herrschaften. Herrschaften konnten auch weiblich sein, so wie ihre Mam.

Sie hatte ein Sklavenstammbuch, das auch nach der Befreiung sorgfältig weitergeführt worden war. Ein kleines pappbraunes Heft. Es standen drei Muttergenerationen mit den zugehörigen Kindern darin, ohne Vater, aber die Ururgroßmutter hatte einen Vater, bei ihm stand der Preis daneben: 33 Pfund 6 Schilling, er war mit der Juba in die Karibik gekommen und 402 lebenden und 49 toten Sklaven. Wie er wirklich hieß, stand nicht drin, nur der Preis in Tinte auf einer Linie mit dem neuen Namen:

Adam. Colour: Black. Age: 13.

Weil der Urururgroßvater Adam hieß, hießen alle seine männlichen Abkömmlinge zumindest mit einem Namen ebenfalls Adam. Sie waren allesamt, wie sie sein sollten, sie hatten gesunde Zähne, kräftige Knochen, dickes Haar und wenig Angst. Wovor auch.

Die Chance der Erniedrigung ist die der Überwindung.

Sie blitzte gelegentlich in den Augen auf oder war zu hören in einem Lachen, das kein privates war, sondern ein öffentliches. Eins mit Nachhall, der stehen blieb, leer, unendlich leer, wie das Bewusstsein des Todes oder das des Alls.

So lachte auch Nune. Sie lachte auf dem schmalen Grad zwischen Unschuld und Verführung. Sah Johannes in die Augen dabei, und für einen kurzen Moment hatte er Angst vor ihr. Sehr kurz war der Moment, dann kam die Lust, er schob das Kind weg und biss selbst in ihre Brust. Und malte sich aus, was er noch alles mit ihr tun würde und in der Folge auch tat. Enthemmt, es war der Blick, es war das Lachen, er war enthemmt. Dem im Schreien begriffenen Kind hielt er den Mund zu und packte es so, dass es nur zappeln konnte. Es war gut, dass das Kind dabei war. Es war wirklich gut. Das kleine, weiße Speckknäuel.

 

Luise studierte derweil die Frisuren von Gloria Swanson: Lockenstabtechnik, Fritzi Massary: Hochsteckfrisur, Wasserwellen bei Asta Nielsen und Greta Garbo, und der neue Schnitt kam auf, der Pagenkopf, das Kurze.

Die Beine der Mistinguett waren versichert worden, sie wurden täglich mit Creme bestrichen und massiert, es gab Kundinnen, die verlangten dasselbe. Hochwertige Ölgrundlagen für die Cremes waren allerdings nach wie vor rar. Luise verlängerte unerlaubt manchmal etwas mit Talg. Sie war stolz darauf, dass ihre Kundschaft immer besser wurde, und dachte bereits an einen Umbau. Es ging nicht länger an, dass die Pedikürkabinen nur durch einen Vorhang abgetrennt waren. Wenn erst die Lage wieder stabiler wäre, würde sie mit Herrn John darüber sprechen. Man würde expandieren, wie es sich gehörte. Vorerst musste man noch warten, die Kommunisten machten Schwierigkeiten, aber die Schiffe fuhren schon wieder, die Ballin-Klasse, Hamburg–New York. Und auf die Kommunisten ließen sich die Hamburger ja doch nicht ein.

Sie würde die Kopfmassage einführen. Mit Öl. Die Grünteepackung entwickeln. Eine Kombination aus Ent- und Anspannung für das Gesicht. Wobei die oberen Schichten ent-, die unteren hingegen angespannt würden, was dem Gesicht gelassene Frische verlieh. Man sollte das Schaufenster anders dekorieren, eine Puppe müsste her, eine schöne Puppe. In den Kolonnaden trugen sie auch immer dicker auf, trotz der Inflation. Sollte das Pfund Butter ruhig 60, 100, 200 Milliarden Mark kosten, die harten Zeiten hatten schon so manchen reich gemacht. Wenn man sein Ziel nur ernst nahm. Ernst und wichtig. Tief atmen. Ein und aus. Den Körper strecken, den Brustkorb weiten. Coué. Der Mann hatte recht. Émile Coué. Ihr Gott.

»Ich liebe mich. Mit jedem Tag geht es mir in jeder Hinsicht immer besser und besser.«

 

Es ist anzunehmen, dass Luise ihren Sohn im ersten Jahr kaum je berührt hat. Einmal kam sie in seinem Zimmer hinzu, als Nune ihn gerade ölte.

Was tust du da?, herrschte sie das Mädchen an.

Ich creme ihn ein, Frau Dirks, antwortete diese.

Du ölst ihn ein!

Ja, Frau Dirks.

Glaubst du, dass seine junge zarte Haut das braucht?

Nein, Frau Dirks.

Warum tust du es dann? Und was ist das für Öl?

Ich hab es von Adam, meinem Bruder, Frau Dirks.

Vom Hafen? Dann ist es womöglich Tran?

Nein, Frau Dirks. Es ist kostbar. Meine family schickt es mir.

So. Deine »family«. Egal. Ich wünsche nicht, dass mein Sohn eingeölt wird. Verstanden? Und wenn, dann mach ich es selbst. Schau ihn dir an!

Sie packte das nackte Kind und stellte es auf den Wickeltisch. Es flutschte ihr durch die Finger, weshalb sie fester unter seine Armbeugen griff. Die Zehen tippten auf die Platte, noch konnte der Kleine nicht alleine stehen. Er hielt ihr die Arme entgegen, sie trat zurück. Die krummen Beine streckten sich.

Wie er glänzt, sagte sie. Und sah dabei im Spiegel, der hinter dem Tisch hing, seinen Rücken, den Po, den kahlen Kopf, den Nacken, alles ölig. Man kann ihn ja gar nicht mehr anfassen!

Sie schaute Nune im Spiegelbild an und verzog angeekelt den Mund. Die sah zurück. Das Öl trat goldgelb zäh zwischen Luises Fingern aus.

Baden!, schrie sie. Sofort baden!

Die Tür ging auf, und Johannes stand im Rahmen. Er hatte den Friseurkittel an.

Was ist?, fragte Luise. Ich sagte baden. Weiter nichts als baden. Und hinlegen, sie wandte sich dem Mädchen zu. Trat, so weit es möglich war, zurück, streckte ihre Arme, betrachtete das Kind, das noch immer auf den Zehen wippte, ernst.

Er ist zu dick, sagte sie. Was isst er?

Bananen, Mam.

Woher hast du die Bananen?

Von meinem Bruder, Mam.

Gibt es bei ihm alles?

Nicht alles, Mam.

Fang jetzt bloß nicht wieder mit diesem Mam an. Sag Frau Dirks. Frau Dirks, immer, richtig, ja?

Ja, Frau Dirks.

Hier nimm ihn. Bring ihn weg, ich will das nicht noch einmal sehen.

Kundschaft, Luise, bemerkte Johannes kühl, blickte den beiden Frauen dabei abwechselnd in die Augen. Luise setzte das Kind hin, wischte sich die Hände an einem Mulltuch ab. Nune nahm ein Handtuch, umwickelte es und nahm es auf den Arm. Schloss die Tür hinter den beiden Friseuren, die hinabgingen, ohne sich noch etwas zu sagen.

 

Später am Abend rief Luise Nune zu sich.

Ich will ihn sehen, deinen Bruder, sagte sie.

Jawohl, Frau Dirks, antwortete das Mädchen.

Danach ging Luise die Kinderzimmer ab. Schaute auf ihre schlafenden Söhne, den schlanken Heinz, der den Tag über aushäusig erzogen wurde, und das große dicke Baby. Dann stieg sie hinab in den Salon. Und ließ sich von Johannes, ihrem Mann, die Locken neu aufdrehen. Mit der Brennschere. Akkurat und nah an der Kopfhaut. Sie sah ihm anerkennend zu dabei. Im Spiegel. Luise sah alles im Spiegel.

 

Sie muss sich wohl erschrocken haben, als Adam ein paar Tage später vor ihr stand. Er war groß. Mindestens drei Köpfe größer als sie. Ein schöner, stattlicher, schwarzer Mann, mit glatter, fast samtig aussehender Gesichtshaut. Er trug einen Tweedanzug mit Knickerbockerhosen, ein weißes Hemd und einen Schlips. Was ihn auch skurril wirken ließ, ein Neger mit Kniestrümpfen. Eine Kappe hielt er in der Hand und machte einen Diener. Äußerlich eine Art »Bully-Imitat«, Bully aber, damals ein berühmter Komiker, sah aus wie ein Ire. Luise hatte zum Tee gebeten. Die Verabredung hatte sie so gelegt, dass Johannes nicht da war. Das hatte sie sich angewöhnt. Pläne, die das Geschäft betrafen, hielt sie von ihm fern. Der Tee stand auf dem Tisch. Adam setzte sich, neben ihn Nune. Die ihren freien Tag hatte, deshalb keinen Turban trug, sondern eine Hochsteckfrisur, und auch keinen Kittel mit Gürtel, sondern ein Straßenkleid von C&A. Luise schenkte selbst ein. Sie war sich der Befremdlichkeit ihres Vorgehens durchaus bewusst. Hatte sich aber fest vorgenommen, sich diesen Adam einfach einmal anzusehen. Ebenso fest, wie sie sich vorgenommen hatte, gewisse, ihr anerzogene Grenzen des Anstands zu überschreiten, sobald dies geboten schien. Sich zu verwirklichen, wie Coué es nannte. Und dass in ihr Anlagen nicht nur länger schlummerten, sondern zum Ausdruck kamen, sich Bahn brachen, für etwas, das höher war als sie selbst, Schönheit, das ließ Luise sicher sein in allem, was sie tat. Auch jetzt, da sie den beiden Schwarzen gegenübersaß. Von der einen profitierte sie bereits, die Exotin war gut für ihren Salon, von dem anderen gedachte sie zu profitieren. Luise wollte das Öl.

Aber aus irgendeinem Grund heraus verlief das Gespräch anders, als sie es geplant hatte. Man könnte auch sagen, es verlief nicht. Die beiden schwiegen. In perfekter Dienermanier. Von der Sitzfläche der kleinen Armlehnsessel, die Luise ihnen angeboten hatte, hatten sie exakt ein Drittel eingenommen, sie hielten ihre Rücken gestreckt, den Kopf gerade und sahen Luise in das Gesicht. Oder besser gesagt auf die Fläche, wo Luises Gesicht saß. Nicht in die Augen, aber auch nicht an ihnen vorbei. Das hatten sie gelernt, die beiden. Dies war kein menschlicher Kontakt. Sie saßen figurengleich und ermöglichten somit alles. Man konnte sie betrachten, man konnte es auch sein lassen. Wollte man sie ansprechen, so antworteten sie. Sprach man sie nicht an – sie schwiegen. Kein Blick verriet sie. Kein Zugang zu ihrem Inneren. Sie hatten keins. Sie saßen oder sie standen, um sie herum eine Aura von Nichts. Dort konnte man hineinbefehlen. Nur das, was Luise wollte, das konnte man nicht. Vielleicht wusste sie selbst auch noch zu wenig, was sie wirklich wollte, möglich war es. Sie hob ihre Teetasse, die beiden taten es ihr nach. Als Adam das zarte Porzellan an seine Lippen setzte, fragte sie: Schmeckt er Ihnen? Er schlug die Augen auf, sah sie über den Tassenrand hinweg kurz an, kostete ohne zu schlürfen – der Tee war heiß –, er setzte ab und sagte: Danke. Als die Tassen geleert waren, erhob sich Luise. Das war alles, man verabschiedete sich. Die Haustür schloss sich, und mit ihrem Bruder entwich Nune.

»Nehmen wir an, wir legen ein zehn Meter langes und 25 Zentimeter breites Brett auf den Boden. Jeder kann mühelos darübergehen, ohne danebenzutreten. Ändern wir jedoch die Bedingungen dieses Experiments und nehmen wir an, das Brett verbände als Steg zwei Türme einer Kathedrale. Wer ist dann noch fähig, auch nur einen Meter auf diesem schmalen Steg zurückzulegen?«

Émile Coué.

Manchmal saßen die beiden auf einer Bank am Hafen. Die Arbeiter fuhren in den Barkassen zu den Docks in die Spät- oder in die Nachtschicht. Fuhren hin, kehrten heim. Kleine Schleppschiffe kreuzten die seit eh und je beliebten Rundfahrtkähne. An den Landungsbrücken machten die Dampfer fest: die Horn-Linie, die Stinnes-Linie, die Hamburg-Amerika. Die Luft war voll Metalldengeln, dazwischen Baulärm und die schwankenden Möwen mit ihrem heiseren Schrei. Überall Menschen, und das Meer war hier ein Fluss.

Winward, sagte Nune.

Homesick?, fragte Adam.

Sie antwortete nicht.

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Mit vier Jahren stand er im Salon. Luises Kundschaft war entzückt. Mit seinen kleinen fleischigen Fingerchen trug er den Damen die Handtaschen nach, wenn sie den Platz wechselten vom Friseurtisch ans Becken zum Seifenschaummädchen. Er reichte Lockenwickler an, sortierte Feilen und Lacke. Er legte Pinzetten und Rasierer zurecht, diente als Modell für neue Schnitte. Der Pagenkopf: gerade, eckig, glatt gekappt. Der Etonschnitt, der Herrenschnitt. Luise zog ihm Kleidchen an. Die Damen hatten Konfekt für ihn oder Groschen. Er machte einen Diener, wenn er was bekam. Oder gab galant den Handkuss. In die Massagekabine zu Nune durfte er nicht mehr rein. Dort wurden die Gesichtssilhouetten der Damen gestrafft, die Dekolletés. Masken aufgelegt und dampfende Tücher. Hände in Schlamm gepackt. Niemand durfte hier rein, nur Luise, die Kundin und das Mädchen. Es musste Ruhe herrschen. Zitronen-, Zimt- und Nelkendüfte waberten. An der Wand hingen Zeichnungen mit Gesichtsgymnastikübungen. Ein spitzes O, ein grelles A, das Aufreißen des Mundes. Das Strecken des Halses, Schielen. Das Drehen des Kopfes, die Ruheposition. Hier durfte Günther höchstens den Kopf durch den Türspalt strecken. Auch Johannes kam nicht rein. Es sei denn, ein Mann wurde hier behandelt. Wie der Herr John. Der wegen seiner ewigen Kopfschmerzen immer öfter kam. Er schwor darauf, dass nur Nunes Hände sie vertreiben konnten, diese kreisenden braunen Hände. Und ihr Flüstern dabei. Sie gab einige Tropfen Öl aus einem kleinen Flakon, den sie in der Kitteltasche trug, auf seine Schläfen, »den Kopf rechts, den Kopf links bitte«, schloss das Fläschchen, fing die beiden Öltropfen jedes Mal gerade noch mit den Fingern ab, bevor sie zum Rinnsal wurden, in den Nacken liefen. Strich sie hoch die Stirn entlang und setzte dann an mit sanftem Druck. Momente, in denen er nichts dachte, der Herr John, der immer so agil war, der Geld häufte und den diese merkwürdige Angst trieb, Tag für Tag, bis auf die Pausen, hier in Luises Salon, bei dem dunklen Mädchen. Er gab ihr seine Visitenkarte und lud sie ein. Das war nicht anrüchig, zu ihm kamen sie aus allen Kreisen und allen Schichten, wenn sie etwas Besonderes waren, etwas anderes. Die Schöne aus der Karibik passte dazu. Sie könne ja little Günther mitbringen, wenn sie nicht allein kommen möge.

Oder gäbe es jemand? Gibt es jemand, Nune?

No one, sagte Nune und lächelte.

Blass war er immer, der Herr John, aber wenn er aufstand von der Liege waren seine Wangen rot. Er bedankte sich, gab Trinkgeld, zahlte im Laden und ging.

 

Luise hatte jetzt ein zweites Hausmädchen, sie hieß Marie. Sie kochte und putzte, wusch, bügelte, machte Ordnung in den Zimmern der Jungs. Die beiden waren getrennt. Jeder hatte seinen eigenen Raum. Heinz schoss mit der Zwille Bohnen auf den Po der Neuen. Heinz war ein echter Sohn. Günther versteckte sich. Die Neue stellte das Grammofon beim Putzen an und ließ die Gebrüder Wolf singen: »Mariechen, du süßes Viehchen, du bist mein Alles, du bist mein Herzlein, Mariechen, ich möchte kriechen dir in dein kleines Herz hinein.« Immer dasselbe Lied.

Heinz und Günther sangen: »Mariechen, du dummes Viehchen, ich reiße dir ein Beinchen aus, dann musst du hinken, auf deinem Schinken, dann kommst du ins städtische Krankenhaus, da wirst du operiert, mit Schmierseif eingeschmiert, dann kommt der deutsche Männerchor, der singt dir ein schönes Liedchen vor.«

Wenn Johannes in die Wohnung kam, stellte Mariechen das Grammofon ab, die Jungen liefen in ihre Zimmer. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Und wenn er raussah, was sah er dann? Menschen, Autos, Fahrräder. Hin/her, her/hin, alles in Bewegung, auf, ab, runter, hoch. Wie er, in Bewegung, immer, auch wenn er ruhig stand. Innen drin, ein Wind, etwas, das nicht nachlässt. Etwas, das strömt und irgendwie begierig ist, immer mehr will, mehr. Und das soll das Leben sein, mehr, mehr, aber das ist es nicht. Es ist was andres.

 

Auch Luise spürte das, dieses Ziehende, sich Drehende ihres Mannes. Sie wollte dasselbe, auch immer mehr und mehr, aber Luise war bodenständig. Sie passte auf. Sie fragte den Herrn John, ob sie einmal kommen könne. Sie brauche Beratung in Gelddingen.

Selbstverständlich, gnädige Frau, sagte der Herr John.

Luise ging ins Grindelviertel. Er versuche sich in zu vielen Geschäften, sagte sie, ihr Mann. Ihm reiche der Gewinn aus dem Laden nicht. Er wolle handeln. Nur womit, das wisse sie nicht. Und ob es an sein, Herrn Johns, Ohr gedrungen sei, dass ihr Mann fast jeden Abend nur noch weg sei.

Bewegte Zeiten, sagte Herr John. Sie sollten Verträge machen, Gnädigste, schreiben Sie das Geschäft um.

Wie denn, Herr John, es läuft auf seinen Namen.

Ich bitte Sie, Gnädigste, Ihnen wird doch etwas einfallen. Die Verträge setze ich Ihnen auf. Überreden müssen Sie ihn.

Colette hatte ein eigenes Kosmetikprogramm. Naturkosmetik, Masken, Packungen, heilende Düfte, die Luft. Aura. Aura, das könnte ein Name sein für ihren Salon. Noch nie war der Körper so wichtig gewesen. Die Nacktheit, die Haut.

 

Johannes schliff die Rasiermesser, als sie ihm von ihren Plänen berichtete. Vorsichtig, nur von denen bezüglich der Kosmetikserie.

Er sah sie an, seine Gattin. Johannes war kein großer Mann. Er wirkte nur so. Er hatte einen riesigen Kopf und einen massiven starken Körper. Sein Schädel war inzwischen kahl. Der Schnauzer penibel gepflegt. Die Kopfhaut schimmerte samten. Er hatte eng liegende Augen, schwarze Brauen und eine grünblaue Iris. Er legte das Messer weg und zog ein Fläschchen aus dem Kittel.

Und hier ist das Geheimnis, sagte er. Ich denke schon lange darüber nach.

Du?, fragte Luise, sie kreischte fast.

Ja, ich, sagte er. Sie wollen alle nicht alt werden. Das ist es. Du willst es auch nicht. Sie hat es. Hier. Es ist das Öl. Sie sagt nicht, woraus es ist. Aber die Basis kenne ich schon, die Basis ist Kokosnuss. Mein Bruder untersucht es.

Luise zog die Brauen hoch, streckte sich, machte ihren Rücken gerade. Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie es ihm aus der Hand reißen sollte.

Ich hab schon einen Namen, sagte er. Johannesöl, wie findest du das?

Das da?, fragte Luise und wies auf das Fläschchen. Johannesöl? Sie lachte auf. Wie ich das finde? Ja, wie finde ich denn das? Ich würde gerne wissen, wo meine Kette ist, Johannes. Meine Perlen.

Im Pfandhaus, Luise, sagte er in ihr Gesicht. Er ließ das Fläschchen in die Tasche gleiten, nahm das Messer wieder auf und schliff weiter.

Und mein Ring? Mein goldener Ring? Der mit dem Rubin?

Ebenso, sagte er.

Und meine Uhr, die kleine, das Erbstück, du weißt schon, die kleine goldene Uhr, die Taschenuhr?

Auch, sagte er.

Und meine Ohrringe, die Tropfen?

Er grinste.

Sie stand hinter ihm, sah ihn von der Seite, den Schnauzer, die Lippen, nach oben gezogene Lippen.

Schnell ging seine rechte Hand, kippte das Messer auf und ab, die linke hielt den Abziehriemen straff.

Sie sah ihn, sie fühlte ihre Schuhe. Ihre Füße, ihre Schuhe. Ihren Rücken. Das Kreuz. Sie senkte den Kopf. Jetzt kamen ihr die eigenen Haare in den Blick. Oben. Ihr Haar. Auch sah sie ihre Wimpern.

Gleich hat er diesen Krug dort auf dem Kopf, dachte sie. Auf dem Kopf! Gleich. Ich erschlag ihn. Mit dem Krug dort. Es wird Splitter geben. Steingut. Er ist aus Steingut.

 

Die Kinder oben in der Wohnung über dem Salon hörten in derselben Nacht noch etwas fallen. Sie hörten es nicht gemeinsam, sondern getrennt, da sie ja jeder ein eigenes Zimmer hatten. Etwas ging in Scherben dort unten. Etwas Schweres, Großes, es ging zu Bruch.

 

Ihr Vater sollte eine Narbe auf dem Kopf zurückbehalten, es war ihm gelungen, sich im letzten Moment wegzudrehen, einem Rinnsal gleich zog sie sich quer über seinen Schädel. Wahrscheinlich ging sie auch durch sein Herz, Johannes wurde härter, alle spürten das. Günther und Heinz, Marie und Nune, die Mädchen im Salon, die Kundschaft, die Bekannten, die Geschäftspartner, die Freunde aus der Nacht, Luise. Aber wie das so ist in Hamburg, sie spürten es, es war so, aber alles blieb inwendig, irgendwie verdeckt. Wie in einem Hafen. Aus dem man aufbrechen konnte, in dem man sich aber auch verstecken konnte. Es war nicht klar, wie viel Wasser zulief und wie viel ab. Das wissen nur die Fische, die Ratten schmecken es.

 

Später nahm Johannes Nune und ging mit ihr zu Warnke & Consorten.

Wo hat er es?, fragte er sie.

Don’t know.

Sprich deutsch.

Ich weiß es nicht, Herr Dirks.

Du weißt, was ich tun werde, wenn du es mir nicht sagst.

Ich werde es Ihrer Frau sagen, mein Herr.

Wieso weigerst du dich. Ich zahle.

Meine Grandma macht es. Sie wird es niemals sagen. Es ist ein Geheimnis. Sie ist die Einzige, die es kennt.

Und wenn sie stirbt?

Dann wird meine Mutter es kriegen, sie ist als Nächste dran. Und dann meine älteste Schwester.

Du fährst hin und holst es. Er schaut sie an.

Sie würde nicht zurückkommen, sagt ihr Blick.

In der Speicherstadt steht jetzt das Chilehaus. Sie bauen wie verrückt. Ein ganzer Stadtteil wurde hier weggerissen, nur um zu bauen, zu bauen, zu bauen.

Der Schwarze lehnt im vierten Boden an der Tür. Kollegen pfeifen ihn herunter. Er nimmt die Mütze ab, grüßt und schaut auf seine Schwester.

Zeigen sie mir das Versteck, sagt Johannes. Ich weiß, dass sie nachts eine Nebenbeschäftigung haben, das ist verboten.

Adam sieht sich um, die Kollegen schauen zu ihnen herüber.

Hey Adam, sieht dir ähnlich, das Beste zeigst du uns nicht, ruft einer.

Adam sagt, warten Sie, Sir.

Er holt sich die Erlaubnis, das Kontor zu zeigen. Sagt, Herr Dirks, der Chef seiner Schwester, wolle ins Importgeschäft.

Herr Warnke kommt aus dem Büro, schüttelt Johannes die Hand. Sie haben doch einen guten Salon.

Eben, sagt Johannes. Investieren. Man will doch sein Geld unter die Leute bringen.

Woran er denn denke?

An Duftstoffe und Öle im großen Stil.