Die Liebe und der Apfelbaum - Chris Tewes - E-Book

Die Liebe und der Apfelbaum E-Book

Chris Tewes

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Beschreibung

Werner und Marietta sind beide auf der Suche nach der Liebe. Als der Zufall sie zusammenführt beginnt eine stürmische Romanze, die Werner mit einem Heiratsantrag krönt. Völlig überrumpelt nimmt Marietta ihn widerstrebend an - womit das Unheil seinen Lauf nimmt. Eine desaströse Hochzeitsfeier, ein ersteigertes Haus inklusive widerspenstiger Vorbesitzerin und dann auch noch der Einzug von Althippie Uwe - dem Lover von Werners Mutter, lassen erste Mordgedanken aufkommen ...

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Für

Fabian & Lisa Alex & Annika

Auf dass Eure Hochzeitsfeiern und Ehen harmonischer verlaufen als die von Werner und Marietta in dieser Geschichte!

Chris Tewes, Jahrgang 1958, hat schon früh ihre Liebe zu Büchern entdeckt, und so erlernte sie zunächst den Beruf der Buchhändlerin. Bevor sie selber zur Feder griff, sollten spannende Einblicke in verschiedene sonderpädagogische Einrichtungen folgen, in denen sie einige Jahre als Heilerziehungspflegerin tätig war. Chris Tewes hat bisher drei Romane und mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Teil 2

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Teil 3

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Erster Teil

1

Seufzend drehte Werner seinem Spiegelbild den Rücken zu. Drei Wochen intensives Hanteltraining lagen hinter ihm und alles für die Katz. Seine dünnen Oberarme ließen nicht einmal die kleinste Beule erkennen. Was hast du erwartet? Seit fünf Jahren fährst du täglich mit dem Rad zur Arbeit, und sieh dir deine Beine an! Dein Körper ist nun einmal gegen jegliches Muskelwachstum immun. Dafür hast du andere Qualitäten.

Als Ausgleich zu Werners Defiziten, zu denen er auch seine eher geringe Körpergröße von 1,56 Metern zählte, hatte Mutter Natur ihn mit einem Gesicht ausgestattet, das gut und gern als Paradebeispiel für männliche Attraktivität herhalten konnte – gut proportioniert, mit einer geradezu klassischen Nase, vollen, sinnlichen Lippen und, sozusagen als Krönung des Ganzen, mit den blauesten Augen von ganz Drosselburg. Auf diesen Joker hatte Werner gesetzt, als er den beiden jungen Frauen im Vorbeigehen zugezwinkert und sie dabei mit einem flotten Spruch auf den Lippen angesprochen hatte.

Wieder kochte die Wut in ihm hoch, als er daran zurückdachte. Dieser schmachvolle Ausdruck, den sie ihm gehässig hinterhergerufen hatten. Hänfling! Was will denn dieser Hänfling …

All die demütigenden Schimpfnamen, die er im Laufe seines nun schon 38 Jahre währenden Lebens bereits über sich hatte ergehen und tief im Keller der Erinnerung verschlossen hatte, waren mit einem mal wieder aufgestiegen. Spargeltarzan, Mickerling, Schmachtlappen …

Vergiss es! Andere Männer sind auch nicht vollkommen und haben trotzdem Erfolg bei den Frauen. Und warum? Die einen, weil sie Macht haben, andere, weil sie die Frauen mit coolen Sprüchen und schwülstigen Liebesbezeugungen weich kochen, und wieder andere, weil sie erst gar kein großes Tamtam machen, sondern den Frauen einfach ihren Willen aufzwingen. Bad Boys bekamen doch schon immer die besten Mädchen.

Werner ging im Geiste noch einmal seine Strategie durch. Das mit der Macht konnte er schon mal knicken. Als kleiner Standesbeamter war sein Einfluss im Weltgeschehen doch eher untergeordnet. Zuletzt hatte er es mehrfach mit coolen Sprüchen versucht, doch die Erfolgsquote war äußerst dürftig geblieben – lediglich ein paar One-Night-Stands nach reichlichem Alkoholgenuss in der Bar und das kurze Intermezzo mit Ingeborg. Werner dachte mit Grimm daran zurück. Beim letzten Osterfeuer hatte er Ingeborg kennengelernt. Eine ganze Woche lang hatte sie sich von ihm aushalten lassen. Restaurantbesuche, Kino, Disco … Er hatte einen Haufen Geld investiert, und das alles völlig umsonst. Ein bisschen Knutschen, mehr war nicht drin gewesen. Als er dann endlich aufs Ganze gehen wollte, hatte sie ihn entrüstet von sich gestoßen und fortan nicht mehr beachtet.

Was soll´s. Neues Spiel, neues Glück!

Nachdem Werner sich angekleidet hatte, schlurfte er in die winzige Küche, von wo ihm bereits ein belebender Kaffeeduft entgegenströmte.

Die Scheibe Toastbrot war mittlerweile schon wieder kalt geworden. Er hätte nicht so lange vor dem Spiegel vertrödeln sollen. Werner seufzte. Es war die letzte Scheibe. Er bestrich das Brot dick mit Butter und schlug die Zeitung von Samstag noch einmal auf. Der jährliche Hospizlauf sollte um 11 Uhr beginnen. Er hatte also noch Zeit. Am Anfang liefen sowieso die Kinder, da tummelten sich nur Mütter auf dem Markt. Auf die konnte er gerne verzichten. Werner musste an das kleine Ungeheuer mit der Wasserpistole denken. Rotzbengel! Nee, nee, Kinder konnte Werner nicht ausstehen.

Nachdem er die Rätselseite vom Wochenendblatt der Zeitung weitestgehend gelöst hatte, trat er ans Fenster. Sollte er das Rad nehmen? Damit brauchte er etwa eine halbe Stunde bis zur Innenstadt. Mit dem Wagen ging es auch nicht viel schneller. Wenn man die Parkplatzsuche und den anschließenden Fußweg einrechnete, kam es aufs Gleiche raus.

Eigentlich nahm Werner fast immer das Rad, doch ein Blick zum Himmel versprach nichts Gutes. Dunkle Wolken zogen vorüber und die tanzenden Zweige der alten Kastanie ließen keinen Zweifel an den unangenehmen Windverhältnissen aufkommen. Auch noch Ostwind.

Was soll´s. Da konnte er schon gegen an trampeln – auch wenn seine Muskeln eher unsichtbar blieben, die Kondition war auf jeden Fall da. Hauptsache, es blieb lange genug trocken.

Werner wollte sein Glück wieder am Bierstand versuchen. Da kam man leichter ins Gespräch, Frauen waren dort kontaktfreudiger. Aber eine Perle mit Alkohol abfüllen und dabei selbst nur Wasser trinken, das ging gar nicht, also blieb ihm sowieso nur das Rad.

Werner hatte die beiden Straßenecken gerade hinter sich gelassen und befand sich auf der langen Zielgeraden in Richtung Innenstadt, als der Wind es endgültig satt hatte, die schweren Wolken noch länger vor sich her zu treiben. Von einem Moment zum anderen ergossen sich die Wassermassen mit einer solchen Heftigkeit auf Werner herab, dass er sofort jegliche Sicht, und beinahe auch das Gleichgewicht verlor. Verdammter Rotzbengel! Für einen Moment wähnte er sich an jenen Tag im vergangenen Jahr zurückversetzt, als dieser unverschämte Bengel ihm mit seiner Wasserpistole direkt in die Augen gespritzt hatte. Damals war er tatsächlich gestürzt und hatte sich den rechten Arm und den Fuß verstaucht. Verdammter Rotzbengel!

Werner konnte sein Fahrrad gerade noch in der Spur halten. Fluchend quälte er sich vorwärts. Verdammter Ostwind! Kurz bevor er den Marktplatz völlig durchnässt erreicht hatte, hörte der Regen endlich auf.

Schon von weitem hörte Werner enthusiastisches Johlen und Klatschen sowie motivierende Kommentare des Mannes am Lautsprecher. Was labert der da? Sind da etwa immer noch Blagen unterwegs?

Werner verzog das Gesicht. Auf dem Weg zum Fahrradständer erhaschte er einen Blick auf die Rennstrecke, wo gerade ein rotwangiger Junge mit deutlichem Übergewicht vorbeikeuchte. Kurz darauf erscholl Jubelgeschrei. Offenbar hatte der Bengel endlich die Zielgerade erreicht. Werner schickte eine stumme Fürbitte himmelwärts, dass er das Schlusslicht gewesen sein möge. Fröstelnd schaute er sich um. Überall nur Väter, Mütter, Omas und Opas, die ihre verzogenen Kinder und Enkel geradezu in den Himmel lobten. Werner stellte sich vor, wie sie grinsend am Straßenrand standen und plötzlich eine Wasserpistole hinter ihren Rücken hervorzogen. Rotzbengel! Der übergewichtige Junge stand jetzt mit seinen stolzen Eltern am Wurststand. Klar, und jetzt gibt’s für den fetten Bengel auch noch eine fette Bratwurst!

Werner musste niesen. Er fror mittlerweile in den nassen Klamotten. Nur gut, dass heute auch verkaufsoffener Sonntag ist.

Neu eingekleidet, in einer dunkelblauen Jeans und einem senffarbenen Blouson, machte er sich eine Stunde später erneut auf den Weg zum Marktplatz, von wo aus ihm nun stimmungsmachende Hits entgegendröhnten. Zum Glück hatten sich mittlerweile nicht nur die letzten Wolkenfetzen, sondern auch ein Großteil der Familien verzogen. Zumindest war der Kinderanteil deutlich geschrumpft. Werner schob sich erwartungsfroh zum Bierstand durch, doch dort standen zurzeit nur Paare und einzelne Männer herum. Er beschloss, ein wenig den Läufern zuzuschauen und drängelt sich bis zur Absperrung vor, die die Laufstrecke sicherte. Verdammt! Die vorderste Reihe war komplett von jungen Männern belagert, die ihn allesamt um wenigstens einen Kopf überragten und so dicht gedrängt standen, dass Werner unmöglich dazwischen passte. Mist! Frustriert wollte er gerade den Rückzug antreten, als mit einem Mal eine seltsame Unruhe und Hektik aufkam. „Da kommt sie wieder! Hey, hey, hey …!“ „Schneller, Mädchen, schneller …“

Wer kommt da? Die sich rasch ausbreitende Erregung hatte etwas eindeutig Lüsternes, das konnte Werner deutlich spüren. Neugierig versuchte er einen Blick auf die angefeuerte Läuferin zu erhaschen, doch die Front aus männlichen Rücken wich um keinen einzigen Zoll. Verdammt! Werner war sich sicher, dass es da vorne keineswegs um irgendeinen Rekord ging. Die Häme in den aufpeitschenden Rufen war nicht zu überhören. Das rhythmische Klatschen zahlreicher Hände steigerte sich mehr und mehr. „Hey, hey, hey! Schneller, Mädchen, schneller!“ Mit Johlen und spöttischem Gelächter trieben sie die Läuferin weiter vorwärts. Ich will auch was sehen! Die Vorstellung von auf und ab hüpfenden Brüsten brachte Werners Herz zum Rasen. Gerade wollte er sich todesmutig zwischen zwei etwas schwächlich wirkende Typen werfen, als die Formation sich plötzlich auflöste und Werner, das Absperrband mit sich reißend, auf die Laufstrecke und direkt vor die Füße eines Mannes fiel, der jener Läuferin dicht nachfolgte. Ein Ausweichen war nicht mehr möglich. Mit einem kräftigen Tritt auf Werners Hinterteil sprintete der fluchende Läufer einfach über ihn hinweg.

Stöhnend rappelte Werner sich auf und taumelte halb benommen von der Bahn. Zu dem Schmerz musste er auch noch das schadenfrohe Gelächter von ein paar Jugendlichen erdulden. Werner hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Das Gelächter versetzte ihn in eine zurückliegende Szene, die sich im letzten Spätsommer zugetragen hatte. Sie trieb ihm noch heute die Schamesröte ins Gesicht. Der aufgefundene Leichnam einer geschändeten alten Frau hatte damals ganz Drosselburg in Aufruhr versetzt. Vor einer Bäckerei hatten ein paar Kunden zusammengestanden und aufgeregt über die Tat geredet. Werner hatte sich einen kleinen, zugegeben, etwas makabren Scherz erlaubt, der eine alte Vettel zu dieser schmachvollen Beleidigung verleitet hatte. Soll ich dir mal deine Genitalien zerfetzen? Da wird dir das Lachen aber ganz schnell vergehen – aber ganz schnell! Obwohl, wenn ich mir dich so anschaue: Da werde ich sicher lange suchen müssen, um was zum Reinbeißen zu finden … Die ganze Runde hatte sich über ihn kaputtgelacht. Das verhasste Wort schien ihm aus allen Mündern entgegenzuspringen – HÄNFLING … dieser HÄNFLING!!!

Verflucht! Der Schmerz seines misshandelten Steißbeins stand in unmittelbarer Konkurrenz mit dem in seiner linken Schulter, doch was Werner am meisten wehtat, war der Zustand seiner neuen Jacke. Keine Stunde hatte er das teure Stück getragen, und schon war es eingesaut. Die used-Optik seiner Jeans hatte ebenfalls an Authentizität zugenommen. Er hätte heulen können. So brauchte er gar nicht erst zum Bierstand zurückzukehren. Scheißtag!

2

„Mist!“ Ein Schwall Seifenwasser schwappte spritzend über den wackligen Stapel bunter Tassen und rann in beängstigender Geschwindigkeit auf den Rand der Arbeitsplatte zu. Hastig versuchte Marietta einen Wasserfall auf ihren Küchenfußboden zu verhindern, da hatte sie den kleinen Turm auch schon umgerissen. Klirrend zerschellten zwei Tassen auf den Fliesen. „Verdammte Scheiße!“

Marietta stellte den kleinen Putzeimer in die Spüle. Heute ging aber auch alles schief und dabei hatte sie sich so sehr auf diesen Sonntag gefreut. Es war ihr erstes freies Wochenende seit langem, und noch dazu hatte Melanie sich für heute angesagt – eines der seltenen Treffen, seit ihre Tochter in diese WG gezogen war. Marietta hatte den ganzen Samstag Vorbereitungen getroffen – gebacken, vorgekocht, das Gästebett frisch bezogen … Um zehn Uhr abends sagte Melanie dann einfach ab. Es ginge ihr nicht gut! Wer´s glaubt. Marietta war stinksauer. Wahrscheinlich hatte ihr Töchterchen einen neuen Kerl kennengelernt. Das ging ja immer ganz fix bei ihr. Leider hielt die große Liebe dann nie lange an. Zum Trösten war Muttern dann wieder gut genug.

Mariettas Hoffnung, eine ihrer Freundinnen hätte heute vielleicht Zeit, hatte sich auch nicht erfüllt. Angela war mit ihrem Mann übers Wochenende weggefahren und Simone lag mit einer dicken Erkältung im Bett. Frustriert hatte Marietta daraufhin die Küche auf den Kopf gestellt und damit begonnen, alle Schränke auszuwaschen. Beim Putzen konnte sie immer am besten Dampf ablassen.

Scheißtag! Fluchend sammelte sie die Scherben auf. Und was nun? Nachdem der Fußboden wieder sauber und alles verstaut war, holte Marietta die Käsesahnetorte aus dem Kühlschrank und schnitt sich ein großes Stück heraus. Lecker! Sie war ihr wieder einmal super gelungen. Marietta überlegte kurz, den halben Kuchen einzufrieren. Den Rest würde sie schon verputzen, kein Problem. Es wurmte sie allerdings, dass ihn dann niemand bewundern konnte. Simone … Erkältung hin oder her, die Torte rutschte auch bei Halsweh. Außerdem brauchte Marietta jemanden, bei dem sie ihren Ärger abladen konnte. Simones Erkältung war da eigentlich ganz praktisch – sie würde ihre Stimme schonen müssen und ihr nicht allzu oft ins Wort fallen. Perfekt.

Ein stürmischer Wind zerrte an Mariettas lose drapiertem Halstuch und fuhr ihr unangenehm in die weit geschnittenen Ärmel der kurzen Sommerjacke. Ungeduldig drückte sie zum dritten Mal auf den Klingelkopf, da ertönte endlich ein Krächzen aus der Gegensprechanlage. „Das wird aber auch Zeit. Hör mal, du krankes Huhn, ich will dich etwas aufmuntern, also mach schon auf!“ Ein Geräusch, das irgendwo zwischen Schleifen und Rasseln einzuordnen war, ging dem Surren des Türöffners voraus. Dynamisch stieß Marietta die Haustür auf und eilte zum Aufzug, an dessen Tür ein großes, Unheil verkündendes Schild prangte: Defekt! Die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen vertiefte sich zu einer steilen Furche. Verdammt! Auch das noch! Fluchend setzt sie ihren Fuß auf die erste Stufe der hölzernen Treppe. Warum musste Simone auch im vierten Stock wohnen?

Die Wohnungstür der Freundin war angelehnt. Offenbar hatte sie sich nach dem Öffnen der Tür sofort wieder in ihrem Bett verkrochen. Als Marietta eintrat, umfing sie sogleich ein würziger, leicht süßlicher Geruch, der ihr zwar irgendwie vertraut erschien, den sie allerdings nicht zuordnen konnte. Er weckte Assoziationen gänzlich unterschiedlicher Bereiche: Schmerzen in den Knien, Sonntagsbraten, Kälte, Sammelbildchen, Gewissensbisse, Langeweile …

„Simone?“ Marietta drückte die Tür durch Hervorstrecken ihres ausladenden Hinterteils zu und lief erst einmal in die Küche, um den Kuchenteller abzustellen. Ein chaotisches Sammelsurium aus benutzten Tassen, Schüsseln, Besteck, Teebeuteln, Zwiebelschalen, irgendwelchen Verpackungen und sonstigem Kram hatte jegliche Abstellfläche vereinnahmt und ließ Marietta für einen Moment hilflos verharren. Ein intensiver Duft nach Kamille überdeckte den abgestandenen Mief einer Zwiebel nur unzureichend. Der würzige Geruch aus dem Flur hing allerdings auch hier noch unterschwellig in der Luft. Kopfschüttelnd kehrte sie um und versuchte ihr Glück im Wohnzimmer. Ein Blick zur Kommode ließ sie erleichtert aufatmen. Das müsste passen. Mit einer einzigen Bewegung ihres linken Armes schob sie die aufgereihten Engelsfiguren kurzerhand zu einem dichten Haufen zusammen und platzierte ihre Tortenplatte direkt daneben. Dann verharrte sie einen Moment nachdenklich und starrte auf die Engel. Eine Verbindung zu dem seltsamen Geruch war plötzlich fast greifbar. Beides gehörte irgendwie zusammen … Naserümpfend verließ sie das Wohnzimmer und hängte ihre Jacke an der Flurgarderobe auf, bevor sie endlich zu Simone ins Schlafzimmer eilte. „Simone? Was riecht hier eigentlich so penetrant? Simone?“ Das gleiche schleifende Rasseln, das Marietta zuvor aus der Gegensprechanlage vernommen hatte, drang nun gedämpft unter einem dicken Federbett hervor. Marietta fegte mit dem Fuß einen Berg benutzter Taschentücher zur Seite und trat an das Bett heran. Der Geruch nach altem Schweiß und Rotz verdrängte den … Weihrauchduft? Genau. Jetzt wusste Marietta, woran der Geruch sie erinnerte. Seit ihrer Firmung hatte sie schließlich keine Kirche mehr betreten.

Marietta beugte sich zu Simone hinab. Offensichtlich ging es ihr wirklich schlecht. Wirr abstehendes, fettiges Haar umsäumte ihr fahles Antlitz, aus dem die rote, wundgeschnäuzte Nase anklagend hervorstand. Beherrscht wurde das traurige Stillleben von einem wehleidigen Blick aus verquollenen Augen.

„Simone, Simone, dich hat es ja ordentlich erwischt. Na, dann will ich dich mal wieder etwas aufpäppeln. Du musst auf jeden Fall viel trinken, und deine Nase braucht offenbar auch eine abschwellende Dröhnung! Am besten, du nimmst gleich ein paar Aspirin. Die bekommen unsere Bewohner auch immer, die wirken ratz fatz! Vielleicht habe ich noch welche in meiner Handtasche. Aber erstmal wird die Tasse leer getrunken!“

Simones entsetzten Blick ignorierend, schob Marietta sie in eine halbsitzende Position und hielt ihr die halbvolle Tasse an die Lippen. Währenddessen schweifte ihr Blick über das vollgestellte Nachttischchen. „Hast du denn kein Nasenspray?“ Einige seltsame, trichterförmige Röhrchen weckten ihre Aufmerksamkeit. „Und was sind das für Minifackeln?“

Simones Versuch, den Tee schnell genug hinunterzuwürgen, konnte nur scheitern. Mit einer panischen Drehung des Kopfes verschaffte sie sich wieder Luft. Marietta zuckte zusammen. „Ach verdammt, warum schluckst du denn nicht!“

Während Marietta den Kleiderschrank der Freundin auf der Suche nach einem frischen Nachthemd durchwühlte, tastete Simone erschöpft nach einem kleinen Block nebst Stift, die in der Nachttischschublade lagen. Kraftlos kritzelte sie ein paar Sätze aufs Papier:

Kein Nasenspray!!!

Kamillendampfbad: Wasser kochen – Kamillenblüten in Schüssel – Wasser drüber und mit Handtuch zu mir bringen!

Keine Tabletten!!!

Bitte neuen Hustensaft ansetzten: Drei Zwiebeln ganz klein schneiden und mit Zucker in das Marmeladenglas geben. Verschließen, schütteln, stehen lassen.

Fackeln sind Ohrkerzen! Glas Wasser bereitstellen. Ohrkerzen nacheinander in meine Ohren stecken und anzünden!

Quarkwickel: Quark (ist im Kühlschrank) dünn auf ein Geschirrtuch streichen. Das Tuch mit der bestrichenen Seite auf meinen Hals legen und Schal drumbinden.

Eis holen! Bitte, bitte!!!

„Also wirklich, deinen Schrank könntest du auch mal wieder aufräumen. Da liegt ja alles durcheinander! Ziehst du diese schrecklichen Hippieklamotten eigentlich noch an? Aus dem Alter bist du doch längst raus …“ Simone versuchte Mariettas missbilligenden Redeschwall auszublenden und wartete geduldig auf ihr frisches Nachthemd. Als die Freundin mit dem gesuchten Kleidungsstück ans Bett zurückkehrte, reichte sie ihr den Zettel.

„Was hast du denn da aufgeschrieben? Gib mal her … Kamillendampfbad, Zwiebelsaft, Ohrenkerzen, Quarkwickel … Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Heute gibt es viel wirksamere Mittel, die man ohne großes Brimborium einnehmen kann. Ich glaub, ich habe noch ein paar Aspirin in der Handtasche!“ Bevor Marietta davonstürmen konnte, zog Simone einen weiteren Zettel unter der Bettdecke hervor.

Nein!!!

Eine Stunde später saß Marietta an Simones Bett und wartete ungeduldig darauf, dass auch die zweite Ohrenkerze endlich abbrannte. Eigentlich wollte Simone während dieser Zwanzigminütigen Prozedur ihre indische Musik hören, doch da hatte Marietta sich konsequent geweigert. Dieses ätzende Gedudel? Auf keinen Fall! Stattdessen musste sie sich die Schimpftiraden über Mariettas undankbare Tochter anhören.

Endlich hatte die verrußte Spitze der Kerze den roten Markierungsstrich fast erreicht. Erleichtert zog Marietta das verbliebene Ende des Röhrchens aus dem Ohr der Freundin und löschte die Kerze im Wasserglas. Bis auf das Eis war Simones Liste nun abgearbeitet. Endlich konnte Marietta ihre Käsesahnetorte präsentieren. Stolz trug sie zwei Teller mit der leckeren Süßspeise ins Schlafzimmer. „Vergiss das Eis. Das hier rutscht genauso leicht und schmeckt dreimal so gut!“

Gerade einmal zwei kleine Bissen konnte sie der Freundin aufzwingen, bevor diese verzweifelt die Lippen zusammenpresste. Doch Mariettas Frust währte nicht lange. Für eine Weile herrschte wohltuende Stille im Schlafzimmer.

Marietta rülpste. Den Rest von Simones Stück hätte sie nach den beiden eigenen wirklich nicht mehr essen sollen. Der Gesprächsstoff war ihr mittlerweile auch ausgegangen. Ständig Monologe zu halten, nervte irgendwann doch. Nachdem Marietta die leeren Teller zurück in die Küche getragen hatte, nahm sie die Samstagszeitung mit, die noch zusammengefaltet auf dem Küchentisch lag.

Sie könnte Simone etwas vorlesen … Glücklicherweise war diese einverstanden und so begann Marietta mit der ersten Schlagzeile. Bereits nach zehn Minuten tönte ein gleichmäßiges Schnarchen durchs Zimmer. Marietta wollte das Blatt gerade zuschlagen, da fiel ihr Blick auf einen Artikel im Lokalteil:

Fünfter Drosselburger Hospizlauf am Sonntag, den 25.9.20. Wir freuen uns auf viele lauffreudige Unterstützer. Die Besucher erwartet ein buntes Rahmenprogramm am Marktplatz. Mariettas Augen leuchteten auf. Das ist ja heute! Der Tag war gerettet.

3

Werners Fahrrad stand mittlerweile versteckt hinter etlichen anderen Drahteseln, sodass es eine Weile dauerte, bevor er es endlich entdeckte. Schimpfend versuchte er, ein paar Räder zur Seite zu schieben, als auch schon das erste umstürzte und fünf weitere mit sich riss. „Verdammt!“ Zunächst versuchte er noch, sie wieder aufzurichten, doch sie verkeilten sich immer heftiger ineinander. Werners Laune hatte den Gefrierpunkt längst überschritten, da bemerkte er, dass mehrere von ihnen mittels einer langen Kette aneinandergebunden waren. Fluchend gab er sein Vorhaben auf. Dieser Scheißtag war definitiv im Eimer. Da konnte er sich genauso gut einen ansaufen, bevor er wieder nach Hause fuhr.

Missmutig steuerte er den Bierstand an, wo mittlerweile reger Betrieb herrschte. Er versuchte sich vorzudrängeln, wurde jedoch immer wieder zurückgeschoben. Als Werner es endlich in die vorderste Reihe geschafft hatte und seine Bestellung aufgeben wollte, nahmen ihn plötzlich zwei fleischige Frauenarme in die Zange, die sich über seine Schultern hinweg am Tresen abstützten. „Ein Radler, bitte!“

Ein intensives, sinnliches Parfum strömte ihm entgegen – so betörend, dass Werners aufsteigender Protestruf augenblicklich in sich zusammenfiel. Schweigend betrachtete er die beiden manikürten Hände, die den seinen so nahe waren, dass sie sich fast berührten. Sie gehörten eindeutig zu einer nicht mehr ganz jungen Frau – ein Umstand, der seinen erotischen Vorlieben keineswegs widersprach … Die Farbe der lackierten Nägel leuchtete in einem intensiven Rotton, der dem von reifen Erdbeeren glich. Jeder einzelne ihrer etwas kurzen Finger war mit einem mehr oder weniger zierlichen Silberring bereift, dessen Glanz mit dem Kettenarmband an ihrem rechten Handgelenk wetteiferte. Ein paar Silbermünzen lugten aus ihrer leicht geöffneten Rechten hervor, die sich just in diesem Moment wieder fest zusammenschloss. Sie kann zupacken … Werner atmete tief ein. Der betörende Duft jener Frau stieg ihm verführerisch in die Nase und von dort aus direkt in entfernter gelegene Regionen seines schmächtigen Körpers. Werner lehnte sich leicht zurück, bis etwas angenehm weich gegen seine Schulterblätter drückte. Seine Fantasie entwarf gerade das Bild eines üppigen Busens, als die Realität ihn auch schon wieder einholte.

„Stimmt so!“ Radler und Münzen tauschten rasch den Besitzer und Werner konnte nur noch einen kurzen Blick auf die Rückenpartie der betörenden Venus werfen. Breite Hüften schwangen rhythmisch zum Takt der erklingenden Musik und schaukelten das üppige Gesäß der Fremden in erregender Weise davon. Ihre blonde Kurzhaarfrisur verschwand kurz darauf ebenfalls in der Menge. Werner seufzte. Der Gedanke ihr zu folgen verpuffte so rasch wie er aufgeflackert war. So schmutzig wie er war konnte er sie unmöglich ansprechen. Scheißtag! „Ein Bier!“

Nach dem dritten Glas sendete Werners Magen erste Signale des Appetits, die sich nach dem vierten Glas beim besten Willen nicht mehr ignorieren ließen. Wo ist der Bratwurststand?

Die Schlange davor war zum Glück nicht allzu lang. Werner stellte sich an und warf einen Blick zur angrenzenden Bierzeltgarnitur. „Ach nee, Rüdiger! Was machst du denn hier?“ Werner verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. „Willste etwa Weiber aufreißen?“ Er begann zu kichern. „Vergiss es – ohne mich haste doch eh keine Chance! Halt mir mal ‘nen Platz frei!“ Werners Schmachrede und sein peinliches Gekicher ließen den Angesprochenen schamhaft erröten. Am liebsten hätte Rüdiger die Flucht ergriffen, doch das hätte sein Freund und Kollege nur als Anlass genommen, im Amt irgendwelche Gerüchte zu verbreiten. Gehorsam rückte er ein Stück zur Seite, nachdem Werner sich kurz darauf mit seiner Wurst zu ihm durchgezwängt hatte. Peinlich berührt beobachtete er, wie der Freund dabei etwas Senf an den Jackenkragen eines anderen Gastes schmierte. Zum Glück hatte der nichts bemerkt.

„Na, alles fit im Schritt?“ Wenn Rüdiger etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann waren es Werners dämliche Sprüche. Die hatten ihn schon früher genervt, als sie noch gemeinsam losgezogen waren, um Damenbekanntschaften zu machen. Rüdiger war froh, dass Werner ihn seit dem Vorfall im letzten Monat endlich in Ruhe ließ. Kneipen und Bars waren nun einmal nichts für ihn, und One-Night-Stands schon mal gar nicht. Rüdiger musste sich mit einer Frau vernünftig unterhalten können. Es musste gemeinsame Interessen geben, über die man sich austauschen konnte. Erst dann …

Abschätzig blickte Werner seinem Kollegenfreund in dessen etwas verkniffen wirkendes Gesicht. Verkniffen – das ist genau der richtige Ausdruck für Rüdiger. Warum war er nur mit so einer Lusche befreundet. Weil er der einzige ist, der mit dir etwas unternimmt. Doch diese Einsicht verdrängte Werner lieber. Seit diesem blamablen Abend vor drei Wochen hatte Rüdiger echt bei ihm verschissen. In der Kneipe hatte Werner zwei Frauen angesprochen, die sich nur allzu bereitwillig auf ein Bier einladen ließen. Gut, sie waren nicht mehr die allerjüngsten, aber dafür äußerst willig, den Abend in Werners Wohnung lustvoll ausklingen zu lassen. Rüdiger, diese Lusche, hatte im letzten Moment kalte Füße bekommen und war geflüchtet, worauf die beiden Hübschen sich ebenfalls verabschiedet hatten.

Rüdiger leerte rasch sein Glas Sprudel und tupfte sich noch kurz den Mund mit einer Serviette ab, bevor er sich räuspernd erhob.

„Und …, was machst du jetzt so … nach Feierabend?“ Werners Frage glich einem Lasso, das Rüdiger einfangen und so am Fortgehen hindern sollte. Natürlich interessierte es Werner nicht im Geringsten, wie der Kollege seine Abende verbrachte. Er hatte einfach keine Lust alleine zu bleiben. Schließlich war Rüdiger immer noch besser als gar keine Gesellschaft. Das Lasso berührte sein Opfer kurz, dann glitt es von ihm ab. „Ach, du weißt doch, meine Balkonpflanzen … ich muss jetzt auch los, also, bis morgen im Amt!“

Enttäuscht blickte Werner dem davoneilenden Freund hinterher. Balkonpflanzen. Was Rüdiger an dem Grünzeug fand, konnte Werner beim besten Willen nicht verstehen, dass er sie seiner Gesellschaft vorzog, war einfach unfassbar. Mürrisch verschlang er das letzte Stück seiner Wurst und erhob sich ebenfalls. Dann bleibt mir also nur noch das Bier.

4

Werners Pulsschlag beschleunigte sich rasant. Er spürte den bebenden Busen der hinter ihm stehenden Frau und saugte genüsslich ihren betörenden Duft ein. Weit lehnte er seinen Kopf zurück, teilte die üppigen Brüste gleich einem Keil, der das widerspenstige Holz des geschlagenen Baumes weit auseinander zwingt. Sie umschlossen seinen Nacken, pressten sich lüstern gegen seine Ohren, während die manikürten Hände der Frau ihn verlangend packten und … Schrilles Pfeifen ertönte plötzlich von der Bühne und ließ die Frau mit einem Mal davon eilen. Er drehte sich um und jagte ihr hinterher. Die ganze Zeit über hatte er dieses nervtötende Pfeifen im Ohr. Plötzlich befand sich die Frau auf der Laufstrecke, Werner hechtete ihr nach, stürzte und …

Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastete Werner nach seinem Radiowecker, während er mit der anderen Hand die Bettdecke über seine Ohren zog. Scheiß Wecker! Das Pfeifen hatte mittlerweile eine unerträgliche Frequenz erreicht. Verdammt, wo ist der Schalter …

Er richtete sich etwas auf, um den Aus-Knopf zu erreichen, doch der stechende Schmerz in seinem Kopf ließ ihn umgehend wieder ins Kissen sinken. Verdammt! Ganz vorsichtig und nur äußerst widerwillig quälte Werner sich aus dem Bett und in die Küche, wo er rasch ein paar Aspirin einwarf, bevor er den Kaffee aufsetzte. Unter der Dusche ließ er den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren. An alles konnte er sich nicht mehr erinnern, doch die Frau war in jeder Hinsicht präsent – ihre Hände mit den etwas kurzen, beringten Fingern, den rot lackierten Nägeln … Er konnte sich auch genau an das Armband erinnern, das sie getragen hatte, und natürlich ihre hinreißende Rückenansicht – die breiten, schwingenden Hüften und dieser gewaltige Po. Das blonde Haar hatte sie kurz getragen. Werner seufzte. Ihre Stimme hatte tief geklungen, etwas rauchig. Und wie gut sie gerochen hatte …

Die Stunden im Amt zogen sich quälend in die Länge. Neben etlichen Beurkundungen durfte er auch drei Scheidungen und eine Trauung vollziehen. In den ersten Jahren seiner Berufung zum Standesbeamten hatte er sich noch über jede Trauung gefreut. Die festliche Stimmung aller Beteiligten, die Rührung der Eltern und vor allem die strahlenden Augen der Brautpaare hatten auch bei ihm Glücksgefühle wachgerufen. Die Vorstellung selbst dort als stolzer Bräutigam zu stehen hatte ihn lange Zeit begleitet. Früher oder später würde die Richtige schon kommen, hatte er geglaubt. Doch mit den Jahren war diese Hoffnung mehr und mehr verblasst. Er hatte einfach kein Glück beim weiblichen Geschlecht.

Das schwindende Glücksgefühl bei den Trauungen ging zeitgleich mit einer erstarkenden Schadenfreude einher, die er mittlerweile bei jeder Scheidung empfand.

Die höchste Befriedigung zog Werner aus Trennungen, denen ein bitterer Rosenkrieg vorangegangen war. Die erlittenen Wunden waren den Paaren stets deutlich anzusehen. Kränkungen, die nicht selten bis unter die Gürtellinie reichten, verletzte Eitelkeiten, Verbitterung bis hin zu offenem Hass bescherten ihm mittlerweile ein wohliges Gefühl innerer Genugtuung. Während er gegenüber den Klienten eine mitfühlende Fassade aufrechterhielt, versammelten sich die ihm innewohnenden Teufelchen zu ausgelassenen Freudentänzen.

Eine weitere lustvolle Konstellation boten ihm Scheidungen, die lediglich von einem der Partner angestrebt wurden, während der andere bis zuletzt verzweifelt an der Ehe festzuhalten versuchte.

Dem Betteln, oft bis zur Selbstzerfleischung reichendem Flehen und Winseln der einen Seite stand meistens zutiefst empfundene Verachtung auf der anderen Seite gegenüber. Wenn diese peinliche Unterwürfigkeit Werner auch oft die Schamesröte ins Gesicht trieb, so minderte es sein Vergnügen doch keineswegs. Im Gegenteil, in solchen Situationen konnte Werner sein Junggesellendasein so richtig genießen.

Wenn er heute eine Trauung vornahm, stellte Werner sich gern vor wie dieses Paar ein paar Jahre später wieder vor ihn treten würde.

In der Mittagspause hielt Werner vergebens nach Rüdiger Ausschau. In der Kantine konnte er ihn nicht entdecken, obwohl sie eigentlich stets zur gleichen Zeit zu Tisch gingen. Wahrscheinlich hatte er sich wieder Brote mitgenommen, die er an seinem Schreibtisch in der Registratur verspeiste. Werner schüttelte verständnislos den Kopf. Er selbst war jedes Mal froh, wenn er das Büro verlassen konnte.

Am folgenden Tag fuhr Werner mit dem Wagen zur Arbeit. Die sturmgepeitschten Regenwolken vor seinem Fenster erinnerten doch allzu sehr an den grässlichen Wolkenbruch vom Sonntag. Er hatte keinen Bock darauf, völlig durchnässt im Amt zu erscheinen.

Rüdiger hatte sich mittags zwar wieder in der Kantine blicken lassen, erwies sich jedoch als äußerst wortkarg. Wahrscheinlich hatte eine seiner Balkon- oder Zimmerpflanzen wieder Läusebefall oder Blattfäule. Solche „tragischen“ Ereignisse konnten Rüdiger völlig fertig machen. Werner konnte ja noch verstehen, wenn Menschen ihre Haustiere liebten als seien es ihre Kinder – aber Grünzeug?!

Auf dem Heimweg war Werner froh, dass er sein Fahrrad zu Hause gelassen hatte. Seit dem Vormittag schüttete es wie aus Eimern, und wie es aussah, würde es auch noch in den kommenden Stunden weiterregnen.

Zu Hause angekommen machte Werner sich wie gewohnt einen kleinen Imbiss, bevor er sich mit einer Flasche Bier in den Fernsehsessel fallen ließ. Lustlos zappte er sich durch die Programme, stand wieder auf und tigerte unruhig durch die Wohnung. Er war irgendwie kribbelig. Ihm fehlte offenbar die körperliche Bewegung. Den Gedanken, mal wieder ins Fitnessstudio zu gehen, verwarf er ziemlich schnell. Die belustigten Blicke der anderen Männer hatte er noch nicht vergessen.

Sein schmächtiger Körperbau fiel dort natürlich besonders auf. Plötzlich leuchteten seine Augen erfreut auf. Jepp! Das Schwimmbad war seine Rettung. Warum war er eigentlich nicht schon früher auf die Idee gekommen? Zum Glück hatte Werner sich für den letzten Urlaub auf Malle eine neue Badehose gekauft – ein ganz besonderes Stück, an das er, einer interessanten Studie zufolge, hohe Erwartungen gestellt hatte. Männer, die rot tragen, wirken mächtiger, attraktiver und sexuell anziehender, hatte in dem Bericht gestanden. Erwartungsvoll hatte Werner sich später am Pool mit seiner neuen Errungenschaft präsentiert …

Schwamm drüber. Werner packte eilig noch ein großes Handtuch, Badelatschen und sein Duschgel ein, und schon ging es los zum Stadtbad.

Das Schwimmbad war um diese Zeit gut besucht, sodass Werner anderen Schwimmern immer wieder ausweichen musste, um nicht mit ihnen zu kollidieren. Angesichts eines Badegastes, der einer Wasserleiche gleich vor ihm durchs Becken dümpelte, setzte Werner gerade zu einem Überholmanöver an, als er einen schmerzhaften Schlag in die Seite bekam. „Au! Blödmann!“ Der junge Sportler warf ihm noch einen wütenden Blick zu, dann war er auch schon vorbei gekrault. Verärgert beschloss Werner, dass es besser sei, sich an einen anderen Schwimmer mit ähnlichem Tempo anzuhängen. Abschätzend ließ er seinen Blick durch das Becken huschen. Da, ein paar Bahnen weiter rechts wurde er fündig. Einem Schneepflug gleich teilte eine dynamische Schwimmerin das Wasser mit ihren muskulösen Armen und räumte dabei alles zur Seite, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. In ihrem Windschatten konnte Werner endlich ungestört seine Bahnen ziehen. Amüsiert beobachtete er den seltsamen Schwimmstil der Frau. Bei jedem dritten Armschlag hob sich ihr üppiges Hinterteil provozierend weit aus dem Wasser empor. Gehalten vom enganliegenden, mit bunten Blüten versehenen Schwimmdress drückten sich ihre prallen Pobacken verführerisch gegen die unnachgiebige Stoffhülle. Ein hinreißender Anblick, der Werners Fantasie auf sinnliche Weise beflügelte und ihn gefährlich dicht aufschließen ließ. Sein Verlangen das lockende Fleisch aus seinem blümchenverzierten Gefängnis zu befreien wurde beinahe übermächtig. Eins, zwei … Mit ungezähmter Erregung fieberte Werner dem Auftauchen der begehrlichen Insel entgegen. Jetzt! „Au!“ Die Füße der Frau trafen Werners Kinn mit solch einer Wucht, dass der explodierende Schmerz ihm für einen Moment den Atem nahm. Erschrocken drehte die Schwimmerin sich zu ihm um. „Hallo? Schon mal was von Abstand halten gehört?“ Noch bevor Werner irgendetwas erwidern konnte, hatte sie sich wieder abgewandt und war einfach weiter geschwommen. Der pochende Schmerz in seinem Unterkiefer trieb ihm unaufhaltsam Tränen in die Augen. Halb blind suchte Werner hastig den Beckenrand auf, wo er sich einen Moment sammeln musste, bevor er eilig aus dem Wasser stieg und kurz darauf das Schwimmbad verließ. Scheißtag!

Auf dem Heimweg ließ Werner das Geschehen noch einmal Revue passieren. Im Nachhinein erinnerte ihn dieser gewaltige Po doch sehr an den der Fremden vom Bierstand. Auch diese rauchige Stimme … Werners Puls stieg in die Höhe. Was für Haare hatte die Schwimmerin … Werner konnte sich nicht einmal daran erinnern, ob sie eine Badekappe getragen hatte. Er hatte sich ausschließlich auf ihren Po konzentriert.

Sie hat sich zu mir umgedreht … Werner versuchte sich an ihr Gesicht zu erinnern, doch er schaffte es nicht, die verdammten Tränen hatten ihm jegliche Sicht genommen. Hatte sie ihn wohl beobachtet, als er aus dem Wasser gestiegen war? Wenn ja, hätte die knallrote Badehose ihren Blick bestimmt von seiner schmächtigen Figur abgelenkt. Andererseits wäre sie auch ein deutliches Wiedererkennungsmerkmal. Nach der peinlichen, für ihn so schmerzhaften Begegnung im Becken lag ihm herzlich wenig daran. Ob sie wohl regelmäßig zum Schwimmen geht? Werner brauchte unbedingt eine neue Badehose.

Am folgenden Dienstag fuhr er wieder mit dem Wagen zur Arbeit, um von dort aus direkt zum Schwimmbad zu gelangen. Falls die Fremde, wie er inständig hoffte, wieder erscheinen sollte, so wäre er bereits vor Ort und könnte sie vom Becken aus beobachten. Ob ich sie gleich erkennen werde? Hoffentlich trägt sie wieder den Blümchenbadeanzug … Die Erwägung beim Schwimmen seine Brille aufzulassen verwarf Werner rasch wieder. Er würde seinen größten Trumpf doch nicht hinter Brillengläsern verstecken.

Die folgende Woche verging ohne nennenswerte Höhepunkte in Werners tristem Singledasein. Als am folgenden Dienstag der heiß ersehnte Feierabend endlich gekommen war, machte Werner sich umgehend auf den Weg zum Stadtbad. Aufgeregt schlüpfte er in seine neue, symbolträchtig grüne Badehose und stieg kurz darauf ins Becken. Er hoffte inständig, dass die Fremde auch kommen möge, doch die Zeit verrann ereignislos.

Frustriert zog Werner nun schon seit einer dreiviertel Stunde seine Bahnen, ohne dass ein weibliches Wesen mit entsprechenden körperlichen Merkmalen erschienen war. Gerade wollte er aufgeben und aus dem Becken steigen, da trat sie endlich aus der Tür zum Damenduschraum. Werner erkannte sie sofort, auch ohne Brille. Wow! Mit ein paar kräftigen Zügen erreichte er den Beckenrand, von wo aus er sie ungestört beobachten konnte. Die Üppigkeit ihrer Figur beschränkte sich keineswegs nur auf das ausladende Gesäß. Werner musste schlucken. Diese Frau war eine reine Augenweide. Erst nachdem ihr Körper komplett im Wasser verschwunden war, geriet ihr Kopf in Werners Fokus. Sie hatte tatsächlich diese blonde Kurzhaarfrisur wie die Frau vom Bierstand. Sie war es. Definitiv.

Erst jetzt bemerkte Werner, dass sie nicht allein gekommen war. Eine andere Frau, vermutlich ihre Freundin, war ihr auf den Fuß gefolgt. Laut schwatzend schwammen die beiden nebeneinander her. Werner folgte ihnen, dieses Mal allerdings auf genügend Abstand bedacht.

„Und, wie war das Wellnesshotel? Hat sich das Wochenende gelohnt?“

Diese Stimme … Werner hoffte inständig, seine Angebetete möge weitersprechen. „Ach, Marietta, es war herrlich! Vier verschiedene Saunen, ein umfangreicher Spa-Bereich mit großem Schwimmbecken mit Wasserfall und Gegenstromanlage, dazu super nettes Personal und eine Küche, da leckst du dir alle Finger nach! Ich habe in den zwei Tagen ein ganzes Kilo zugenommen. Da müssen wir drei unbedingt mal zusammen hin! Wie geht’s eigentlich Simone? Ich dachte, sie würde heute auch kommen.“ Marietta, ihr Name ist Marietta! Werner stellte sich Marietta in der Sauna vor, lasziv an der hölzernen Wand lehnend, die Beine leicht gespreizt, seufzte sie wohlig, während dicke Schweißperlen langsam über ihren feucht glänzenden Körper krochen. „Simone ist wieder fit. Sie wollte heute allerdings zu irgend so einem Vortrag über Selbstheilungskräfte oder die Heilkräfte der Natur oder so ähnlich. Du kennst sie doch. In der Beziehung hat sie echt einen an der Klatsche.“ „Na ja, vielleicht kann sie da ja was für ihren Esoterikshop verwenden.“ Mariettas abfälliges Schnaufen konnte Werner sehr gut nachvollziehen. Er musste gleich an Rüdiger denken. Noch so eine, der irgendein Geschwafel über Grünzeug wichtiger ist als das Zusammensein mit den Freundinnen.

In der folgenden halben Stunde erfuhr Werner ein paar interessante Details über Marietta. Beruflich hatte sie irgendetwas mit Pflege zu tun, Krankenschwester oder etwas in der Art. Eine beruhigende Vorstellung, mit so einer Frau verheiratet zu sein. Zu Werners Freude deutete allerdings nichts auf einen Partner hin. Sie ist Single! Ein warmes Glücksgefühl durchzog Werners Körper bei der Vorstellung, Mariettas Herz vielleicht gewinnen zu können.

„Für die Wassergymnastik hat sie sich doch aber auch angemeldet, oder?“ „Ja, da macht sie mit. Ich bin nur froh, dass meine Kollegin jetzt doch donnerstags für mich die Spätschicht übernimmt. Sie hatte ja erst rum gezickt. Blöde Wechselschicht!“

Werners Herz machte einen Freudensprung. Sie gehen zur Wassergymnastik. Das ist die Gelegenheit!

Noch am gleichen Abend begann Werner mit der Entwicklung eines Schlachtplanes. Die Anmeldung zur Wassergymnastik war dabei ein entscheidender erster Schritt. Zum Glück gab es noch ein paar wenige freie Plätze.

5

Als Marietta das Café del Sol erreichte, lachte die Sonne bereits vom wolkenlosen Himmel auf das einladende Anwesen herab. Simone und Angela erwarteten ihre Freundin bereits am Eingang des Cafés, von wo aus ihnen stimmungsvolle Musik entgegenhallte. Marietta eilte beschwingt die breite Treppe hinauf. „Guten Morgen, ihr Süßen. Was für ein Tag! Sollen wir uns auf die Terrasse setzen?“ Angela grinste ihr entgegen. „Aber logisch doch!“

Die drei Frauen wählten einen Tisch am Rand der überdachten Veranda. Über die rustikale Brüstung hatten sie einen freien Blick zum angrenzenden Parkplatz und die eintreffenden Besucher.