Die Macht aus Nebel und Schatten - Jenny Pieper - E-Book

Die Macht aus Nebel und Schatten E-Book

Jenny Pieper

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Beschreibung

Die Magierin Myrra zahlte für die Rettung ihres Großvaters einen hohen Preis – die Befreiung der dunklen Gottheit, die aus der Welt verbannt war und deren Schatten jetzt das Land einnehmen. Der Hexer Roran weiß nicht mehr, wem er trauen kann, nachdem der Zauber seiner Herrin und Ziehmutter die Gefühle zwischen ihm und Myrra zerstörte. Er sucht seinen Platz in einer Welt, die seinesgleichen verabscheut. Können sie die Invasion der Schatten aufhalten, mit der die Hexe droht, das Land an sich zu reißen? Und wird die Stärke ihrer zerbrochenen Verbindung ausreichen, um die Finsternis zu besiegen?

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Seitenzahl: 629

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Die Macht aus Nebel und Schatten

FLUCHMAGIE

JENNY PIEPER

Copyright © 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Illustrationen Print: Jenny Pieper

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-884-8

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

1. Myrra

2. Ceres

3. Myrra

4. Roran

5. Ceres

6. Myrra

7. Roran

8. Myrra

9. Myrra

10. Roran

11. Myrra

12. in der Hauptstadt

13. Myrra

14. Ceres

15. Flavia

16. Kelvan

17. Myrra

18. Myrra

19. Myrra

20. Myrra

21. Nelie

22. Myrra

23. Roran

24. Myrra

25. Ceres

26. Myrra

27. Myrra

28. Myrra

29. Myrra

30. Ceres

31. Flavia

32. Myrra

33. Myrra

34. Roran

35. Myrra

36. Myrra

37. Myrra

38. Myrra

39. Roran

40. Myrra

41. Myrra

42. Ceres

43. Myrra

44. Myrra

45. Myrra

46. Myrra

47. Myrra

48. Myrra

49. Myrra

50. Myrra

Epilog

Danksagung

Drachenpost

Für alle,

die manchmal an sich selbst zweifeln.

Prolog

§I Grundsatz1 der Einheit, Abs. II

Die Form des Beitrags hängt von jedem Individuum und seiner Klasse ab. Die Einteilung in Magier, Ungezeichnete, Cadere, Magielose und Gesetzlose dient lediglich der vereinfachten Einteilung von Stärken und Schwächen des Wesens. …

dient dazu, Machtstrukturen einfacher umzusetzen! Es geht immer nur um Macht.

Ein zerbrochenes Wesen hatte die Prägung betreten, war durch eine Tür gekommen, die gar nicht hätte existieren dürfen. Dieser Durchgang war seit Jahrhunderten versperrt.

Fineh regte seinen mächtigen Körper, konzentrierte sich auf die fremde Präsenz. Er schmeckte Trauer und Wut, Hoffnung und Liebe. Zwischen dem Wirrwarr lag zudem etwas Vertrautes, ein vergessener Teil von ihm selbst.

Der Gott legte sich flach auf den Boden. Bäume wirkten neben seiner fuchsähnlichen Gestalt wie Grashalme. Diese Form war seine liebste, wenn auch nicht die praktischste. Seine langen Klauen gruben zu schnell Furchen in Erde und Gestein, sein Schwanz schlug Schneisen in Wälder.

Der Himmel glich einer Decke, unter der er sich gemütlich ausbreitete. Sein Körper war das Licht, vertrieb Bawors Schatten in die Dunkelheit, in die hintersten Ecken, unter Felsen und hinter Baumstämme.

»Wo hat er sich heute versteckt?«, rätselte er einen Moment und hielt nach der dunklen Gottheit Ausschau. Meistens reichte es, sein Licht weiter über die Landschaft zu schicken. Seine Strahlen küssten Wolken, streichelten Flüsse und lugten in Felsspalten. Bawor hatte sich erneut so tief zurückgezogen, dass Fineh ihn nicht entdecken konnte. Ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich.

Er schüttelte den Gedanken ab und wandte sich wieder dieser neuen Empfindung zu. Drüben im Labyrinth regte sich der Neuankömmling.

Fineh seufzte und sandte eine sanfte Brise über die Welt. Blätter rieselten zu Boden, Äste knackten im Wind und Erinnerungssplitter klirrten in den Kuppeln, die sich aus den Baumkronen im Labyrinth bildeten. Selbst aus der Entfernung war der Klang so klar wie das Glas der Scheiben. Pure Magie der Vergangenheit, getränkt mit Leben, Freude und Leid.

Kurz überlegte er, liegen zu bleiben und dem Klang der Natur und ihren Lebewesen zu lauschen. Das Labyrinth erinnerte ihn stets an die Konfrontation mit Bawor. Dort gab es zu viele Schatten und zu viele Bruchstücke aus vergangenen Tagen.

Letztlich siegte seine Neugierde über die Abneigung. Er hob den Blick, sah in die Richtung des Landstrichs im Zentrum der Prägung.

Sein Schweif peitschte zwei Mal über den Boden, Fineh drehte sich und schrumpfte. Er nahm eine Gestalt an, die den Miscesen ähnelte. Nur waren seine Gliedmaßen länger, anmutiger. Ein Umhang umhüllte seinen Körper, weiß wie Licht und rot wie der Morgen.

Er streckte sich genüsslich, atmete die Präsenz des fremden Wesens ein und folgte diesem Duft bis zu den knorrigen Bäumen des Labyrinths.

1Lüge

Kapitel1

Myrra

§VI Schatten, Abs. I

Ungerechtigkeit und Egoismus waren der Nährboden von Bawor, der dunklen Gottheit. Am Tag der Verbannung wurden die Miscesen von dieser Ungerechtigkeit befreit. Ihre Schatten* wurden in die Prägung versiegelt.

*Jetzt kehren sie von dort zurück. Wie sollen wir Bawors Aufstieg nur verhindern? Es ist alles meine Schuld …

* * *

Erinnerungen erleuchteten die Kuppel, spiegelten sich in silbrigen Scherben und warfen ihr Licht bis in die dunkelste Ecke.

Äste wanden sich am Rand hinauf, verwoben sich zu einem undurchdringlichen Geflecht. Die Splitter hingen an den Zweigen. Große, kleine, runde, eckige. Sie klirrten im Wind.

Szenen vergangener Tage huschten über die Kuppel. Sah ich genauer hin, tauchte ich ein.

Großmutters Geburtstag, an dem wir mit den Schülern der Kampfschule bis spät in die Nacht Kuchen gegessen hatten.

Einsame Spaziergänge auf den Feldern hinter den Schlafsälen.

Abende in der Waffenkammer mit Nelie beim Polieren der Schilde.

Eine kühle Brise flatterte durch meinen Körper wie ein Schmetterling über Blumen. Sie riss mich aus den Erinnerungen zurück in die Realität, die aus nichts als Ästen und magischen Scherben bestand. Dieser Ort erstreckte sich gleichwohl einsam wie von Leben erfüllt.

»Ich habe einen großen Fehler gemacht, Nubes«, flüsterte ich.

Zur Antwort zwickte mir der Fluch in den kleinen Zeh.

Die Erinnerungen an Kelvan und Flavia übermannten mich wie eisige Wellen, drückten mich unter Wasser. Ich konnte nicht atmen.

Eine Träne kitzelte meine Nasenspitze. »Ich hätte ihnen nicht vertrauen dürfen.«

Weder dem falschen Braumeister, der behauptete, den Fluch von Großvater zu nehmen, noch der dunklen Seite, die ihn letztlich gebrochen hatte. Beide hatten mich belogen, mir erzählt, was ich hatte hören wollen, um mich für sich zu gewinnen.

»Alles nur wegen dem Öl in meinen Adern.« Kelvan hätte meine Magie für einen Trank gebraucht, der ihm mehr Macht verleihen hatte sollen. Da er doch kein echter Braumeister war, musste er sich anders bereichern. Glücklicherweise hatten wir seine Pläne vereitelt.

Flavia hingegen hatte meine Magie erhalten und die Prägung geöffnet. Bei den Göttern, was hatte ich mit meiner seltenen Macht nur angerichtet?

Meine Kniescheibe vibrierte. Ohne die Essenz des Öls in meinen Adern wäre Nubes nicht an meiner Seite.

Sollte ich mich darüber freuen?

Ich wusste es nicht.

Ich wusste gar nichts mehr.

»Ich hätte auch Roran nicht vertrauen dürfen«, presste ich hervor. Meine Stimme brach. Die Last verlorener Gefühle schnürte mir die Luft ab.

Wir hatten uns geküsst. Ich hatte etwas für ihn empfunden. Zart wie die Knospe einer Blume.

Nachdem Flavia den Vertrauenszauber von uns genommen hatte, hatte die Blume ihre Wurzeln verloren. Die Erde, in der sie herangewachsen war, war verschwunden.

Zurück blieb ein totes Gewächs, ohne Zukunft.

Eiskalter Schmerz zuckte vom Knöchel die Wade hinauf. Mein Fluch begehrte auf und wollte mir etwas mitteilen. Widersprach Nubes mir?

Schnaubend richtete ich mich auf. »Was willst du?«

Kurze impulsive Stiche. Wurde Nubes wütend?

Ich sprang auf die Füße, das Licht der Splitter tanzte über meine Arme.

Nubes begann einen stolpernden Takt anzuschlagen.

»Ich gebe Roran keine Schuld. Aber was wir hatten, ist verloren.«

Ein Ziehen an meinem Unterschenkel drängte mich zur Seite. Ich folgte der Empfindung und trat näher an das Astgeflecht. Dutzende Scherben befanden sich in meinem Sichtfeld, zeigten mir Tage, die ich vergessen geglaubt hatte.

Das Bild von Großmutter, Großvater, Nelie und mir am Tisch stach wie ein Dolch in mein Herz.

Würde ich sie jemals wiedersehen? Würden wir noch einmal so zusammensitzen? Lachend? Vertraut? Als Familie?

Ich schmeckte bittere Galle. Kelvan hatte versprochen, meine Familie zu retten, stattdessen hatte er Nelie genommen und sie vergiftete. Im Palast hatte sie an seiner Seite gestanden und der Kampfschule den Rücken gekehrt.

Nubes stampfte auf.

»Was ist denn?«, rief ich aus. »Was willst du mir sagen?«

Ich sah hinab und gab meinem Knie einen Klaps.

Aus dem Augenwinkel entdeckte ich ein Gesicht, das widersprüchliche Gefühle in mir auslöste.

Roran.

Sonne verfing sich in seinen Haarspitzen und ließ sie aufleuchten. Das kühle Grau seiner Augen strahlte mit dem Lächeln auf seinen Lippen um die Wette.

Im nächsten Moment befanden wir uns unter Wasser in Imber. Wie damals bekam ich keine Luft. Ich presste mir eine Hand an die Brust und betrachtete seine Lippen, spürte die Berührung. Genauso zart.

Das Wasser verschwand, stattdessen standen wir auf einer Hängebrücke, umgeben von Nebel. Wir eilten den Weg entlang, erreichten die Plattform und wurden von einem riesigen Kraken angegriffen.

Rorans Haut entflammte von seiner Magie.

Er stellte sich den Piscen in den Weg, damit ich mit meinen Gefährten entkam. Ich drehte um, stahl mir einen Kuss.

Alles Lügen. Erinnerungen, die auf einem faulen Zauber errichtet worden waren. Tränen brannten in meinen Augen und ich schluckte schwer.

Augenblicke verstrichen und Nubes schien sich in den Bildern der Splitter zu verlieren, so wie ich. In den Scherben fand ich Freude und Leid, Hoffnung und Trauer.

»Wo soll ich jetzt noch hin?«, fragte ich Nubes, erhielt jedoch keine Antwort.

Aus Gewohnheit nahm ich den Kompass hervor, den Headea mir bei meinem ersten Besuch im Gasthaus überreicht hatte. Das Licht der Kuppel spiegelte sich in dem Relief der Eisblumen. Ich drückte den Knopf zwischen den metallenen Blättern und kleine Wellen erfassten die Oberfläche, drängten das Silber zurück und enthüllten den Kristall im Innern. Die Nadel, die sich sonst ziellos gedreht hatte, war verschwunden.

Meine Finger verkrampften sich. Wut pumpte heiß durch meine Hand. Am liebsten hätte ich den Kompass von mir geworfen. Was brachte er mir, wenn er mir den Weg nicht zeigte?

»Du bist genauso nutzlos wie deine Schöpferin«, blaffte ich. Headea, die Braumeisterin an der Küste, schien schneller den Bezug zur Gegenwart zu verlieren als der Kompass seine Richtung. Dennoch hatte sie mit ihren Worten recht behalten.

Der Kompass hatte mich geleitet, mich zu Großvater geführt, mir Bawor gezeigt, den Flavia auf meine Eltern gehetzt hatte. Vermutlich sollte ich dankbar für die Hilfe sein. Es fiel mir so unglaublich schwer, das zuzugeben.

Auf meiner Reise hatte ich genug falsche Entscheidungen getroffen. Nur die Götter wussten, wo ich ohne den Kompass hingeraten wäre.

»Es bringt nichts.« Seufzend steckte ich das Navigationsgerät zurück in die Manteltasche und sah mich um. Die Axt lag in der Mitte der Lichtung. Roran hatte sie mir bei unserem Kampf gegen Flavia aus meinem Zimmer in der Festung herbeigezaubert. Die Waffe stammte von einem Schmied der Hexe. Vermutlich sollte ich sie verfluchen und bei nächster Gelegenheit zurücklassen. Sie hatte mir auch nicht aus dieser Kuppel herausgeholfen, egal, wie oft ich auf die Äste eingeschlagen hatte. Dennoch war sie das Einzige, was eine Verbindung zu zu Hause herstellte, zu dem Alltag in der Kampfschule und den Stunden auf den Trainingsplätzen. Ein vertrautes Gewicht, das sich echt anfühlte im Vergleich zu dem Blick in die Scherben.

Ich sah auf, folgte dem dunklen Holz der Bäume zu den silbrigen Spitzen. Unerbittlich erhoben sich die Äste, verflochten sich zu einem festen Netz. Es gab keinen Ausweg aus der Kuppel. Nur Erinnerungen und das Licht der Vergangenheit, welches aus den Scherben zu mir drang.

»Hast du mich hergebracht, damit wir in Frieden sterben?«, fragte ich Nubes und humpelte zu meiner Waffe. Daneben setzte ich mich ins Gras, betrachtete die aufwendigen Verzierungen am Griff. Auch hier bestand der Großteil des Musters aus Eisblumen, die der guten Gottheit gewidmet waren. Sie wechselten sich mit scharf gezackten Linien ab.

Nubes protestierte. Meine Vermutung war also falsch. Aber was hatte mein Bein dann vorgehabt? War es eine Verzweiflungstat gewesen oder steckte ein Sinn dahinter?

»Du hast mich vor Flavia gerettet«, sagte ich und ließ mich nach hinten fallen. Die Arme verschränkte ich unter dem Kopf, Gras kitzelte meine Haut. Über mir tanzten die Spiegel. »Danke, Nubes. Kleine Wolke.«

Ich blinzelte, sah plötzlich von einigen Yards über mir herab, betrachtete mich aus einer fremden Perspektive im Gras liegend. Einen Wimpernschlag später befand ich mich wieder in meinem Körper.

War ich eben in die Erinnerung eingetaucht? Hatte sich die Kuppel in einer der Scherben gespiegelt?

Die Kälte in meinem Bein wurde leicht, schwerelos. Nubes verband sich mit meiner Magie, sandte ein Wohlgefühl durch meinen Körper.

Ruckartig setzte ich mich auf. Was war das gewesen? Hatte ich für einen Moment die Verbindung zu mir selbst verloren?

»Der Zauber der Zeit«, hauchte ich. Ihn hatte ich ganz vergessen. Kurz bevor Nubes mich in die Prägung befördert hatte, hatte ich Flavia mit ihren eigenen Mitteln schlagen wollen und den Zauber eingesetzt.

Ich schob das Hosenbein hoch und strich über meinen Fluch. Immerhin waren Nubes’ Zeichen unverändert. Dunkle Linien, die sich über meine Haut schlängelten, zu unbekannten Formen verwoben und in einer scharfen Spitze auf der Kniescheibe endeten.

»Er kostet einen Preis«, wiederholte ich das, was Flavia mich und Roran über den Zauber gelehrt hatte. Ob es stimmte? Oder war es eine weitere Lüge?

»Was haben wir verloren?«, fragte ich. Panik kroch wie die anbrechende Nacht durch meine Adern, lauernd und schleichend. Sie war bereit, mich in die Dunkelheit zu zerren.

Mein Fluch blieb still, wusste keine Antwort darauf.

Hektisch sah ich auf, überflog die Scherben, sah vertraute Gesichter, Orte, Tage. Meine Eltern, Großeltern, Nelie, Brammon. Erleichtert lächelte ich. Ich hatte sie nicht vergessen. Mir fehlte also keine offensichtliche Erinnerung an die Menschen, die ich liebte.

Roran flackerte auf der nächsten Scherbe auf. Seine Erscheinung warf mich in eiskalte Erinnerungen. Fast wünschte ich mir, der Zauber hätte mich das Wissen an meine Reise, mein Abenteuer, und das, was sich daraus entwickelt hatte, gekostet.

»Wenn ich meine Vergangenheit nicht verloren habe, dann wohl meine Zukunft.« Wie viele Lebensjahre würde ich durch den Zauber verlieren? Wie hoch war der angesprochene Preis?

Es kribbelte unter meiner Haut. Nubes wurde nervös und ich strich beruhigend über mein Bein. »Schon gut.«

Ein freudloses Lachen entschlüpfte meiner Kehle. »Ist ja nicht so, dass eine vielversprechende Zukunft vor mir liegt. Ein Secundus, der sich als Braumeister tarnt, lässt mich jagen. Eine Hexe hat meine Magie geerntet, um die Tür zur Prägung zu öffnen.«

Übelkeit stieg in mir auf.

»Hoffentlich geht es Großvater und Großmutter gut.«

Daran, was die befreiten Schatten in Soror anrichteten, wollte ich gar nicht denken.

Verfluchte Götter der Prägung!

Das Meer hatte sich verfärbt und die Schatten aufgenommen. Was passierte mit der Welt, während ich hier festsaß?

Nubes pochte aufgebracht. Wollte mein Bein, dass ich aufstand und etwas unternahm?

»Wir können nicht helfen«, sagte ich und ließ den Kopf hängen. »Nicht so!«

Demonstrativ hob ich den rechten Arm. Das Zeichen der Graduierung, eine gezackte Linie mit der Sichel in der Armbeuge. Daneben drei Punkte. Das reguläre Zeichen der Magie wurde von dunklen Zaubern zerbrochen und verwob sich mit Eisblumen.

Ich zeichnete die Rune des Spiegels auf meine Haut. Ein Blitz, umrundet von einem Halbkreis. Es passierte gar nichts. Flavia und der Kampf hatten mir zu viel Macht entzogen.

Ich presste die Lippen aufeinander und betete innerlich flehend zu Fineh.

Bitte, lass mich meine Magie nicht verloren haben! Nicht vollständig.

Als hätte er mein Gebet erhört, flimmerte die Rune und leuchtete in schwachem Orange. Das Zeichen der Magie auf meinem Arm verschwand für einen Wimpernschlag.

Die Erleichterung riss mich mit sich wie einen Vogel im Wind. Vielleicht war doch nicht alles aussichtslos. Vielleicht kehrte meine Magie zurück und ich würde lernen, den Zauber des Spiegels ausreichend zu beherrschen. Dann konnte ich unentdeckt nach Hause zurückkehren. Ich wollte meine Familie sehen, mich vergewissern, dass es ihnen gut ging.

»Du hast mich hergebracht«, sagte ich an Nubes gewandt. »Kannst du mich auch wieder von hier fortbringen?«

Stille.

Das Klirren der Erinnerungsscherben erfüllte die Luft, brauste mit der nächsten Windböe auf. Mein Bein hatte keine Antwort für mich.

»Bitte«, flehte ich. »Ich will nach Hause.«

Licht strich über meine Arme, flackerte.

»Was ist ein nach Hause?« Eine fremde weibliche Stimme erklang.

Ich sprang auf, die Axt fest umklammert, und suchte nach der Herkunft des Geräuschs.

Hinter mir hatte sich das Geäst verändert, war zur Seite geschoben und gab den Blick auf eine Gestalt frei, die in der Öffnung stand.

Obwohl gleißendes Licht die Kuppel flutete, blieb die fremde Frau vor mir verborgen. Sie trug einen Umhang, der aus Schatten zu bestehen schien. Eine schlanke Silhouette zeichnete sich mit hartem Kontrast ab. Ein langer Zopf wehte im Wind.

»Wie seltsam«, sagte die Fremde. »Etwas an dir ist kaputt.«

Kapitel2

Ceres

Auszug aus Gents Tagebuch

Ein Magier namens Valerian Anatolius soll erfolgreich starke Tränke aus Meerwasser gebraut haben. Wichtig ist, dass der Salzgehalt des Wassers im Rezept berücksichtig und gegengerechnet wird.

* * *

Tiefe Rillen hatten sich durch das häufige Falten ins Papier gegraben.

Ich bin eine Gefangene in meinem eigenen Körper.

Worte, die Ceres mittlerweile auswendig kannte. Sie hatte die Handschrift so oft betrachtet, dass sie wusste, wie weit die I-Pünktchen verrutscht waren. Wie geschwungen Nelie das G in Gefangene geschrieben hatte.

Ceres faltete den Zettel erneut auf, musterte den Satz, als könnte er sich nach den vielen Tagen verändern und zu etwas anderem werden. Etwas, das Sinn ergab und keine weiteren Fragen aufwirbelte.

Es war töricht, dass eine Magielose ihre Gedanken dermaßen einnahm. Umso törichter, dass Ceres eine Antwort auf die Nachricht verfasste.

Sie saß über die Tischplatte gebeugt an ihrem Schreibtisch in der Unterkunft der Akademie. Ein kleines Zimmer, ausgestattet mit dem Nötigsten. Ein schmales Bett schmiegte sich an eine Wand, ein Schreibtisch an die gegenüberliegende. Lichtdurchlässige Vorhänge säumten das Fenster und stießen an der rechten Seite gegen ein kleines Bücherregal. Es gab keine fremde Ablenkung und war perfekt, um sich auf die Studien ihrer Ausbildung zu konzentrieren.

Ceres bewegte die Schultern, lockerte die Verspannungen, die sie aus der unruhigen Nacht mitgenommen hatte. Dennoch ließen sich die Träume der Nacht nicht vollständig abschütteln. Hauptsächlich wirre Szenen von ihrem Kampf mit Myrra auf den Feldern von Mriro.

Die Feder kratzte über das Papier. An einigen Buchstaben verharrte sie länger, tränkte das Material mit Tinte.

Bibliothek bei Sonnenuntergang.

Wütend knüllte sie das Papier zusammen und warf es von ihrem Schreibtisch in Richtung Bett. Die Kugel landete auf der Matratze.

»Ich habe mir geschworen, stark zu werden«, zischte sie. Die Einsamkeit in ihrem Zimmer verschluckte die Worte.

Sie hatte alles zurückgelassen. Ihre Eltern. Ihre Heimat. Zenobia, ihre ehemals beste Freundin, die als Magielose aus der Zeremonie hervorgegangen war.

Sie wandte sich von dem ab, was ihr auf dem Weg zu Macht ein Hindernis sein konnte.

»Kaj würde ihr helfen.« Ceres lehnte sich auf dem Stuhl zurück und dachte an das ruhige Lächeln ihres Bruders, das er immer aufsetzte, wenn er sie tadelte. Der Tag brach an und drängte sie, die Akademie zu verlassen und Kelvans Labor aufzusuchen. Eine erneute Braustunde stand bevor. »Aber Kaj würde, ohne zu zögern, jedem helfen.«

Sie sprang auf die Füße und eilte zur Tür. Der blaue Umhang lag um ihre Schultern, zeichnete sie als Magierin von Canehl aus, mit dem Schwerpunkt auf Heilzauber.

»In den Schatten soll ich schlafen«, fluchte sie über sich selbst und drehte sich um. Sie nahm das zerknüllte Papier und steckte es in eine Innentasche ihres Mantels.

Mit erhobenem Haupt eilte sie hinaus.

Der Tisch mit dem Braukessel gegenüber von Kelvans Schreibtisch war mittlerweile Ceres’ Stammplatz. Kerzengerade stand sie da, als Kelvan in das Labor gerauscht kam. Der bunte Umhang bauschte sich auf, ließ Runen von Folia, Imber, Canehl und Mriro wirbeln. Sein weißer Bart war frisch gestutzt, die Konturen zeichneten sich scharfkantig von seiner Haut ab.

Dicht hinter ihm folgte Nelie. Unscheinbarer, weniger raumeinnehmend. Ihr helles Haar war zu einem strengen Zopf zurückgenommen. Das Gesicht wirkte dadurch schmaler, genauso drahtig wie ihre schlanken Glieder.

»Guten Morgen, meine wissbegierigen Schüler«, begrüßte Kelvan sie und die anderen Lehrlinge. »Wir brauchen mehr Löstränke für unser Lager. Die bevorstehende Konfrontation mit der abtrünnigen Tribus und der dunklen Seite wird uns alle eine große Bedrohung bringen.«

So wie er es sagte, klang es wie eine Besonderheit, dass sie Löstränke herstellen sollten. Dabei bestanden ihre Braustunden aus fast nichts anderem. Ceres konnte sein Anliegen verstehen. Je größer die bevorstehende Gefahr war, desto höher die Wahrscheinlichkeit, Bannzauber, Knochenbrüche oder Verletzungen heilen zu müssen. Magier, die wie sie auf Heilung spezialisiert waren, hatten eben keinen endlosen Magiespeicher, sondern waren irgendwann erschöpft. Da war es nur sinnvoll, die Lager frühzeitig mit heilenden Tränken aufzufüllen. Dennoch störte sie sein selbstgefälliger Ton.

Die Lehrlinge bekamen bei seinen Worten dennoch große Augen, nickten höflich und machten sich eifrig ans Werk.

Ceres griff ebenfalls ihre Schale für die Zutaten und wollte schon zum Regal stürmen, aber Kelvan hielt sie zurück.

»Du nicht, meine Liebe.« Mit einer Geste winkte er sie an seinen Tisch.

Sofort ging ein Raunen durch die Gruppe der Lehrlinge. Einige hielten mit Zutaten in den Händen inne und sahen zu ihr. Eine Quintus aus dem ersten Jahr, von Kelvan eigens zur Braustunde eingeladen und jetzt noch das?!

Ein Lächeln spielte auf Ceres’ Lippen. Fast vergaß sie das zerknüllte Papier in ihrer Tasche.

»Leihst du mir deine Hände?«, fragte er höflich, als bestünde die Möglichkeit, abzulehnen.

»Es wäre mir eine Ehre«, antwortete sie fest und presste zitternd die Faust um die Nachricht in ihrem Mantel. Ihre Antwort für Nelie. Das Papier schabte über ihre Haut.

»Ein Witterungstrank ist sehr empfindlich und benötigt mindestens zwei Paar Hände.« Der Braumeister legte ein Stofftuch auf die Arbeitsfläche und schlug es auf. Feine Salzkristalle kamen zum Vorschein. Ihre Färbung war leicht rosa und die Körnchen so rein, dass sich das Licht darin brach. Muster breiten sich auf dem Stoff aus.

»Wir werden ihn zum Aufspüren der Tribus einsetzen«, erklärte er.

Ceres wurde kalt. Früher hätte sie alles geglaubt, was er gesagt hatte. Jetzt gab es da diese Zweifel in ihr. Etwas wollte nicht, dass er Myrra aufspürte. Seit dem Kampf gegen sie auf dem Lata Agris, den offenen Feldern von Mriro, war etwas mit ihrem Kopf passiert. Erinnerungen gestohlen, Gedanken eingepflanzt. Sie zweifelte an Sorors mächtigstem Magier, dem Braumeister der Hauptstadt.

»Neben dem Salz benötigen wir noch Kümmel, Pfefferkörner, Ingwer und Myrrhe.«

Nelie neigte den Kopf und huschte los. Ihre Schultern wirkten verspannt, die Bewegungen starr.

»Welche Runen werden beim Witterungstrank eingesetzt?«, fragte Ceres, um sich so von ihren fehlgeleiteten Gedanken abzulenken. Sie zog die Hand aus der Tasche. Die Nachricht blieb darin zurück. Bleischwer, schien nicht aus Papier, sondern Metall zu sein.

»Angriff, Befehl und Wind«, zählte Kelvan auf. Vor Ceres’ innerem Auge tauchten die Zeichen auf. Der dreizackige Stern von Imber, der als Inzenzie von Gent dessen Unterarm schmückte. Die Rune für den Befehl bestand aus einer schrägen Linie mit Zacke, die Headea auf Myrras Handfläche gezeichnet hatte, um den Kompass hervorzuholen. Zuletzt der Wind. Eine gewellte Linie mit einem Kreis, der die geschwungene Form umschloss.

Auf Anweisung des Braumeisters zerstieß Ceres Pfeffer, mahlte Kümmel zu feinem Pulver und hobelte den Ingwer. Der herbe Duft der Gewürze stieg ihr in die Nase, kitzelte sie. Einmal drehte sie sich zur Seite und unterdrückte ein Niesen.

»Der Wind wird Teil der Zutaten, trägt den Trank über das Land und findet die Tribus.« Kelvan zeichnete die Rune in das Kümmelpulver und wies Ceres an, es ihm im Pfeffer nachzumachen. Die groben Körner rieben über ihre Fingerspitze. Sie hob die Hand und die Rune glühte auf.

»Wir geben das Pulver gleichzeitig hinzu, und schicken beide eine Befehlsrune hinterher.« Er hielt das Schälchen über den Braukessel. Ceres’ Bewegungen waren ein gespiegeltes Abbild des Braumeisters.

Die Gewürze glitten in den Trank, Nebel stieg auf und wölbte sich über den Rand.

Mit geschickten Bewegungen zeichnete der Magier eine Befehlsrune auf den Rand. Ceres folgte seinem Beispiel keinen Augenblick später. Wie zwei Bilder eines Spiegels führten sie die Prozedur fort, bis ein Ring leuchtender Runen den Kessel schmückte.

Der Nebel änderte seine Richtung, stieg auf und verwirbelte zu einem flammenlosen Feuer.

Kelvan bedeutete seiner Schülerin, zurückzutreten. Sie wich einen Schritt nach hinten und stieß dabei mit dem Ellbogen gegen die Magielose.

Während Kelvan die Arme ausbreitete, Wind sein Haar erfasste und seine tiefe Stimme durch den Raum dröhnte, fasste Ceres wieder nach dem Papier in ihrer Tasche. Sollte sie es wagen? War es nicht besser, dieses ganze Hirngespinst sein zu lassen?

»Hexen erheben sich, Magier entscheiden sich für die falsche Seite.« Er zeichnete zwei Runen in die Luft, Angriff und Wind. Nebel entstand, schlängelte sich hinauf.

Mit einem Klatschen führte Kelvan die Magie zusammen und gelber Rauch explodierte. Die Schwaden umspielten seine Finger, verfärbten sich blau.

»Wir werden stärker sein«, donnerte er.

Aus dem Nebel wurde eine dickflüssige Substanz. Sie troff von seinen Händen zurück zu dem Trank im Kessel.

Ein Wachmann trat ein und sein Blick zuckte zu Kelvan, der in seinem Zauber gefangen war. Geräuschlos huschte der Mann nach vorn und beugte sich hinter Ceres zu der Dienerin. Die geflüsterten Worte waren zu leise, um greifbar zu sein.

Der Braumeister ließ sich davon nicht beeindrucken. Ceres war sich nicht sicher, ob er die Störung überhaupt mitbekam.

Er zeichnete eine Angriffsrune auf seine Handfläche und presste das glimmende Zeichen auf die Oberfläche.

Der Trank zischte, klang wie eine Mücke, die um Ceres’ Ohren herumschwirrte.

Nelie drängte sich an Ceres vorbei, hielt jedoch direkt vor ihr inne. Die Ausstrahlung der Magielosen war lesbar wie ein offenes Buch. Dringlichkeit lag in ihren Bewegungen, ebenso Vorsicht und Furcht. Sie spannte die Muskeln an, wartete auf den Moment, wann sie Kelvan über die Neuigkeit informieren konnte. Wieder berührten sich ihre Arme zufällig.

Die Berührung ziepte wie eine missglückte Rune auf Ceres Haut und schien etwas in ihr zu entzünden. Wenn nicht jetzt, wann würde die nächste Gelegenheit folgen, um töricht zu sein?

Mit angehaltenem Atem zog Ceres die Antwort aus ihrer Tasche und drängte sich näher an Nelie. Die Magielose versteifte sich, die Finger zuckten, als das Papier sie berührte.

Nelies Aufmerksamkeit war ganz auf Kelvan gerichtet, dennoch nahm sie das Schreiben mit einer schnellen Geste entgegen. Stockend fuhr ihre Hand in die Tasche und ließ die Antwort dort verschwinden. Ein Moment, nur einen Herzschlag lang, der sich in dem Labor ausbreitete und ihn einnahm. Wie ein verbotenes Geheimnis schwebte er über Ceres Geist und drückte ihr Schuldgefühle auf die Schultern.

Kelvans Schauspiel endete mit einem lautlosen Knall. Nebel stob davon und ein brauner Trank blieb zurück, erinnerte Ceres an verwelkte Blätter, die dem Wind folgten. So wie der Trank in den Böen gleiten würde, um Myrra zu finden.

Ceres biss auf die Innenseite ihrer Wange. Sie hatte alles aufgegeben, um an dieser Stelle zu stehen. In der Lehre eines mächtigen Magiers.

Anstatt aufzupassen, spann sie irre Theorien und wollte sich mit einer Magielosen treffen, die ihr eine merkwürdige Nachricht überreicht hatte. Viel wahrscheinlicher schien es, dass sie in ein falsches Spiel verwickelt wurde. Dennoch brodelte tief in ihr dieser Antrieb, diese Sache zu untersuchen.

Was war bloß aus ihr geworden?

Eben diese Magielose trat vor und überbrachte dem Braumeister die Neuigkeiten, die der Wachmann ins Labor getragen hatte. Der verbissene Ausdruck in seinem Gesicht verriet nichts Gutes.

»Das kann nicht sein!«, rief er und schlug die Hände auf die Tischplatte. Gläser fielen um, eine Schüssel wackelte und rutschte über den Rand.

»Die Tribus ist gefährlicher, als wir ahnten«, sagte er, während die Schüssel auf dem Boden zerschellte.

»Zusammen mit der Hexe hat sie die Schatten befreit. Das Meer hat die Finsternis aufgenommen. Sie reiten über die Wellen nach Norden.«

Ceres schlang die Arme um die Taille, um die aufwallenden Emotionen unter Kontrolle zu halten. Es half nichts. Ihr wurde speiübel.

Mit der bloßen Hand griff Kelvan in den Trank und schöpfte etwas davon heraus. Zähe Tropfen rannen über seine Finger, perlten herab.

»Möge dieser Trank die Tribus finden, damit sie für ihren Verrat bezahlt.«

Kelvan blies die Tropfen fort. Zuerst folgten sie seinem Atem, bevor sie in eigenen Wirbeln durch den Raum tanzten und sich letztlich in Luft auflösten.

Totenstille lag über dem Labor. Alle Blicke waren auf den Braumeister gerichtet.

Er schlug seinen Umhang zurück und betrachtete seine Schüler. Jeden Einzelnen, bis er bei Ceres verharrte.

»Dies bedeutet Krieg.«

Kapitel3

Myrra

§IX Magische Tränke und Runenmagie, Abs. III

Runen sind nach der Reinheit ihrer Form und ihrer Stärke klassifiziert. Hochklassifizierte Runen sind vielseitig und gehören zur Grundausbildung jedes Magiers.

Strukturen und Formen, das können wir gut. Dabei gibt es noch so viel mehr in uns.

* * *

Bist du ein Schatten?« Der Anblick der Gestalt brannte sich in meinen Kopf ein. Ich im Zentrum, die Fremde zwischen verschlungenem Holz, ein dunkler Schemen in einem lichtdurchfluteten Eingang. Die Kuppel einer anderen Welt spannte sich wie eine Glocke über dieser Szenerie.

Die Gestalt verharrte und lachte auf. »Wo sind bloß meine Manieren?« Anmutig breitete sie die Arme aus und schüttelte die Dunkelheit ab wie einen zähen Ölfilm. Darunter kam eine junge Frau zum Vorschein. Ihr Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr bis auf die Hüfte reichte. Weiße und schwarze Muster wechselten sich auf ihrer Kleidung ab. Rote Verzierungen säumten die Ärmel, schlängelten sich in Bändern die Arme hinauf und gingen in metallene Schnallen über, die Stoff auf ihren Schultern zusammengerafft hielten. Ein Umhang schmiegte sich um die Silhouette der Fremden. »Ich vergesse gerne, dass ihr von drüben Angst vor den Schatten habt.«

»Wir von drüben?«, wiederholte ich.

Die Frau kam zu mir und betrachtete kurz ihre Hände, als überlegte sie, was sie mit ihnen anfangen wollte. Sie nickte wie zu sich selbst und umfasste meine Schultern. »Miscesen aus Soror.«

»Gibt es in der Prägung auch Miscesen?« Mir schwirrte der Kopf.

»Natürlich!«

»Aber die Prägung«, stammelte ich, »sie ist ein Ort der Schatten und der Götter.«

»Und der Gefallenen, der Verlorenen, der Sehenden, der Wachenden und vielen mehr.«

Mit offenem Mund starrte ich mein Gegenüber an. Mein Kopf war wie leer gefegt. Die Angst vor dem Eindringling fiel von mir ab, wich der Hoffnung, mehr über diesen Ort und einen möglichen Ausweg zu erfahren.

»Ich bin Solana«, sagte sie, nahm die Hände von mir und streckte mir eine davon entgegen. Wie in Trance nahm ich die Geste an. »So macht ihr das doch, oder?«

Ich betrachtete unsere verschlungenen Hände, versuchte, die Informationen irgendwie zu sortieren oder wenigstens zu begreifen. Miscesen lebten in der Prägung? Ein Händeschütteln war in dieser Welt fremd?

»Würdest du mir erklären, was nach Hause bedeutet?«, fragte sie mit einem wissbegierigen Glitzern in den Augen.

Kurz wartete ich ab, ob sie es ehrlich mit mir meinte oder was dieses absurde Schauspiel sollte. Wie konnte sie nicht wissen, was das hieß?

Geduldig musterte Solana mich. Auf ihren Lippen lag ein feines, aber aufforderndes Lächeln.

Ich räusperte mich, suchte nach den richtigen Worten. »Nach Hause kommen oder ein Zuhause haben ist dasselbe. Es bezeichnet einen Ort, an dem du dich wohlfühlst, wo du hingehörst, wo deine Familie ist.«

Solana tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Also hat jeder ein anderes Zuhause?«

»Ja. Familien oder Freunde können sich ein gemeinsames Haus teilen.«

»Kann es für ein Wesen mehr als ein Zuhause geben?«

»Ich denke schon«, antwortete ich. Nubes zupfte leicht an meinem Bewusstsein. Ein wohliger Schauer huschte über mein Bein und ich schmunzelte.

Bin ich wirklich dein Zuhause? Kann man in einem Körper zu Hause sein?

Ein zustimmendes Brummen wallte unter meiner Kniescheibe auf.

Schön, wenn du so empfindest. Ich bin mir da nicht sicher.

»Hmm.« Solana wandte ihren Kopf den Splitterscherben unter der Kuppel zu. »Zuhause«, flüsterte sie, während ihr Blick über die Bruchstücke meiner Vergangenheit huschte.

Vermutlich hätte mir die Situation unangenehm sein sollen, schließlich sah sie alles. Auch das Schlechte. Momente, für die ich mich schämte. Erinnerungen voll Wut und begangener Fehler.

Doch in Solanas Gesicht lag kein Urteil, bloß unendliche Neugier. Die Art und Weise, wie sie die Splitter betrachtete, hatte etwas Erfahrenes an sich. Ihr Blinzeln wurde träger, die Bewegung ihrer Augen langsam, bedacht. Sie folgten einem unsichtbaren Rhythmus, fast als wäre da Musik, die nur sie hören konnte.

»Wer bist du?«, fragte ich, obwohl mir unzählige andere Fragen auf den Lippen brannten. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Woher kannte sie Gesten wie das Händeschütteln? Aber ausgerechnet etwas wie ein Zuhause war ihr fremd? Was hatte es mit den anderen Miscesen in der Prägung auf sich? Gefallene, Verlorene, Sehende, Wachende. Was bedeutete das?

Und allem voran – wie würde ich nach Hause kommen?

Solana grinste ein Stückchen breiter, deutete von mir zu sich und hob einen Finger an die Lippen. »Das ist unser Geheimnis.«

»Was ist unser Geheimnis?«

»Ich darf als Wächterin nicht mit den Besuchern im Labyrinth reden.« Sie seufzte schwer und beugte sich zu mir. »Aber du bist keine Gefallene, daher gehörst du hier gar nicht hin. Ich würde dich eher als Durchreisende, denn als Besucherin bezeichnen.«

»Ich bin hier in einem Labyrinth?«

»Ja! Vermutlich könnte ich es als mein Zuhause bezeichnen«, meinte sie und strahlte. »Dieses Wort ist übrigens schwierig. So viele Jahre habe ich den Miscesen von drüben zugeschaut. Manche Gefallenen bleiben für wenige Stunden, andere für immer. Sie alle wünschten sich, nach Hause zu gehen. Anfangs dachte ich, das wäre eine Stadt bei euch.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ein Wort, dessen Definition abhängig vom Sprecher ist … Kein Wunder, dass alle eure Sprache für Blödsinn halten.«

Unsere – was? »Ihr sprecht hier eine andere Sprache?«

»Natürlich.«

Ich wartete einen Moment auf weitere Erklärungen. Solana rührte sich nicht.

»Was für eine Sprache?«

»Na, Celarisch.«

Sie sagte das, als wäre es selbstverständlich. Ganz so, als müsste ich wissen, was das hieß.

Plötzlich war da wieder dieses Gefühl. Ich konnte es nicht fassen. Es entglitt meinen Sinnen und auf einmal sah ich Solanas Rücken und die verzierten Runen auf ihrem Umhang. Auf der anderen Seite war mein fahles Gesicht, wie ich ihr gegenüberstand und sie verwirrt betrachtete. Im nächsten Augenblick war das Bild verschwunden. Benommen fasste ich mir an die Stirn, taumelte.

Was passierte mit mir?

»Bitte«, flehte ich. »Kannst du dich klarer ausdrücken? Wo bin ich hier? Was ist das für ein Ort und was bedeutet das alles?«

Solana half mir, mich ins Gras zu setzen. Sie strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn und gab Laute von sich, ähnlich wie die, mit denen eine Mutter ihr Kind beruhigte. Vermutlich hatte sie das in einer Erinnerung gesehen.

»Du bist hier in Celare. Der Welt der Götter und des Zwielichts.« Sie deutete hinauf in die Kuppel aus Scherben. »Das Labyrinth ist ein Ort, in dem Miscesen aus Soror ankommen. Hier begegnet die Vergangenheit der alten Welt den verlorenen Seelen, um ihnen eine Richtung zu zeigen. Und es bündelt sich nirgends so viel Dunkelheit wie im Labyrinth.«

Wieder streckte sie mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie und der Funke in ihren Augen leuchtete auf. »Ich bin Solana, die Wächterin des Labyrinths. Du bist die erste von drüben, mit der ich spreche.« Sie zwinkerte und legte wieder einen Finger an die Lippen. »Das ist unser Geheimnis.«

Langsam glaubte ich, Solana zu verstehen. Sie gab mir zu jeder Vorstellung die Hand, legte ihren Zeigefinger an die Lippen, wenn sie über Geheimnisse sprach. Sie beobachtete die Miscesen und ihre Vergangenheit aus der Ferne, lernte Verhaltensmuster und die Sprache, wie sie es für richtig hielt.

»Du siehst in mir eine Durchreisende?«, fragte ich und griff damit die Worte auf, die sie in dem wirren Durcheinander unzähliger neuer Informationen an mich gerichtet hatte.

Sie setzte sich aufrecht hin, verschränkte die Hände im Schoß und nickte so überschwänglich, dass ihr Zopf wild herumwirbelte.

»Als Wächterin ist es meine Aufgabe, Dunkelheit mit Licht zu vertreiben.«

Innerlich seufzte ich auf. Das Gespräch mit Solana war verworrener als die Äste der Kuppel. »Wie machst du das?«

»Die Miscesen fallen und landen hier, bei mir.« Solana breitete die Arme aus und deutete auf die Splitter. »Manche Wesen verlieren sich selbst und geraten auf den Weg der Finsternis. Ich zeige ihnen, wer sie sind und woher sie kommen. Finden sie sich selbst wieder, erhalten sie das Zeichen der Caderen und kehren nach Soror zurück.«

Sofort sah ich das Auge, den Kreis und die daraus fließende Träne vor mir. War Großvater hier gewesen, als er gefallen war?

»Wenn sie dem Licht nicht folgen, verlieren sie sich selbst. Manche finden den Weg zurück nach Soror, andere irren durch Celare und werden Diener der Schatten.«

»Kann ich zurück nach Soror?«, fragte ich und klammerte mich an der Hoffnung fest, diesen Ort wieder zu verlassen.

»Du bist nicht gefallen und nicht verloren«, bestätigte Solana. »Der Weg ist bereit, wenn du bereit bist.«

Das klang so einfach, dennoch saß ich hier fest. Mit der Axt hatte ich die Kuppel nicht öffnen können und selbst, wenn es mir gelang, wusste ich nicht, in welche Richtung ich gehen sollte. Ich wusste nicht einmal, wie viel Zeit seit meiner Ankunft vergangen war. Handelte es sich um Stunden? Tage? Wochen? »Woran erkenne ich, ob ich bereit bin?«

»Willst du denn zurück?«, fragte sie.

»Natürlich!«

»Aber du bist noch hier.«

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, hielt jedoch inne. Sie hatte recht. »Ich will zu meiner Familie. Sie wartet in Soror auf mich.«

»Und es wartet Unheil, oder nicht?«

Dunkelheit schob sich in mein Sichtfeld, dämpfte das Licht der Scherben und erinnerte mich an die schwarzen Wellen, die die Schatten nach Imber geführt hatten. Wie lange würde es dauern, bis die Finsternis die Kampfschule erreichte? Was passierte mit den Miscesen, die von der Finsternis übernommen werden würden?

»Ich bin weit gegangen, um meine eigene Welt zu beschützen.«

»Daraus ist ein Kampf entbrannt, der alle Welten einbezieht. Glaubst du, du bist dafür bereit?«

Die Last Tausender Schicksale legte sich auf meine Schultern und drückte mich nieder.

»Nein.« Ich richtete mich auf, ein winziges Wesen in einem Labyrinth aus Erinnerungen. Ich war gefangen zwischen Miscesen, die sich selbst verloren, und Wesen, die sich fanden. »Ich kann keine Welten retten. Ich kann Kelvan und Flavia nicht besiegen und bestimmt nicht die Schatten der Götter bezwingen. Aber ich will meine Familie beschützen. Dafür bin ich bereit, bis ans Ende der Welt zu gehen.«

Solana musterte mich und legte mir eine Hand an die Wange. Ich sah diese Geste in meinen Erinnerungen, wenn Großmutter oder Nelie mich getröstet oder mich aufgebaut oder mir Mut zugesprochen hatten. Solana imitierte diese Augenblicke, weil sie es vermutlich nicht besser wusste.

»Du bist außergewöhnlich«, sagte sie und beugte sich näher zu mir. »Ein Wesen mit Widersprüchen. Aus Schwäche und Stärke. Ein Gefäß, zersprungen und wieder zusammengesetzt.«

Sie stupste mir gegen die Stirn. Eins der Spiegelblättchen leuchtete auf. Darauf war der Kampf mit Flavia zu sehen, meine Hand, die mit dem Lauf der Zeit verwoben gewesen war. Die Scherbe blitzte bestimmt nicht zufällig auf, das war Solanas Werk.

Sie verschränkte die Hände und nickte wissend. »Als du das letzte Mal zerbrochen bist, hast du einen Teil verloren.«

Nubes zuckte besorgt und wieder dachte ich an meine Eltern, an Großvater und Großmutter. An Nelie, die Kampfschule und sogar an Roran. Die Erkenntnis, dass ich sie nicht vergessen hatte, beruhigte mich.

»Weißt du, was ich verloren habe?«, fragte ich vorsichtig. Die Wächterin legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Kunstwerk über uns. Das Mosaik meines Lebens.

»Du bist anders als dort oben.« Sie deutete auf die Kuppel, die sich auf meinen Erinnerungen bildete. »Deine Gegenwart hat sich verändert.«

»Was bedeutet das? Hat mich der Zauber Lebenszeit gekostet?«

»Nein. Ich glaube, es ist anders.« Solana fasste sich ans Kinn, legte die Stirn in tiefe Falten. »Er hat deine Verankerung im Hier und Jetzt verändert. Die Gegenwart ist ein winziger Augenblick. Er wird geprägt durch das, was wir sind, wie wir uns mit diesem Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft verweben.« Sie betrachtete mich skeptisch. »Du hast ein Stück davon verloren.«

Sie kniff Zeigefinger und Daumen zusammen, als würde sie etwas Winziges andeuten. »Einen kleinen Teil von einem noch kleineren Teil.«

Solanas Worte klangen wie ein Märchen. Eine alte Legende aus Kindheitstagen. Ich verlor die Verbindung zu dem Punkt, den wir Gegenwart nannten?

»Meinst du, ich kann die Zukunft sehen?«

Sie schüttelte den Kopf und nahm meine Hände fest in ihre. »Ich glaube, der Zauber lässt dich die Gegenwart mit anderen Augen sehen.«

Wieder nahm ich die Szene aus einem anderen Blickwinkel wahr, sah, wie wir uns auf der Wiese im Labyrinth gegenüberstanden. Einen Herzschlag später war der Moment vorbei und Solana stand dicht vor mir.

War es das, was sie meinte? Verlor ich die Verbindung zu meinem Ich, wenn ich den Halt in der Gegenwart verlor?

Ein Schauer lief mir über den Rücken und setzte sich in meinem Bein fest. Das war keine neue Fähigkeit, sondern ein weiterer Fluch.

Nubes wallte empört auf.

Zur Antwort strich ich über meinen Unterschenkel, knetete die Wade.

Wir haben einen Weg gefunden, zusammenzuarbeiten. Ich glaube kaum, dass wir ein ähnliches Band mit verloren gegangener Zeit knüpfen können.

Nubes blieb stumm, dann stimmte mir mein Bein widerwillig zu und stupste meine Haut dort an, wo meine Hand lag. Ich spürte die Worte, die Nubes mir sagen wollte. Aber wir haben uns.

Ja, wir haben uns, kleine Wolke. Zusammen finden wir einen Weg nach Hause.

Ich richtete mich auf und sah Solana an, die uns neugierig musterte. Ihr Kopf lag leicht schräg, eine Hand hielt sie am Kinn. Wieder eine perfekte Denkerpose.

»Wie komme ich zurück?«

»Wenn du bereit bist …«

Ich seufzte, ließ ihre Worte wie Schmetterlinge an meinem Ohr vorbeiziehen.

… dann würde ich den Weg finden.

Nubes zupfte an meinem Bewusstsein. Das Zögern glich einer Frage. Wie finden wir den Weg?

Ich streichelte mein Knie und genoss die Anwesenheit meines Fluchs wie die eines guten Freundes.

Meine Wolke, ich weiß es nicht.

Kapitel4

Roran

§IV Privilegien und Pflichten von Magiern, Abs. IV

Der durch den Grad erworbene Anspruch erlischt umgehend, wenn sich die Herkunft der Magie auf Hexenmagie* zurückführen lässt.

*Schon wieder dieses vermeintlich böse Wort.

* * *

Rauch vermischte sich mit dem üblichen Grün des Schutzschilds. Graue Schlieren bewegten sich in der Barriere, huschten wie dunkle Schemen am Rand der Wahrnehmung vorbei. Spürbar, aber nicht greifbar.

Der Zauber zerrte an Roran, zupfte an seiner fast aufgebrauchten Kraftreserve. Dennoch war es ein notwendiger Schritt.

Innerhalb des Schildes würde Flavias Ortungszauber ihn nicht finden. Ihre Nachrichten krochen in kleinen Schwaden über den Boden, obwohl sie diesen Zauber niemals außerhalb der Festung hatte einsetzen wollen.

War es Zufall, dass er die Regeln ebenfalls brach und Rauchmagie am helllichten Tag nutzte? Oder war er Flavia ähnlicher, als er dachte?

Natürlich ahnte sie, dass er hierherkommen würde, zu Myrras Zuhause. Sein Schild umspannte die Kampfschule, gab der Hexe unterschiedliche Antworten auf ihre mitgebrachten Fragen.

Es sollte ihm Zeit verschaffen.

Zeit, um über all das nachzudenken, was passiert war.

Sie hatte ihn wie eine Mutter aufgenommen, nachdem ihn seine leibliche verstoßen hatte.

Sie lehrte ihn die Fülle seiner Macht, dass Feuer und Glut Gutes bewirken konnten, dass in Rauch die Hoffnung auf eine neue Welt steckte.

Alles Lügen.

Flavia hatte mit seinen Gefühlen gespielt und ihm vorgegaukelt, Myrra zu lieben.

Er presste sich eine Hand auf den Brustkorb. Schmerzhaft krampfte sich dieser zusammen, erschwerte ihm das Atmen. Ein Gefühl, das ihn seit dem verschwundenen Zauber ständig überkam. Es begehrte in ihm auf, nur um kurz danach wieder zu verhallen wie ein Ruf in einer leeren Schlucht.

Wo war Myrra?

War die Sehnsucht nach ihr real? Oder ein Trugschluss aus den Zaubern, die sich in sein Herz gegraben hatten?

Eine seiner eigenen Rauchschwaden kehrte zurück, zeigte ihm in seinen Gedanken ein Bild von Flavias Festung. Der Unterschlupf an der Küste von Imber hatte sich nicht verändert. Natürlich nicht. Es waren erst wenige Stunden seit dem Kampf vergangen. Aber das Bild fühlte sich anders an. Das Meer wirkte wilder, dunkler und noch gefährlicher. Die Schatten lauerten in jeder Ecke. Aufruhr herrschte in den Gängen, Flavia empfing mehr Untertanen im Küstensaal als sonst. Bewegung erfasste das Versteck und Roran vermutete, dass das nichts Gutes verhieß.

Sein Rauch kroch heimlich durch die Flure, an bekannten und unbekannten Miscesen vorbei, schnappte Wortfetzen auf, die nicht genug waren, um sie zu verstehen. Von Myrra war keine Spur zu finden.

»Das Essen ist gleich fertig.«

Der alte Mann trat auf einen Krückstock gestützt neben ihn und betrachtete die Barriere. Sein Gesicht wirkte nicht mehr so blass wie damals, nach seinem Erwachen im Küstensaal. Dennoch war sein Körper gezeichnet vom Fluch: abgemagert, die Bewegungen zittrig. Roran hatte Myrra nie gefragt, wie lange ihr Großvater vom Fluch der Schatten befallen gewesen war. Vermutlich Wochen, wenn nicht gar Monate.

Einen Fluch, den Flavia auf ihn gehetzt hatte, um Myrra in ihre Arme zu treiben.

Roran spannte den Kiefer an. Er hätte nicht auf Myrra hören dürfen. Statt neben ihr gegen Flavia zu kämpfen, war er wie ein Feigling davongerannt.

»Ich kann nicht hierbleiben«, behauptete Roran. Aber wohin sollte er gehen? Er hatte kein eigenes Zuhause mehr.

»Doch, kannst du.« Myrras Großvater legte ihm eine Hand auf die Schulter. Eine einfache Geste, die für Roran mehr bedeutete. Sie enthielt Vertrauen gegenüber einem Hexer, einem Abtrünnigen der Schatten. »Myrra hätte es so gewollt.«

»Flavia wird nicht aufgeben, bevor ich zu ihr zurückkehre.«

»Willst du dorthin zurück?«

Nein!

Ja?

Vielleicht.

»Sie war die einzige Familie, die ich hatte.« Er betrachtete Per und schluckte den Schmerz herunter. Vergrub ihn tief in seiner Brust. »Dafür werde ich ihr ewig dankbar sein. Aber ich weiß nicht, ob ich ihr jemals verzeihen kann.«

Myrras Großvater legte ihm eine Hand auf den Rücken und deutete zum Hauptgebäude. In seiner Geste befand sich eine Autorität, die nur der Leiter dieser Schule innehaben konnte. Etwas Bestimmtes, aber auch Einladendes lag auf seinen Gesichtszügen. »Manche Dinge brauchen Zeit. Werde dir über deine Gefühle bewusst, ohne dich unter Druck zu setzen. Du kannst hierbleiben, solange du möchtest. Myrra wird sich freuen, wenn sie zurückkehrt.«

Wie konnte er so zuversichtlich sein, dass seine Enkelin wieder auftauchen würde? Das Vertrauen und die Unterstützung in Pers Worten lösten den Knoten in Rorans Brust. Im ersten Augenblick schmerzte. Wie ein Messer, das aus einer Wunde gezogen wurde.

»Sie ist nicht mehr in Flavias Festung«, sagte er. »Nichts von ihr.«

Traurigkeit mischte sich zu der Hoffnung in den Augen des Alten. »Das ist ein gutes Zeichen, oder?«

»Wohin Myrra auch verschwunden ist, sie ist nicht im Kampf gefallen.«

»Dann wird sie einen Weg nach Hause finden«, meinte Per und legte den Kopf in den Nacken. Die Mittagssonne erhellte sein Gesicht.

»Sie ist schon einmal für mich durch die Welt gereist. Ihrem Dickkopf wird sich keiner lange widersetzen können.«

Seit dem Kampf spürte Roran das erste Mal wieder ein Lächeln in sich aufsteigen. »Essen klingt gut«, raunte er.

»Es gibt Ulmas berühmten Nudelauflauf. Damit will sie jedes Mal die Neuen beeindrucken«, meinte Per. »Es ist Myrras Lieblingsgericht.«

Wieder dieser Stich in seiner Brust. Er wandte den Kopf ab und musterte ein letztes Mal die verwobene Rauchmagie im Schutzschild der Kampfschule. »Dürfte ich zuvor euer Labor benutzen?«

* * *

Das Labor lag im Erdgeschoss des Hauptgebäudes, gegenüber vom Speisesaal und angrenzend an das Krankenzimmer. Eine lange Werkbank nahm die Stirnseite des Raums ein. Schränke und Vitrinen mit Zutaten, Fläschchen und Werkzeugen reihten sich an der anderen Wand aneinander. Es gab Kessel und flüssige Mixturen als Bestandteile für Tränke, jedoch keine Anzeichen für das Zaubern mit Feuermagie.

Es war das typische Labor eines ehrfürchtigen Bürgers und für Roran ein weiteres Zeichen, dass er eigentlich nicht hierhergehörte.

Sonnenlicht fiel durch zwei große Fenster, deren Fensterbänke mit kleinen Altaren von Fineh bedeckt waren. Rote Samttücher, kleine fuchsähnliche oder große schlanke Gestalten, die den Gott und seine Erscheinungsformen darstellten, sowie Talismane aus verworrenen Ästen und goldenen Münzen.

Ulma verhielt sich Roran gegenüber zurückhaltend, schien Pers Urteil jedoch zu vertrauen. Sie sah ihm direkt ins Gesicht, blieb dennoch wenige Schritte von ihm entfernt stehen. Ihre Augen waren gerötet, vermutlich hatte sie um Myrra geweint.

Roran schluckte fest und wandte den Blick ab. »Ich brauche Baldrian, Ingwer, Eukalyptusblätter und Chili.«

Myrras Großmutter reichte ihm eine kleine Schale und führte ihn zu ihrem Zutatenschrank. Feine Bündel mit eingewickelten Blättern, Metalldosen gefüllt mit dem Pulver zerriebener Zutaten.

Er zupfte einige Blätter Baldrian ab und legte sie in die Schale. Aus einem Döschen holte er Ingwerpaste hervor und gab einen Löffel hinzu. Es folgten drei Prisen geriebener Eukalyptusblätter und eine getrocknete Chilischote.

Als letztes nahm er ein Messer von den aufgereihten Werkzeugen und ging zurück an die Werkbank.

»Ich brauche noch eine weitere Schale«, sagte er höflich und räumte den Kessel zur Seite, der einen Großteil der Arbeitsfläche einnahm. Ulma schien zu begreifen, dass er jetzt keinen Trank brauen würde. Ihre Augen weiteten sich, doch Per nickte.

Er nahm eine kupferne Schale entgegen, nur etwas größer als die, in denen er die Zutaten gesammelt hatte. Sie war kleiner als die Schalen, mit denen er oder Flavia sonst zauberten. Aber sie würde ihren Zweck erfüllen.

Zuerst zerrieb er die Blätter des Baldrians, mischte den Ingwer unter, bis sich die beiden Zutaten vermischt hatten und die Paste einen grünlichen Ton annahm.

Baldrian für die Entspannung fremder Geister. Ingwer für die Kraft des Zaubers.

Dieselben Worte, mit denen Flavia vor Wochen den Zauber gewirkt hatte, um Kelvan nach der Graduierung zu täuschen, kamen ihm in den Sinn.

Er gab das Pulver der Eukalyptusblätter hinzu und mit jeder Zutat floss etwas von seiner Magie in die Schale. Winzige Aschepartikel, die das Gemisch zum Zischen brachten. Das erste Anzeichen für aufwallende Magie. Die Qualität von Ulmas Zutaten war überaus beeindruckend.

Eukalyptusblätter für den Schutz.

Mit dem Mörser zerrieb er anschließend die Chilischote und bedeckte das Gemisch in der Schale mit dem roten Pulver.

Chili, um scharf durch die Wirklichkeit zu schneiden.

»Ich werde jetzt …« Rorans Stimme brach. Er nahm das Messer in die Hand und betrachtete Myrras Großeltern. Jetzt würden sie Magie sehen, die angeblich gefährlich und eine Ausgeburt der Dunkelheit war.

Ulma presste die Lippen fest aufeinander, Per lächelte. »Du musst dich nicht zurückhalten.«

Das Messer grub sich in seine Haut, brennender Schmerz wallte durch seine Hand und Blut benetzte die Klinge. Ein Tropfen rollte an der Schneide entlang und fiel in die Schale. Sein Blut berührte die Zutaten und die Magie setzte in dem Moment vollständig ein. Ein klirrender Laut erfüllte die Luft. Das Gemisch aus Blut und Zutaten löste sich auf, wurde zu dichtem Rauch, der die Schale füllte und überquoll. Die Wolke verfärbte sich dunkler, wurde tiefrot. Gelbe Blitze zuckten durch den Zauber.

Roran führte seine verletzte Hand in den Rauch. Er spürte die Magie in sich eindringen, wie sie sein Blut erfüllte und seine Wunde heilte. Der Rauch fühlte sich mehr nach einem Teil von ihm an als die Luft, die er atmete.

Er hob die Finger an die Lippen und der Rauch folgte ihm zäh. »Ich bin ein Magieloser der letzten Graduierung. Ich wohne seit Wochen in der Kampfschule und bin weder ein Neuankömmling noch ein Gast. Ich gehöre dazu, bin unbedeutend und in mich gekehrt.« Kurz zuckte sein Blick zu Ulma und Per. »Ihr kennt mich, ihr wisst die Wahrheit und für euch suche ich nach Myrra.«

Ein tiefer Atemzug vollendete den Zauber. Der Rauch schmeckte scharf, brannte auf dem Weg hinab in seine Lunge. Mit jedem Atemzug würde sich die Magie weiter an diesem Ort verbreiten und überall dort wirken, wo er sich aufhielt oder die Miscesen, die in seiner Nähe gewesen waren.

Roran räusperte sich und vermied es, Myrras Großeltern anzusehen. Vor anderen zu zaubern war ihm stets unangenehm.

»Faszinierend«, meinte Per und klatschte in die Hände. »Können wir dann essen?«

Im Speisesaal herrschte bereits wilder Trubel. Lange Tafeln füllten den pompösen Raum und Laternen erhellten Backformen, gefüllt mit Nudelauflauf, Schüsseln mit Salat, Obst, Früchte und Brotlaibe. Besteck klirrte, Jugendliche beugten sich über Teller, unterhielten sich, lachten.

Die ausgefallene Stimmung riss auch jene mit, die verhaltener dreinschauten, die ihre Arme mit Tüchern bedeckten und die letzte Graduierung offensichtlich noch nicht überwunden hatten.

Rorans Magie machte ihn zu einem Magielosen, der zu ihnen gehörte. Wenn er in die Gesichter der anderen Schüler schaute, betrachteten sie ihn mit einem matten Ausdruck. Es war derselbe Zauber, den Flavia ihm gegeben und den er damals im Palast angewandt hatte, um Kelvan, Myrra und die anderen zu täuschen.

Er verfügte nicht ansatzweise über so mächtige Magie wie Flavia, vor allem nicht nach dem Kampf und während seines aktuell erschöpften Zustands. Jedoch waren die meisten Personen, die er hier täuschen musste, magielos oder ungezeichnet. Es befand sich kein Secundus, der sich als Braumeister tarnte, unter ihnen.

Ein Junge neben ihm lachte laut auf und stieß Roran den Ellbogen in die Seite. »Nicht wahr, Roran? Nächstes Mal beim Training machen wir Nep fertig!«

Nep verschränkte die Arme und lächelte siegessicher. »Ihr könnt es gerne versuchen.«

Roran lächelte und schob sich schnell eine gehäufte Gabel in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Der Geschmack von Spinat und Tomate breitete sich auf seiner Zunge aus. Die Jungen führten das Gespräch ohne ihn fort.

»Das ist wirklich unglaublich«, sagte Per und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Unglaublich und unheimlich. Roran versank tiefer in Gedanken und blendete die Geräusche aus. Es war nicht richtig, anderen etwas vorzugaukeln. So wie Flavias Zauber ihm und seinen Gefühlen etwas vorgespielt hatte.

Der Speisesaal leerte sich für eine Unterrichtsstunde im Nebengebäude und Roran entspannte sich. Die Schüler zogen an ihnen vorbei, Lehrer folgten. Ulma verabschiedete sich und ließ Roran mit Per allein zurück.

»Sie haben dich alle akzeptiert und dachten, sie würden dich bereits kennen.«

»Fluch und Segen«, meinte Roran trocken.

Ein fürsorgliches Lächeln trat auf Pers Gesicht. »In dir steckt große Macht. Wenn du sie für das Richtige einsetzt, wirst du zu dir selbst finden und glücklich werden.«

Werde ich das?

Was ist das Richtige?

Wie fange ich das an?

Die Fragen schossen durch Rorans Gedanken. Er stellte sie nicht, wollte nicht darüber reden, nicht schon wieder neue Energie verbrauchen, sondern einfach den Kopf freikriegen. Wenn auch nur für ein paar Stunden. Langsam forderte die Anstrengung ihren Tribut. Die Barriere, der Zauber für die Kampfschule, der Verlust. Alles davon zerrte an seiner Kraft.

»Du kannst Myrras Zimmer haben«, sagte Per, der ihm die Erschöpfung angesehen haben musste, und deutete nach oben. »Dann hast du deine Privatsphäre.«

Woher nahm dieser Mann sein Vertrauen? Wieso wusste er, dass Roran genau das brauchte? Einen Rückzugsort.

»Danke«, raunte er.

Der Miscese nahm die Personen in seinem Umfeld wahr, sah genau hin und gab ihnen Möglichkeiten, Ruhe und Gesellschaft. Kein Wunder, dass Myrra bereit gewesen war, die Welt für ihren Großvater auf den Kopf zu stellen.

In der Eingangshalle wandte sich Per in Richtung der geschwungenen Treppe. Dunkles Holz schimmerte im Tageslicht, Seile und Seilzüge spannten sich am Geländer und den Wänden der Halle. Ein bisschen erinnerte es Roran an die Zutaten in den Gängen von Flavias Festung. Das hier war jedoch kleiner, individueller und raffinierter aufgezogen.

Sie stiegen die Treppen zum Obergeschoss hinauf und folgten dem Gang bis zu Myrras Zimmertür. Auf dem Weg hinauf kamen sie erneut an einem Schrein für Fineh vorbei. Die Vorderseite des Sockels, auf dem die Statue abgestellt war, war abgenutzt. Das Zeichen von jahrelangen Berührungen. Roran stellte sich vor, wie Myrra die Treppe hinaufstieg, ihre Hand den Sockel berührte und sie ein kurzes Gebet an die gute Gottheit sandte.

Würde sie das nach allem, was sie erlebt hatte, immer noch tun? Glaubte sie weiterhin daran, dass nur Fineh und seine Nachkommen Gutes vollbringen konnten?

Nach Flavias Taten wusste Roran selbst nicht, ob er an das Gute in sich glauben konnte.

»Nach dem Unterricht findet das Kampftraining auf den Übungsplätzen statt. Wenn du möchtest, lasse ich nach dir schicken.«

Die Aussicht auf einen Moment für sich und einen späteren Übungskampf glättete Rorans besorgte Stirn. »Das wäre toll.«

»Dann bis später.« Per nickte und zog sich zurück. Er ließ einen Hexer unbeaufsichtigt in seinem Zuhause stehen, vor Myrras Tür.

Hätte er ihm weiterhin vertraut, wenn er von dem Zauber erfahren hätte? Dass Myrras und seine Gefühle in einen bodenlosen Abgrund gestürzt waren?

Schuld nagte an dem Stein, der sich in seiner Brust festgesetzt hatte. Genau dort, wo einst sein Herz gewesen war. Angespannt griff er die Klinke und betrat den Raum.

Ein behagliches Feuer flackerte in einem Kamin an der Wand. Die Flammen züngelten, riefen Rorans Namen. Er trat näher, streckte eine Hand hinein und ließ sich von seinem Element begrüßen.

Wärme tanzte über seine Haut, kitzelte seine Finger.

Das Feuer flackerte, verlor einige Zoll seiner Größe. Die entzogene Energie pumpte stattdessen durch Rorans Adern und nahm ihm einen Teil der Erschöpfung.

Gegenüber vom Kamin befand sich ein altmodisches Himmelbett. Daneben ein Schrank und am Fenster ein ausladender Schreibtisch.

Der Raum war schlicht, ordentlich. Myrras Präsenz flackerte dennoch durch das Zimmer. Eine Sammlung schimmernder Steine auf dem Kaminsims. Eine gemusterte Tagesdecke über der Matratze. Ein Stapel Papier am Rand des Schreibtischs neben getrocknetem Schleierkraut.

Rorans Glieder fühlten sich plötzlich schwer an. Er sank neben dem Kamin auf den Boden und lehnte sich an den aufgewärmten Stein.

Einen Moment lang schloss er die Augen und genoss die Wärme des Feuers. Vor seinem inneren Auge flackerten die Bilder des letzten Kampfes auf. Flavia, Myrra, die seltsamen Splitter in der Luft nach dem Zauber seiner ehemaligen Herrin.

Er hatte Myrra zurückgelassen. Wieso hatte er nicht darauf bestanden, sie mitzunehmen? Er hatte sie holen gehen wollen, sobald er Per aus der Festung und direkt mit einer Tür aus Rauch zur Kampfschule gebracht hatte, doch er hatte versagt. Nachdem er draußen gewesen war, war er nicht zurück in Flavias Festung gekommen, egal, wie sehr er es versucht hatte. Seine Magie war erschöpft gewesen.

Per machte ihm keinen Vorwurf. Das hatte er betont. Stattdessen hatte er ein lautes Lachen ausgestoßen, etwas von Myrra und ihrem Dickkopf gemurmelt. Ohne zu zögern, hatte er Roran in der Kampfschule aufgenommen.

Die Erinnerungen vermischten sich mit Träumen, verzerrten sich, verbogen die Wahrheit.

Ein Klopfen riss ihn zurück in die Gegenwart.

»Das Kampftraining beginnt. Willst du dich uns anschließen?« Eine tiefe Stimme dröhnte durch die Tür.

Roran rieb sich den Schlaf aus den Augen und rappelte sich auf. Er streckte seine verspannten Glieder. »Ich komme«, antwortete er und brannte darauf, sich körperlich zu verausgaben.

Bevor er hinauseilte, hob er eine Hand. Rauch troff von seinen Fingern, waberte durch den Raum und verschwand durch einen Schlitz am Fenster ins Freie. Es war gefährlich, töricht. Aber er konnte nicht herumsitzen und Myrra vergessen. Vielleicht würde der Rauch sie finden. Er hoffte darauf.

Kapitel5

Ceres

§III Graduierung; Zeremonie und

Verantwortlichkeiten, Abs. I

Die Graduierung muss bis zur Volljährigkeit, dem 20. Lebensjahr, erfolgt sein. Eine Anmeldung ist freiwillig*, die danach zugewiesenen Aufgaben und Pflichten sind für 5 Jahre nach Abschluss der Ausbildung an der Akademie einzuhalten. Danach kann sich der Magier für eine andere Tätigkeit bewerben.

*und man muss sich bei der Zeremonie als Wettobjekt zur Verfügung stellen. Die Stadt will schließlich mitverdienen.

* * *

Kelvans Worte hatten die Luft in Cavos verändert. Das Atmen fiel Ceres schwerer. Miscesen drängten mit gesenkten Köpfen über Straßen und flüsternde Gespräche schwebten wie eine Melodie durch Gassen und über Treppen in alle Ebenen der Stadt.

Es war ein schauriger Abklatsch von Canehls Melodie, voll von Unsicherheit und Furcht. Niemand wusste, was bevorstand. Dennoch war es unübersehbar, dass schwierige Zeiten über Soror hinwegrollen würden. Angefangen im Süden, wo sich das Meer dunkel färbte.

Ceres hatte Hunderte Geschichten darüber gehört. Eine panischer als die andere.

Morgen bei Tagesanbruch würde der Saal im Palast erneut gefüllt werden und Kelvan gemeinsam mit dem Rat zum Volk sprechen. Sie wusste nicht, was der Braumeister vorhatte. Eines war gewiss: Er würde das Volk nur weiter anstacheln, der Panik neuen Nährboden und der Furcht neues Feuerholz liefern.

Ceres schauderte bei dem Gedanken, was das für Soror bedeutete. Seit dem Götterkrieg herrschte Frieden. Lediglich Gesetzlose und Verfluchte wurden gejagt. Aber ein Krieg gegen die Hexen? Bis vor Wochen war sie überzeugt gewesen, dass es nur wenige Ausreißer mit Hexenmagie gab. Einige Miscesen, die gesucht wurden. Die Zeichen im Süden sagten aber etwas anderes.

In all diese Verwicklungen war Myrra verstrickt und Ceres wusste einfach nicht, wie das zusammenpasste.

Sie ballte die Hände zu Fäusten und marschierte starr weiter. Bevor der nächste Morgen anstand, hatte Ceres noch zwei Aufgaben zu erledigen. Eine davon bedeutete, zu warten. Nun lag es an Nelie, ob sie ihrer Einladung folgte und zur Bibliothek kam. Außerdem wollte Ceres mehr über Fluchmagie herausfinden. Was auch immer die Magielose befallen hatte, vielleicht hing es mit dem Fluch der Schatten zusammen. Vielleicht auch nicht. Um sich eine fundierte Meinung bilden zu können, brauchte Ceres mehr Informationen.