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Wenn ein Handel mit dem größten Feind deine beste Chance ist – bist du bereit, dein Herz aufs Spiel zu setzen? Tagsüber Studentin an der Akademie der Dämonenjäger in Tokyo, nachts auf der Suche nach Informationen über das Verschwinden ihres Vaters: Hanaes Leben ist gefährlich, doch sie kennt es nicht anders. Seit ihr ein mechanisches Herz eingesetzt wurde, häufen sich die Geheimnisse um sie herum. Bei einem Auftrag stolpert sie durch eine Tür ins Dämonenreich und steht plötzlich dem gefürchtetsten aller Fürsten gegenüber. Doch zu ihrer Überraschung macht er ihr ein Angebot, das sie nicht ausschlagen kann. Denn auch er untersucht Vermisstenfälle und endlich sieht Hanae die Chance, mehr über ihren Vater zu erfahren. Auf einmal steckt sie mitten in einer Verschwörung, die alles auf den Kopf stellt, was sie zu wissen glaubt, und sie hinterfragen lässt, was Gut und Böse für sie bedeutet. Wer sind die echten Monster: die Dämonen oder die Menschen? Zu allem Überfluss droht sie, ihr Herz an den Feind zu verlieren. Aber wie ist das möglich, wenn ebendieses schon vor 751 Tagen aufgehört hat zu schlagen?
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2025
Copyright © 2025 by
Lektorat: Alexandra Parker
Korrektorat: Lillith Korn
Layout Ebook: Stephan Bellem
Illustrationen Druck: Jenny Pieper
Umschlag- und Farbschnittdesign Druck: Hannah Sternjakob
ISBN 978-3-69130-031-4
Alle Rechte vorbehalten
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Epilog
Danksagung
Drachenpost
Für alle,
die jeden Tag einen Kampf ausfechten.
Ihr schafft das!
Das Licht des Tages schwindet und die Seelen am Himmel entzünden sich wie Sterne. Zuerst bricht die hellste von ihnen durch die Wolkendecke und zaubert einen einzelnen Punkt an den roten, verhangenen Abendhimmel. Ein schwacher Schimmer, der bald in dem Meer der Verdammten untergehen wird.
Die Sonne senkt sich weiter ab, bringt die Vorahnung einer blutroten Nacht mit sich. Mit dem Leuchten der Seelen erwachen auch die Schreie. Klagende Rufe, die Gin den Schlaf rauben. Jeder Laut hallt in seinen Ohren wider, lockt den Fürsten auf den Balkon seiner Gemächer.
Von hier sieht er nicht nur die Stadt der Dämonen, sondern sein Blick reicht bis in die verwinkelten Gassen auf der anderen Seite des Himmels, hinter die Wand aus gefangenen Seelen. Dort drängen sich die Straßen wie ein hilfloses Lebewesen um eine schwarze Mauer. Im Innern der Mauer liegt das Zentrum, in dem sich die Reichen verstecken. Helles Licht strahlt in einer Rücksichtslosigkeit in die angrenzenden Gassen, dringt bis in die hintersten Ecken und lotst den Dämonen den Weg, nimmt den Hilflosen ihre Verstecke.
Es wundert Gin nicht, dass die Menschen in ihrem schwarzen Käfig keine Gedanken daran verschwenden, was ihr Licht verursacht. Das Einzige, was sie interessiert, ist ihre Sehnsucht nach Wohlstand und Sicherheit. Die Mittellosen, die Güter von den Außenbezirken bringen, zahlen den Preis für diese Gier.
Der Fürst reibt sich die Nasenwurzel, schließt für einen Moment die Augen. Nachts bringt ihn das Geheul um den Schlaf, tagsüber sind es seine Pflichten. Nur die Dämmerung gibt ihm einen kurzen Augenblick zum Luftholen. Wenn die Röte des Abends das Blutbad ankündigt oder der Morgen es beendet. Dann lauscht er dem einen Geräusch, das ihn summend durch die Nacht führt: dem mechanischen Herz. Es bewegt das Blut des Trägers ohne Stöße, ohne panisches Flattern. Es rauscht, wie der Wind in den Baumkronen und die Wellen auf einer stürmischen See.
Feinde nähern sich dem Träger des mechanischen Herzens, treiben ihn an verlassenen Orten vorbei, bis zu einem kleinen Platz, auf dem bereits Kämpfe in vollem Gange sind. Der Fürst kann den Menschen nicht sehen, der sich in seine Gedanken stiehlt. Aber er spürt seine Angst, genauso wie er jeden Stein der alten Stadt unter seiner Haut fühlt. Ein Geflecht aus Straßen, Gebäuden und Einwohnern. Wie ein Summen einer alten Magie. Das Tokyo von drüben ist der Dämonenwelt so ähnlich, die Wege ein Abbild seiner eigenen Stadt.
Angespannt lauscht er. Erwartet, dass der Mensch den Kampf verliert und das Herz jeden Moment verstummt. Dann bliebe er wieder allein zurück.
Genau wie in der Nacht zuvor wird er auch heute überrascht. Der Träger überlebt einen Kampf. Schon wieder. Einen von vielen. Gin wird dem Träger des mechanischen Herzens auf seinen abenteuerlichen Ausflügen folgen, solange bis sein letzter kommen wird – dieser Umstand ist in dieser Welt unausweichlich. Vor allem für Menschen, diese schwachen Lebewesen. Der Gedanke erfüllt Gin ein wenig mit Wehmut. Aber so spielt das Leben nun mal. Fressen oder gefressen werden. Überleben oder sterben. Aufsteigen oder fallen. Alles ist miteinander verzahnt.
Die Musik der Kneipen flattert zu ihm hinauf, zupft an seiner Aufmerksamkeit und zieht sie zurück in seine Stadt. Lautes Gelächter, Gespräche und Musik erfüllen die Luft, wenn die Nacht im Dämonenreich erwacht. Gehörnte Wesen belagern die Bars und Tanzlokale, verstopfen mit ihren Leibern die Straße.
Gin lehnt sich über die Brüstung seines Balkons, reckt die Nase in den Wind. Die Stadt trägt den Namen Edo, wie Tokyo vor der Umbenennung Ende des 19. Jahrhunderts. Die Luft riecht nach Vertrautem und Ungewissem. Nach Freiheit und der nie endenden Bürde ihrer gemeinsamen Zukunft – der Verbindung bis zu seinem Tod. Er lehnt sich weiter vor. Kalt schmiegt sich das Gestein der Balustrade an seine Ellbogen. Sein Haar löst sich aus seinem Zopf, flattert in der aufstrebenden Böe und einzelne Strähnen verfangen sich in seinen Hörnern.
Die Dunkelheit senkt sich vollständig über den Himmel, bis auf die letzte Seele. Sie leuchtet auf, stimmt in die Melodie der Klagelieder ein und fleht um Vergebung.
Sieben von ihnen wird Gin heute Nacht aus ihrem flammenden Kerker entlassen. Sieben, die der Fürst in die Ewigkeit führt, sobald sie die letzten Stunden für ihre Fehler gesühnt haben.
Bis es so weit ist, lässt er sich davontragen und folgt mit den Gedanken dem Geräusch des mechanischen Herzens durch die Gassen Tokyos.
Ich fasse mir an die Brust, denn das Vibrieren darin beruhigt mich. Vor 723 Tagen schlug mein Herz zum letzten Mal. Seitdem rauscht mein Blut durch ein mechanisches Organ. Wenn ich die Augen schließe, trägt es mich davon, in eine Welt, die schön ist. Voller Hoffnung und in der eine Zukunft auf mich wartet. Doch ich wage nicht, dieser naiven Träumerei nachzugeben. Stattdessen sehe ich auf, erhasche meine Spiegelung im Metall der Kühlschranktür und stelle mich der Realität.
Mein Körper ist abgemagert vom ständigen Hunger, sehnig von der Anstrengung der vielen Stunden meiner nächtlichen Botengänge. Dürr, unscheinbar, doch gleichzeitig unberechenbar. Denn das mechanische Herz verleiht mir übermenschliche Reflexe, macht mich flink und stark. Eigenschaften, die mich die letzten Jahre am Leben gehalten haben.
Selbst in der Zeit vor der Invasion der Dämonen, als unsere Welt noch in geordneten Bahnen verlief, war der Eingriff eine seltene Praktik gewesen. Mein Vater hatte in alten medizinischen Zeitschriften nur von wenigen erfolgreichen Operationen gelesen. Aber er sah darin die letzte Chance, sein schwaches Mädchen zu retten.
Vor 723 Tagen hat er mich heimlich operiert und offensichtlich Erfolg gehabt. Seit 722 Tagen ist er verschwunden.
»Willst du heute Nacht nicht zu Hause bleiben?« Meine Mutter sieht auf und stochert in ihrem Haferbrei herum. Ihre Unruhe springt auf meinen Bruder über, der seinen Finger befeuchtet und damit die letzten Krümel Brot von der Tischplatte aufsammelt. Wortlos schiebt sie ihm ihren Teller zu. Den schlimmsten Hunger haben wir überstanden, seit ich meinen nächtlichen Geschäften nachgehe, trotzdem treten bei beiden die Knochen stark unter der Haut hervor.
»Ma!« Ich seufze und unterdrücke den Drang, mit den Augen zu rollen. Sie meint es nur gut. Trotzdem nagt es an meinen Nerven, dass sie jeden Abend die gleiche Frage stellt, weil sie jedes Mal meinen Entschluss zum Wanken bringt. Am liebsten würde ich bei meiner Familie bleiben, anstatt mich zwischen die Fänge der Dämonen zu wagen. Die Angst vor den Kämpfen begleitet mich, auch wenn meine Ausflüge zur Routine geworden sind. »Du weißt, dass ich nicht hierbleiben kann. Meine Botengänge erledigen sich nicht von allein.«
Ich krame einen trockenen Brotlaib hervor, den ich bereits als potenzielle Ware für die Nacht in meinen Rucksack gepackt habe, und lege ihn neben ihren Teller. Eine stumme Aufforderung, nicht ständig ihr Essen an Haru abzugeben. Das Gewicht der Backware reicht aus, dass der kleine Tisch wackelt. Mein Blick bleibt eine Sekunde daran hängen. Das klapprige Möbelstück schmiegt sich an eine fensterlose Wand, auf der verblichene Zeichnungen zu sehen sind, die Haru und ich vor Jahren darauf gemalt haben. Ich betrachte einen Regenbogen, der vom Tisch bis zu den Matratzen reicht, auf denen wir schlafen. Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Für uns ist die kleine Bruchbude alles gleichzeitig.
»Ich begleite dich.« Haru steht auf, aber ich drücke ihn umgehend zurück auf seinen Stuhl. Früher kostete mich das keine Kraft, aber mittlerweile ist er größer als ich, deswegen fürchte ich den Tag, an dem ich ihn nicht mehr zurückhalten kann. Wann wurde er zwischen all den dunklen Tagen, der Hoffnungslosigkeit und dem Überlebenskampf zu einem Mann?
»Nichts da.« Meine Stimme ist hart, ich lasse keine Widerrede zu. Egal wie groß meine Angst vor der Nacht ist, sie ist nichts im Vergleich zu der Sorge, Haru zu verlieren.
Er zieht einen Schmollmund, der ihm sofort etwas Kindliches zurückgibt. »Aber ich bin schnell. Und leiser als du.«
»Deine Aufgabe ist es, dieses Haus zu beschützen. Das kann ich niemand anderem überlassen.«
Seine Miene hellt sich auf und er zuckt ergeben mit den Schultern. »Du wirst mich nicht für immer davon abhalten können.«
Ein heißer Kloß frisst sich in meinen Magen. Ich werde alles daransetzen, um zu verhindern, dass er mir nachts hinausfolgt. »Es reicht, wenn einer die Gesetze missachtet.«
Ich schultere meinen Rucksack, schnalle ihn fest und hüpfe zweimal auf der Stelle. Perfekt. Er gibt kein Geräusch von sich.
Haru beäugt mich, als würde ich zu einem Abenteuer aufbrechen, von dem ich ihn ausschließe. »Wenn du einen Akuma tötest, bringst du mir ein Andenken mit?«
Tadelnd stupst Ma ihn an. Sie teilt das Brot und reicht ihm eine Hälfte.
Lieber wäre es mir, ich würde heute Nacht keinem Dämon begegnen. »Löscht das Licht, sobald ich fort bin, macht keinen Mucks …«
»Wissen wir doch«, raunt Haru und verdreht die Augen. Er lehnt sich zurück und legt die Beine auf den Stuhl neben sich.
Mein Blick heftete sich auf den leeren Platz. Ma wollte den Stuhl letztes Jahr verkaufen. Wir können schließlich jeden Yen gebrauchen. Auf meine eiserne Bitte hin hatte sie ihn jedoch stehen lassen. Er ist ein Zeichen, ein Sinnbild, warum ich mich jede Nacht nach draußen zwischen die Klauen der Dämonen wage: Unser Vater ist noch dort. Ich muss nur herausfinden, wo.
»Zeig es ihnen«, sagt Haru. Vor seinem Gesicht bildet er mit den Zeigefingern ein Kreuz und deutet so das Symbol zwei gekreuzter Einhänder an, das von der Akademie als Wappen verwendet wird. Seit dem Aufstieg der Dämonenjäger ist diese Geste ein Zeichen für den Sieg geworden.
»Ja, ja.« Ich winke ab, nach außen halte ich die selbstsichere Fassade aufrecht. Wenn meine Familie wüsste, dass es in meinem Innern ganz anders aussieht, würde sie mich nicht in die Nacht ziehen lassen. In mir existiert noch ein Rest des Mädchens, das die Dämonen fürchtet. Die unzähligen Begegnungen mit den Monstern haben mich abgestumpft, die Verzweiflung macht mich waghalsig, trotzdem graut es mir davor, jedes Mal aufs Neue meinem Tod gegenüberzutreten. Ein nervöses Flattern steigt in meinem Brustkorb auf. Besser, ich verschwinde, bevor ich dem Drang nachgebe, mich weinend wie ein Kind unter meiner Bettdecke zu verstecken.
An der Tür bleibe ich stehen. Ein schmaler Papierfetzen mit glitzernden Schriftzeichen, der waagrecht auf dem splitternden Holz angebracht wurde, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. An der linken Seite wellt sich das Blatt und eine Ecke löst sich ab. Ein Talisman. Billiger Schund, der in unseren Teilen der Stadt viel zu teuer verkauft wird.
»Du sollst doch keine Bannzauber kaufen«, raune ich und drehe mich zu meiner Mutter um.
»Kenji hat ihn mir zum halben Preis angeboten.« Ihr Tonfall klingt entschuldigend.
Ich reibe mir über die Augen, setze ergeben meinen Rucksack ab und hole Klebstoff aus seinem Inneren hervor. Mit zwei schnellen Handgriffen sitzt der Bannzauber besser. Vermutlich wird er dennoch nur gegen die kleinsten Akuma helfen. Jene, die so groß sind wie Kinder, mit stumpfen Klauen, dafür nadelähnlichen Reißzähne.
»Das nächste Mal hältst du sie davon ab.« Mit gespielt strengem Blick sehe ich zu Haru, der zum Schwur die Hand hebt, eine Geste aus unserer Kindheit. Kurz täuscht es mich über den Fakt hinweg, dass er bald die Highschool abschließt. Stattdessen wirkt er wie der Junge, der sich abends zu mir auf die Matratze gekuschelt hat, während ich ihm Geschichten erzählt habe.
»Ehrenwort.«
Ich lächele ein letztes, aufmunterndes Lächeln, bevor ich die Tür öffne und in die Nacht aufbreche. Sie sollen mir die Anspannung nicht ansehen, die mich jedes Mal aufs Neue überkommt.
Als ich hinaustrete, ist die übliche Abendroutine unseres Wohnkomplexes bereits in vollem Gange. Fenster werden verschlossen, Türen verriegelt und billige Plakate mit verblassten Bannzaubern aufgehängt. Auch wenn die magische Tinte unsere einzige Waffe gegen die Dämonen darstellt, sprechen ihr die Menschen zu viel Macht zu. Zwar verschließt sich ein Schnitt mit einer tintenbenetzten Klinge bei den Akuma nicht und kann sie dadurch tödlich verletzen. Genauso wie ein gut aufbereiteter Bannzauber die Dämonen in Schach halten kann. Mehr passiert jedoch nicht. Wenn mich die Realität eins gelehrt hat, dann dass wir den Dämonen und ihrem Hunger ausgeliefert sind. Egal wie sehr wir uns gegen diese Tatsache sträuben, sie bestimmt unseren Alltag.
»Nae, bist du das?« Kurz bevor ich die Treppe neben dem stillgelegten Aufzugsschacht erreiche, lugt eine Nachbarin in den mittlerweile verlassenen Flur. »Wieder ein neuer Auftrag?«
»Guten Abend, Aya. Du kennst es ja. Es gibt immer genug zu tun.«
Ein mitfühlender Ausdruck huscht über ihr Gesicht. »Wie schaffst du das nur? Tagsüber die Akademie, nachts wagst du dich auf die Straßen.« Sie tritt zu mir in den Flur und nimmt meine Hand fest in ihre. »Deine Familie muss so stolz auf dich sein.«
Ich zucke mit den Schultern, ihr plötzlicher Ausbruch an Bewunderung macht mich verlegen. »Was bleibt mir anderes übrig?« In unserem Viertel kämpfen wir ums Überleben. Das bringt jeden gesunden Menschen letztlich dazu, an der Akademie zu studieren. Die illegalen Geschäfte halten mich bis zum Abschluss über Wasser und bringen Essen auf den Tisch, damit ich das Studium durchhalte. Denn wenn ich die Akademie abschließe, wird meine Familie die Möglichkeit erhalten, innerhalb der sicheren Zone untergebracht zu werden. Überlebe ich die ersten fünf Jahre als Dämonenjägerin, bleibt ihnen das neue Heim auch nach meinem Tod erhalten.
Als hätte Aya meine Gedanken gelesen, schweift ihr Blick in die Ferne und nimmt einen träumerischen Ausdruck an. »Wie glaubst du, ist das Leben hinter der Mauer?« Ich weiß sofort, wovon sie spricht: von den schwarzen Wänden, die Shinjuku umschließen. Im Inneren sollen die Menschen ohne Angst vor den Dämonen auf die Straße gehen können.
Ich schnaube, verspüre den üblichen Groll gegen die privilegierte Stellung, die nicht allen vergönnt ist. Wir kämpfen ums Überleben, während andere so tun, als wäre Tokyo nicht vor Jahrzehnten von Dämonen überrannt worden. Doch neben dem Ärger flammt auch etwas anderes in mir auf, das ich fast als Dankbarkeit bezeichnen könnte. Ohne ihre verwöhnten Ansprüche würde es weder meine nächtlichen Botengänge benötigen, noch hätte ich eine Aussicht auf Schutz für meine Familie.
»Ich kann es mir nicht vorstellen«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Zu leben, statt nur zu überleben? Diese Leichtigkeit würde ich gerne einmal kosten.«
Aya nickt zustimmend. Der entrückte Ausdruck in ihren Augen wandelt sich in Sehnsucht und wird schließlich von der altbekannten Sorge abgelöst, die ein vertrauter Begleiter in unserer Nachbarschaft ist. Sie deutet auf das Treppenhaus. »Sei vorsichtig dort draußen, ja?«
»Das bin ich immer.«
Ich wende mich zum Gehen, doch Aya sieht mich zögernd an. Auf ihren Lippen liegt eine unausgesprochene Bitte. Ich kann förmlich sehen, wie sie mit sich hadert, die Frage zu stellen, weshalb sie mich aufgehalten hat.
»Gibt es etwas, wonach ich Ausschau halten soll?«
Seit ihre Tochter ein Bein verloren hat, benötigt die Familie ständig Ersatzteile für die Prothese. Zwei funktionierende Beine – oder zumindest mechanischer Ersatz – bedeuten in dieser Welt Überleben. Denn jeder, der nicht schnell genug vor den Akuma fliehen kann, stirbt.
»Nein, ich wollte nicht … Wir haben kein …«
Ich trete näher und lege ihr eine Hand auf den Unterarm. »Du weißt, dass ich keine Bezahlung von euch erwarte.« Ihre Anspannung schwindet nur bedingt, löst sich aus ihren Schultern, doch die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen bleibt bestehen. Ich kenne diesen Blick von meiner Familie, von mir selbst und unseren Nachbarn: Lediglich eine Sorge von vielen, die sich löst.
»Seit Tagen bekommen wir kein Öl und können ihre Gelenke nicht schmieren.«
»Ich halte Ausschau«, verspreche ich. »Aber es wird bald dunkel, besser, du gehst wieder rein.«
»Danke.« Sie sieht mit verbittertem Blick zu mir auf. »Ich kann gar nicht wiedergutmachen, was du für uns tust.«
»Blödsinn, ich komm sowieso bei den Händlern vorbei …«, sage ich beschwichtigend und gehe nicht weiter darauf ein, dass ich eine Bezahlung von ihr seit Monaten verweigere. So wie sie es ausdrückt, klingt es, als hätte sie eine unbezahlbare Schuld bei mir zu begleichen. Aber ich sehe das nicht so, denn das, was ich wirklich brauche, kann sie mir nicht geben. Nämlich die Sicherheit meiner Familie. Im Gegensatz dazu kann ich ihr aber etwas bringen, das für ihre Tochter überlebenswichtig ist. Jeder Tag, an dem ich ein Leben rette, ist ein guter Tag. Auch wenn mein Botengang dafür länger ausfällt oder ich weniger Essen für mich kaufen kann.
Kurze Zeit später verlasse ich den Wohnkomplex und trete in die verwinkelten Gassen hinaus. Sobald die Sonne verschwindet und sich die Nacht ausbreitet, kriechen die Akuma aus den Schatten. Keiner weiß, wo sie sich tagsüber verstecken. Doch wenn die Dunkelheit über der Stadt hereinbricht, erobert die Kälte der Akuma die Straßen. Egal wie heiß sich die Gebäude der Stadt am Tag aufladen, nach wenigen Stunden überzieht feiner Reif die ersten Flächen. Wenn ich mich beeile, schließe ich meine Botengänge vielleicht ab, bevor der Boden rutschig und die Luft stechend kalt wird.
Ich zupfe am Ärmel meines Oberteils. Ein Faden löst sich an der Stelle, an der ich den Bund auf meine knochigen Handgelenke angepasst habe. Die Dämonenjäger tragen im Einsatz speziell angefertigte Kleidung, die ihre Körpertemperatur reguliert. Ein Luxusgut, dass ich mir nicht leisten kann. Daher setzt sich mein Outfit aus einer abgetragenen Hose und einem zu großen Hemd zusammen, dass mit den dafür typischen Riemen am Körper gehalten wird: schlichte Lederbänder, die mit Laschen festgeschnallt werden. Kragen und Ärmel musste ich anpassen, damit das Oberteil eng an meiner Haut abschließt und so ebenfalls eine temperaturregulierende Wirkung bekommt. Nicht perfekt, aber das Provisorium ist besser als nichts. Vermutlich ist es sogar nach dem bisschen Tinte das Wertvollste, das ich besitze. Ich habe die Garnitur gleich im ersten Semester von einem Professor erhalten, mit dem ich Geschäfte gemacht habe. Sie hat mich die letzten Monate gut durch die Nächte gebracht. Trotzdem kann ich den Start des neuen Studienabschnitts nicht erwarten. Denn, wenn morgen die neuen Kurse beginnen und ich endlich ins dritte Semester aufsteige, erhalte ich meine eigene Jägergarnitur für bevorstehende Außeneinsätze.
Die Kleidung ist ein praktischer Nebeneffekt, trotzdem fiebere ich lediglich dem Abschluss und den versprochenen Vorteilen für meine Familie entgegen. Nachbarn wie Aya zeigen sich begeistert, wenn ich von der Akademie erzähle. Sie beteuern, wie stolz ich darauf sein kann, die ersten beiden Semester überlebt zu haben. Aber das Gefühl will in mir selbst nicht aufsteigen. Für mich ist die Ausbildung zur Dämonenjägerin nur Mittel zum Zweck.
Ein Geräusch lässt mich zusammenzucken. Ich presse mich an die nächste Häuserwand, die sich auf meinen Händen feuchtwarm anfühlt, und horche in die Nacht hinein. Aus der Gasse neben mir ertönt ein leises Rascheln, während über mir ein Neonlicht surrt, flackernde Formen auf den Boden wirft und eine kleine Gestalt erhellt. Eine Katze, die Essensreste aus einer aufgerissenen Mülltüte zerrt. Ich lege eine Hand auf meine Brust, dort wo mein Herz rauscht. Ohne das aufgeregte Flattern bleiben meine Sinne unbeeinflusst, nehmen alles aus der Umgebung gleichzeitig wahr. Es ist ein seltsames Gefühl. Ein Erschrecken, ohne rasenden Puls und ohne einen vor Panik getrübten Fokus. Nicht, dass ich solche Gefühle nie mehr hätte, es dauert nur wesentlich länger, bis die ausgeschütteten Hormone meinen Körper übernehmen. Kleinigkeiten hallen in mir lediglich wie ein Echo wider, sind mehr eine Erinnerung an die Gefühle, die mich vor der Operation stärker eingenommen haben. Ein Vorteil, der mir nun bei meinen Ausflügen zugutekommt.
Für einen Moment schließe ich die Augen und recke die Nase. Noch kitzelt der letzte Rest einer angenehmen Sommerwärme meine Wangen. Es gibt keine Anzeichen für einen kühlen Hauch, den die Akuma mit sich bringen. In einiger Entfernung vernehme ich Schritte. Entweder ein Dämonenjäger oder jemand, der so verrückt ist wie ich. Ich öffne die Augen und tauche in die Nacht ein.
Die Straßen Tokyos bilden ein Netz aus sich verzweigenden und zusammenführenden Pfaden. Es gibt also mehr als eine Route, die mich an mein Ziel führt. Wenn ich mich von anderen Menschen und den Plätzen mit Ködern fernhalte, steigert das meine Chancen, mögliche Zusammentreffen mit Dämonen zu umgehen. In manchen Nächten ist mir das nicht vergönnt und ich lande mitten in ausufernden Kämpfen, bevor ich auch nur einen meiner Handelspartner erreiche. Dabei beginnt die eigentliche Strapaze erst, nachdem ich mit meinen Kontakten gesprochen habe. Denn dann erst weiß ich, welche Rohstoffe es zu beschaffen gilt oder wo ich mit meinen Waren mein Glück versuchen kann. Das ist unausweichlich, um über die aktuelle Lage zu Tauschwaren, gesperrten Straßen oder andere Auffälligkeiten der Nacht informiert zu bleiben.
Heute ist das Glück auf meiner Seite. Nach etwa einer Stunde erreiche ich die verlassene Kneipe, in der nachts nur Taku und seine Kunden verkehren. Der Eingang liegt im Dunkeln zwischen zwei flackernden Werbeschildern. Auf einem davon wird eine scharfe Nudelsuppe angepriesen, die für meinen ausgehungerten Zustand viel zu köstlich aussieht.
Knarrend schiebe ich die Tür zur Seite und mir eröffnet sich der Zugang in einen schummrigen Gang. Ich ducke mich unter querliegenden Brettern hindurch und klettere über Schutt und Steine. Auf den ersten Blick wirkt das Chaos wahllos, nachdem ich Taku kennengelernt habe, erkannte ich jedoch die Sorgfalt darin. Er hat Schlupflöcher geschaffen, die zu klein für ausgewachsene Akuma sind. Mit Tinte nachgezeichnete Ränder und Bannzauber runden diesen Hindernislauf ab.
Nach meinen unzähligen Besuchen hier sitzt jeder Schritt und jeder Handgriff. Anfangs brauchte ich fast fünfzehn Minuten, bis ich all das Chaos überwunden und die Tür zum Innenraum erreicht hatte. An guten Tagen schaffe ich es mittlerweile in drei.
Taku steht an der Bar, einen Drink in der Hand, dessen Glas das Licht der Deckenleuchten bricht und goldene Schimmer auf seine vernarbten Hände wirft. Heute trägt er einen weißen Anzug, der tadellos sitzt. Kein Blut, kein Dreck oder Rußflecken, die den Stoff verschmutzen. Neben dem grellen Outfit sieht das graue Haar, welches er zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, beinahe dunkel aus.
»Okaeri.« Er hebt seinen Drink und heißt mich mit klirrenden Eiswürfeln willkommen. Die Dekadenz trifft mich bei jedem Besuch aufs Neue wie ein Faustschlag in die Magengegend und hält mir meine Armut vor. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas anderes als Wasser getrunken. Hauptsache es war nicht verdreckt. »Wird es draußen bereits kalt?«
Ich folge seinem Blick und sehe an mir herunter. Mein kümmerliches Outfit wirkt neben seinem erbärmlich. Am Saum meines Oberteils hat sich erster Reif gebildet. Ich reibe mit dem Daumen darüber und das Weiß verblasst.
»Nicht mehr als sonst.«
Er nickt und trinkt einen Schluck. Damit ist unser Small Talk beendet und der schwierige Teil beginnt: Taku zu einem Handel mit mir zu überzeugen.
»Ich möchte meine Liste um Öl für Prothesen erweitern«, sage ich. Natürlich weiß er direkt, wovon ich spreche. Taku führt akribische Notizen über alle Geschäfte.
Er holt sein Smartphone heraus und tippt kurz auf den Bildschirm. »Zusätzlich zum Horn eines Akumas sowie dem Buch über Handchirurgie?«
Ich nicke knapp. Dass Horn und das Buch brauche ich für einen meiner Professoren. Seit Wochen macht mir Taku eine Ausgabe schmackhaft, die einer seiner Kontakte an den Mauern besitzt. Doch die Geschäfte nach innen sind phasenweise schwierig. Gibt es einen knappen Rohstoff, drehen sich tagelang alle Geschäfte nur darum. Feste Seife, statt flüssiger? Plötzlich unvermittelbar. Oder kupferne Metalldrähte statt Aluminium? Dann bin ich für die Händler plötzlich Luft und erst wieder interessant, sobald ich mit der Ware auftauche, die sie annehmen.
Taku betrachtet mich mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid. Vermutlich denkt er, jeder Tag sei der letzte, an dem wir uns über unsere Geschäfte austauschen. Unwahrscheinlich ist das nicht.
»Was hast du dabei?« Die klirrenden Eiswürfel im Glas begleiten seine Frage.
»Das übliche. Ein bisschen Tabak, Reiswein, Seile und Schnüre, Klebstoff, Metallscheiben, Verbandszeug und zwei alte Bücher aus der Bibliothek.« Ich presse die Zähne aufeinander. Das Angebot hat ihn die letzten Tage nicht überzeugt, daher gehe ich nicht davon aus, dass er heute zuschlägt. Aber vielleicht gibt er mir einen Auftrag, mit dem ich den Wert der Ware abarbeiten kann.
Er zögert einen Moment, mustert mich vom Scheitel bis zu den abgetragenen Stiefeln. »Wie sieht es mit Tinte aus?«
Mir gefällt der Blick nicht, mit dem er schließlich meinen Rucksack betrachtet.
»Nur in den Ampullen an meinen Schwertern«, antworte ich unschuldig, obwohl diese Aussage alles andere als das ist. So lenke ich seine Aufmerksamkeit auf die tödlichen Klingen und ermahne ihn wortlos zur Vorsicht, nicht zu gierig zu sein. Per Knopfdruck könnte ich die Tinte auf die Klingen fließen lassen, aber der Handel oder ihre Herstellung ist verboten. Taku weiß genau, dass darauf absurde Strafen stehen. Wie oft er das Risiko wohl eingeht?
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wem mache ich hier etwas vor? Wenn ich genug Tinte besäße, würde ich mich vermutlich an den illegalen Geschäften beteiligen. Dass ich bei meinen Botengängen diese heilige Substanz als Bezahlung erhalte, um meine Waffen einsatzbereit zu halten, ist wahrscheinlich das Schlimmste an meinen nächtlichen Ausflügen. Das, und mein missglückter Versuch aus den Hörnern, Krallen und Knochen von Akuma selbst die magische Substanz zu gewinnen. Wenn die Führungsriege der Akademie oder jemand von den Tintenherstellern davon erfährt, werde ich schneller als Köder eingesetzt, als ich bis drei zählen kann.
Außerdem besitze ich selten mehr Tinte, als ich wirklich brauche, sodass ich es mir nicht erlauben kann, etwas davon abzugeben. Sei der Handel noch so wertvoll. Denn dann wäre ich ungeschützt – und so durch die Straßen zu ziehen, gleicht Selbstmord.
Ich tätschle meine Schwerter, mahne Taku damit, dass er nicht mit dem Gedanken spielen soll, mir die Tinte gewaltsam zu entreißen. So gut unsere Geschäfte laufen, ich vertraue ihm nicht.
Er hebt die Hand und checkt die Nachrichten auf seinem Smartphone. »Dann sieht es heute wahrlich schlecht aus.« Meine Hoffnung sackt ab und ich spanne die Arme an. Noch eine Nacht ohne erfolgreichen Handel bedeutet wieder wenig zu essen. Noch eine Nacht ohne Tauschmittel für das Buch oder das Horn und damit keine der Informationen, die ich mir von meinem Professor im Gegenzug erkaufen kann. Wenn jemand meinen Vater gut kannte, dann Itou, sein Vorgesetzter im Labor der Akademie. Seit drei Jahren arbeite ich darauf hin, mehr über die Verbindungen meines Vaters herauszufinden und schließlich Itous Vertrauen zu gewinnen. Endlich habe ich ihn so weit, mir Zugang zu der Akte meines Vaters zu gewähren. Sofern ich ihm weiter die Gegenstände beschaffe, die er benötigt.
»Schwierige Zeiten.« Taku tippt etwas auf dem Display an. Wenn ich mir eins dieser Geräte leisten könnte, würde das meine Botengänge deutlich vereinfachen. Manche haben angeblich Apps, die anhand der Temperatur vorhersehen, wo sich Akuma aufhalten. Davon kann ich nur träumen. Nicht, dass das nicht jede Nacht mindestens einmal vorkommt … »Lediglich Tinte oder blaue Seide stehen heute hoch im Kurs.«
»Warum blau?«, fragte ich.
»Ist gerade der letzte Schrei.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und lasse meine Gedanken arbeiten. Seide wird selten verwendet, da sie weder den schwankenden Temperaturen standhält, noch die Haut vor Bissen und Kratzern schützt. Seide ist ein Stoff für die Reichen, die hinter den schwarzen Mauern in der Innenstadt hausen und sich nicht vor den nächtlichen Dämonenangriffen oder vor Hunger fürchten müssen. Ich seufze genervt. »Die letzte Fabrik liegt nahe der alten Akademie, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigt Taku.
Verflucht. Diese Zone ist seit Monaten besonders verseucht. Das Gelände der Universität von Tokyo steht leer, seit die Akademie vor zwanzig Jahren in den Meiji-Schrein ausgelagert wurde.
»Mädchen!« Der Alte packt mich an der Schulter. »Denk nicht einmal daran …«
»Bin doch nicht lebensmüde«, antworte ich gepresst, obwohl der Gedanke, die Fabrik aufzusuchen, für einen Moment verlockend klingt. Gegen die Seide könnte ich sicher alles für meinen Professor und das Öl für meine Nachbarin tauschen.
Ich winke ab, schultere meinen Rucksack und verabschiede mich. Meine letzte Hoffnung bleibt, dass Taku sich irrt. Vielleicht finde ich einen Händler an der Mauer, der mit mir Geschäfte macht, auch wenn ich keine Seide anzubieten habe.
Die Luft draußen wird mit jeder fortschreitenden Minute kälter und prickelt auf meinen Händen. Ich überprüfe meine Kleidung, ziehe einige Schnallen fester und setze mich in Bewegung, um der einnehmenden Nacht entgegenzuwirken. Trotz aller Bedenken und Warnungen von Taku wage ich mich bis an die schwarze Mauer vor. Sie zieht sich verwinkelt durch die Straße, nur wenige Wolkenkratzer ragen dahinter hervor.
Ihr Anblick jagt einen ganzen Cocktail aus Gefühlen durch meinen Körper. Staunen, über die Größe und das tiefe Schwarz der Tinte. Wie viel Liter der magischen Substanz sie dafür wohl aufgebraucht haben? Hunderte? Tausende? Gleichzeitig schwelt Wut und Hass in meinem Bauch. Wie das Leben dahinter aussieht, kann ich mir nur anhand von Geschichten ausmalen. Doch verstehen werde ich diese Realität wohl nie: ohne Angst vor den Dämonen auf die Straße gehen? Nie einem Akuma gegenüberstehen? Nie den Todesschrei eines Nachbarn hören, der von den wilden Kreaturen in Stücke gerissen wird?
Dichter Nebel schleicht sich in die Dunkelheit der Nacht. Er füllt die Gassen, nimmt mir die Sicht. Angespannt reibe ich mir über die Brust und suche nacheinander die einzelnen Nischen auf, die sich in verwinkelten Ecken am Fuß der Mauer befinden. Die meisten liegen so verborgen, dass sie die perfekten Verstecke bilden. Dort sind die bekanntesten Händler anzutreffen.
Mit jedem erfolglosen Gespräch sinkt meine Zuversicht auf ein Geschäft.
»Kannste nichts machen«, flüstert der dritte Händler, den ich um Öl anflehe. »Heute geht nichts ohne Seide. Die Reichen wollen, was sie wollen.«
Ich balle die Hände zu Fäusten und widerstehe dem Drang, frustriert aufzuschreien. Eilig überschlage ich, wie viele Stunden mir heute Nacht bleiben. Wenn ich nicht bald ein Tauschgeschäft abschließe, werde ich ohne Beute zurückkehren müssen.
Ich reibe mir über das Gesicht und seufze.
»He, Kleine.« Der Händler beugt sich näher. Nach all den Besuchen, die ich ihm in den letzten drei Jahren abgestattet habe, wette ich darauf, dass er meinen Namen kennt. Dass er mich trotzdem mit diesem abwertenden Kosenamen anspricht, lässt mein Blut kochen. »Glaubste das?«
Mühsam halte ich einen angewiderten Gesichtsausdruck zurück, da ich mir zukünftige Geschäfte nicht verderben will. »Was meinst du?«
»Menschen, die die Gene von Dämonen besitzen. Sehen aus, als wären sie wie wir. Verrückt, was?«
Erst der abfällige Kosename, nun so ein Quatsch? Mir reißt der Geduldsfaden. »Schwachsinn«, raune ich und hebe eine Augenbraue. »Wo hast du diesen Mist aufgeschnappt?«
»Jeder redet darüber.« Er zieht eine Schnute, offensichtlich enttäuscht, dass ich nicht auf die Gerüchte anspringe. Sensationsgier funkelt in seinen Augen. »Die Biester wurden in der Nähe des alten Bahnhofs von Meguro gesichtet.«
»Woher wollt ihr wissen, dass es sich um Akuma handelt, wenn sie aussehen wie Menschen?«, werfe ich herausfordernd ein.
Verdattert betrachtet er mich. Diese Frage hat er sich wohl nicht gestellt, jedenfalls bringt er keine Erwiderung hervor.
Für haltlose Gerüchte habe ich nicht mehr als ein Schulterzucken übrig. Wer diese Lügen glaubt, hat entweder seinen gesunden Menschenverstand verloren oder verfällt aufgrund der ständigen Todesangst dem Wahnsinn.
»Nichts für ungut«, antworte ich und zupfe meine Ausrüstung zurecht, um meine Wut zu verbergen und meine Hände zu beschäftigen. »Du hast diesen Blödsinn wirklich geglaubt, oder? Das lässt mich an deiner Glaubwürdigkeit zweifeln.«
Er stößt ein Zischen aus und schickt mich mit einer wüsten Geste aus seiner Nische. Dieser Aufforderung folge ich nur zu gerne.
Geduckt eile ich über die breite Straße, die ringsherum um die Mauer führt, und verstecke mich in einer der angrenzenden Gassen. Hier kommt es nur selten zu Überfällen der Akuma. Die Menge der magischen Tinte, mit der die Wände bestrichen sind, lässt die Luft vor Magie knistern. Was nicht bedeutet, dass die Akuma nicht trotzdem in regelmäßigen Abständen versuchen, die Mauer niederzureißen und in den dicht besiedelten Innenbezirk zu kommen. Doch daran werden sie von den Dämonenjägern gehindert, während hier draußen die Bevölkerung stetig weiter ausgedünnt wird. Wir ziehen uns in der Nacht in eine vermeintliche Sicherheit unserer Häuser zurück, während die Bewohner von Shinjuku nachts durch die Straßen ziehen können, ohne eine Gefahr zu fürchten.
Ich drehe mich um. Zwei patrouillierende Dämonenjäger kommen auf mich zu. Sie tragen perfekt sitzende Uniformen, die mit gelbem Saum vernäht wurden. Studierende aus dem vierten Semester also. Ihre Gesichter sind jugendhaft, nicht von unzähligen Narben gezeichnet. Statistisch betrachtet, überlebt nur die Hälfte das dritte und vierte Semester, in denen die regelmäßigen Patrouillen beginnen. Einer von beiden wird demnach den Akuma zum Opfer fallen. Das ist eben die grausame Realität dieser Welt.
Plötzlich werde ich mir jeden Makels meiner Kleidung bewusst. Die abstehende Naht, an der Stelle, an der ich den bunten Saum entfernt habe, um mit meiner eingetauschten Uniform nicht aufzufallen. Bald, rufe ich mir ins Gedächtnis, trage ich dieselbe Kleidung.
Lautlos schleiche ich die Gasse entlang und verschwinde aus ihrem Sichtfeld. Südwestlich von hier liegt der Meiji-Schrein, in dem sich seit dem Umzug die Akademie befindet. Eine Anlage in der Nähe der Mauer ist attraktiver als der noch weiter südlich liegende Standort. Die Dämonenjäger, so jung und unerfahren sie auch sind, werden an der Mauer gebraucht. Egal wie selten die direkten Angriffe auf das Bauwerk sind – jeglicher Versuch muss sofort zerschlagen werden. Ein Durchbruch der Dämonen in den geschützten Teil der Stadt konnte sich die Regierung nicht leisten. Wo sollte sie sonst ihr Geld und ihre Wählerschaft hernehmen? Ganz bestimmt nicht aus den stetig weiter verkommenden Wohnbezirken, in denen keiner auch nur an Politik denken kann, sondern sich aufs nackte Überleben konzentrieren muss.
Für einen Moment halte ich inne, bin gedanklich bei der alten Akademie und der Seidenfabrik. Soll ich es doch wagen? Ich scanne die Umgebung, sogar den Himmel, und schätze mein Zeitfenster ab. Wie lange brauche ich, wenn ich zu dem verlassenen Gebäude laufe und dabei vielleicht eine oder zwei Konfrontationen mit Dämonen in Kauf nehme? Würde ich es schaffen, ein Horn für meinen Professoren zu erjagen und etwas Seide zu organisieren? Ja, das könnte klappen. Wahrscheinlich schaffe ich es sogar, in den nächsten Stunden noch mal bei Taku vorbeizuschauen und den erbeuteten Stoff gegen das Buch und Öl für Ayas Tochter einzutauschen. Nervös hüpfe ich auf der Stelle. Der Gedanke an einen Kampf ist alles andere als berauschend. Normalerweise scheue ich Begegnungen mit Dämonen. Aber die Geschäfte laufen seit einigen Wochen schleppend und wenn das Semester beginnt, fallen meine nächtlichen Ausflüge sicher wieder kürzer aus. Ich stoße ein genervtes Brummen aus. Zwar hatte ich nicht vor, meine Ware auf den härtesten Weg zu beschaffen, aber manche Nächte fordern besondere Maßnahmen.
Zähneknirschend betrachte ich den Mond, der sein silbriges Licht über die Straßen wirft, und verfluche mich selbst für eine Entscheidung, die längst gefallen ist. Auch wenn das bedeutet, dass ich heute keinen Schlaf vor der Eröffnungszeremonie des neuen Semesters bekommen werde, marschiere ich los.
Hier und da vermischt sich das Mondlicht mit dem Schein einer flackernden Reklame. Dennoch sind die Straßen deutlich dunkler, als sie vor der Invasion der Dämonen gewesen sein sollen. Wie muss das ausgesehen haben? Ständig ausgeleuchtete Straßen, Kneipen und Supermärkte, die rund um die Uhr offen haben, keine schattigen Nischen auf den Straßen, in denen sich das Böse versteckt oder die Sicherheit vor eben jenem bieten. Das geht über meine Vorstellung hinaus. Straßen, die zu jeder Zeit belebt waren, weil auch nachts keine Gefahr drohte. Jetzt ist hier niemand mehr außer jenen, die das Gesetz brechen oder Dämonen jagen.
Zwanzig Minuten später vernehme ich leise Stimmen und lege eine Zwangspause zwischen einer Garage und dem Mäuerchen eines betonierten Vorgartens ein. Vor mir in der Dunkelheit zeichnen sich mehrere Bäume ab. Es muss sich um einen kleinen Park oder einen begrünten Spielplatz handeln. Am westlichen Rand erscheinen zwei Jäger, die die Köpfe zusammenstecken. Sie führen ihre Runde fort, ohne mich zu bemerken. Leise schleiche ich aus meinem Versteck hervor, und folge ihnen einige Meter weiter in Richtung Süden von Shibuya, gehe dabei aber nicht zu nah an die Jäger heran. Wenige Minuten später biegen sie in die nächste Querstraße ein.
Erleichtert atme ich auf, nur um im nächsten Moment die Luft anzuhalten. Ich spüre die Anwesenheit der Akuma, bevor ich ihre Schatten hinter den Baumstämmen ausmachen kann. Etwa fünfzig Meter vor mir treten sie auf den Weg. Sie sind zu dritt, wetzen ihre Klauen an der nächsten Häuserwand, blecken die Zähne. Ein tiefes Grollen ertönt. Zwei sind locker über zwei Meter groß. Der Dritte wirkt wie ein Kind, kleiner und wendiger. Vor diesen graut es mir am meisten, wenn ich ihnen auf offener Straße begegne. Zwar wirken gegen diese auch schwächere Bannzauber, doch sie sind flinke Kämpfer, ihre Zähne wie Nadeln, die leicht durch den Stoff meiner Rüstung dringen können.
Alles an diesen Monstern strahlt eine tödliche Gefahr aus: die zentimeterlangen Krallen an den aschgrauen Händen, die gelb glimmenden Augen in tiefen Höhlen, die silbrigen Hörner an der Stirn und ihre schuppigen Körper.
Das Blut in meinen Adern lockt sie an. Sie wittern mich, doch sie haben mich nicht entdeckt.
Meine Hände krampfen sich fester um die Griffe meiner Waffen. Ich hebe die zwei Einhänder und checke den Stand meiner Tinte. Bei beiden zeigt der Tank knapp einen von fünf möglichen Strichen an. Wenn ich sie sparsam einsetze, könnte ich die drei Wesen vermutlich ausschalten. Dann bleibt mir aber kein Rest, um mich in der Seidenfabrik zu verteidigen, sollte das notwendig sein. Blödes Timing! Diesen Kampf kann ich jetzt nicht ausfechten, ohne eine mögliche Ausbeute zu gefährden. Innerlich fluche ich, werfe den Kreaturen in Gedanken wüste Beschimpfungen entgegen. Äußerlich gebe ich keinen Mucks von mir. Mir bleibt nichts anderes übrig, als diesen Kampf zu umgehen. Ein winziger Teil in mir ist deshalb erleichtert.
Trotz der Aussichten sträubt sich alles in mir, einfach wegzugehen. Jeder Akuma, den ich ziehen lasse, kann ein Menschenleben auf dem Gewissen haben, bevor ihn einer der Dämonenjäger erwischt. Ohne länger nachzudenken, treffe ich eine Wahl, hebe einen Stein, renne zu der Querstraße, in der die beiden Jäger verschwunden sind, und schleudere ihn gegen die Karosserie eines geparkten Autos. Ein blechernes Scheppern hallt von den Hauswänden wider und ich gehe in Deckung.
Bald werde ich legal durch die Straßen ziehen und mit purpurnem Saum bestickte Kleidung tragen. Dann muss ich den Kampf keinen anderen Jägern überlassen, sondern kann mit ausreichend Tinte in die Schlacht ziehen. Der Gedanke löst trotz der üblichen Sorgen eine vibrierende Vorfreude aus. Für mich wird es nichts Neues sein, mich der Angst zu stellen, Dämonen aufzulauern und sie auszuschalten. Dabei endlich eine passende Rüstung zu tragen und mit Waffen mit vollständig aufgefülltem Tank zu kämpfen, ist etwas völlig anderes.
Ein Grollen dringt aus den Kehlen der Monster. Sie heben die Köpfe, lauschen. Von der anderen Seite nähern sich Rufe der Jäger. Ein Tumult bricht los – und ich ziehe weiter, lasse die anschwellenden Kampfgeräusche hinter mir.
Die Fabrik erreiche ich eine halbe Stunde später. Das Gelände liegt im Dunkeln, die Temperatur ist so tief gefallen, dass die Kälte in meine Haut beißt. Meine Sinne nehmen jeden Luftzug, jede noch so kleine Bewegung wahr. Eine Getränkedose fällt um und rollt gegen einen zerstörten Automaten. Laub und Papier knistern, während der Wind sie über den Boden schiebt. Eine Ratte beobachtet mich angespannt.
Ich klettere an der Fassade auf das Vordach und umrunde darauf das Gebäude. Dabei gehe ich systematisch vor, schaue durch die Fenster ins Innere, verschaffe mir einen Überblick. Einige Scheiben sind zerbrochen und ich muss höllisch aufpassen, dass ich mir nicht die Arme zerschneide, wenn ich mich nah an die Öffnung beuge. Nach meinem Rundgang weiß ich, dass die größte Halle, etwa in der Mitte der Fabrik, leer ist. In zwei anderen tummeln sich mindestens acht Akuma. Ein angrenzender Raum, der vermutlich ein Großraumbüro gewesen ist, verspricht die besten Aussichten, unbemerkt einzusteigen. Dort befinden sich mehrere Kisten auf den sonst leeren Schreibtischen. Eine davon ist geöffnet und etwas Blaues schimmert heraus. Volltreffer. Das muss die Seide sein, von der Taku gesprochen hat.
Kurz bricht die Freude durch meine sonst kontrollierte Fassade und ich lache auf. Kaum schlüpft der Laut aus meiner Kehle, mache ich eine Bewegung hinter einer verglasten Front der vordersten Bürowabe aus. Zuerst denke ich, dass sich ein Kind zwischen den Aktenschränken versteckt, doch es handelt sich um einen kleinen Akuma.
Ich rümpfe die Nase und zögere. Er ist isoliert, was mir einen Vorteil verschafft, dennoch graut es mir vor den scharfen Zähnen. Außerdem haben sie kleinere Hörner, was bedeutet, dass ich weniger Beute für meinen Professor ergattern kann.
Immerhin sind sie leichter abzutrennen, erinnere ich mich. Bevor ich weiter an meiner Entscheidung zweifle, schwinge ich mich durch eins der kaputten Fenster in die große Halle geradewegs auf ein Podest. Die Metallkonstruktion gibt ein kurzes Quietschen von sich. Stumm fluchend husche ich die Leiter hinab und ziehe mich in die Schatten einer verrosteten Webmaschine zurück. Für einige Sekunde verharre ich, achte darauf, ob sich etwas regt. Stille.
Na, dann. Auf in den Kampf. Ab jetzt muss es schnell gehen. Seide einpacken, Akuma erlegen und die Hörner abtrennen, bevor die anderen Dämonen angelockt werden.
Mit erhobenen Schwertern schleiche ich auf die halbhohen Trennwände zu und trete in die erste Wabe ein. Aus dieser Entfernung macht es keinen Unterschied mehr, wie leise ich bin. Denn der Dämon wittert mich: das Blut in meinen Adern und den kalten Schweiß auf meiner brennenden Haut.
In der Sekunde, in der das Monster den Kopf herumreißt, presche ich vor. Mein erster Hieb trifft es in der Achsel. Ich durchtrenne Gewebe, Muskeln und Sehnen. Das Wesen stößt ein ohrenbetäubendes Kreischen aus.
»Halt die Klappe!«, schimpfe ich und ziele auf den Hals der Kreatur, komme jedoch nicht nah genug heran. Sie springt zur Seite, schlägt unkoordiniert mit den klauenbesetzten Händen.
Ich ducke mich, wirble zur Seite und schlitze ihr dabei die Flanke auf. Der Schmerz treibt die Kreatur an, macht sie zu einer Bestie. Sie bewegt sich zu schnell, sodass ich nicht rechtzeitig reagiere. Die vermaledeiten Zähne bohren sich in meinen Arm und zerfetzen den Stoff meiner schäbigen Uniform. Der Schmerz setzt verzögert ein, jagt wie ein Feuer meinen Arm hinauf. Der Griff meines Kurzschwerts rutscht mir fast aus den Händen.
»Das musste ja passieren«, presse ich atemlos hervor und ramme dem Vieh eine Klinge ins Auge. Es kreischt ein letztes Mal auf und verstummt, als ich sein halbes Gesicht auseinandernehme. Der leblose Körper sackt geräuschlos auf dem Boden zu einem Knäuel aus Gliedmaßen zusammen. Mit zwei schnellen Schnitten trenne ich die Hörner vom Schädel und setzte meinen Rucksack ab.
Mir bleiben nur wenige Sekunden, um die Blutung zu stillen und das Loch in meiner Panzerung zu beheben. Denn die offene Wunde wird die Dämonen aus den anderen Hallen schneller anlocken, als mir lieb ist. Ich finde das Verbandszeug und klebe die Wunde mit einem speziellen Tape ab, dass ich ausnahmsweise auch für meine Kleidung zweckentfremde, obwohl es dafür zu wertvoll ist. Eilig stopfe ich alles wieder in meine Tasche und fülle sie mit so viel Seide aus den Kartons wie möglich.
Ich trete an die die Öffnung der nächsten Schreibtischkabine und halte inne. Schritte. Bei allen verdammten Göttern! Nicht auch das noch. Neben dem Durchgang presse ich mich an einen der Aktenschränke und spähe in die Halle hinaus. Das Metall in meinem Rücken brennt sich eiskalt durch meine Kleidung, trotzdem gebe ich keinen Mucks von mir. Ich zähle die Schritte, die weniger schlurfend klingen, als ich es sonst von den Akuma gewohnt bin. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich jede Sekunde einem Dämon gegenüberstehen werde.
Stattdessen hechtet ein junger Mann an mir vorbei. Unter seinem Mantel lugt ein grellgelbes Hemd hervor. Ich kann gar nicht sagen, was mich mehr verwundert – hier einen anderen Menschen zu treffen, oder dass jemand so töricht ist, ohne Ausrüstung unterwegs zu sein.
Er eilt an mir vorbei und ich schleiche hinter der Trennwand hervor und behalte ihn im Auge, wie er die Halle durchquert. Am anderen Ende des Raums befindet sich eine Leiter, die an einer Wand zu einem fensterlosen Rahmen führt. Hastig steigt er die Sprossen hinauf und greift zwischen dem Fensterrahmen ins Leere.
Neugierig beobachte ich das Schauspiel. Wer bricht in eine Fabrik ein, nur um sie zu durchqueren und durch eins der Fenster wieder zu verschwinden? Und wieso bleibt er am Kopf der Leiter stehen und fummelt an dem Fenster herum?
Ist er betrunken? Macht er eine Mutprobe? Oder ist der Wunsch nach blauer Seide den Leuten bereits zu Kopf gestiegen?
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und betrachte ihn weiter. Braucht er Hilfe, durch das Fenster wieder ins Freie zu klettern? Aber meine Wunde wird die anderen Dämonen anlocken und dann sieht es für uns beide nicht sehr gut aus.
Über dem Kopf des Mannes kann ich die Sterne durch das zerstörte Fenster erkennen. Früher, so heißt es, war Tokyo zu hell beleuchtet von den Laternen und Reklamen in den Straßen, als dass der Nachthimmel gut zu sehen war. Jetzt schimmert nur noch das Stadtzentrum in einem silbrigen Glanz. Die restlichen Gassen verschwimmen in Dunkelheit – und ermöglichen es uns, die Sterne wieder heller am Nachthimmel wahrzunehmen.
Der junge Mann streckt sich, sein Mantel öffnet sich und wallt hinter ihm auf. Die Kapuze rutscht von seinem Kopf und ich entdecke einen außergewöhnlichen Kopfschmuck: Goldglänzende Hörner auf einem Haarreif. Wer verkleidet sich freiwillig als Dämon? Und dann noch in so fröhlichen Farben, die eher zu den Plakaten über alte Theaterstücke passen?
Die Finger des jungen Mannes erreichen etwas, das sich seltsam abhebt. Es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, was er umfasst. Ist das ein Stern? Unmöglich! Trotzdem sehe ich vor mir, wie er am Kopf der Leiter steht, die Hand durch das Fenster streckt und etwas leuchtend Helles zwischen seinen Fingern hervorquillt. Ich traue meinen Augen kaum, aber er zieht wirklich einen Stern zu sich.
Sprachlos stolpere ich näher. Bin vielleicht ich die Betrunkene?
Feine Linien zeichnen sich im Nachthimmel ab, werden breiter und schließlich schwingt das Fenster auf, als würde sich der Nachthimmel öffnen.
Bei meinen Stiefeln! Wie viel Blut habe ich verloren? Jetzt sehe ich schon Dinge, die unmöglich der Realität entsprechen können.
Er klettert von der Leiter hindurch und das Fenster schließt sich geräuschlos hinter ihm. Ich starre versteinert auf die Stelle. Weg. Er ist verschwunden. Einfach so.
Ich schleiche auf die Leiter zu und berühre das Holz. Keine Einbildung. Mein Blick wandert wie von allein Sprosse um Sprosse hinauf, bis zu den Sternen. Da ist nichts, außer der endlose Himmel, der hinter dem zerbrochenen Fenster auf mich wartet.
»Wahrscheinlich ist er einfach durch das Loch nach draußen verschwunden«, raune ich und besinne mich darauf, dass auch ich hier raus muss. Die Leiter führt direkt zu einer Fensteröffnung und erscheint mir wie der schnellste Weg. Außerdem bin ich neugierig geworden, ob das eben wirklich passiert ist. Ich klettere hinauf. Das Holz knarrt unter meinen Füßen. Oben angekommen halte ich die Luft an. Nach einigen Sekunden strecke ich den Arm aus, suche mit den Fingern nach einem Display oder einer Projektion, die den Nachthimmel imitiert. Das würde zumindest erklären, was ich gerade gesehen habe. Doch meine Hände gleiten ins Leere.
»Also doch nur Einbildung«, raune ich und steige auf die Zehenspitzen.
Dann stoßen meine Finger gegen einen festen Punkt. Der Stern, den der Mann umfasst hatte. Im ersten Moment scheint dieser tausende Kilometer entfernt zu sein. Im nächsten leuchtet er auf. Mit den Fingerkuppen streiche ich darüber. Warm und kalt zugleich, fest und doch nur Lichtstrahlen zwischen meinen Fingern.
Ich greife zu, nehme den Stern wie einen Türknauf in die Hand und ziehe daran.
Über mir öffnet sich der Himmel.
Das ist …« Über meinem Kopf steht eine Luke im Himmel offen. Ja, was will ich sagen? Dass es unmöglich ist? Dass ich träume, halluziniere?
Ich betaste den Rand der Sternentür. Er fühlt sich samtig an, kühl. Ganz anders, als ich mir einen Bildschirm vorstelle, auf dem eine täuschend echte Videospur abgespielt wird. Mein Kopf kann diese Sinnestäuschung unmöglich verarbeiten. Das muss am Blutverlust liegen. Wahrscheinlich hat mich der Akuma schlimmer erwischt als gedacht, und ich liege in Wirklichkeit ohnmächtig im Büroraum am Boden. Bin dort gefangen in einem Traum, der mir vortäuscht, dass ich auf wahnwitzigste Weise aus der Fabrik entkomme. Wunschdenken. Die Gewissheit, zu träumen und durch den Durchgang aus der Fabrik zu entkommen, lässt mich den letzten Schritt wagen und durch die Sternentür treten.
Auf der anderen Seite erwartet mich ein Lichtermeer aus intakten Laternen und Reklametafeln. Die gleichen Formen, die zu Hause in meiner Nachbarschaft hängen. Die gleichen angepriesenen Gerichte, wie Dango, Soba und Gyoza – doch anstatt auf von Bannzaubern verklebten, gebrochenen Schildern, glänzen die Schriftzüge in einem tadellosen Zustand. Ein vertrautes und sogleich fremdes Bild. Das Flackern der Leuchten dringt in einem eigens definierten Rhythmus zu mir herauf. Genau so stelle ich mir das Tokyo aus den Geschichten vor, bevor die Dämonen eingefallen sind.
Ich befinde mich auf einer kleinen Erhöhung, die mit einem Geländer abgegrenzt ist. Deutlich breiter als das Vordach von der Seidenfabrik, mit dem ich gerechnet hätte. Trotzdem lässt mich ein schneller Rundumblick erkennen, dass sich auch hier eine große fabrikähnliche Halle befindet. Doch der Platz, auf den mich die Sternentür geführt hat, umfasst vielleicht fünf auf fünf Meter. Der Mann, dem ich gefolgt bin, verschwindet gerade am Fuß der Treppe in ein Vergnügungsviertel. Die Straßen sind voll mit Menschen, die sich unterhalten, lachen und von Laden zu Laden drängen. Auf einem Podium tanzen ein Mann und eine Frau. Geld wird unter tosendem Jubel zu ihren Füßen abgelegt.
Ich stutze und klammere mich fest an das Geländer, als ich das Detail erkenne, das ich bisher übersehen hatte: Hörner.
Der Mann tanzt mit einer Dämonin! Doch sie sieht anders aus als die Akuma in meiner Stadt. Nicht so animalisch oder so roh, wie das Grauen selbst. Sie ist anmutig, hat eine kurvige Figur und ein strahlendes Lächeln. Fröhlich. Lebendig. Menschlich.
Nun kommen mir die Gerüchte des Händlers in den Sinn. Dass es Dämonen geben soll, die uns ähneln und uns unterwandern können. Ich hielt das für den größten Unsinn, den ich in den letzten Jahren gehört hatte. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Der Anblick vor mir, schreit etwas anderes. Die Straßen sind nicht voller Menschen, sondern hauptsächlich von Dämonen belagert. Die meisten tragen ihre Hörner zur schau, schmücken sie mit Bändern und klimpernden Kettchen. Andere verbergen die Köpfe unter aufwendigen Frisuren oder Mützen. Oder handelt es sich bei ihnen um Menschen? Bei wieder anderen wirken die Hörner metallisch, wie der Kopfschmuck, den ich bei dem Mann aus der Fabrik gesehen habe. Ich kann Mensch und Dämon nicht auseinanderhalten. Wieso leben unseresgleichen so bereitwillig mit dem Feind zusammen, anstatt uns zu warnen?
Aber was würde eine Warnung nutzen? Habe ich nicht selbst das Gerücht des Händlers abfällig abgetan?
Zitternd streiche ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und betrachte die ausgelassene Stimmung, die herrscht. So viele Personen an einem Ort – lachend, sich unterhaltend und tanzend – habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal auf den Geburtstagsfeiern der Kinder aus der Nachbarschaft oder dem Straßenfest, das wir vor einigen Jahren noch veranstaltet haben. Und selbst wenn wir gefeiert haben, dann niemals bei Nacht. Nachts haben wir nichts zu lachen.
Wie kann diese Stadt existieren, gefüllt von Tausenden vielleicht Millionen Dämonen? Wie hängt das alles zusammen? Sind die Akuma ihre Hunde, die für sie Menschen jagen?
Wut steigt in mir auf, erblüht wie eine Knospe aus Glut in meinen Eingeweiden.
»Ekelhaft«, flüstere ich und betrachte, wie sich die Rassen vermischen und die gemeinsame Zeit genießen.
»Ist es das?«
Eine tiefe Stimme lässt mich herumfahren und direkt in Kampfstellung gehen. Gut drei Meter entfernt steht eine Gestalt. Ein Dämon. Seine schlanke Statur zeichnet sich gegen den künstlich erzeugten Schein der Reklamen ab. Anmutig tritt er einen Schritt näher. Er ist zwar größer als ich, aber kleiner als die meisten Akuma, gegen die ich gekämpft habe.
Verflucht, sogar von der Körpergröße könnten sie sich wunderbar zwischen Menschen verstecken.
Sein Gesichtsausdruck lässt keine Rückschlüsse auf seine Absichten zu. Nur das kurze Zucken seines Blicks zu meinen gezückten Waffen, verrät, dass er meine Kampfbereitschaft sehen kann. Er neigt den Kopf ein kleines Stück. Aus der Entfernung und wegen der farbenfrohen Lichter kann ich seine Augenfarbe nicht erkennen. Braun? Rot? Grün? Für das strahlende Gelb der Akuma sind sie zu dunkel.
Am Ansatz, zwischen Stirn und Haar, winden sich zwei silbrig graue Hörner aus seinem Kopf. Er trägt keinen Schmuck und hat das dunkle Haar hochgebunden. Nur eine einzelne Strähne löst sich daraus und streicht über seinen Hals, fällt bis auf die Schulter.
»Oder ist deine Einstellung ekelhaft?«
Ich greife die Hefte meiner Kurzschwerter fester. »Meine … was?« Er redet! Bei meiner Tinte. Wir sind so was von verloren.
»Was genau empfindest du als abstoßend? Dass du ein Mensch bist und wir nicht?«
