Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung - Helmut Höge - E-Book

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung E-Book

Helmut Höge

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Beschreibung

Helmut Höge erforscht seit vielen Jahren alles, was kreucht und fleucht: von Mikroorganismen bis zu Elefanten. Dabei interessiert ihn nicht nur die wissenschaftliche Literatur über die jeweilige Spezies, sondern vor allem die Beobachtungen derjenigen, die mit Tieren konkret umgehen und ihr Verhalten studieren. Er ist überzeugt, dass durch solche Beobachtungen wichtigeres Wissen zu Tage gefördert wird als unter den Mikroskopen der Molekulargenetik und dass der Mensch vom Tier mehr lernen kann als umgekehrt. 2014 wurde Höge mit dem Ben-Witter-Preis ausgezeichnet, der Autoren verliehen wird, die "einen unkonventionellen Blick auf die Welt werfen, mit ungewöhnlichen literarischen oder journalistischen Formen experimentieren und gesellschaftskritischen Humor zeigen". Dies trifft auf "Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung" in jeder Hinsicht zu.

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Seitenzahl: 193

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Ebook Edition

Helmut Höge

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-724-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Covermotiv: »Ananas mit deutscher und australischer Schabe«, Maria Sibylla Merian, Metamorphosis insectorum Surinamensium, 1705

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Ameisen
Ameisenbär und Erdferkel
Aufgusstierchen
Axolotl und Grottenolm
Berauschen
Berühren
Drosophila
Einzelkühe
Eisbären
Enten
Erdmännchen – Mungos
Falken
Fischforschung I
Fischforschung II
Fliegen
Frösche
Gottesanbeterinnen
Kammmuscheln
Korallen
Kraken
Libellen
Mistkäfer
Muschelwächter
Paviane
Regenwürmer
Riechen
Termiten
Vermehren
Wale (große und kleine)
Zebras
Zitteraale
Nachbemerkung

© privat

Helmut Höge, geb. 1947, arbeitete zunächst als Übersetzer und Tierpfleger für den indischen Großtierhändler und Besitzer des Bremer Zoos George Munro, studierte dann Sozialwissenschaften in Berlin und Bremen, und verdingte sich anschließend auf diversen Bauernhöfen in Westdeutschland als landwirtschaftlicher Betriebshelfer, zuletzt in der Wende auf einer ostdeutschen LPG. Seit 1971 ist er daneben journalistisch tätig, vor allem für die taz, 2002 fing er an, mit Freunden Biologie zu studieren, seit 2012 gibt er im Verlag Peter Engstler die Tierbuch-Reihe Kleiner Brehm heraus.

Einleitung

Das Leben ist subtil, die Wissenschaft grobschlächtig, deswegen brauchen wir die Literatur, meinte der Philosoph Roland Barthes – sowie auch die »Citizen Scientists«, könnte man hinzufügen: die Amateure (von »amator«: die lieben, ohne Gegenliebe zu verlangen), die sich heute allerdings immer öfter von der grobschlächtigen Wissenschaft einspannen lassen. Die Ornithologen zum Beispiel können viele Forschungsprojekte schon gar nicht mehr ohne die »Bird-Watcher« durchführen, ähnlich ist es bei den Insektenforschern, vor allem, wenn sie Bestandsaufnahmen machen wollen. Die (wissenschaftlichen) Projekte werden außerdem immer kürzer budgetiert und die »Jobaussichten« immer geringer. Bereits 1931 bemerkte Carl Jaspers: »Es kommt ein wissenschaftliches Plebejertum auf; man macht leere Analogiearbeiten, um sich als Forscher auszuweisen, macht beliebige Feststellungen, Zählungen, Beschreibungen und gibt sie für empirische Wissenschaft aus.«

Über den kleinen aus dem Ganges stammenden Zebrafisch wurden allein im Jahr 2015 etwa 25 000 Studien veröffentlicht. Er ist quasi die »Laborratte« unter den Fischen, praktischerweise hat man ihn genetisch so verändert, dass er durchsichtig wurde. Der Verhaltensbiologe Jonathan Balcombe erwähnt in Was Fische wissen (2018) gleich mehrere Zebrafischforschungen: So wurde zum Beispiel 132 Zebrafischen Essigsäure in den Schwanz gespritzt: »Sie schlugen daraufhin auf eine eigenartige Weise mit dem Schwanz.« Setzte man sie dagegen dem Alarm-Pheromon eines anderen Zebrafisches aus, reagierten sie »normal und schwammen zum Grund«. Die Forscher schlossen daraus: Die Angst der Fische hat Vorrang vor ihrem Schmerz.

Bei einem anderen Experiment wurde einigen Zebrafischen Essigsäure injiziert, anderen ein harmloseres Salzwasser. Beide Gruppen änderten ihr Verhalten nicht und zogen den Teil des Aquariums vor, wo im Gegensatz zu einem anderen Pflanzen wuchsen. Als man jedoch in den ungeliebten Teil ein Schmerzmittel gab, schwammen die Zebrafische, denen man Säure injiziert hatte, sofort dorthin.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie untersuchten genetisch veränderte Zebrafische mit einem Cortisolmangel, dabei diagnostizierten sie Anzeichen einer Depression. Als sie jedoch Medikamente gegen Angstzustände, Valium und Prozac, ins Wasser gaben, »normalisierte sich ihr Verhalten«. Schon ein Sichtkontakt mit anderen Zebrafischen, die durch eine Scheibe von ihnen getrennt waren, besserte ihre Stimmung.

Im Westberliner »Fischlabor/-büro« setzte sich demgegenüber ab Mitte der 1980er Jahre ein anderes Forschungsverständnis durch. Ich erinnere mich noch an den Vortrag einer Textilforscherin und an den eines Insektenforschers. Ein typischer Dialog am Tresen des Fischbüros ging so: »Machen wir noch eine Bierforschung oder eine Heimwegforschung?« »Ich muss erst mal eine Dönerforschung machen.«

Es wurden später auch Forschungspapiere veröffentlicht. Eines beschäftigte sich mit dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz und seiner Theoriebildung. Als er 1940 vom Direktor des Zoologischen Instituts der Universität Königsberg, Otto Koehler, auf den »Kant-Lehrstuhl« berufen wurde, nahm er seine Barsche mit. Koehler berichtete Bernhard Grzimek 1942 während einer S-Bahnfahrt durch Berlin: »Sein Labor besteht nur aus einem Aquarium.« Es ging Lorenz darum, die Apriori-Begriffe des Philosophen der Französischen Revolution biologisch aus der Entwicklung und Struktur unseres Erkenntnisapparates, das heißt aus der natur- beziehungsweise stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen, abzuleiten – um den Kant’schen Dualismus von Natur und Vernunft darwinistisch zu überwinden. Mit den Barschen also die Logik als Ergebnis von Mutationen und Selektionen zu begreifen? In seinem Hauptwerk Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens (1973) hörte sich das dann so an: »So wie die Flosse apriori gegeben ist, vor jeder individuellen Auseinandersetzung des Jungfischs mit dem Wasser, und so wie sie diese Auseinandersetzung erst möglich macht, so ist dies auch bei unseren Anschauungsformen und Kategorien in ihrem Verhältnis zu unserer Auseinandersetzung mit der realen Außenwelt durch unsere Erfahrung der Fall.« Auf diese Weise gelangen wir jedoch nie zum abstrakten Denken, zur Logik.

Der südfranzösische Naturforscher Jean-Henri Fabre war solch Gedankenkonstruktionen abhold: Er lag ein halbes Leben lang in seinem Garten auf dem Bauch, um Insekten zu beobachten. Und er ist sehr alt geworden, seine Erinnerungen eines Insektenforschers umfassen zehn Bände. Fabre ist meine bisher schönste Entdeckung unter den Naturwissenschaftlern. Zu seinen Kollegen an den Schreibtischen der biologischen Forschungseinrichtungen sagte er: »Ihr erforscht den Tod, ich das Leben.«

Mich begeistern aber auch viele Monographien von Biologinnen – meist über eine Tierart, der sie sich mitunter jahrzehntelang widmen. Einige werden hier im Text erwähnt. Tierbücher haben derzeit Konjunktur, was wohl nicht zuletzt an den Aktivitäten der Naturschützer liegt, die wiederum von den Feldforschern flankiert werden. An Zusammenstellungen von Texten über verschiedene Tiere, wie die vorliegende, ist auch kein Mangel. Ebenso nicht an Romanen über Tiere.

Der Ökologe Josef Reichholf erwähnt in seiner Rezension des Buches Affen wie wir der Literaturwissenschaftlerin Alexandra Tischel zwei gelungene Tiererzählungen, von Franz Kafka und J. M. Coetzee, die aus der Sicht eines gefangen gehaltenen Schimpansen die Welt beurteilen. »Wissenschaft kann sehr viel gewinnen, wenn sie literarisch ausgestaltet und interpretiert wird«, meint Josef Reichholf.

Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher ging noch einen Schritt weiter: Er entwickelte in seiner Dissertation an der ETH Zürich die These, dass die Literatur der mathematisch-naturwissenschaftlichen Sichtweise auf die Welt überlegen ist, wurde aber nicht fertig damit. Die Zeit fragte ihn: »Wie aber will man eine immer komplexere Welt anders beschreiben als mit immer komplexeren Modellen?« Lüscher: »Je komplexer und vollständiger das Modell wird, desto weniger verständlich wird es. Eine Alternative ist es, Narrationen, also Romane, Filme, Reportagen, als Träger von Wissen zu verstehen. Im Gegensatz zu den Modellen versuchen diese Erzählungen allerdings nicht, allgemeingültige Aussagen zu machen. Erzählungen beschreiben Einzelfälle. Indem wir diese Beschreibungen von Einzelfällen zueinander in Bezug setzen, knüpfen wir ein Netz und erhalten eine dichte Beschreibung.«

Irgendjemand scheint aber etwas gegen eine dichte Beschreibung zu haben: der Markt vielleicht? Laufend werden nämlich Romane veröffentlicht, die bloß einen Tierartnamen im Titel, und wenn nicht im Titel, dann als Abbildung auf dem Umschlag, haben. Wenn ich sie dann lese, stellt sich heraus, dass es dem Autor doch meist wieder nur um sexuell konnotiertes Menscheln geht, wenn ich so sagen darf. Die angekündigten Tiere sind darin ganz unwichtig – ein Etikettenschwindel.

Abgesehen davon stimmt es natürlich, was Jonas Lüscher sagt, dass man neben den wissenschaftlichen Studien auch und gerade in Romanen, Filmen, Reportagen, Foren, Clips et cetera, in denen es meist um Individuen geht, eine Vielfalt von Umgangsweisen mit der Neugier auf bestimmte Tiere kennenlernt. Wobei es aber große Unterschiede gibt: Bei Katzen zum Beispiel ist die Literatur schier unüberschaubar, während die über Schafe noch quasi im Lämmerstadium steckt, insofern sie nur von Vernutzung, Krankheiten, Herden, Wollpreisen und Schäfern handelt. Wieder ist die Ausnahme hier eine feministische Wissenschaftlerin: die Schafforscherin Thelma Rowell. Zu den besten Katzenforscherinnen zählt Doris Lessing. In einem ihrer Katzenbücher heißt es: »Jeder aufmerksame, sorgsame Katzenbesitzer weiß mehr über Katzen als die Leute, die sie beruflich studieren. Ernsthafte Informationen über das Verhalten von Katzen findet man oft in Zeitschriften, die ›Geliebte Katze‹ oder ›Katze und Du‹ heißen, und kein Wissenschaftler würde im Traum daran denken, sie zu lesen.«

Kürzlich erfuhr ich im Rahmen der Vorbereitung einer Ausstellung in Wolfsburg über Erdöl von den Kuratoren, dass es in Kalifornien eine Fliege gibt, die in Erdöl lebt. Normalerweise ist Rohöl für alle Lebewesen tödlich, wenn sie da reinfallen. Das weckte meine Neugier. Hierzulande weiß man wenig über die kleine Fliege, aber bereits 1930 erschien ein Aufsatz über die »Biologie der Petroleum-Fliege« vom Mitarbeiter des »Imperial Institute of Entomology« W. H. Thorpe. Darin heißt es: »Psilopy petrolei gehört zweifellos zu den größten biologischen Kuriositäten.« Ihre Larven wachsen in Öltümpeln heran, sie schwimmen nahe der Oberfläche und leben von erstickten Insekten. Im Verpuppungsstadium verlässt die Larve das Öl und hängt sich an Grashalme an den Rändern der Sickerstellen. Als ausgewachsene Fliege kann sie auf den Öllachen gehen. Hierbei könnten die gegen diese stinkenden Lachen vorgehenden Naturschützer einmal eine Tierart zum Aussterben bringen.

Zu den »gefährdeten Arten« gehört inzwischen auch die organismische Biologie selbst: Generell lässt sich laut dem Zoologen an der Humboldt-Universität, Rolf Schneider, sagen, dass die Verhaltensforschung, die Feld-Biologie, fast überall auf dem Rückzug ist, weil die Fördermittel vor allem den genetisch und molekular forschenden Wissenschaftlern zugutekommen. »Für die angehenden Erforscher der organismischen Biologie gibt es deswegen immer weniger Arbeitsmöglichkeiten. Schon werden ganze Institute abgewickelt an den Universitäten, die sich – aus denselben Gründen – auch von ihren Botanischen Gärten trennen wollen. Fast kann man bereits davon ausgehen, dass die Tier- und Pflanzenforschung von der Naturwissenschaft zur Kulturwissenschaft und zu den Künstlern wandert. Ohnehin war es ja die Romantik, die den Naturschutzgedanken einst angestoßen hat.«

»Die Menschen haben Tiere nicht deswegen verehrt, weil sie gut zu essen, sondern weil sie gut zu denken sind«, meinte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss. Mir gab zu denken, dass ich in letzter Zeit lauter Berichte über »invasive Arten«, die aus Amerika kommen und sich hier besonders aggressiv verhalten, gelesen habe. Biber, Eichhörnchen, Flusskrebse, Austern, um nur einige zu nennen. Aus Russland kommen dagegen invasive Pflanzen, die giftig sind – wie der Riesen-Bärenklau. »Die Giftpflanzen Russlands sind allgegenwärtig«, warnt »vsebolezni.com«. Das ist aber alles eher ein Fall für Mythologen und Entspannungspolitiker als für die Lebensforschung.

Ameisen

Die staatenbildenden Insekten hatten schon den »ersten Naturforscher« Aristoteles an die »Demokratie« erinnert. Seitdem mussten sie nacheinander als Beispiele für Tyrannenherrschaft, Monarchie, Republik, Kommunismus, Faschismus, Maoismus herhalten. Der Kulturwissenschaftler Niels Werber schreibt in seinem Buch Ameisengesellschaften (2013): »Von den Wissenschaften, in der Literatur, in den Medien wird notorisch der Eindruck erweckt, die Erforschung sozialer Insekten betreffe stets auch den Menschen und seine Gesellschaft.«

Der nationalsozialistische Staatsrechtler Carl Schmitt war sich mit dem sozialdarwinistischen Insektenforscher Karl Escherich, dazumal Rektor der Münchener Universität, einig: »Sowohl der Menschen- als auch der Insektenstaat muss sich darauf einstellen, dass seine Bürger ganz im Sinne eines ›survival of the fittest‹ der Einzelnen eher ihren eigenen Nutzen zu mehren suchen, als dem Gemeinwohl zu dienen.« Ein Ameisenstaat »kann nie ein Rechtsstaat sein«, die sozialen Insekten haben das Problem biologisch gelöst – und die Nazis machten sich nun anheischig, es ihnen nachzutun. Escherich lehrte 1934: »Das oberste Gesetz des nationalsozialistischen Staates ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹ ist im Insektenstaat bis in die letzte Konsequenz verwirklicht.« Dieser »Totalstaat reinster Prägung« ist bei den Menschen »bisher noch nicht erreicht«. Nämlich wegen des leidigen »Individualismus«, den auch Carl Schmitt für »unsozial« und »gefährlich« hielt und der deswegen »verschwinden« müsse. Schmitt gelangte damit zu einer »speziesübergreifenden Soziologie«, in der die »Gesellschaft«, als »schwirrende, unorganisierte Masse«, dem »Staat« als eine ebenso umfassende wie feste Einheit entgegengesetzt wird.

Der vor etwa 80 Jahren in den USA entwickelten »Soziobiologie« geht es ebenfalls um vergleichbares Sozialverhalten von Ameisen und Menschen. Niels Werbers »Faszinationsgeschichte« beginnt mit einem Dialog zwischen dem ehemaligen Disney-Chef Michael Eisner und dem Microsoft-Gründer Bill Gates, die in der Comicserie Family Guy mit einem Jet-Pack über eine Großstadt fliegen: »Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben,« bemerkt Eisner, Gates korrigiert ihn: »Nein Michael, es sind Ameisen.« Die Mathematiker entwickelten inzwischen »Ant-Algorithmen«, die in der Logistik, der Kriegsführung und so weiter zum Einsatz kommen. Wenn Amazon Bücher mit der Bemerkung empfiehlt, »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben … kauften auch …«, dann war da ein solcher »Ameisenalgorithmus« am Werk, den der Konzern so weiterentwickeln will, dass er Waren auswählt, die einem derart gut gefallen könnten, dass Amazon sie sogleich zustellt – ohne dass man sie bestellt hat.

Die heutigen »Ameisenpäpste«, die Soziobiologen Edward O. Wilson und Bert Hölldobler, sagen Sätze wie »Ameisen wie Menschen haben die Fähigkeit zum äußersten Opfer«. Während der große Entomologe Jean-Henri Fabre befand: »Die Insekten haben kein Sittengesetz.« Für ihn waren die Ameisen im Übrigen »satanische Biester«, weil sie über alle anderen Insekten herfallen und sich auch untereinander bekriegen.

Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer sieht in ihnen eher das Positive. In Die Verzauberung der Welt (2014) schreibt er, dass die Evolution auch so »komplexe Organisationsformen wie die Landwirtschaft« mehrfach hervorgebracht hat – nämlich bei Menschen und bei Blattschneiderameisen.

Wilson und Hölldobler erforschten unter anderem afrikanische »Weberameisen«, deren Kolonien sich auf mehrere Baumnester verteilen, die sie mit Darwin als einen »Superorganismus« begreifen. Ihre Nester bauen diese Ameisen aus Blättern, die sie zu mehreren umbiegen und mit der Seide, die ihre Larven ausscheiden, vernähen. Bei den »Blattschneiderameisen«, die sich von einem Pilz ernähren, den sie in ihren riesigen unterirdischen Bauten mit zerkauten Blättern füttern, gibt es neben den »Kasten« Arbeiterinnen, Königin und Männchen noch Soldatinnen, die besonders groß und wehrhaft sind. Bei den »Stöpselkopfameisen«, der einzigen hier lebenden Ameisenart mit einer Soldatenkaste, haben diese einen so dicken und harten Kopf, dass sie damit bei Gefahr die Nesteingänge verstöpseln können.

Es gibt etwa 13 000 Ameisenarten, in Europa leben 200. Bei etlichen sind bei den Arbeiterinnen die Eierstöcke zurückgebildet. Der Frankfurter Zoodirektor Dr. Grzimek kritisierte einmal im Fernsehen einen US-Film, der von »Horrorameisen« handelte, die alles Lebendige niedermachten: So etwas sei unmöglich, der Regisseur habe aus zwei verschiedenen Arten – »Blattschneiderameisen« und »Treiberameisen« – eine gemacht. Dadurch würden die überaus nützlichen Ameisen in Verruf gebracht. Inzwischen gibt es »Ameisenschutzwarte« und eine »Ameisen-Wiki«, auf der man neue Forschungsergebnisse findet, zum Beispiel über eine Ameisenart, bei der die Verpaarung – zwischen Männchen und Arbeiterinnen mit (noch?) entwickelten Geschlechtsorganen – oft tödlich ist, weil sie nicht mehr voneinander loskommen.

Ameisen bilden eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen aus, von nomadischen »Jägern« über »Sammler« und »Vieh-« bzw. »Pilzzüchter«, daneben gibt es »sozialparasitäre Ameisenarten«, die »Sklaverei« betreiben, indem sie Ameisenlarven anderer Arten entführen und später für sich arbeiten lassen oder indem die Weibchen bei einer anderen Art einwandern und ihre Nachkommen von diesen aufziehen lassen. Wieder andere Arten haben sich für die Vermehrung durch Bildung von Tochterkolonien »entschieden«. Der Bienenforscher Jürgen Tautz hält diese »Nesterteilung« für »eine im Tierreich seltene extravagante Strategie.«

Derart breitet sich zum Beispiel die »Pharaoameise« aus, deren Populationen bis zu 300 000 Tiere umfassen können. Sie ist aus dem Orient eingewandert; weil sie hier nicht im Freien überleben kann, baut sie ihre Nester fast immer an oder in Häusern. Sie wird als Schädling verfolgt; in Hospitälern und in Computern kann diese kleinste Ameisenart großen Schaden anrichten. Bert Hölldobler berichtet: »An der Harvard University musste einmal sogar der Bau eines Hochsicherheitslabors zur Genmanipulation gestoppt werden, weil das Gebäude von Pharaoameisen befallen war. Man fürchtete, dass die Tiere durch die elektrischen Leitungskanäle dringen und dann genmanipulierte Bakterien hinausschleppen könnten.«

In den USA ist vor allem die aus Brasilien eingeschleppte »Rote Feuerameise« eine Plage, der sich mehrere Forschungsinstitute widmen, um sie zu bekämpfen – bisher erfolglos, deswegen auch ihr Name: »Solenopsis invicta« – die Unbesiegte. Man setzte sogar Kampfbomber ein, die Insektizide versprühten, zuletzt eine winzige Buckelfliege, die auf Feuerameisen aus ist und ihrer Duftspur folgt, um ein Ei in sie zu injizieren. Ihre Larve frisst sich durch den Körper bis in den Kopf, wo sie sich verpuppt und dann durch die zuvor entfernte Schädeldecke ins Freie fliegt. Die Rote Feuerameise dehnt sich mit ihren Kolonien über große Gebiete aus und verdrängt alle anderen Ameisenarten, ihr Biss ist sehr schmerzhaft.

Die hiesige »Rote Waldameise« gilt dagegen als äußerst nützlich, weil sie Waldschädlinge, wie Raupen, vertilgt. Daneben mag sie aber auch die süßen Ausscheidungen der Blattläuse, die sie richtiggehend »melkt« und hütet. Weil in Berlin erneut eine Autobahn erweitert wird, werden gerade 200 ihrer Nester von Ameisenexperten umgesetzt. In den Tropen gibt es einige Arten, die, auf ähnliche Weise wie die Rote Waldameise von Blattläusen, von einem Baum versorgt werden, der süßen Saft ausscheidet, und den sie durch Besiedlung vor seinen Feinden schützen. Eine Art wird sogar durch den Saft ihres Akazienbaumes abhängig von diesem.

Als eine der invasivsten Arten gilt die »Argentinische Ameise«, die es inzwischen überall gibt, gern in Menschennähe. Ihre größte Kolonie befindet sich an der Mittelmeerküste, wo diese sich 2007 bereits über 6 000 Kilometer erstreckte. Man spricht dabei von »Superkolonien«, was wohl die Steigerung von »Superorganismus« ist.

Forscher der School of Medicine in Pennsylvania haben sich auf die »Indische Sprungameise« konzentriert: Mit einer neuen Gentechnik gelang es ihnen, Gene, die auf das Gehirn einwirken, so zu manipulieren, dass sich Königinnen zu Arbeiterinnen und Soldatinnen zu »Pseudo-Königinnen« entwickelten. Die FAZ schreibt, dass sie damit »soziales und asoziales Verhalten zielgenau durch einen Eingriff ins Genom erreichen«. Wie immer soll auch dieses »verhaltensgenetische Tiermodell« irgendwann auf Menschen übertragen werden. Es wird Zeit, die Ameisenforschung zu entnazifizieren und die Sozialwissenschaft zu debiologisieren. Ein Staat ist etwas ganz anderes als ein Ameisennest.

Ameisenbär und Erdferkel

Die beiden Tiere haben vieles gemeinsam: Sowohl der in Südamerika lebende Ameisenbär als auch das afrikanische Erdferkel leben von »staatenbildenden Insekten«. Ersterer leckt mit seiner 60 Zentimeter langen Zunge bis zu 30 000 dieser Insekten am Tag auf, letzterer bricht mit seiner Schnauze ihre Nester und Bauten auf.

Die Erdferkel wurden wegen ihrer Nahrungsvorliebe zunächst zu den Ameisenbären gezählt, ihr Erstbeschreiber war 1766 der Berliner Naturforscher Peter Simon Pallas. Er führte die Bestimmung des Erdferkels in der russisch-kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg durch anhand eines Fötus, der vom Kap der Guten Hoffnung in Südafrika stammte, und gab dem Tier die Bezeichnung Myrmecophaga afra. Er stellte es damit in die Nähe der Ameisenbären. 30 Jahre später rückte der Pariser Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire es mit seiner Umbenennung in Orycteropus afer wieder von den Ameisenbären weg, deren wissenschaftlicher Name nun Vermilingua ist. Inzwischen gilt das Erdferkel als einzige Art in der Ordnung der »Röhrenzähner«, und der Große Ameisenbär ist eine von vier Arten in der Ordnung der »Zahnarmen«. Dieser ist stark behaart hat einen langen buschigen Schwanz, in den er sich zum Schlafen einringelt; jener ist fast nackt, sein Schwanz ist fleischig, und er gräbt sich Erdhöhlen, wozu ihm seine grabschaufelähnlichen Vorder- und Hinterfüße dienen. Der Ameisenbär hat eine lange nach vorne dünner werdende Schnauze, das Erdferkel eine eher kurze, die sich vorne verdickt. Der eine ist am Tag unterwegs und der andere nachts. Beide sind Einzelgänger mit großen Revieren, und beide zählen zu den ganz wenigen Säugetieren, die sich vor allem von Ameisen und Termiten ernähren.

Über den Ameisenbär erfährt man hierzulande vor allem dank seiner Erforscherin Dr. Lydia Möcklinghoff, die alljährlich ins brasilianische Überschwemmungsgebiet Pantanal fährt, wo sie mit Machete, GPS, Bewegungskameras und sportlichem Durchhaltevermögen Feldforschung betreibt, um unser Wissen über diese Tiere zu mehren. In ihrem letzten Buch Die Supernasen (2016) nennt sie ihre jahrelange Tätigkeit »Erbsenhirnparalleluniversumsforschung«. Auf einem TV-»Scienceslam« zeigte sie 2013 Fotos von Ameisenbären, die an Baumstämmen Kratz- und Geruchsspuren »lesen« und auch selbst welche hinterlassen, um sich untereinander zu verständigen.

Die Kölner Ameisenbärforscherin, die sich beim Karneval als Ameisenbär verkleidet, ist, ihrem Forschungsobjekt ähnlich, fast eine wissenschaftliche Einzelgängerin, wie sie in einem Zeit-Porträt klagte: »Tierforscher gibt es viele auf der Welt, sie erkunden alles von der Ameise bis zum Elefanten. Aber kaum einer interessiert sich für den Ameisenbären. Dabei ist der eine ansehnliche Erscheinung, Protagonist vieler südamerikanischer Mythen, ein beliebtes Zootier. Und doch ist nur wenig über ihn bekannt. Ihm widmet sich keine Forschergemeinde, und es gibt kaum Fachliteratur über ihn: Insgesamt gibt es fünf größere Studien über sein Verhalten. Vier davon sind Jahrzehnte alt.« Die Verhaltensforscherin hat kein Team und kein Geld, sie ist auf »Fund-Raising« angewiesen. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft in Brasilien und den Nachbarstaaten ist der Große Ameisenbär inzwischen zu einer gefährdeten Art geworden, zum Glück schmeckt er weder den Leoparden noch den Menschen, obwohl er gelegentlich doch ihr Opfer wird, durch letztere vor allem im Straßenverkehr: »Er ist eben nicht gerade der Hellste.«

Bei den afrikanischen Erdferkeln sieht die Forschungslage nicht besser aus. Die Erdferkel sind als Art noch nicht gefährdet. Aber Genaueres weiß man nicht, laut Wikipedia »muss die Lebensweise des Erdferkels trotz seiner weiten Verbreitung als eher wenig erforscht angesehen werden«. Und auch »das Sozialsystem ist kaum näher erforscht«. Zum Teil überschneiden sich die Reviere zwischen den Geschlechtern. »Der Grad der Territorialität ist aber unbekannt, und Begegnungen zweier gleichgeschlechtlicher Tiere sind bisher äußerst selten beobachtet worden.« Ihre sozialen Kontakte sind jedoch wahrscheinlich »auf kurze Treffen von maximal 10 Minuten beschränkt«.

Mein erstes Buch über sie erwarb ich 1980 – eine Bildergeschichte von Hilke Raddatz mit dem Titel Helmut das Erdferkel –, das war keineswegs ein »Erbsenhirn«-Tier. Damit konnte ich mich identifizieren, die Autorin hatte ein sehr freundliches Bild vom Erdferkel gezeichnet. Um es auch als echtes Tier in Betracht zu ziehen, ging ich ins Berliner Naturkundemuseum und schaute mir das ausgestopfte Exemplar dort an, es wirkte verstaubt. Um ein lebendigeres zu sehen, ging ich auch noch in den Westberliner Zoo, wo man im Nachthaus ein Erdferkel hielt. Das Tier in seiner spärlich beleuchteten Kunstgrotte mit Schaufensterglas davor machte auf mich einen deprimierenden Eindruck. Es schien nicht zu wissen, was es in diesem kleinen scheußlichen Raum mit künstlicher Beleuchtung sollte. Irgendwann muss dort aber noch ein zweites Erdferkel gewesen sein, denn 2010 meldeten die Lokalzeitungen: »Erdferkel-Baby ist neue Attraktion im Berliner Zoo. Es hat einen schweineartigen Rüssel, hasenartige Ohren, einen unbehaarten Schwanz und kuschelt am liebsten mit einer flauschigen Decke.« Da die Mutter ihr Baby nicht angenommen hatte, war es vom Tierpfleger mit der Flasche großgezogen worden. Auf Fotos sah man, wie die beiden auf einer Wiese spielten, da war es schon etwa so groß wie ein Absetzschwein und auch so munter.

In Freiheit legen die Erdferkel in ihrem Revier, in dem sie tagsüber »im Zickzack« langsam und aufmerksam unterwegs sind, etliche Erdbauten an – aus Sicherheitsgründen, obwohl sie »vom Menschen abgesehen, nur sehr wenige Feinde« haben, wie das Tierlexikon versichert. Man hat 101 Erdbaue auf einer Fläche von 15 000 Quadratmetern gezählt, manche haben mehrere Eingänge. Der Tierhändler Hermann Ruhe aus Alfeld hat in seinen Erinnerungen die Schwierigkeiten beschrieben, die seine afrikanischen Helfer hatten, eins auszugraben und in die Transportkiste zu kriegen. Alfred Brehm erwähnte zuvor bereits: »Der Jäger, der ein Erdferkel wirklich überrascht und festhält, setzt sich damit noch keineswegs in den Besitz der erwünschten Beute. Wie das Gürtelthier stemmt es sich, selbst wenn es nur halb in seiner Höhle ist, mit aller Kraft gegen die Wandungen derselben, gräbt die scharfen Klauen fest ein, krümmt den Rücken und drückt ihn mit solcher Gewalt nach oben, daß es kaum möglich wird, auch nur ein einziges Bein auszulösen und das Thier herauszuziehen. Ein einzelner Mann vermag dies nie; selbst mehrere Männer haben genug mit ihm zu thun.«

Erdferkel, in: Brehms Tierleben (1904)