Schattenpark - Chris Tewes - E-Book

Schattenpark E-Book

Chris Tewes

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Beschreibung

Entsetzen macht sich in der kleinen Stadt Erpelsbrück breit, als im Nordpark der geschändete Leichnam einer alten Frau gefunden wird. Doch noch bevor ein morgendlicher Jogger die grausige Entdeckung meldet, haben verschiedene nächtliche Parkbesucher die Leiche längst entdeckt. Warum hat niemand die Polizei gerufen? Was haben sie zu verbergen? Ist einer von ihnen der Täter?

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Chris Tewes

Schattenpark

Roman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Zum Inhalt
Die Autorin
Impressum
Tag 1
1 Paul
2 Minna
3 Justin
4 Paul
5 Justin
6 Minna
7 Lydia
8 Justin
9 Ronny
10 Justin
11 Justin
12 Paul
13 Lydia
14 Ronny
15 Ronny
16 Lydia
Tag 2
17 Paul
18 Justin
19 Ronny
20 Lydia
21 Paul
22 Justin
23 Paul
Tag 3
24 Ronny
25 Justin
26 Lydia
27 Paul

Zum Inhalt:

Ein morgendlicher Jogger findet in einem Park die geschändete Leiche einer alten Frau. – Wie hatte es dazu kommen können? Was ist in der Nacht zuvor geschehen?

Die Lebensfäden von fünf Personen und deren Umfeld kreuzen sich, verweben und driften wieder auseinander.

Über allem schwebt die Frage: Ist einer von ihnen der Täter?

Foto: Irma Korthals, www.foto-morgana.de

Die Autorin:

Chris Tewes ist in Herne geboren und aufgewachsen, wo sie auf den Hinterhöfen ihres Viertels eine ausgelassene Kindheit verbrachte. Der Buchhändlerlehre und einer längeren Erziehungspause folgte eine Ausbildung zur Heilerzieherin. Als solche war Chris Tewes einige Jahre an einer Förderschule tätig. Doch irgendwann merkte sie: Sie wollte schreiben! Welten erschaffen, Schicksale lenken …

Heute lebt Chris Tewes mit ihrem Mann in einer beschaulichen Kleinstadt an der Ruhr und widmet sich nun schon seit mehreren Jahren dieser großen Leidenschaft.

Für Mechthild

Impressum

Ausführliche Information

über unsere Autoren und Bucher erhalten Sie auf

www.JustTales.de

Roman von Chris Tewes

Erstauflage 2017 erschienen bei Ruhrliteratur, Bochum

Zweite überarbeitete Auflage Juni 2018 erschienen bei

JustTales Verlag, Bremen

Geschäftsführer Andreas Eisermann

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

Copyright © 2018 JustTales Verlag

An diesem Buch haben viele mitgewirkt,

insbesondere:

Lektorat/Korrektorat: Jens Leefers

Einbandgestaltung: K-E-Coverdesign

Buchsatz: DaTex, Leipzig

Druck & Bindung: Booksfactory

Paperback ISBN 978-3-94722116-5

Auch erhältlich als

E-Book ISBN 978-3-94722117-2

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Lieber Leser!

Der JustTales Verlag dankt für den Kauf dieses Print-Exemplars.

In Zeiten der Digitalisierung fällt es kleinen Sortimentsbuchhandlungen immer schwerer, Ihnen eine Vielfalt an Büchern zu präsentieren. Daher freuen wir uns, dass Sie mit dem Kauf eines Print-Exemplars den Deutschen Buchhandel unterstützt haben und wünschen Ihnen ebenso viel Freude beim Lesen, wie wir hatten beim Erstellen des Buches.

Ihr Team vom JustTales Verlag

Tag 1

1Paul

Schleichend war die Dunkelheit dem Licht des neuen Tages gewichen und hatte die Träume der Nacht diskret mit sich fortgetragen.

Das bärtige Gesicht des Mannes lugte aus dem alten Schlafsack hervor und schaute hinauf zu den Schatten der dicht belaubten Zweige. Zu dieser frühen Stunde waren sie meist noch zu völliger Bewegungslosigkeit erstarrt. Kein Lüftchen regte sich. Die Zeit schien stillzustehen.

Seit seiner großen Reise vor zwölf Jahren hatte Paul diesen magischen Moment – den Augenblick, kurz bevor der erste Vogel einen Laut von sich gibt – noch nie verschlafen.

Die Zeit der Dämmerung war angebrochen und so reckte Paul ausgiebig seine steifen Glieder, bevor er die Beine schwungvoll von der Bank katapultierte und sein drahtiger Körper automatisch in eine sitzende Position gehoben wurde.

Paul öffnete seinen Schlafsack. Das Ratschen des Reißverschlusses setzte zeitgleich mit dem Morgenruf des ersten Vogels ein, dem sich sogleich ein Heer gefiederter Zeitgenossen anschloss. Offenbar hatten sie bereits ungeduldig auf das Kommando gewartet.

Paul strich das noch immer dichte, wellige Haar aus seiner Stirn. Bis auf eine kleine Stelle im Nacken war der einstmals hellbraune Schopf vollkommen ergraut. Zügig rollte Paul den Schlafsack zusammen und fixierte das weiche Bündel mit zwei kurzen Schnüren.

Ein paar Dehnübungen sollten seine steife Muskulatur wieder geschmeidig machen, doch das Knacken seiner müden Knochen erinnerte ihn daran, dass es mit der einstigen Beweglichkeit allmählich vorbei war. Pauls neunundfünfzigstes Lebensjahr war bereits angebrochen. Das Alter forderte mehr und mehr seinen Tribut.

Pauls Blick wanderte über die taubenetzte Wiese hinweg zum kleinen, etwas abschüssig gelegenen Teich hinunter. Umwoben von zarten Nebelschwaden wirkte das still daliegende Gewässer geradezu mystisch. Das Trugbild anmutiger Nymphen, die, in luftige Schleier gehüllt, am Ufer des Teiches einen Reigen tanzten, ließ ihn für einen Augenblick innehalten. Paul seufzte. Schluss jetzt! Sieh zu, dass du in die Gänge kommst! Er fröstelte. Der Sommer neigte sich definitiv dem Ende zu.

Während Paul mit ausholenden Schritten den kurzen Weg zum Teich zurücklegte, eilten seine Gedanken wieder einmal zu dem kleinen Schließfach am Bahnhof. Seit ein paar Jahren rief sein verlockender Inhalt in jedem Herbst lauter nach ihm. Paul presste die Lippen zusammen. Noch ist es nicht soweit!

Das Gesicht nach Osten gewandt ließ Paul sich am Ufer des Teiches nieder, zog seine Beine in den Lotussitz und kramte eine zerbeulte Wasserflasche aus seinem Rucksack hervor. Von Zeit zu Zeit trank er einen Schluck, murmelte leise ein paar für Außenstehende unverständliche Worte vor sich hin und verspritzte ein bisschen Wasser um sich herum. Nach ein paar Minuten stand er wieder auf, entkleidete sich und wusch seinen Körper ausgiebig im trüben, kalten Wasser des Teiches.

Nachdem Paul seine Morgentoilette beendet hatte, stieg er rasch wieder in seine Kleider. Die Kälte machte ihm immer mehr zu schaffen. Vielleicht sollte er doch … Wenn da nicht Sami wäre! Unsicher tasteten Pauls klamme Finger nach dem hölzernen Anhänger, den er schon seit Jahren an einem Lederband um den Hals trug: Ein reich verzierter Elefantenkopf thronte auf dem rundlichen Körper eines Menschen. Dargestellt war die hinduistische Gottheit Ganesha. Der elefantenköpfige Gott galt als Glückssymbol, er stand für Weisheit, Harmonie und Frieden. Paul begann keinen Tag ohne eine kurze Andacht zu seinen Ehren.

Erste Sonnenstrahlen hatten den weißen Schleier mittlerweile von der Wiese vertrieben. Dieser Tag versprach noch einmal warm zu werden. Paul würde ihn in vollen Zügen genießen, denn lange konnte es nicht mehr dauern, dann würden erste Herbstboten den Sommer mit üppigen Regenfällen vertreiben. Paul wusste, dass er sich bald Gedanken über sein Winterquartier machen musste.

Bevor er zu seinem täglichen Rundgang durch die Stadt aufbrach, genoss er noch ausgiebig die friedliche Stimmung des jungen Morgens. Mit allen Sinnen sog er dessen Gaben in sich auf – die warmen Sonnenstrahlen auf seiner kühlen Haut, das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen, den Anblick der weißen Federwolke, wie sie sacht durch das blaue Meer des Himmels schwebte, und das Glitzern des Wassers im Teich, unter dessen Oberfläche er gerade einen Schwarm kleiner Stichlinge entdeckte.

Sein erster Weg führte Paul wie immer zu den großen Müllcontainern hinter dem Supermarkt. Er wusste genau, wann die abgelaufene Ware entsorgt wurde. Es war verboten, sich diese Ware anzueignen. Einmal hatte ihn eine junge Angestellte beim Durchwühlen des Mülls erwischt, sie hatte ihn nur entgeistert angestarrt und sich dann gleich wieder abgewandt. Seit diesem Vorfall hatte er an jedem Wochentag eine große Plastiktüte neben dem Container vorgefunden – gefüllt mit Lebensmitteln, die allesamt gut erhalten und unbeschädigt waren. Paul war ganz gerührt gewesen. Sein Anblick damals hatte die Frau offenbar schockiert.

Seit einer Woche stand allerdings keine Tüte mehr da, wahrscheinlich hatte die Frau den Job aufgegeben. Und wenn sie ihn verloren hatte, dann hoffentlich nicht seinetwegen!

Nachdem Paul sich eingedeckt hatte, suchte er sich ein gemütliches Plätzchen zum Frühstücken und machte sich anschließend auf den Weg zu der Givebox, die vor ein paar Wochen in der Nähe des Marktplatzes aufgestellt worden war. Das Aufsuchen dieser Givebox war seitdem zum festen Bestandteil, sogar zum Highlight seines Tagesablaufes geworden. Neugierig hatte er sich in der seltsamen Kabine umgeschaut, als diese eines Tages im Übergangsbereich zwischen Fußgängerzone und Marktplatz gestanden hatte. In dieser Box sollte man Dinge ablegen, die man selber nicht mehr gebrauchen konnte und die für andere interessant sein könnten. Jeder durfte sich hier bedienen, die einzige Bedingung bestand darin, dass man gleichzeitig etwas abgeben musste. Niemand kontrollierte das, das Prinzip basierte ausschließlich auf Vertrauen. Schon bald hatte sich an dieser Stelle ein reger Tauschhandel entwickelt.

Bei seinem ersten Besuch war es ein dünnes, unscheinbares Büchlein gewesen, das Pauls Aufmerksamkeit erregt hatte. Eingeklemmt zwischen den wuchtigen Einbänden zweier Thriller, die in Hochglanzlettern auf ihren mörderischen, blutrünstigen Inhalt hinwiesen, war der schmale Gedichtband leicht zu übersehen gewesen.

„Kein Ort zum Schreiben“.

Der Titel schien ihm irgendwie passend, und so hatte er das Buch an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen und angefangen zu lesen:

Träume

So viele Träume suchen mich heim in der Dämmerung.

Der letzte Traum vertrieb den Traum davor,

Der nächste Traum verdrängt den letzten …

Paul musste unwillkürlich an Samantha denken. Er hätte den Band gerne mitgenommen, um sich an einem idyllischeren Ort der Poesie von Lu Xun hinzugeben, doch da er an diesem Tag absolut nichts bei sich hatte, worauf er hätte verzichten können, blieb er so lange in der Box, bis er auch das letzte Gedicht gelesen hatte. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, es einfach mitzunehmen, ohne Gegenleistung.

Nach kurzem Zögern klemmte er das Büchlein zurück an seinen Platz. Für einen Moment war er geneigt gewesen, es an die Seite eines friedlicheren Buches zu stellen. Vielleicht neben die Liebesgeschichte? Aber eine innere Stimme überzeugte ihn davon, dass diese Perle der Poesie, dieses Zeugnis menschlicher Empfindungen neben Brutalität, Verrat und Wahnsinn gut aufgehoben war. Vielleicht drang ja etwas von seiner Wärme nach außen – eine kleine Flamme, die das Grauen rechts und links ein klein wenig erträglicher machte.

Als Paul dieses Mal den kleinen Raum betrat, hatte er eine Flasche Bier dabei. Unversehrt und noch lange haltbar! Er hatte sie auf einem abgelegenen Brachland gefunden, auf dem eine Gruppe Jugendlicher in der letzten Nacht gefeiert hatte. Paul selbst trank keinen Alkohol, schon seit Jahren nicht mehr.

Früher hatte er vor dem Schlafengehen immer ein paar Gläser Rotwein getrunken, sonst wäre er nicht zur Ruhe gekommen. Auch zu den Geschäftsessen hatte Alkohol ganz selbstverständlich dazugehört – das lockerte die Stimmung. Man musste natürlich trinkfest sein, durfte das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Paul war gut in seinem Job, sehr gut sogar. Er war die Karriereleiter bis ganz nach oben geklettert, er besaß alles, wovon man als junger Mensch so träumt: eine schicke Villa vor der Stadt, einen Sportwagen, das Ferienhaus auf Sylt und eine kleine Segelyacht. Und natürlich Marianne, die schönste und bezauberndste Frau, die ein Mann sich nur wünschen konnte!

Marianne hatte das unschöne Ende schon lange kommen sehen; immer wieder hatte sie ihn gewarnt: „Schalte einen Gang zurück, du machst dich kaputt. Dich und unsere Beziehung!“ Er hatte nicht auf sie gehört. Das Laufrad, in dem er gefangen war, ließ sich zu jener Zeit schon längst nicht mehr stoppen. Er konnte nur noch weiterrennen, weiter und weiter …

So etwas wie ein Privatleben gab es für ihn und Marianne damals schon lange nicht mehr. Er war nur noch für die Firma, rund um die Uhr. Um dem Stress wenigstens hin und wieder zu entfliehen, griff er immer öfter zur Flasche.

Nachdem Marianne ihn verlassen hatte, ließ auch der Zusammenbruch nicht mehr lange auf sich warten. Nachts konnte er keinen Schlaf mehr finden und tagsüber wurde er von einer chronischen Müdigkeit beherrscht. Auf die simpelsten Dinge konnte er sich bald nicht mehr konzentrieren. Er wurde reizbar und ungerecht seinen Untergebenen gegenüber. Eine Zeit lang hatte Paul wenigstens den Schein noch wahren können, doch als seine Fehlentscheidungen sich gehäuft hatten, war er für die Firma irgendwann nicht mehr tragbar gewesen.

Paul stellte die Bierflasche vorsichtig ans Ende des unteren Regals und trat erwartungsfroh an das Bücherbord auf der gegenüberliegenden Seite.

Mit geneigtem Kopf ließ er seinen Blick die dicht gedrängten Buchrücken entlanggleiten. An diesem Tag war das Angebot ausgesprochen vielseitig. Mehrere Krimis, ein Reisebericht über die Toskana, ein erotischer Roman, ein altes Märchenbuch und zwei humorvolle Beziehungsgeschichten, die er unter der Rubrik „Frauenromane“ verbuchte.

Als Paul den Titel des letzten Buches las, begannen seine Augen zu leuchten. „Sofies Welt“ war wieder da! Dieser Schmöker, in dem die Geschichte der Philosophie mit einer spannenden Rahmenhandlung leicht verdaulich erklärt wurde, war ihm schon vor Jahren ins Auge gesprungen, doch damals hatte er einfach keine Zeit gehabt, nur so zum Spaß ein Buch zu lesen. Vor einigen Wochen hatte er das Buch in der Givebox wiederentdeckt, doch da ihm die alte Lesebrille, ein wahres Geschenk für seine alterskurzsichtigen Augen, zunächst wichtiger erschienen war und er an jedem Tag grundsätzlich nur einen einzigen Gegenstand eintauschte, hatte er sich auf den nächsten Tag vertröstet. Leider vergebens.

Glücklich verstaute Paul seinen Schatz im Rucksack und verließ die Givebox. Am Nachmittag würde er mit der Lektüre beginnen. Jetzt war erst einmal Zeit für seine tägliche Wanderung.

Die entspannende Wirkung des „Mönchsganges“ hatte Paul während seiner Suchttherapie kennen und lieben gelernt. Diese uralte Methode, durch Herbeiführen einer inneren Stille zu sich selbst zu finden, war so verblüffend einfach wie wirkungsvoll. Während des etwa sechzigminütigen Spazierganges waren seine immerwährenden, quälenden Gedankenspiralen mehr und mehr gewichen und hatten seine Wahrnehmung bald gänzlich vom bewussten Denken fort- und zu den elementaren Erfahrungen hingelenkt. Er hatte das Gefühl gehabt, die Welt ganz neu zu erleben. Zum ersten Mal seit seiner frühen Kindheit hatte er die Geräusche um sich herum wieder ganz bewusst wahrgenommen: das Knirschen der Steinchen unter seinen Sohlen, die verschiedenen Vogelstimmen … Er hatte die Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut genauso intensiv gespürt wie den Wind und den Regen. Er hatte die unterschiedlichen Grüntöne der Pflanzen gesehen, die wechselnde Beschaffenheit des Bodens, Farne und Moose …

Gehe, wenn du gehst.

Siehe, wenn du siehst.

Höre, wenn du hörst.

Schaue, was du bist.

Als Paul das Therapiezentrum verließ, war er ein anderer Mensch. Er hatte zwar alles verloren, Frau, Job, Statussymbole, doch dafür war er nun auch niemandem mehr verpflichtet. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich richtig frei gefühlt.

Während seines Klinikaufenthaltes hatte Paul sich intensiv mit spirituellen Dingen beschäftigt. Die verschiedenen Religionen und unterschiedlichen Lebensweisen anderer Völker hatten sein Interesse geweckt; vor allem Indien mit seinen vielfältigen Ausdrucksformen des Hinduismus hatte es ihm angetan, und so war aus einem flüchtigen Gedanken recht bald der feste Vorsatz geworden, Deutschland den Rücken zu kehren und den Weg in eine völlig andere, von Spiritualität geprägte Welt zu wagen. Nachdem er alles veräußert hatte, was ihm noch geblieben war, stand seiner großen Reise nichts mehr im Wege.

Von Delhi aus, wo er erste Eindrücke sammeln wollte, sollte ein Bus ihn zum Fuße des Himalaya bringen, nach Rishikesh – ein Pilgerort, der nicht zuletzt durch den Aufenthalt der Beatles als Yogahauptstadt weithin auf sich aufmerksam gemacht hatte. Die Spiritualität dieses Ortes lockte neben zahlreichen Gurus, Yogis und Asketen auch eine große Zahl von Touristen an, die wie die Gläubigen von hier aus zur Quelle des für die Hindus heiligen Ganges pilgern wollten. Paul hatte beschlossen, eine Zeit lang in einem der zahllosen Ashrams und Meditationszentren zu verweilen, um unter der Anleitung eines Gurus zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, einem erfüllten Leben oder … Was genau, wusste er selber nicht.

Die nächtliche Stunde seiner Ankunft in Neu-Delhi verschonte Paul noch eine Weile vor dem unvermeidlichen Kulturschock, den diese überfüllte, von extremen Gegensätzen dominierte Metropole bei Tageslicht unweigerlich hervorruft. Er hatte bewusst nicht viel Geld mitgenommen, schließlich wollte er der westlichen Wohlstandsgesellschaft den Rücken kehren, und so kam für seine erste Nacht im neuen Leben auch nur ein Hotel der untersten Kategorie infrage. Gebucht hatte er sein Nachtquartier vorab nicht. Erstens würde mit Sicherheit kein Reisebüro der Welt ein Hotel in der von ihm angepeilten Preisklasse anbieten, zweitens war sein ganzes früheres Leben verplant und für alle Eventualitäten abgesichert gewesen. So dürstete Paul jetzt regelrecht nach der absoluten Freiheit eines Lebens ohne Auffangnetz. Er wollte seine Entscheidungen spontan treffen, auch wenn er dabei Fehler machte.

Endlich! Erleichtert zog Paul die Zimmertür hinter sich ins Schloss und lehnte sich erschöpft dagegen. Als der verdammte Taxifahrer ihn endlich verstanden hatte, war Paul der Verzweiflung nahe gewesen. Immer wieder hatte der junge Mann ihn zu einem der vielen Luxushotels der Stadt gefahren, um dann mit absoluter Verständnislosigkeit auf Pauls Ablehnung zu reagieren: „Hotel is not good?“

„It’s too expensive! Cheaper, please, cheaper!“

Durch ein kleines Fenster drang flackerndes Neonlicht, das die karge Einrichtung des winzigen Raumes stets nur für einen Augenblick erkennen ließ. Ein Bett und ein Hocker, das war es auch schon. Paul reichte das. Er würde ohnehin nur diese eine Nacht hier verbringen und morgen weiterreisen. Jetzt wollte er nur noch eins: schlafen! Hastig streifte er Shirt und Hose ab und ließ die Kleidung achtlos neben seine Schuhe gleiten, dann ließ er sich müde auf das Bett fallen.

„Aaargh!“ Das nicht auch noch! Das Geräusch knackenden Holzes ließ keinen Zweifel an der Beschaffenheit des ohnehin recht wackligen Gestells. Es ist angeknackst!

Ganz vorsichtig hob er seine Beine, streckte sich und rollte bis zur Mitte der Matratze, deren Senke ihn sogleich vereinnahmte. Für einen Moment erwog Paul, die Nacht auf dem Fußboden zu verbringen, doch allein die Vorstellung, sich wieder aus diesem Bett hinausquälen zu müssen, ließ ihn den Gedanken rasch wieder verwerfen. Ich werde die Nacht schon überstehen! Irgendwie werde ich diese Nacht überstehen!

Unentwegtes Hupen, untermalt vom Geknatter einer Armada von Motorrädern, Tuk-Tuks und anderen Fahrzeugen, verband sich mit dem Muhen zahlloser Kühe sowie dem Geschwatze und dem Lachen der Passanten zu einer Symphonie des überbordenden Lebens.

Paul schlug die Augen auf. Delhi! Ich bin tatsächlich in Indien!

Der erste Versuch, seine Glieder zu strecken, ließ ihn schmerzvoll aufstöhnen. „Au, verdammt!“ Die Matratze hatte offenbar ganze Arbeit geleistet, jeder einzelne Muskel tat ihm weh. Laut fluchend versuchte Paul, sich aus der Senke zu rollen. Begleitet wurden seine Bemühungen von verdächtigen Geräuschen: dem Ächzen von Holz, das zu bersten drohte!

Endlich geschafft! Froh, seiner Folterstätte endlich entronnen zu sein, warf Paul einen verärgerten Blick auf die vom einfallenden Tageslicht nun deutlich zu erkennende Schlafstatt. Der Würgereiz überkam ihn so heftig, dass Paul schon befürchtete, sich direkt auf die Matratze erbrechen zu müssen. Nicht, dass dies den abstoßenden Anblick wesentlich verschlimmert hätte. Paul mochte sich gar nicht vorstellen, welche Unmengen verschiedenster Körperflüssigkeiten schon in diese Matratze gesickert waren. Plötzlich glaubte er einen ekligen Gestank wahrzunehmen, der aus ihren tieferen Schichten aufstieg.

Paul kratze sich. Er kratzte sich bereits, seit er das Bett verlassen hatte, doch erst jetzt wurde ihm der quälende Juckreiz, der seine Arme und Beine überzog, bewusst. Was ist das? Reihen roter Quaddeln zogen sich kreuz und quer über Pauls Haut und deuteten auf die Verursacher hin: Wanzen! Es reicht! Ich brauche jetzt unbedingt eine Dusche!

Doch seine Hoffnung, ein Strahl sauberes Wasser würde den Ekel einfach fortspülen, sollte sich nicht erfüllen. Das braune Rinnsal, das sich aus dem verrosteten Wasserhahn quälte, machte Paul einen dicken Strich durch die Rechnung. Vergiss es! In der nächsten Nacht wird ein schönes, sauberes Bett auf dich warten! Paul dachte an das vor ihm liegende Leben im Ashram. Es wird zwar spartanisch sein, aber dafür auch sauber. Hoffentlich!

Kaum war Paul auf die Straße getreten, da wurde er mit einer solchen Wucht ins pralle Leben geschleudert, dass er für einen Moment taumelnd nach Halt suchte.

Die ungefilterten Abgase der rücksichtslos vorbeischießenden und anscheinend prophylaktisch hupenden Autos und Tuk-Tuks – der kleinen, dreirädrigen Motorrikschas – raubten ihm fast den Atem. Zaghaft machte Paul ein paar Schritte in Richtung des Hauptverkehrsstroms, wobei er ängstlich darum bemüht war, weder mit einem der zahlreichen Radfahrer noch mit einer Kuh oder einem der Handkarren zu kollidieren, die von furchtlos vorbeihetzenden Männern gezogen wurden. Pauls zögerliches Auftreten, das seine Unerfahrenheit signalisierte, machte ihn sofort zu einer willkommenen Beute.

„Money, please! Mister, Mister, some rupees … Please, Mister! Money …“

Paul musste schlucken. Der Anblick dieser dürren, schmutzigen und oft auch verstümmelten Menschen, die ständig an ihm zerrten und gnadenlos auf ihn einredeten, ließ ihn angesichts seines Wohlstandsbauches vor Scham erröten. Paul hatte natürlich mit Bettlern gerechnet und eine Handvoll Münzen in seiner Hosentasche griffbereit, doch jeder, dem er etwas gab, zog weitere Bettler an, sodass seine Tasche in kürzester Zeit leer war. Das hielt die hoffnungsfrohe Meute natürlich nicht davon ab, es hartnäckig weiter zu versuchen.

Dass er in die Rikscha eines freundlich dreinschauenden, hageren Männchens stieg, das unablässig seine Dienste anpries, war allein seinem drängenden Fluchtgedanken geschuldet. Eigentlich fand er es beschämend, dass dieser dürre Mann einen kräftigen Kerl wie ihn mit dem Fahrrad durch die Gegend ziehen sollte. Es ist sein Job! Er ist auf Kunden wie mich angewiesen. Wahrscheinlich muss er eine ganze Familie mit dem Geld ernähren. Paul musste sich eingestehen, dass er nur sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte. Was ihm leider nicht gelang.

Unentschlossen, wie er den Tag verbringen sollte, bevor er sich auf den Weg nach Rishikesh machte, ließ er sich von seinem freundlichen Fahrer zu einer umfangreichen Stadtbesichtigung überreden. Seinem Wunsch entsprechend lenkte das drahtige Männchen ihn auch in die schmalen Gassen des alten, armen Stadtbezirks und somit von der Sonnenseite der prachtvollen Boulevards, an denen prunkvolle Tempel den Touristen als bezaubernde Kulisse für ihre Urlaubsfotos dienten, in die tiefen Schatten der verschmutzten Gassen, die einem Besucher Sinnesreize ganz anderer Art aufdrängten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich in dieser Metropole seines Mülls an Ort und Stelle entledigte, war ihm bereits in den modernen Bezirken aufgefallen, doch während die Müllsammler – meist Kinder, die den Abfall in großen Plastiksäcken auf ihrem Kopf davontrugen – dort schnell wieder für Ordnung sorgten, türmte sich der Abfall in den Slums zu wahren Bergen auf.

Paul beobachtete einen mageren, etwa achtjährigen Jungen, der seine Beute gerade auf die Straße kippte. Ein kleineres Kind, es konnte nicht älter als drei Jahre sein, kam eilig hinzu und beide begannen sogleich damit, die Abfälle zu sortieren. Wiederverwertbares, das sich zu Geld machen ließ, wurde fein säuberlich in verschiedene Säcke aufgeteilt und der Rest einfach in die Mitte der Gasse geschoben, wo er, so Gott wollte, irgendwann vom Regen davongeschwemmt wurde.

In dem feuchtwarmen Klima wurden die Ausdünstungen der vor sich hin gammelnden Müllberge nur noch von dem widerlichen Gestank menschlicher und tierischer Fäkalien übertroffen, die das Bild dieser Slums ebenso prägten. Die Abflüsse der offenliegenden Kanalisation waren allzu häufig verstopft, sodass die unmittelbare Konfrontation mit den Ausscheidungen all der vielen Menschen einfach unvermeidbar war. Paul drehte sich der Magen um. Bei dem Gedanken, hier leben zu müssen, sich inmitten des Schmutzes zum Schlafen auf den Boden zu legen, mit nichts als einem Stück Pappe unter sich, ließ ihn schaudern.

Am Ende der Besichtigungstour blieb Paul bis zum Eintreffen des Busses am Straßenrand sitzen und versuchte, die schockierenden Eindrücke zu verarbeiten. Berichten über unsägliche Verhältnisse in Slums, besonders in indischen Slums, hatte er früher kaum einen Gedanken gewidmet. Die Welt war halt so. Indien war für ihn lediglich als wachsender Wirtschaftsfaktor von Interesse gewesen.

Die Fahrt nach Rishikesh in einem hoffnungslos überfüllten Bus stellte Paul, der in dichtem Menschengedränge zu Panikattacken neigte, vor eine extreme Herausforderung. Ganz ruhig bleiben, alles ist gut … tief einatmen … und wieder ausatmen … du bist ganz entspannt … Am Ziel angelangt fiel ihm ein großer Stein vom Herzen. Die erste Etappe hatte er überstanden. Rishikesh!

Die besondere Atmosphäre in diesem Pilgerort am Fuße des Himalaya zog Paul augenblicklich in ihren Bann. Der von den Hindus liebevoll als „Mutter Ganga“ bezeichnete heilige Fluss strömte hier noch relativ sauber und klar durch das weite Tal, sodass Paul mit dem Gedanken spielte, ein rituelles Bad in seinen Fluten zu wagen. Ein solches Bad versprach den gläubigen Hindus eine Reinigung von den Sünden, die Heilung von Krankheit und vor allem die Unterbrechung des Kreislaufes von Tod und Wiedergeburt. Wenn Paul auch nicht daran glaubte, so konnte er sich der spirituellen Ausstrahlung dieses Ortes, an dessen Ufern sich zahlreiche Ashrams und Tempel befanden, nicht entziehen. Heerscharen von Yogis, Gurus, Sadhus, Bettlern, Pilgern sowie westlichen Backpackern bevölkerten die Straßen des Ortes und von überall her drangen die Stimmen singender oder Mantras aufsagender Menschen, die Mutter Ganga inbrünstig ihre Huldigung erwiesen.

Erleichtert darüber, dem Schmutz und dem Gestank der Slums von Delhi entkommen zu sein, begab sich Paul auf die Suche nach seiner künftigen Herberge.

Ein geeigneter Ashram war rasch gefunden, sein weitläufiger, wunderschöner Garten hatte Paul auf den ersten Blick bezaubert. Ja, hier kann ich der Welt eine Zeit lang entsagen. Unter der Anleitung eines Gurus hatte Paul sich auf den Weg in sein Inneres, sein ursprüngliches „Ich“ begeben wollen …

Die Zeit in Indien war für Paul prägend gewesen. Dort hatte er gelernt, mit wie wenig man doch auskommen konnte. Hier in Deutschland war das Leben um so vieles leichter.

Paul schaute prüfend zur Wolkendecke hinauf. Das Wetter wird sich halten, kein Regen!

Er beschloss, sein Mittagessen auf der Bank nahe der Grünanlage zu verzehren. Sein Magen knurrte bereits.

Auf seinem kleinen Campingkocher bereitete Paul eine Tütensuppe zu, die er mit dem Leitungswasser aus seiner Trinkflasche in einer alten Dose erhitzte. Ein altbackenes Brötchen sowie eine etwas schrumpelige Gurke vervollständigten die einfache Mahlzeit, ein abgelaufener Erdbeerjoghurt bildete den fulminanten Abschluss. Mmmh, köstlich! Als Paul satt war, spülte er seinen Löffel und die Dose im nahen Bach ab und entsorgte die leere Tüte im Abfallkorb. Zuvor hatte er noch einen schmalen Streifen vom Papier abgerissen, etwaige Reste des Suppenpulvers fortgeblasen, den Papierstreifen sorgfältig an seiner Hose abgewischt und ihn schließlich ordentlich zusammengefaltet in einer Hosentasche verschwinden lassen.

Paul hatte sich gerade in „Sofies Welt“ vertieft, als eine vertraute Stimme ihn aus seiner neuen Lektüre in die Realität zurückholte.

„Hallo, Geschichtenerzähler. Du kriegst noch Schwielen an den Augen, wenn du so lange auf das Papier glotzt!“

Pauls Augen blitzten erfreut auf. Lächelnd zog er sein Tütensuppenlesezeichen aus der Hosentasche, legte es zwischen die Seiten und klappte das Buch wieder zu. Er rutschte ein Stück zur Seite, um der Freundin einen Platz auf der Bank anzubieten, doch Samantha schlug die wortlose Einladung zu Pauls Bedauern aus und setzte ihren Weg gleich wieder fort. „Nee, keine Zeit. Hab noch ’n Date. Aber wenn du mir heute Abend wieder ’ne Geschichte erzählen willst, sag ich nicht Nein!“

„Aber gern. Du weißt, wo du mich findest. Also, bis dann!“

„Hau rein!“

Wer Samantha nicht kannte, sollte lieber einen großen Bogen um diese markige, schnell aufbrausende Frau machen, die mit ihrer direkten, schnodderigen Art schon so manchen Passanten vor den Kopf gestoßen und in die Flucht geschlagen hatte. Sami lebte schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr auf der Straße und hatte sich in all den Jahren einen dicken Seelenpanzer zugelegt, der ihr empfindsames Gemüt vor jeglicher Gefahr beschützte.

„Sami“ durfte Paul sie allerdings nur in seinen Gedanken nennen. Einmal hatte er sie mit diesem Kosenamen angesprochen – o Mann, sie war regelrecht explodiert! Er hatte es seitdem nie wieder gewagt. „Sam“ war der Name, mit dem sie angesprochen werden wollte und unter dem sie in der Szene bekannt war.

Ohne Sami hätte es mit Paul ein böses Ende nehmen können – damals, als er von Indien wieder nach Hause zurückgekehrt war, um sein neues Leben in Angriff zu nehmen.

Seine Zeit in Indien hatte ihm die wahren Werte des Daseins vor Augen geführt. Paul war klar geworden, wie abhängig der Besitz ihn gemacht hatte, wie viel Energie er allein mit dem Anhäufen, Unterbringen und Versichern von Konsumballast verbraucht und wie viel Ärger dessen Verlust oder Beschädigung ihm jedes Mal bereitet hatte. Mit wie wenig man im Leben auskam, sah er in den indischen Slums. Dort mussten die Menschen jeden Tag aufs Neue um das nackte Überleben kämpfen. Von seinem ursprünglichen Vorhaben, in dieser Hinsicht eigene Erfahrungen zu sammeln, nahm Paul angesichts der katastrophalen hygienischen Zustände allerdings schnell Abstand.

Ein unabhängiges Leben auf der Straße erschien ihm in den sauberen Städten Deutschlands dagegen geradezu paradiesisch, und so beschloss er, nach seiner Rückkehr von all dem Überfluss zu leben, der hinter jedem Supermarkt säuberlich verpackt entsorgt wurde. Sein alter Rucksack bot genügend Platz für unentbehrliche Utensilien wie Schlafsack, Wechselwäsche und Campingkocher, aber auch für die gefundenen Lebensmittel, ein Buch oder andere kleine Luxusgüter, die er entweder in der Givebox, in der Kleiderkammer oder von dem Geld erstand, das er sich durch das Einsammeln von Pfandflaschen verdient hatte.

Nach seiner Ankunft in Düsseldorf ließ er die Großstadt schnell hinter sich und machte sich auf den Weg zu einem beschaulicheren Ort. Doch das Glück sollte ihm an diesem Tag nicht gewogen sein …

Friedlich lagen die Straßen im Licht des bleichen Mondes da, als Paul spätabends die Ausläufer einer kleinen Stadt erreichte. Hinter den Fenstern der schmucken Einfamilienhäuser flimmerte hier und da noch das bläuliche Licht eines Fernsehers, und Paul stellte sich vor, wie die Bewohner, ganz im Vertrauen auf die Sicherheit ihrer heilen Welt, gemütlich in ihren Fernsehsesseln saßen und den Tag bei einem Krimi entspannt ausklingen ließen.

Zuversichtlich schritt er in eine schmale Nebenstraße, die, so hoffte er jedenfalls, zu einer Brücke führte, die er schon von Weitem gesehen hatte und unter der er ein trockenes Plätzchen für die Nacht vermutete. Der eingeschlagene Weg führte auch tatsächlich zu seinem anvisierten Ziel.

Paul hatte es sich gerade in seinem Schlafsack gemütlich gemacht, um sich vom leisen Plätschern der Wellen in den Schlaf wiegen zu lassen, als er ein beunruhigendes Lärmen wahrnahm.

Er lauschte. Die Stimmen mehrerer junger Männer schallten zu ihm herüber. Sie klangen aggressiv und sie kamen immer näher. Pauls Nackenhaare stellten sich auf. Verschwindet! Na los, geht doch weiter!

Das Grölen wurde lauter. Paul konnte jetzt einzelne Stimmen heraushören. O nein! Die ansprechende Stelle unter der Brücke war offenbar auch das Ziel dieser Jugendlichen. Pauls Herz schlug ihm bis zum Hals. Das geht nicht gut!