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Als sie zur Hochzeit ihrer Studienfreundin geladen wird, ist Mimi skeptisch – hat sie doch den Kontakt lange sträflich vernachlässigt. Doch unerwartet herzlich wird sie im alten Bonner Freundinnenkreis aufgenommen, und spätestens nach der Junggesellinnenparty im nächtlichen Römerbad ist es, als sei sie nie fortgewesen. Am Hochzeitsmorgen aber bringt ein entsetzlicher Todesfall alles ins Wanken. Misstrauen kriecht in die eingeschworene Gruppe, und langsam beschleicht Mimi ein furchtbarer Verdacht: Hat man sie nur zur Hochzeit eingeladen, um ihr einen Mord in die Schuhe zu schieben?
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2014
Judith Merchant
Die Lügen jener Nacht
Roman
Knaur e-books
Als sie zur Hochzeit ihrer Studienfreundin geladen wird, ist Mimi skeptisch – hat sie doch den Kontakt lange sträflich vernachlässigt. Doch unerwartet herzlich wird sie im alten Bonner Freundinnenkreis aufgenommen, und spätestens nach der Junggesellinnenparty im nächtlichen Römerbad ist es, als sei sie nie fortgewesen. Am Hochzeitsmorgen aber bringt ein entsetzlicher Todesfall alles ins Wanken. Misstrauen kriecht in die eingeschworene Gruppe, und langsam beschleicht Mimi ein furchtbarer Verdacht: Hat man sie nur zur Hochzeit eingeladen, um ihr einen Mord in die Schuhe zu schieben?
Für Iris.
Für damals und heute und die Jahre dazwischen.
George Clooney! Versteck dich nur, ich kriege dich, und dann will ich an deinen geilen Aaaaarsch!«
Der Schrei hallte durch die Nacht, aber niemand außer uns hörte ihn, fünf Frauen, die unvollständig bekleidet auf der Liegewiese des Freibads lagen und tranken.
Grit trat an den Rand des Zehnmeterbretts und sprang. Sie fiel wie in Zeitlupe, die Arme weit ausgebreitet, ein betrunkenes Grinsen im Gesicht.
Irgendwie war sie ein schöner Anblick, als sie die zehn Meter im freien Fall durch den nächtlichen Himmel schwebte. Es war nicht allein der Joint, der ihren Flug verlangsamte, die vielen Flaschen Prosecco hatten die Atmosphäre im nächtlichen Römerbad mit etlichen Prozent angereichert, so dass solche Dinge möglich wurden wie eine in Zeitlupe fliegende Grit. Bullet time, dachte ich und kicherte. Das hätte Douglas an dieser Stelle gesagt, Douglas, der jeden Film, den wir gemeinsam angesehen hatten, mit seinem medientheoretischen Bemerkungen zerschnitten hatte. Das hatte mich immer maßlos geärgert, aber jetzt, in diesem Moment, erfüllte es mich mit tiefer Befriedigung, für die Schönheit von Grits Flug ein Wort zu haben. Es machte das, was wir hier taten, weniger albern, wenn man ein Fremdwort dafür hatte, überlegte ich und versuchte, den aufkommenden Schluckauf zu unterdrücken.
Das Wasser teilte sich, und tropfend tauchte Grit auf und hielt sich am Beckenrand fest.
»Wie war ich?«, fragte sie.
Jetzt erst hörte ich, wie die anderen lachten. Alla lag auf der Seite, den Kopf im Dunkeln, und rang mit langen, pfeifenden Zügen nach Atem. Die beiden anderen waren irgendwo links davon, gefangen in der unwirklichen Dunkelheit der Büsche, die das Schwimmerbecken von der großen Liegewiese trennten.
»Du warst super«, sagte ich. »Komm, wir trinken noch einen.«
»Nein, jetzt bist du dran. Spring.« Mit ausladender Geste wies Grit auf den Sprungturm.
»Ich war doch schon.«
»Echt? Was war denn dein Wunsch?«
Ich sah an mir hinunter, auch ich war nackt, und aus meinen Haaren lief das Chlorwasser. Was hatte ich gerufen, als ich ins Wasser gesprungen war? Ich wusste es nicht mehr. Bestimmt etwas Schlimmes. Ich war lange nicht mehr so betrunken gewesen.
Grit setzte sich neben mich. Aus der Nähe sah ich, wie dick sie war. Eben noch, in der Luft, war sie mir wunderschön und federleicht erschienen, jetzt erkannte ich die Speckrollen an Bauch und Hüfte, ihre schweren Brüste und die Oberschenkel, an denen Gras und Moos klebte. Sie erwiderte meinen Blick, und ich sah, dass sie noch viel betrunkener war als ich.
»Es ist so schön hier, so schön«, sagte sie, breitete die Arme aus und ließ sich nach hinten fallen.
Es war Simones Idee gewesen, ins Freibad einzubrechen. Ganz wie früher, hatte sie gesagt, wisst ihr noch, der Abend nach der Party, auf der Ninas Tasche geklaut wurde, alle hatten genickt und gelacht, und ich hatte gehofft, dass niemandem auffiel, dass ich mich nicht an dem Gespräch beteiligte. Ich war nicht dabei gewesen auf dieser Party, ganz bestimmt nicht, aber jetzt in diesem Moment hatte ich mir brennend gewünscht, es wäre anders gewesen. Jetzt in diesem Moment wollte ich Teil dieser Gruppe fröhlich schwatzender Frauen sein, die eine gemeinsame Vergangenheit hatten und ein paar Flaschen Prosecco und einen Haufen Erinnerungen teilten, Erinnerungen, die sie über das hinaus verband, was danach kam.
Ich hatte meine Zeit schlecht investiert, als ich sie auf Douglas beschränkt hatte. Jetzt, wo er sich verabschiedet hatte, stand ich verloren da, mit einem Bündel vergilbender Liebesbriefe und einem gebrochenen Herzen. Ob meine früheren Freundinnen sich so allein fühlen würden wie ich, wenn sie von ihren Ehemännern verlassen würden? Sicher nicht, dachte ich.
Ninas Stimme drang aus der Dunkelheit. »Ich kann nicht mehr«, sagte sie. »Das war ein schöner Abend, aber es reicht. Ich muss ins Bett. Immerhin muss ich übermorgen heiraten.« Ihre Stimme klang einigermaßen frisch, nur die etwas verwischten Konsonanten verrieten, dass auch sie nicht mehr nüchtern war.
Alla setzte sich auf. »Jetzt geht niemand ins Bett«, sagte sie. »Erst musst du noch ein Spiel mit uns spielen. Mit uns und unserem speziellen Gast.« Sie sammelte sich und warf dann die Arme in theatralischer Geste in die Luft. »Der Gast. Tadaaa!« Das Letzte war ein heiserer Schrei.
Grit begann zu kichern. »Ein Stripper«, flüsterte sie. »Ich wusste es, ein Stripper. Hurra, endlich kriegen wir was zu sehen.«
Ich richtete mich auf, um nichts zu verpassen. Der Mond schien auf die Rasenflächen, und die Bäume standen still. Niemand war da.
»Was denn für ein Gast?«, fragte Simone. Sie reckte den Kopf, das Chlorwasser hatte ihre blonden Haare nach hinten gestrichen, sie sah beinahe aus wie immer, kühl und schön, im Gegensatz zu uns anderen. »Wer soll denn jetzt noch kommen?«
»Wer? Das wüsstet ihr wohl gern …« Alla klang geheimnisvoll wie eine Wahrsagerin.
Ich versuchte, mir eines der nassen Handtücher, die verstreut herumlagen, um den Oberkörper zu schlingen, aber der Knoten löste sich immer wieder, und schließlich hielt ich es einfach am Zipfel zusammen. Mein Herz schlug einen langsamen, gespannten Takt, ich war begierig zu erfahren, was jetzt passieren würde, und ich liebte diese fremden Frauen, den bleichen Mond und das glitzernde Wasser, in das wir unter sinnlosen, glücklichen Gesängen und Parolen wieder eintauchen würden.
»Mimi, komm!« Ich wusste nicht, wer mich gerufen hatte, aber ich freute mich wie ein Kind über diese exklusive Einladung. Die anderen bildeten bereits einen Kreis und sahen zu, wie ich mich zu ihnen hockte.
Alla kniete vor dem gestreiften Tuch, das uns als Picknickdecke diente. Fünf Gläser standen wacklig vor ihr, auf denen sie Löffel mit Zuckerwürfeln arrangierte. Für einen Moment wunderte ich mich darüber, wie sicher ihr diese schwierigen Handgriffe gelangen. Komisch, dachte ich. War sie etwa nicht so betrunken wie wir anderen?
»Sag schon, wer kommt?«, wiederholte Simone.
Alla sah auf, und ihre Augen funkelten schwarz.
»Die grüne Fee«, flüsterte sie. »Absinth. Und danach unser Spiel.« Sie grinste, und ihre Lippen gaben die Zähne frei. Ich sah Blut in ihrem Mund und Blut auch an ihrem Kinn.
»Was ist los? Huhu, Mimi!« Alla wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum, und ich sah, dass auch an ihren Händen Blut klebte.
»Du blutest«, sagte ich.
Alla kicherte. »Du hast ihn schon wieder vergessen, oder?«
»Wen?«
Eine Flamme flackerte auf und entzündete die alkoholgetränkten Zuckerhaufen, und ich vergaß, was ich gefragt hatte. Fünf grüne, zuckende Lichter, wie kleine Geister, eines für jede von uns.
Die Gläser in den Händen, standen wir schwankend auf dem kurzgeschorenen Rasen des Freibads und sahen einander an. Das Chlorwasser rann uns aus den Haaren, ich war in mein Handtuch gewickelt, die anderen hatten sich hastig ihre Kleidung übergestreift, nur Grit war immer noch nackt, auf ihre dicklich-würdevolle Art, und aus irgendeinem Grund rührte mich das besonders.
»Auf uns.«
»Auf uns.«
Plötzlich war das Gelächter verstummt, und man konnte ein Auto auf der Nordbrücke hören, das leise Rascheln der Blätter in den alten Kastanien, und wenn ich mich genau konzentrierte, glaubte ich auch die starke, gleichmäßige Strömung des Rheins wahrzunehmen, der nur etwa zwanzig Meter entfernt von uns in Richtung Köln floss. Oder spürte ich sie?
Wir tranken schweigend.
Grit versuchte, mir die Regeln zu erklären, obwohl ich sie mehrfach unterbrach, denn so einigermaßen wusste ich Bescheid, es erklärte sich von selbst. Diejenige von uns, auf die die Flasche zeigte, musste entweder eine Frage beantworten oder irgendeine Albernheit ausführen.
»Hatten wir schon, hatten wir schon«, rief an dieser Stelle Alla dazwischen und schüttelte wie wild den Kopf, »jede von uns ist gesprungen und hat dabei ihren größten Wunsch verraten, jetzt kommt die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.«
Irgendetwas irritierte mich, doch es gelang dem Gedanken nicht, meinen Schwindel zu durchstoßen, er war zu schwach und zu langsam für das zunehmende Sirren in meinem Kopf, was war da gewesen auf dem Sprungbrett, was hatte ich gerufen?
»Wir alle werden die Wahrheit sagen«, rief Grit, umklammerte meine Hand und ließ sie nicht mehr los, und ich sah mich um, sah diese glänzenden, erregten Gesichter der Frauen, die ich zehn Jahre nicht gesehen hatte, ich sah ihre geweiteten Pupillen und wusste, wir würden wirklich alle die Wahrheit sagen, jede Einzelne von uns.
Plötzlich hatte ich Angst davor.
Die Flasche drehte sich immer schneller um ihre eigene Achse, mein Blick bemühte sich zu folgen, und meine Gedanken verknoteten sich, als ich versuchte, den erneut aufkommenden Schwindel zu unterdrücken. Diese Flasche … Wie konnte sie sich auf dem feuchten Gras so schnell drehen? Die Flasche musste mich gehört haben, denn sie verringerte ihre Geschwindigkeit sofort. Grellgrün erleuchtet wie von der Flamme der grünen Fee schwebte sie in der Luft, ihre Öffnung neigte sich mir zu, drohend wie eine Gewehrmündung, bis ich hineinsehen konnte.
Dies zumindest war das Bild, das ich speichern sollte, bevor der Rest der Nacht in tiefster Dunkelheit verschwand. An nichts anderes sollte ich mich am nächsten Morgen erinnern.
Und ich würde noch viele, viele Tage Zeit haben, um das zu bereuen.
Der Anruf kam an einem Dienstag.
Noch vor dem Anruf war der Brief gekommen, und lange Zeit sollte ich denken, dass es der Brief war, der mein Leben auf den Kopf stellte, und dass der Anruf nur eine unbedeutende, zufällige Begebenheit war.
Dabei war es genau umgekehrt.
Seit Tagen hatte ich gewusst, dass der Brief kommen würde. »Ich habe dir einen Brief geschrieben«, hatte Douglas gesagt. »Da steht alles drin. Ruf nicht mehr an. Ruf bitte, bitte nicht mehr an.« Hatte er wirklich so oft »bitte« gesagt? Ich glaube schon.
Aber das macht jetzt keinen Unterschied mehr.
Seit der Ankündigung seines Briefes hatte ich das Haus nicht mehr verlassen. Der Postbote kam gegen zwei. Durchs Fenster sah ich ihn kommen, ich hörte das Klappern im Kasten, und ich wusste, ich musste ihn holen und dann öffnen und lesen. Das tat ich auch.
Danach setzte ich mich mit fliegendem Herzen und zittrigen Fingern aufs Sofa und versuchte, ruhig zu bleiben. Ich starrte aus dem Fenster, auf die grauen Sandsteinfassaden Edinburghs, zwischen denen ich den Rest meines Lebens hatte verbringen wollen, zusammen mit dem Schotten, der mich hierhergelockt und dann verlassen hatte.
Für immer, wie ich seit zehn Minuten wusste. Und zwar für eine andere.
Ich hatte gespürt, dass da irgendetwas war. Etwas, wohlgemerkt. Es hätte eine Erkältung sein können, ein körperliches Unwohlsein, das uns für einige Wochen voneinander entfernte und dazu führte, dass Douglas sich abends nicht mehr zu mir aufs Sofa setzte, sondern an seinen Computer verschwand. Stress auf der Arbeit wäre auch denkbar gewesen. Wenn man Stress hat, ist man nicht so freigiebig mit körperlichen Zuwendungen, man hört schon einmal weg, wenn der andere etwas sagt, oder man verlässt das Zimmer, wenn er sich umzieht.
Ich wünschte, es wäre Stress gewesen oder die Erkältung. Ich wünschte, ich müsste nicht in dieser Stadt sitzen und überlegen, was ich tun sollte mit dem Rest meines Lebens. Vor allem wünschte ich, ich hätte etwas geahnt, etwas unternommen, aber ich war ahnungslos gewesen, arglos, und deswegen hatte ich nichts unternehmen können, um abzuwenden, was jetzt auf mich zukam.
Natürlich kannst du bleiben, bis du eine neue Wohnung gefunden hast. Ich ziehe solange in ein Bed and Breakfast.
Höchstwahrscheinlich war das mit dem Bed and Breakfast eine diplomatische Lüge. Höchstwahrscheinlich zog er zu ihr.
Ich hatte sie sogar gesehen. Am Dienstag vor vier Wochen hatte ich ihn vom Institut abgeholt. Da war sie uns entgegengekommen, eigentlich sah sie ganz nett aus, und mir waren ihre roten Backen aufgefallen. »Wer war denn das?«, hatte ich gefragt, die beiden hatten einander gegrüßt und waren dann hastig weitergegangen, ich hatte aber gespürt, wie ihr Blick förmlich an mir klebte, es war kein unfreundlicher Blick, eher ein neugieriger. Vielleicht war damals schon alles zu meinen Ungunsten entschieden gewesen, vielleicht aber hätte ich den Lauf der Dinge ändern können, wenn ich ein wenig aufmerksamer gewesen wäre, wenn mir etwas aufgefallen wäre. Immerhin war Douglas mit mir zusammen nach Hause gegangen an diesem Abend, in unser gemeinsames Zuhause.
Damals.
Ich goss mir eine Tasse Tee ein, gab Milch und Zucker dazu und öffnete die Terrassentür.
Der Garten, der zu unserem Haus gehörte, war ein grünes Paradies. Die Lichtverhältnisse waren optimal, zwar ließen die Mauern links nur wenig Sonne in den Garten fallen, doch ich hatte den rechten Teil erhöht. Was auch immer die schottische Sonne hergab, es landete hier. Es war mir gelungen, aus dem kleinen Fleckchen etwas ganz Besonderes zu machen. Viele verschiedene Pflanzen und Kräuter, die ich im Laufe der Jahre zusammengetragen hatte, fühlten sich wohl hier. Für Mittelmeerkräuter reichte das Licht zwar nicht, aber ich zog ohnehin nichts, was für die Küche gedacht war. Mein Garten war ein Heilkräutergarten. Manche würden sagen: ein Giftkräutergarten. Herzgespann, Stechapfel und Hopfen, ja sogar Fingerhut gedieh auf der sonnigeren Seite, und für viele Tee- und Heilpflanzen war das feuchte Halbdunkel linkerhand ideal. Waldehrenpreis, Zitronenmyrte, Anis-Ysop und Helmkraut wuchsen hier, gebändigt von akkuraten Gittern aus Buchsbaum. Oft hatte ich mir gewünscht, dass meine Tante den Garten sehen könnte. Es hätte sie sicher stolz gemacht zu sehen, dass ihre einzige Nichte ihre Begeisterung für Pflanzen teilte. Aber sie war seit langem tot. Gegen den Krebs hatten selbst all ihre Heilkräuter nicht helfen können.
Vorsichtig streichelte ich die Blätter der Alraune. Sie war mein Liebling. Douglas scherzte gern, sie sei meine beste Freundin.
Mandragora autumnalis. Galgenmännchen. Sie war nicht leicht zu kultivieren, aber hier wuchs sie still und zufrieden, obwohl ich ihr in meiner überschäumenden Liebe mehr zumutete, als einer Pflanze normalerweise guttat. Manchmal konnte ich mich nicht zügeln und grub sie vorsichtig aus, um ihre knorrigen kleinen Wurzelglieder zu betasten und ihren Wuchs zu bewundern, der dem einer verwachsenen Puppe glich.
»Du gehörst in ein anderes Jahrhundert, Mimi, jemand wie du sollte einen Klostergarten leiten und nicht hinter der Theke stehen.«
»Ich glaube nicht, dass ich eine gute Äbtissin geworden wäre.«
»Ich glaube schon«, sagte Douglas mit zuckendem Mundwinkel, er öffnete seinen Gürtel, und es gab ein sirrendes Geräusch, als der Gürtel durch die Schlaufen rutschte, »und jetzt komm her, ehrenwerte Äbtissin, und ich zeige dir, was Bruder Adson unter seiner Kutte versteckt.«
Meine Fingerspitzen wühlten die Erde auf, ließen aber die Alraune unbehelligt. Sie würde bald blühen, da brauchte sie Schonung. Stattdessen wandte ich mich einer krautigen Pflanze mit niedrigem Wuchs und gelben Blüten zu.
Johanniskraut, du tapferer Kämpfer gegen Trübsinn und schwarze Gedanken! Ich ritzte vorsichtig in eines der gelben Blütenblätter und sah zu, wie mein Finger mit dem roten Herzblut der Pflanze benetzt wurde. Ein Tee aus den Blättern, dreimal am Tag getrunken, würde meine Stimmung nach etwa sechs Wochen heben. Warum trank ich ihn nicht?
Ich kannte die Antwort. Es war nicht meine Stimmung, an der ich etwas ändern wollte, sondern es waren die Umstände. Und an denen konnte kein Kraut der Welt etwas ändern.
Und plötzlich war er da, der Gedanke an Mord. Nein, es war mehr als ein Gedanke – Gedanken wehen dich an, streifen dich, ziehen dann vorbei. Ich aber erwog tatsächlich das Für und Wider.
Vielleicht kam es daher, dass mein Blick am trockenen Hüllblatt des Aronstabs hängenblieb, das den phallischen, mit Früchten besetzten Kolben verbarg.
Aronstab. Arum maculatum. Alle Teile der Pflanze waren giftig. Tödlich giftig, wenn ich entsprechend dosierte. Am ehesten würde Douglas’ Freundin vermutlich die leicht süßlichen roten Beeren schlucken …
Den meisten Menschen erscheint Mord zu kompliziert und zu brutal, etwas, das in einer Parallelwelt geschieht, in der andere Menschen mit anderen Sorgen leben, Menschen mit Pistolen, die bei Nacht durch Tiefgaragen hetzen und Schüsse abfeuern. Dabei muss Mord weder kompliziert noch brutal sein, dachte ich und zupfte am ausladenden Blatt des Aronstabs.
Den meisten Menschen fehlen schlicht und einfach meine Kenntnisse und mein Garten. Sie wissen nicht, wie leicht es ist, jemanden umzubringen. Sie wissen nicht, wie trügerisch viele Vergiftungssymptome normalen Erkrankungen ähneln. Man muss sein Opfer natürlich genau kennen. Wie leicht ist es, ein ohnehin instabiles Herz mit einer Dosis Digitalis – einige Fetzen Fingerhut, gemischt unter den Salat oder eine beliebige Mahlzeit – aus dem Tritt zu bringen. Es gibt keine Mordwaffe, die einen verraten kann, keine Fingerabdrücke, keinen Apotheker, der sich an verdächtige Einkäufe erinnert. Eigentlich war es sehr einfach. Viel zu einfach …
Mir schwindelte ein wenig.
Konnte es so einfach sein? Nein, dachte ich. Ich hatte Kräuter für jede erdenkliche Gelegenheit, aber das Zauberkraut, das mir Douglas zurückbrachte, das gab es nicht.
Als das Telefon schrillte, zuckte ich zusammen. Douglas! Mit wenigen Schritten war ich am Apparat.
»Ja?«
Als ich den Hörer gegen das Ohr presste, registrierte mein Hirn mit einiger Verzögerung, dass die Nummer auf dem Display aus Deutschland kam.
»Hier ist Simone Wahl. Bist du das, Mimi?«
Im ersten Moment wusste ich gar nichts anzufangen mit dem Namen. Simone wer?
»Hallo«, sagte ich. »Ja, ich bin es.«
Ein Seufzen. »Mensch, Mimi! Dass ich dich tatsächlich erreiche! Die Nummer hat mir deine Mutter gegeben, ich hatte nur deine Adresse. Ich rufe wegen der Hochzeit an, wir haben immer noch nichts von dir gehört. Und da dachte ich, suche ich mal die Nummer und … Du kommst doch?«
In meinem Kopf war leerer Schwindel.
»Hochzeit«, wiederholte ich. Simone. Natürlich, Simone. Damals im Studium hatte es eine Simone gegeben, und dann war vor einigen Monaten ein Brief gekommen …
»Ja, die Hochzeit. Ninas Hochzeit. Wir sind alle schon ganz aufgeregt. Und deswegen wollte ich nachfragen, ob du kommst, auf der Liste stehst du nicht. Aber weil Nina es sich so sehr wünscht … Mensch, das sind jetzt zehn Jahre, die wir uns nicht gesehen haben! Unglaublich, oder? Wir werden alt!«
Langsam sortierte sich alles in meinem Kopf. Hochzeit. Da war eine Einladung gewesen, goldene Lettern auf weißem Büttenpapier. Ich hatte sie auf irgendeinen Stapel gelegt und dann in der Versenkung verschwinden lassen.
Ich hatte mich nie gemeldet. Ich hatte die Weihnachtskarten und die Kontaktangebote über das Internet ignoriert. Und ich hatte diese blöde Hochzeit noch nicht einmal abgesagt, obwohl der Einladung eine kitschig gestaltete Antwortpostkarte (auch mit goldenen Buchstaben) beigelegen hatte.
Und plötzlich, blitzartig, überfiel mich die Erinnerung an Douglas’ Reaktion.
»Was ist denn das? Zeig doch mal«, hatte er gesagt und nach der Einladung gegriffen.
»Nur so eine Hochzeit.«
»Eine Einladung? Von wem denn?«
Ich hatte die Schultern gezuckt. »Leute aus Bonn. Vom Studium. Ich hab sie ewig nicht gesehen.«
»Deine Freundinnen? Die, die immer wieder angerufen haben? Auf die du keinen Bock hattest?«
»Genau die.«
»Und warum willst du nicht hin?«
»Ich kenne die doch gar nicht mehr. Außerdem ist das in Deutschland. Außerdem mag ich keine fremden Hochzeiten.«
An dieser Stelle war ein schriller Unterton in meiner Stimme gewesen, gespiegelt vom Zucken in Douglas’ Gesicht. Hochzeit war ein Tabuthema. Hochzeit war etwas, worüber wir vor zwei Jahren ausführlich gesprochen hatten – und zwar über unsere Hochzeit. Dann war das Thema versiegt, so, wie Themen bei uns immer versiegten: Douglas hatte es ausschleichen lassen, ich hatte nicht nachgefragt. Seitdem mochte ich keine fremden Hochzeiten mehr. Aber es war nicht nur das Hochzeitsthema gewesen, was an dem Tag für den schiefen Ton zwischen uns gesorgt hatte.
»Aber wenn es alte Freunde sind … Vielleicht solltest du doch überlegen hinzugehen. Ein bisschen Kontakt zu alten Freundinnen würde dir guttun.«
»Es sind keine wirklichen Freunde.«
»Wer sind denn dann wirkliche Freunde?«
Einen Moment hatte ich ihn sprachlos angesehen, aber er schien tatsächlich eine Antwort zu erwarten. »John«, hatte ich also gesagt. »Matt. Und Karen und Rose.«
»Das sind meine Freunde«, hatte er gesagt. Darauf hatte ich nichts zu erwidern gewusst. Ich war in den Garten gegangen, und er hatte nach seinem Bass gegriffen.
Hätte ich da etwas merken können?
Die Stimme plätscherte gleichförmig aus dem Hörer. »Ich bin immer noch hier in Bonn. Ingo auch. Mir geht’s ganz gut. Ich habe das Studium beendet und dann mein Referendariat.«
»Du bist Lehrerin geworden?« Ich konnte mich zwar an nichts erinnern, aber die Frage erschloss sich aus dem, was sie gesagt hatte.
»Ingo und ich haben vor drei Jahren eine kleine Tochter bekommen. Darum gebe ich momentan nur Förderunterricht.«
»Das ist ja toll. Herzlichen Glückwunsch.« Das war sogar halbwegs ehrlich. Gegen Kinder hatte ich nichts.
Eine Pause entstand.
»Was machen denn die anderen?«, fragte ich.
»Denen geht es gut, so weit. Ich hoffe ja, wir sehen uns demnächst alle, deswegen rufe ich an. Hast du die Einladung nicht bekommen?«
»Welche Einladung?«
»Die Hochzeitseinladung. Nina hat extra bei der Auslandsauskunft nach deiner Adresse gefragt. Es wäre so schön, wenn du kommen könntest. Ihr, meine ich natürlich.«
»Komisch, ich habe keine Einladung bekommen.« Ich wurde nicht mal rot.
»Das habe ich mir schon gedacht, weil du gar nicht geantwortet hast! Gib mir mal deine Mailadresse, dann schicke ich sie dir als Datei. Kannst du es denn irgendwie einrichten? Übernächsten Mittwoch geht es offiziell los. Erst Polterabend, dann Junggesellinnenabschied, dann Trauung. Das ganze Programm eben.«
»Das ist jetzt natürlich kurzfristig …« Ich war ganz überzeugend, glaube ich.
»Kannst du es nicht einrichten? Du musst einfach kommen! Diesmal kommen alle. Wir bringen euch unter, für Gästezimmer ist gesorgt. Wir haben eine Art Komitee gebildet, weißt du …« Ich hörte sie im Hintergrund kramen, als hantiere sie mit einem Stapel Listen. »Alla und ihr Verlobter kommen gleich für zwei Wochen, sie nehmen Urlaub. Hey, das wird total lustig! So wie früher.«
»Ich fürchte, das wird nichts.«
»Überleg es dir noch einmal! Es wird sicher …«
Ich starrte aus dem Fenster, während Simones Stimme aus dem Hörer floss, ein gleichmäßiger Geräuschebrei, der mich nichts anging. Erst als ich ihr meine Mailadresse gegeben hatte, gab sie Ruhe. Und ich beteuerte, dass ich versuchen würde zu kommen: »Ich gucke, ob ich es einrichten kann. Versprochen.«
Versprechen kann man viel, dachte ich, als ich den Hörer auflegte. Fast im selben Moment klingelte das Telefon erneut. Ich vermutete noch einmal Simone, dachte an eine Fehlfunktion, doch ich irrte, es war Douglas. Meine Knie zitterten, als ich langsam auf das Sofa sank, den Telefonhörer fest umklammert.
Seine Stimme klang wie immer. »Wie geht’s denn so?«
»Gut.«
»Ich wollte Freitag ein paar Sachen holen, ist das okay für dich?«
»Oh.« In meinem Kopf war nichts. Warmer Schwindel, gähnende Leere. »Natürlich. Ich meine, ich bin da, komm vorbei, wenn du willst.« Ich hatte mich gefangen. »Es ist schließlich dein Haus«, schob ich hinterher.
Er widersprach nicht, und das war echt gemein. »Red keinen Quatsch, das ist unser Haus, wir leben schließlich zusammen hier«, so hatte er jahrelang protestiert, wann immer die Rede auf unser ungleich verteiltes Einkommen gekommen war und auf unseren Lebensstandard, den er finanzierte. Dazu kam, dass dieses Haus zu den zahlreichen Immobilien seiner Familie gehörte.
Die Stille am anderen Ende war unerträglich.
»Douglas?« Ich versuchte, mir meine Panik nicht anmerken zu lassen. Was, wenn er aufgelegt hatte?
Seine Stimme klang verlegen. »Mimi, wegen Freitag … Ich hatte eigentlich gehofft, dass du bis dahin ausgezogen bist. Wenn das geht, natürlich«, beeilte er sich hinzuzufügen, vermutlich hatte er durch das Telefon gespürt, wie mich seine Worte umhauten.
»Ich versuche es.«
»Das wäre wirklich nett.«
»Ja.«
»Und sonst? Wie geht es? Ich meine …« Er zögerte.
»Gut. Nicht wirklich gut, aber okay, das heißt …«
Irgendwie gelang es uns, dieses furchtbare Gespräch zu beenden. Als ich aufgelegt hatte, fühlte ich zuerst gar nichts. Ich ging in die Küche und setzte Tee auf, in meinem Kopf war Leere.
Erst nach einer Weile ging mir auf, wie unlogisch das alles war. Was bedeutete das, Sachen holen? Wohin wollte er sie bringen? Wo wohnte er? Und wenn er woanders wohnte, warum sollte ich dann dieses Haus räumen?
Ich glaube, ich begriff erst da, dass wirklich alles, alles aus war. Nicht nur das mit Douglas. Ich sah durch die Terrassentür, und alles in mir krampfte sich zusammen.
Zusammen mit Douglas hatte ich auch mein Zuhause und vor allem meinen Garten verloren. Das Haus gehörte Douglas’ Eltern, aber selbst wenn wir es gemietet hätten, hätte ich es mit dem, was ich im Pub verdiente, nicht halten können. Mein ganzes Leben hatte ich auf die Beziehung zu Douglas gebaut. Ich hatte geglaubt, das sei ein starkes Fundament.
Ich presste die Stirn an die kalte, immer etwas feuchte Scheibe und sah die akkuraten Buchsbaumgitter, die meine Kräuter zähmten. Es war undenkbar, dass ich den Garten verlieren sollte. Undenkbar. Aber ein Garten gehörte zu den Dingen, die man nicht mitnehmen konnte.
Und das war nicht das einzige Problem. Ich hatte kein Geld. In meinem Portemonnaie befanden sich nur noch wenige Pfund. Bisher hatten Douglas und ich gemeinsame Kasse gemacht, was mehr zu meinem als zu seinem Vorteil gewesen war. Jetzt war Douglas weg, und ich hatte seit Wochen nicht gearbeitet.
Es dauerte, ehe ich mich entschließen konnte, im Pub anzurufen. Mike ging erst nach dem siebten Klingeln dran. Wahrscheinlich hatte er gerade mit den Lieferanten zu tun.
»Ja?«
»Mike, hier ist Mimi. Wie geht’s?«
»Gut.«
»Hör mal, ich habe ein kleines Problem. Könnte ich ab jetzt ein paar Schichten mehr übernehmen? Ich brauche Geld.«
»Tja, Mimi, ich hatte auch ein kleines Problem. Eine meiner Kellnerinnen ist nämlich seit einigen Wochen einfach nicht zur Arbeit erschienen. Sie ist auch nicht an ihr Handy gegangen.«
»Oh, Mist, tut mir leid, Mike. Mir geht es gerade nicht so gut.«
»Das kann ich mir denken. Ich habe jetzt jedenfalls eine neue gefunden, die hoffentlich ein bisschen zuverlässiger ist.«
»Scheiße, es tut mir echt leid. Können wir nicht noch mal …«
»Vergiss es, Mimi.« Er knallte den Hörer auf.
Einen Moment lang hielt ich das Telefon in der Hand. Ich konnte verstehen, warum er sauer war. Ich hatte ihn hängenlassen in den letzten Wochen. Aber ich hätte um nichts in der Welt aufstehen und das Haus verlassen können.
Um nichts in der Welt?
Genau das würde ich jetzt tun müssen. Das Haus räumen. Eine neue Wohnung suchen.
Ich brauchte einen Job. Das war schwer, denn ich hatte keine Kontakte und keinen Abschluss. Zwei Semester Studium der englischen Literatur. Ein bisschen Pharmazie. Eine abgebrochene Lehre als Gärtnerin. Wirklich qualifiziert war ich für nichts, außer für die Kneipe, mit der ich es offenbar verschissen hatte. Und ich musste irgendwo wohnen. Vor allem aber musste ich Abstand gewinnen und ein bisschen zur Ruhe kommen, sonst würde ich noch verrückt werden.
Urplötzlich kam mir in den Sinn, was ich zu Simone gesagt hatte. Ich gucke, ob ich es einrichten kann. Versprochen.
Wenn ich es richtig verstanden hatte, bot mir die Hochzeit Kost und Logis für eine gesamte Woche. Nach meiner spärlichen Erfahrung waren große Feiern, die sich über mehrere Tage erstreckten, gar keine schlechte Gelegenheit, um ein bisschen abzutauchen. Meistens rannten genug Gäste herum, die viel redeten, so dass es gar nicht auffiel, wenn man selbst den Mund hielt. Vielleicht war die eine oder andere meiner früheren Kommilitoninnen gar nicht so langweilig, wie ich in Erinnerung hatte. Immerhin schienen sie Wert auf meine Gesellschaft zu legen, das war mehr, als ich im Moment von jeder anderen Person meines Bekanntenkreises behaupten konnte. Die Menschen, die wir Freunde nannten, hatten offenbar in stillschweigender Übereinkunft beschlossen, sich entweder aus unserer Beziehungskiste herauszuhalten oder aber sie hatten längst Partei für Douglas ergriffen. Natürlich würde niemand es so nennen, aber durch den Schleier meines Liebeskummers war sehr wohl gedrungen, dass ich keine Einladung zu den beiden Geburtstagen erhalten hatte, die mit naturwissenschaftlicher Sicherheit an den kommenden Wochenenden gefeiert wurden.
Vielleicht sollte ich doch zu dieser Hochzeit fahren.
Das Problem, wo ich wohnen sollte, hätte sich dann fürs Erste geklärt. Und vor allem würde Douglas sehen, dass ich mitnichten dem Bild entsprach, das er von mir hatte. Ich war nicht abhängig von ihm. Ich hatte sehr wohl Freundinnen. Auch wenn ich sie lange nicht gesehen hatte, sie würden sich wahnsinnig freuen, wenn ich kam, sie telefonierten hinter mir her. Und vor allem: Sie würden mich aufnehmen.
Ich griff nach dem Telefon, um die Frau anzurufen, an die ich mich eben noch nur mit Mühe hatte erinnern können.
Sie würde gleich mehrere meiner Probleme lösen.
Allerdings musste ich dafür diese Hochzeit durchstehen.
Ich hasse Hochzeiten aus tiefstem Herzen.
Das muss ich vorausschicken.
Und es liegt nicht daran, dass Douglas mich ganz offensichtlich nicht heiraten wollte, oder zumindest nicht nur.
Hochzeiten sind sozialer Sprengstoff. Ein Haufen Menschen, die einander aus guten Gründen lange nicht mehr begegnet sind, treffen absolut ungeschützt aufeinander, um einer vom Brautpaar perfide ausgetüftelten Tischordnung folgend unvernünftige Mengen an Speisen und Getränken zu konsumieren. Die Gespräche beschränken sich auf die biographischen Eckdaten der Anwesenden, die in komprimierter Form zwangsläufig zum direkten Vergleich herausfordern.
Verheiratet? Kinder? Job? Haus? Doktortitel? Das gab fünf Punkte in der ersten Auswertung, ins Detail ging man später. Wer diese erste Abfrage erfolgreich bestand, der konnte sich möglicherweise beruhigt zurücklehnen und sich dem Riesling, dem Spargeltörtchen oder dem Rehrücken widmen.
Für mich würde es in dieser Runde allerdings keinen einzigen Punkt geben. Ich hatte gedacht, schlimmer könnte es für mich nicht werden, aber sobald ich zugesagt und mit Simone die organisatorischen Details geklärt hatte, ging mir auf, dass es sehr wohl schlimmer werden würde. Im Gegensatz zu früher würde ich nicht einmal Douglas an meiner Seite haben. Ich würde eine jener Bedauernswerten sein, die ohne Partner erschienen.
In den folgenden Tagen packte ich meine Sachen. Ich verstaute meine Habseligkeiten in den Kartons, die seit unserem Einzug auf dem Dachboden vor sich hin moderten, und stapelte sie in Douglas’ Arbeitszimmer. Wo ich sie letztlich lagern würde, darum musste ich mich später kümmern.
An die bevorstehende Hochzeit dachte ich nicht wirklich, auch nicht an die Menschen, die mich dort erwarteten. Simone, Nina, Grit und Alla – das waren nichts als gesichtslose Schemen, die irgendwann einmal meine Vergangenheit bevölkert hatten und die keine Rolle mehr spielten außer der, dass sie mir Zuflucht gewähren würden.
Ich hänge nicht an Vergangenem. Ich plane auch nicht für die Zukunft. Mein Leben gehört dem Hier und Jetzt.
So weit ich zurückdenken kann – und ich kann nicht weiter zurückdenken als bis zu meiner Anfangszeit in Edinburgh, davor war ich ein anderer Mensch, ein Teenie –, habe ich nur in der Gegenwart gelebt. Diese Gegenwart war gut gewesen, weil sie aus Douglas und mir bestanden hatte.
Dass Douglas plötzlich der Vergangenheit angehörte, dass meine Gegenwart unerträglich und die Zukunft, wenn ich sie mir vorzustellen versuchte, ungewiss war, stellte alles auf den Kopf.
Und so war ich, als der Flieger Kurs auf den Flughafen Köln/Bonn nahm, vollkommen leer.
Beim Passieren der Kontrolle hatte mich ein schwereloser Zustand ergriffen, vielleicht war es die Gewissheit, dass sich gleich einer der uniformierten Sicherheitsmänner vor mir aufbauen und mich bitten würde, meinen Koffer zu öffnen. Aber so war es nicht.
Zum Glück. Denn in meinem Koffer war einiges, was ich besser verbergen sollte, doch dazu komme ich später.
Meine Aufmerksamkeit galt also dem Koffer, ich hatte mir erstaunlich wenig Gedanken darüber gemacht, was mich erwartete. Oder genauer, wer mich erwartete.
Denn zuerst einmal erwartete mich Grit. Dabei hatte ich mit Simone gerechnet.
Ich warf einen Blick durch die Plastikscheibe, die uns Ankömmlinge von der Menge der Wartenden trennte. Lauter freudige, gespannte Gesichter. Keines davon kam mir bekannt vor, niemand kam auf mich zu. Mit meinem Koffer stellte ich mich an den Rand, beobachtete durch die verglaste Front die gestikulierenden Taxifahrer und bemühte mich, nicht allzu hilflos auszusehen. Es gelang mir mehr schlecht als recht. Ich sah auf meine Armbanduhr. Für den Fall, dass Simone sich verspätete, hatten wir ausgemacht, uns im Starbucks zu treffen.
Es dauerte ein wenig, bis ich mich durchgefragt hatte, dummerweise war der Starbucks im Abflug-Bereich untergebracht. Ich holte mir einen Milchkaffee, der seinen Namen nicht verdiente, und setzte mich damit ans Fenster. Es war ein guter Platz, strategisch gesehen. Ich konnte die Leute beobachten, aber es sah nicht unbedingt so aus, als hielte ich Ausschau nach jemandem.
Die unerwartete Ruhepause zwang meine Gedanken zu einer Frage, die ich bisher erfolgreich verdrängt hatte: Was, verdammt, suchte ich hier?
Was mir vor einigen Tagen noch als genialer Plan erschienen war, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Witz. Klar, ich hatte Edinburgh möglichst schnell verlassen wollen, mindestens den Kanal zwischen mich und die Orte bringen wollen, an denen ich Douglas oder gemeinsamen Bekannten begegnen konnte, die mich mit Fragen löcherten, auf die ich keine Antwort wusste. Ich wollte auch keinen der Leute treffen, die zu Recht sauer auf mich waren, weil ich ihre Anrufe nicht entgegengenommen hatte, von Mike ganz zu schweigen.
Oder eine Straße entlanggehen, die ich mit Douglas entlanggegangen war, einen Pub besuchen, in dem wir gesessen hatten. Oder, oder, oder.
Weswegen ich nicht in Edinburgh bleiben wollte, wusste ich genau. Die Frage war nur, was wollte ich in Bonn?
Wenn ich an meine Zeit hier dachte, dachte ich an Douglas, und ich hatte niemals in einem anderen Zusammenhang von dieser Stadt gesprochen. Und wo habt ihr euch kennengelernt? – Oh, das war in Bonn, weißt du noch, Schatz, du hattest damals ein Gastsemester …
Ich kniff die Augen zusammen, als könnte ich damit meine Erinnerung scharfstellen, es blieb dabei, fünf nur undeutlich konturierte Komparsinnen spazierten durch die Partys meiner kurzen Studentenzeit, ich wusste ihre Namen, aber das war auch schon alles. Undenkbar, dass eine dieser schemenhaften Zwanzigjährigen mich hier abholen sollte.
Ich kannte die nicht. Seit Jahren hatte ich nicht an sie gedacht. Ich trank noch einen Schluck von dem milchigen Zuckerwasser, das mich drei Euro des schmachvoll von Douglas geliehenen Geldes gekostet hatte, und zwang meine Gedanken zurück in das Jahr meines Studienanfangs.
Wie war das gewesen, damals?
Für mich bestand die Erinnerung an Bonn aus dem Geruch, den der Wind aus dem Botanischen Garten trug und der mir verraten hatte, was dort gerade blühte. Mehr wusste ich nicht von Bonn. Oder?
Ich dachte nach. Bonn war schön gewesen in diesem Sommer, in dem wir uns kennenlernten. Bei einem Schulausflug Jahre zuvor hatte ich mit dem Geschichtsleistungskurs einen Ausflug zum alten Bundestag gemacht, und der Anblick der pastellfarbenen Altbauten, der von Kastanien gesäumten Straßen, der Straßencafés voller Studenten, die träge in die Sonne blinzelten, war mir im Gedächtnis geblieben. So kam es, dass ich mich eingeschrieben hatte, ohne besonderen Grund, einfach, weil man irgendwo studieren musste, es hätte ebenso gut Tübingen sein können oder Konstanz, irgendeine Studentenstadt, die leidlich attraktiv schien. Den anderen ging es wohl ähnlich, auch sie hatte es aus keinem bestimmten Grund hierhergezogen.
So erkläre ich mir jedenfalls, dass wir fünf so bald zusammenfanden. Keine von uns hatte Freunde in der Stadt, keine zogen politische Interessen in den verqualmten Fachschaftsraum oder Sportsgeist in die Turnräume der Pädagogischen Hochschule. Wir waren einfach unschlüssig zwischen den Tischen stehen geblieben, während andere Studierende ihre Plätze suchten.
Und eines Tages saßen wir zusammen in der Cafeteria und beschlossen stillschweigend, Freundinnen zu werden, um uns nicht weiter allein zwischen den anderen treiben zu lassen. Und wir verbrachten ein Semester miteinander. Fertig. Nicht mehr und nicht weniger.
Jetzt waren wir alle zehn Jahre älter geworden, und offenbar hatte Nina beschlossen, uns zu ihrer Hochzeit alle noch einmal zu versammeln. Ich stellte mir die ellenlange Gästeliste des Bräutigams vor und Ninas verzweifelten Versuche, ihre Seite in der Kirche annähernd so eindrucksvoll zu füllen.
So musste es sein, beschloss ich und nippte an meinem zuckrigen Getränk.
Das Schicksal hatte mir für mindestens eine Woche freie Kost und Logis zur Verfügung gestellt, und wenn ich Simone am Telefon richtig verstanden hatte, ließ sich da noch mehr rausschlagen. Ich wäre schön blöd, wenn ich mich mit Grübeleien belastete.
Und vielleicht erlöste mich ja ein Anruf von Douglas aus dieser ganzen Verwirrung, und ich saß schon bald wieder im Flugzeug und flog ihm entgegen.
Das wäre die beste Lösung, natürlich.
Leider war sie nach dem, was in den letzten Tagen vorgefallen war, extrem unwahrscheinlich.
»Mimi?«
Fast wäre ich zusammengezuckt. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich die Frau nicht bemerkt hatte, die plötzlich vor mir stand.
»Du bist doch Mimi, oder?«
Für einen Augenblick zögerte ich, mich dieser Fremden zu offenbaren. Formlose Jacke, glänzende Nase und ein brauner Haarknoten – konnte das Simone sein? Neben ihr stand ein Knirps von vielleicht drei Jahren und blickte mich mit großen braunen Augen neugierig an.
Ich streckte ihr die Hand entgegen. »Hallo!«
»Schön, dass du da bist! Ich habe dich sofort erkannt. Du hast dich gar nicht verändert. Und das ist Jonas. Hat Simone dir gesagt, dass ich ein Kind habe?«
»Ich glaube«, sagte ich und nickte dem Jungen zu, während ich mich bemühte, mich an das Telefonat zu erinnern. Wenn dies nicht Simone war, musste es Grit sein.
»Simone konnte leider nicht kommen, sie muss Nina noch mit den Tischkarten helfen. Typisch Nina, alles auf den letzten Drücker!« Sie verdrehte die Augen und warf mir einen verschwörerischen Blick zu. »Und weil ich heute das Auto habe, hat sie mich gefragt. Nina ist total durcheinander. Ist ja auch kein Wunder, direkt vor der Hochzeit. Eigentlich sind wir alle durcheinander. Es ist so viel zu tun! Du wohnst übrigens bei uns. Also, bei mir und Mark. Mark ist mein Mann!«
Ich nickte vorsichtig, bemüht, die Fakten zu sortieren.
»Wolltest du noch einen Kaffee trinken, oder sollen wir fahren?« Grit betrachtete meine leere Tasse und warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Theke. »Ich kann uns gern etwas holen.«
Ich zögerte und dachte an mein bereits schmelzendes Guthaben.
»Komm, Mimi! Ich lade dich ein. Auf unser Wiedersehen!«
Wenig später saßen wir da wie zwei alte Freundinnen, die Tassen vor uns. Grit strahlte. »Ich komme nur noch so selten dazu, ins Café zu gehen«, verriet sie und zeigte mit dem Kinn auf den Kleinen. Ich winkte ihm probeweise zu und wartete ab, ob er zurückwinken würde.
»Hast du eigentlich Kinder?«, unterbrach sie meine stumme Zwiesprache mit dem Knirps.
»Nein«, beeilte ich mich zu antworten, fast hätte ich »nein danke« gesagt.
Grit nahm meine Antwort mit einem knappen Nicken zur Kenntnis und begann, von ihrer kleinen Familie zu erzählen.
Ich musste mich sehr anstrengen, um einigermaßen interessiert zu wirken. Ich hatte wirklich nichts gegen Kinder, aber ich verfiel bei ihrem Anblick auch nicht in jene Ekstase, die ich bei anderen Frauen beobachtete. Mein Interesse an Kindern beschränkte sich auf die vage Hoffnung, es möge ihnen gutgehen, begleitet von der Furcht, mit einem von ihnen allein gelassen zu werden. Ich war sicher, es würde zu schreien beginnen und ich würde an der mir zugewiesenen Aufgabe scheitern. Zum Glück war ich in keinerlei Gefahr. Wenige Minuten mit Grit genügten, um meine Sorgen zu zerstreuen. Grit gehörte ganz sicher nicht zu der Sorte Frauen, die ihre Kinder bei fremden Menschen zurückließen, und sei es nur für Minuten. Unablässig verfolgte sie ihren brabbelnden Sprössling mit liebevollen Blicken, während sie mich darüber unterrichtete, was mich die nächsten Tage erwartete.
Heute Abend würden wir uns zu einer Art Besprechung in unserem alten Stammcafé treffen, ohne Nina selbstverständlich, denn wir würden in Simones Pläne für den Junggesellinnenabschied eingeweiht werden. Konkret ging es um die zeitlichen Abläufe – aus organisatorischen Gründen sollte erst der Polterabend und dann der Junggesellinnenabschied stattfinden, und es gab viel Heimlichkeit deswegen, Überraschungen für Nina. Für den Junggesellinnenabschied hatte Simone sich offenbar etwas ganz und gar Skandalöses ausgedacht, Grit verlor sich in geheimnisvollen Andeutungen und schien dabei selbst nicht genau zu wissen, was uns erwartete. Jedenfalls würde Simone das mit uns besprechen. Deswegen würden auch die Männer der anderen wegbleiben müssen, was Grit sehr bedauerte, denn sie war lange nicht mehr mit ihrem Mann in der Kneipe gewesen. Alla allerdings hätte darum gebeten, ihren Mann mitbringen zu dürfen, denn sie seien erst kurz verlobt, das verstehe Grit ja, andererseits würden Männer natürlich nur stören, wenn …
»Wieso ist denn eigentlich dein Freund nicht mitgekommen?«, fragte Grit unvermittelt.
»Douglas. Er heißt Douglas«, sagte ich. Es klang schärfer als beabsichtigt, aber dieses ständige »mein Mann, Simones Mann, Allas Mann« hatte mir echt in den Ohren geschmerzt.
»Also, Douglas. Verheiratet seid ihr noch nicht, oder?«
»Nein.«
»Na ja, kann ja noch kommen.«
An dieser Stelle hätte ich wohl widersprechen müssen, aber mir fehlte die Kraft, mein neu erworbenes Singledasein vor dieser Frau auszubreiten, die weder eine Freundin noch eine Fremde war. Der grinsende Kleine und diese ständige Erwähnung ihres Ehemanns machten es nicht leichter. Ganz offensichtlich würde ich als frisch Getrennte in dieser Runde der bunte Vogel sein, und das wollte ich um nichts in der Welt.
Und wer weiß, dachte ich – während Grit aufsprang und ihren Kleinen vom Stuhl riss, der sich verschluckt hatte –, vielleicht geschah ja auch ein Wunder, und Douglas rief an. Am besten jetzt gleich. Dann brauchte ich das Flughafengelände gar nicht zu verlassen, sondern könnte einfach hier sitzen bleiben und auf den nächsten Flieger warten.
»Machst du eigentlich immer noch Tai-Chi?«, fragte Grit mitten in meine Gedanken hinein.
»Tai was?«
»Tai-Chi! Du weißt schon, der Kellner mit dem Tablett.« Grit ließ die flachen Hände durch die Luft kurven und kicherte. »Du warst richtig gut.«
»Das musst du verwechseln.«
»Aber klar hast du das gemacht! Wir alle zusammen. Unisport.«
Ich lächelte und schwieg. Was sollte es bringen, Grit darüber aufzuklären, dass ich niemals Tai-Chi gemacht hatte? Ich machte überhaupt keinen Sport. Wenn der Grund für ihre Gastfreundschaft darin begründet lag, dass sie meinte, mit mir eine bewegte Vergangenheit zu teilen, dann sollte ich sie besser nicht korrigieren.
»Wollen wir los?« Grit wand sich ihr Tuch um den Hals. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war sie aufgestanden und hatte die zahlreichen Flaschen, Keksdosen und Klamotten, die während unseres Gesprächs irgendwie auf dem Tisch gelandet waren, eingesammelt und in das Netz des Kinderwagens gestopft.
»Klar«, sagte ich, warf einen letzten Blick in die Tasse und stand auf. Dann mal voran, dachte ich.
Auf in den Kampf.
Kurz dachte ich an Grits Frage nach dem Tai-Chi. Und plötzlich überkam mich das unbehagliche Gefühl, dass sie jemand anderen als mich erwartet hatte.
Grit wohnte in einem unauffälligen Reihenhaus in Kessenich, eine Viertelstunde vom Bonner Stadtzentrum entfernt. Schon beim Eintreten fiel mir das ganze Kindergerümpel auf: Kinderfahrrad, Roller, Regenjacken, Sandspielzeug – das hätte vermuten lassen, dass hier ein ganzes Dutzend Kinder wohnte.
»Simone wohnt nur ein paar Häuser weiter«, erklärte Grit, während sie mir voraus die Treppen hochstieg. »Das ist echt toll, wir können uns mit den Kindern abwechseln. Stella und Jonas sind beste Freunde.«
Ich nickte erschöpft. Mir kam es so vor, als hätte ich diesen Satz in der letzten Stunde bereits mehrfach gehört.
»Du siehst so müde aus, Mimi. War der Flug anstrengend? Ich meine, du kannst ja wohl keinen Jetlag haben oder so.«
»Hab ich auch nicht«, sagte ich und versuchte ein Lächeln.
»Vielleicht ruhst du dich erst mal aus. Hier ist jedenfalls dein Zimmer!« Grit stieß die Tür auf, hinter der sich eine kleine, etwas enge Dachkammer verbarg. Ich stellte meinen Koffer ab und sah mich um. Bett, Schrank, Stuhl und schräge Decken.
»Gefällt’s dir denn?«
»Ja, klar.«
»Dann richte dich erst mal ein. Es gibt so in einer Stunde Essen. Zwar keinen Hackfleischauflauf mit Senf …«, sie zwinkerte mir rätselhaft zu, »… aber Nudeln mit Pesto. Oh, Mann, das war was … Eigentlich hätte ich diesen Auflauf machen müssen! Nur um dein Gesicht zu sehen! Vielleicht können wir den ja die Tage mal machen, wenn die anderen dabei sind. Einfach so in Erinnerungen schwelgen. Und dann trinken wir Ouzo und hören den Soundtrack und hoffen, dass wir dieses Mal nicht erwischt werden!«
Ich bemühte mich um ein erfreutes Gesicht.
»Um sieben geht’s ins Café Göttlich – ganz wie früher! Und immer zwei auf einmal!« Sie prustete. »Mensch, dass du das mit dem Tai-Chi nicht mehr wusstest, das ist unglaublich!«
Ich nickte und lächelte und schloss die Tür, froh, meine Ruhe zu haben.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon Grit die ganze Zeit redete.
Ich glaube nicht, dass ich extrem vergesslich bin.
Seien wir doch ehrlich! In Wahrheit ist jedermanns Vergangenheit ein schwarzes Loch, verhüllt mit einer Girlande, an der willkürliche Schnappschüsse unserer Erinnerung hängen. In der Zusammenfassung gelingt es, die schwarzen Löcher zu kaschieren, aber das heißt nicht, dass sie nicht da sind. Chronologisch geordnet und sinnvoll sortiert erscheinen diese paar Schnappschüsse logisch, unangreifbar, aber das sind sie nicht.
In Wahrheit bleiben doch viele Fragen offen, je mehr man nachdenkt, umso mehr Fragen werden es. Alle Erinnerungen sind fragmentarisch. Das Unwichtige vergisst man. Und woher soll man im Moment des Vergessens wissen, was wichtig und was unwichtig ist?
Gedanken dieser Art beschäftigten mich, als ich gemeinsam mit Grit in die Innenstadt fuhr.
Grit schnatterte ohne Unterlass. »Alla hat sich zwei ganze Wochen freigenommen. Sie ist ganz weit oben in so einer riesigen PR-Agentur in Rotterdam. Du wirst sie nicht wiedererkennen, sie sieht jetzt unglaublich schick aus.«
Insgeheim dachte ich, dass ich sie auch sonst nicht wiedererkannt hätte.
»Natürlich hätte sie bei Simone schlafen können«, fuhr Grit fort. »Auch mit ihrem Verlobten. Was macht das für einen Unterschied, ein oder zwei Gäste, hat Simone gesagt. Aber Alla wollte unbedingt ins Hotel. Für zwei Wochen! Und nicht in irgendeins – ins Bristol!«
Sie sah mich an, als erwarte sie, dass ich jeden Moment in Ohnmacht fiele.
»Wow!«, sagte ich pflichtschuldig.
»Da fragt man sich doch, was das soll«, sagte Grit mit gerunzelter Stirn. »Ich meine – Alla! Du weißt schon.«
Ich wusste nichts. Aber ich sah Grit an, dass ihre Gedanken in eine sehr spezielle Richtung gingen. Dass sie nicht nur ein interessantes Detail teilen wollte, sondern mehr, vielleicht sogar Besorgnis. Dass sie irgendetwas Spezielles von Alla erwartete, etwas, wovon ich nicht wusste, was es war.
Vielleicht war dies der Moment, in dem ich das erste Mal hätte erkennen müssen, wie schwierig alles werden könnte. Dass selbst eine Traumhochzeit jederzeit ins Chaos kippen konnte.
Aber an so etwas dachte ich nicht. Ich war damit beschäftigt, vor mir zu rechtfertigen, warum ich nicht wusste, worüber sie sprach.
Mein Gedächtnis ist nicht löchrig, sagte ich mir vor wie ein Mantra und betrachtete verstohlen Grits Profil. Es arbeitet lediglich extrem ökonomisch.
Das Treffen war viel schlimmer, als ich befürchtet hatte. Tatsächlich fehlte nicht viel, und ich hätte einen Aschenbecher genommen und in die Spiegelwand geworfen, der die Längsseite des Café Göttlich einnahm, ein Spiegel, der uns in einem idyllischen Gruppenbild in sich aufnahm wie eine große, glückliche Familie.
»Schön, dass du da bist, Mimi«, hatte Simone mich freundlich begrüßt. Sie sah in etwa so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte, silberblond, Perlenstecker, sorgfältig zurechtgemacht. »Natürlich habe ich Ingo zu Hause gelassen, aber er freut sich schon auf den Polterabend, dann werdet ihr euch kennenlernen.«
»Mein Mann durfte auch nicht, aber er hatte eh keine Zeit«, sagte Grit bedauernd in die Runde, und ich sah ihr an, dass sie kurz überlegte, ob sie jetzt sagen sollte, er freue sich schon auf den Polterabend, damit er mich kennenlernen könne.
Ich setzte mich an den verbliebenen freien Platz und versuchte, gleichzeitig möglichst unauffällig und möglichst freundlich auszusehen. Wie ich nach kurzer Zeit bemerkte, nahm ohnehin kaum jemand von mir Notiz, und das lag an Allas Typen. Alla selbst hatte ich ohne große Probleme wiedererkannt, leuchtende schwarze Augen, porenfreie Haut, lebhafte Gebärden. Bei ihrem Anblick war mir ein Bild der früheren Alla durch den Kopf gezuckt, ausgeblichene Jeans, schwarze Dreadlocks und eine Menge Kajal. An die Stelle der Jeans war ein ausgesuchtes Kostüm getreten, das eigentlich nicht zu dem studentischen Ambiente des Cafés passte, ein Missstand, den sie mit zur Schau gestellter Fröhlichkeit ausgezeichnet zu verbergen vermochte. An ihrer Hand blitzte ein Diamant, den sie mit übertriebener Gestik zur Schau stellte. Ihr Gero war ein echter Schönling. Groß und sportlich, Wimpern wie getuscht und ein markantes Kinn wie aus der Reklame. Noch dazu schien er jünger als wir. Grit starrte ihn mit offenem Mund an.
»Ich glaube, jetzt sind wir vollzählig«, sagte Simone. »Wollen wir erst einmal einen Prosecco trinken? Auf unser Wiedersehen?« Sie strich sich die Haare zurück. Das war offenbar eine Marotte von ihr, die sie im Fünfminutenabstand wiederholte: Immer war ihr silberblondes Haar glatt nach hinten gestrichen, nie wagte es eine Strähne, ihre angestammte Position zu verlassen, und doch waren Simones Hände ständig damit beschäftigt, die Haare zu maßregeln.
»Die haben hier gar keinen Prosecco«, sagte Allas Schönling. »Nur Sekt.«
Er sah aus wie ein Anzugmodel aus dem Katalog, und genau so einen trug er auch und passte damit ebenso schlecht hier rein wie Alla. Die beiden hätten besser auf die silberfarbenen Drehhocker einer eleganten Bar gepasst.
Über meine Weigerung, Sekt zu trinken, gerieten alle in schwer nachvollziehbare Aufregung, die schließlich einer betretenen Stille wich, der ich entnahm, dass sie mich jetzt für eine trockene Alkoholikerin hielten.
Simone erklärte, warum sie uns hier zusammengetrommelt hatte: Da war zum einen das mit dem Junggesellinnenabschied. Sie wüsste zwar schon, was wir da machen würden, und für Hilfe bei der Vorbereitung sei sie dankbar, aber verraten dürfe sie noch nichts, schließlich sei ein Mann unter uns. Wieherndes Gelächter folgte auf diesen schwachen Scherz, und ich verdrehte innerlich die Augen.
Bitte, Douglas, dachte ich, ruf mich an, damit ich in den nächsten Flieger steigen kann und mir das alles hier nicht antun muss. Ich legte sacht meine Hand auf das Handy in meiner Hosentasche, doch es blieb stumm.
Der andere Punkt, erklärte Simone, betreffe die Geschenke. Die Brauteltern hätten einen wunderschönen chinesischen Hochzeitsschrank ausgesucht, ein lackrotes Möbel mit metallenen Verschlüssen, in denen man in China traditionell die Aussteuer verstaue. Und damit das Teil seiner ursprünglichen Verwendung zugeführt werden könne, sollten alle Gäste die Geschenke schon vorher abgeben, wenn möglich auf dem Polterabend. Sie selbst werde den Schrank dann damit füllen.
Punkt drei und vier von Simones Liste bekam ich nicht mehr so richtig mit, denn mich hatte plötzlich ein furchtbares Unwohlsein befallen.
Hochzeitsgeschenke. Mist, das hatte ich ganz vergessen. Ein Geschenk würde ich besorgen müssen, quasi als Investition für die tagelange Kost und Logis. Doch von welchem Geld?
Ich war optimistisch gewesen, dass ich mit den von Douglas geborgten hundert Euro auskommen würde, wenn ich sparsam war, und was danach kam, das hatte ich mir so genau nicht überlegt – die Gewissheit, dass Douglas anrufen und mich aus meiner Misere erlösen würde, war offenbar unerschütterlich.
Jetzt aber wurde mir klar, dass ich nicht nur Geld für Kneipenbesuche brauchte, sondern auch das Hochzeitsgeschenk vergessen hatte.
Ich tauchte aus meinen Gedanken auf und stellte erleichtert fest, dass die anderen das Thema Hochzeit inzwischen hinter sich gelassen hatten.
»… gar nicht aus dem Bett kommen«, erzählte Simone. »Ich wecke ihn, und sofort schläft er wieder ein. Fünf Minuten später versuche ich es wieder, und nachher ziehe ich ihm die Decke weg.«
»Das Problem hatten wir früher auch.« Gero wischte sich mit lässiger Bewegung etwas Bierschaum von der Oberlippe. Ich war sicher, er hatte ihn extra für diese männliche Geste dort plaziert.
»Und jetzt?«, fragte Simone.
»Jetzt nicht mehr. Was meinst du, Alla, wollen wir deinen Freundinnen unser Geheimnis verraten – Alla wollte es nämlich schon patentieren lassen«, setzte er erklärend hinzu.
»Erzähl schon.«
»Also, wir beide sind frühstückstechnisch betrachtet ein schlechtes Paar. Sie Radio, ich Stille, sie Tee, ich Kaffee. Ich füttere als Erstes unsere Katze, weil ich es so gemütlich finde, wenn sie mir unter dem Küchentisch die Füße wärmt, Alla hasst den Geruch von Katzenfutter und lässt die arme Minka vor der Türe warten, bis sie zur Arbeit geht. Und zu allem Unglück wollen wir beide denselben Teil der Zeitung lesen.«
»Und?«
»Es ist ganz einfach. Wer zuerst geduscht und angezogen in der Küche sitzt, darf bestimmen. Seitdem haben wir morgens so viel Zeit wie nie. Wir könnten theoretisch sogar nach dem Frühstück noch einmal ins Bett hüpfen, wenn wir wollten.« Er zwinkerte Alla zu, sie fuhr ihm liebevoll durchs Haar.
»Und wer darf zuerst ins Bad?«, fragte Grit. Das hatte ich mich, bei aller Verachtung für dieses miese Märchen, auch gefragt, und so horchte ich auf.
Gero lachte. »Wir haben zwei. Als ich festgestellt habe, was Alla sich für Böden und Wände ausgesucht hatte, habe ich mich wohl oder übel zu einem eigenen Bad durchgerungen.«
»So schlimm?« Simones Stimme klang neugieriger, als ihre zur Schau gestellte Gleichgültigkeit vermuten ließ.
»Schlimmer. Hautfarben mit rosa Adern. Da fühlt man sich wie eine Mücke auf der Suche nach Futter.«
»Du bist unmöglich!« Alla schüttelte den Kopf und gab ihm einen Klaps, dann musste sie lachen.
»Marmor?«, wollte Grit wissen, die Augen kreisrund.
»Klar. Granit wäre in der Farbe unbezahlbar gewesen.« Wieder lachten beide.
Meine Hand lag immer noch auf meiner Hosentasche. Ich hatte den lautesten Rufton plus Vibrationsalarm eingestellt. Eigentlich hätte ich mitbekommen müssen, wenn ein Anruf kam, aber man konnte ja nie wissen.
»Entschuldigt mich«, murmelte ich, stand auf und stieß dabei schmerzhaft an den Tisch.
Draußen hatte es zu regnen begonnen. Ich stellte mich unter die Markise der benachbarten Boutique und zog mein Handy hervor. Guter Empfang. Kein Anruf. Ich schaltete das Gerät aus und wieder an. Ich nahm die SIM-Karte heraus und legte sie sorgfältig wieder hinein. Ich pustete in die Zwischenräume, in denen sich so leicht Staub sammeln und ein Happy End vereiteln konnte.
Kein Anruf.
Als ich wieder an den Tisch trat, scholl mir lautes Gelächter entgegen. Niemand beachtete mich, als ich mich an meinen Platz zwängte.
»Ach, die Kleinen«, lächelte Simone und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Offenbar hatte sie gerade eine witzige Kleinkindergeschichte zum Besten gegeben.
»Warum habt ihr denn keine Kinder?«, fragte sie, und weil sie mich das bereits gefragt hatte, konnten nur Alla und Gero gemeint sein.
»Das frage ich mich auch. So, wie Alla mich rannimmt, kann es nicht mehr lange dauern. Ich hoffe, es werden ganz viele.« Gero zog die errötende Alla an sich und küßte sie.
»Wie schön!« Grit seufzte gerührt.
An dieser Stelle entschloss ich mich zum Gehen, was niemandem sonderlich auffiel und auch niemanden störte. Es fiel ebenfalls niemandem auf, dass ich meine Rechnung nicht bezahlt hatte, und ich hütete mich mit einiger Genugtuung, die anderen darauf aufmerksam zu machen.
Ich war mir sicher, für jemanden mit rosa Marmor im Bad würden meine zwei Gläser Cola nicht ins Gewicht fallen.
Es war an ihrem Polterabend, als ich Nina das erste Mal seit zehn Jahren wiedersah.
Sie stürmte auf mich zu, welker Blumenschmuck im wirren dunkelblonden Haar, ein heller Hosenanzug, der dazu nicht recht passen wollte und in dem sie furchtbar spießig aussah, und dann hing sie an meinem Hals und flüsterte: »Ich wusste, dass du kommst! Ich wusste es einfach! Ich hab immer zu Simone gesagt: Egal, was war, zur Hochzeit wird Mimi ja wohl kommen. Muss sie einfach.«
»Ja«, sagte ich.
Das Wort müssen störte mich, auch wenn ich wusste, dass die meisten Leute Nina zugestimmt hätten.
Hochzeiten sind Veranstaltungen voller Tabus. Wohl bei keinem anderen gesellschaftlichen Anlass ist der geheime Leitfaden des Betragens so deutlich wie hier. Es fängt bereits damit an, dass man sich über eine Einladung gefälligst zu freuen und selbstverständlich zu erscheinen hat. Für das Hochzeitspaar selbst sind die Tage strahlend weiß, und wehe dem, der sie befleckt oder einen einzigen Schatten darauf zu werfen wagt. Die Meinungsfreiheit der Gäste ist empfindlich eingeschränkt, im Prinzip sind sie Statisten mit eng definierten Sprechrollen: Es gibt eine unbedingte Pflicht des Lobens und des Wohlwollens. Die Braut muss wunderschön gefunden werden. Das Hochzeitskleid ein Traum. Das Essen wunderbar. Die Getränke ausreichend. Sollte jemand es wagen, aus diesem Korsett auszubrechen, so macht er sich höchst verdächtig. Also beschloss ich, möglichst wenig zu sagen, das erschien mir am sichersten. Denn ich konnte es mir nicht leisten, dass man meine Absichten oder meine Moral in Zweifel zog. Nicht bei dem, was ich vorhatte.
Immerhin gelang es mir, Nina halbwegs herzlich zu umarmen, auch wenn mich ihre stürmische Begrüßung überraschte und verlegen machte. Glücklicherweise wurden wir von einem neu eintreffenden Paar unterbrochen, das Nina mit vielen begeisterten Ahs und Ohs um den Hals fiel, so dass ich mich unauffällig entfernen konnte. Ich hatte genug von alten Bekanntschaften. Das mochte auch daran liegen, dass ich kurz davor Casper wiederbegegnet war, das erste Mal nach zehn Jahren.
Ich war gemeinsam mit Grit und ihrem langweiligen Mann gekommen, und wir hatten uns ein Getränk geholt und uns dann unter die Menge gemischt. Weil es irgendwelche mir unverständlichen Absprachen mit der Babysitterin gegeben hatte, waren wir etwas spät dran, und es war brechend voll, als wir eintrafen.
Ich nippte an meiner Cola, während Grit sich suchend umsah, als ich ihn plötzlich entdeckte.
Casper. Er sah aus wie damals, vielleicht war er ein wenig fülliger geworden. Ich hatte ganz vergessen, wie groß er war – so groß, dass sein wuscheliges rotbraunes Haar die Umstehenden überragte. Er kam auf uns zu, und dann sah er mich. Seine Augen weiteten sich, und ich wandte meinen Blick schnell ab.
Ein leises Quietschen von Grit an meiner Seite ließ mich zusammenzucken. »Casper! Da bist du ja!« Sie umarmte ihn stürmisch, klopfte ihm auf die Schultern, wofür sie sich recken und strecken musste, und ich fragte mich, ob man bei diesen ausufernden Festlichkeiten jetzt täglich zur bevorstehenden Hochzeit gratulieren musste.
»Erkennst du Mimi noch? Sie ist extra aus Schottland gekommen!«
Ich wagte nicht, ihn anzusehen, tat es dann aber doch.
»Hi, Mimi«, sagte Casper eine Spur zu leise und wich meinem Blick aus.
»Hi«, sagte ich an ihm vorbei, dann hob ich mein leeres Glas in die Höhe und sah Grit entschuldigend an. »Ich hole mir schnell noch eine Cola, willst du auch was?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand ich an die Theke.
Nun saß ich auf einem Barhocker und checkte zum wiederholten Mal mein Handy. Douglas hatte immer noch nicht angerufen. Und ungefähr da, als ich wirklich nicht wusste, wohin ich schauen und was ich tun sollte, erschien Gero.
»Was trinkst denn du?«, fragte er und setzte sich neben mich auf den Barhocker. »Du bist Mimi, oder?«
»Cola«, sagte ich unwillig und warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. Eigentlich wollte ich keine Aufmerksamkeit, ich wollte den Abend so unauffällig wie möglich verbringen. Das lag daran, dass ich etwas Fieses vorhatte. Etwas, wobei ich keine Zeugen gebrauchen konnte.
»Ich hätte gedacht, du trinkst Whisky. Du kommst doch aus Schottland, oder? Soll ich dir einen Bushmills bestellen?«
»Das ist irisch«, sagte ich und schüttelte etwas verspätet den Kopf. »Nein danke. Ich bleibe bei der Cola.«
»Ich kenne mich gar nicht aus mit Whisky. Ich denke nur immer, in Schottland trinkt man viel davon.« Gero sah zu meinem Ärger nicht so aus, als ob er mich in Ruhe lassen würde. Er stützte seine Ellbogen auf die Theke, eine exakte Kopie meiner Pose.
Ich wollte nicht an Whisky denken und auch nicht an Schottland. Die Verbindung der beiden Gedanken brachte mich unweigerlich zu Douglas, zu torfigen Whiskyküssen, seinem kratzigen Kinn.
»Das ist ein Klischee«, sagte ich ablehnend.
»Scheint dich zu nerven«, erwiderte Gero und warf mir einen kurzen Blick zu, und der Blick verriet mir plötzlich, worum es hier ging, und ich schämte mich meiner Unfreundlichkeit. Es ging um Mitleid. Ich war das Entlein, das allein an der Theke stand und sein Colaglas umklammerte. Gero wollte nur nett sein. Bei dem Gedanken wurde mir übel.
»Tut mir leid, ich muss kurz weg«, sagte ich und erhob mich hastig. »Ich muss noch meine Glückwunschkarte einwerfen.«
Das stimmte sogar.