Die Malerin im Birkenwald - Birgit Poppe - E-Book

Die Malerin im Birkenwald E-Book

Birgit Poppe

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Beschreibung

Ella will Künstlerin werden. Als Frau von der Düsseldorfer Kunstakademie ausgeschlossen, begibt sie sich zum Malen in das Künstlerdorf Worpswede zu Fritz Mackensen und Otto Modersohn. Paula Modersohn-Becker wird ihr großes Vorbild. Die Begegnungen und Erlebnisse mit Künstlerinnen und Künstlern wie Clara Westhoff, Hermine und Fritz Overbeck sowie Heinrich Vogeler lassen Ella bald an einer Zukunft mit ihrem Verlobten Karl zweifeln. Auch fasziniert sie der französische Künstler Luc, der ihr von der Pariser Kunstszene erzählt … Kunst oder Konvention? Sicherheit oder freies Leben? Ella muss eine Entscheidung treffen.

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Seitenzahl: 378

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Birgit Poppe

Die Malerin im Birkenwald

Roman aus Worpswede

Impressum

Die Geschichte spielt vor einem realen historischen Hintergrund. Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit tatsächlichen Begebenheiten und Personen sind deshalb keineswegs zufällig, sondern gewollt. Einige Figuren des Romans und auch Teile der Handlung sind jedoch frei erfunden. Hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Heinrich Vogeler, Public domain, via Wikimedia CommonsHttps://commons.wikimedia.org /wiki/File:Heinrich_Vogeler_Fr%C3%BChling_1897.jpg

ISBN 978-3-7349-3382-0

Zitat

»Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene-Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunkeln Segeln. Es ist ein Wunderland, ein Götterland.«

(Paula Modersohn-Becker, Tagebuch, 24. Juli 1897)

Inhalt

Teil 1 – Das Jahr 1899

Damen an den staatlichen Akademien unerwünscht

Ein Malweib will ins Teufelsmoor

Die erste Reise in die Künstlerkolonie Worpswede

Aufbruch zum Sommerkurs von Fritz Mackensen

Paula Becker und der Unterricht im Freien

Selbstzweifel und neue Vorbilder

Allein im Birkenwald

Schülerin bei Otto Modersohn

Freundschaft mit Ida aus München

Silvesternacht 1899

Teil 2 – Sommer 1900

Erneut nach Worpswede

In der Malkarawane von Fritz Overbeck

Wiedersehen mit Paula

Der Romantiker Heinrich Vogeler

Pariser Geschichten auf dem Brünjeshof

Glockenläuten und ein Kuss im Grünen

Musik, Tanz und der Ringelreihenflüsterkranz

Mit Luc im Armenhaus

Liebesgeplänkel im Schatten der Birken

Karls Besuch und eine besondere Aufführung im Weißen Saal

Missstimmungen und verlorene Illusionen

Der Dichter Rilke auf dem Barkenhoff

Teil 3 – Sommer 1901

Ein letztes Mal nach Worpswede

Veränderungen und dreifaches Eheglück

Die Malerin im Birkenwald

Abschied von Worpswede

Entscheidungen

Nachwort

Personen

Bildnachweise

Literaturauswahl

Teil 1: Das Jahr 1899

Damen an den staatlichen Akademien unerwünscht

Es war ein sonniger Frühlingstag im März 1899, und Ella machte mit ihrem Verlobten Karl einen ausgiebigen Spaziergang im Düsseldorfer Hofgarten. Auch wenn die Bäume noch unbelaubt waren und der Park karg wirkte, schien sich der lange Winter endlich zu verabschieden. Noch fröstelte die junge, schlanke Frau im hellen Mantel. Die Märzsonne trog und es war recht kühl, der Wind fühlte sich frisch an. Dennoch flanierten viele Menschen durch den Park, um diesen vorfrühlingshaften Sonntag zu genießen.

»Was für ein herrlicher Tag, Karl!« Ella strahlte ihn an, den stattlichen Mann an ihrer Seite, mit dem dunklen Haar und den goldbraunen Augen. Seit letztem Jahr waren sie verlobt und ein glückliches, junges Paar. Karl hielt sie stolz im Arm, während sie in einer Hand ihren Sonnenschirm aufgespannt hatte, der wie ihr Kleid unter dem Mantel aus der neuen Frühjahrskollektion eines feinen Geschäfts in der Innenstadt stammte. Man stelle sich vor: Dort gab es die aktuelle Mode aus Paris, der Stadt der Kunst! Ella hatte vor ein paar Tagen in den Auslagen das elegante rosa-weiße Kleid entdeckt. Der farblich passende Schirm dazu sollte sie vor den Sommersprossen schützen, die sich unweigerlich bei den ersten Sonnenstrahlen auf ihrem hellen Teint entwickelten. Ella fand diese Pigmentflecke grässlich, auch wenn Karl stets betonte, wie entzückend die Pünktchen aussähen. In einem unbeobachteten Moment hatte er einmal liebevoll ihre Sommersprossen geküsst und sie spürte noch die Schmetterlinge im Bauch, wenn sie an diese zärtlichen Berührungen dachte.

»Ich würde zu gern diese frühlingshafte Lichtstimmung auf der Leinwand einfangen«, seufzte Ella und lenkte damit das Gespräch auf ihr gemeinsames Lieblingsthema, die Kunst.

»Warum kann ich nicht wie du an der Düsseldorfer Akademie studieren?!« Sie war stehen geblieben und griff sich in ihr welliges, dunkelbraunes Haar, um eine gelöste Strähne wieder zurück unter ihren Hut zu schieben.

Dabei registrierte sie Karls ratlosen Blick, als er ihr antwortete: »Ach, Ella, was soll ich darauf sagen? Du weißt doch ganz genau, dass nicht nur in Düsseldorf, sondern im gesamten Land an den staatlichen Akademien generell keine Damen aufgenommen werden!«

»Ja, aber warum ist das so? Das kann ich nicht verstehen.« Ella presste unzufrieden die Lippen zusammen. »Es ist so ungerecht. Schließlich können viele von uns Frauen genauso gut malen wie Männer. Doch wird uns Künstlerinnen der Zutritt zu den staatlichen Akademien, wo die besten Lehrer unterrichten, einfach verwehrt.« Ella klang zunehmend aufgebrachter und sie forderte hitzig: »Ich bin Malerin und will dieselben Möglichkeiten haben wie du!«

Karl strich ihr erneut die widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte ernst: »Ach Ella, wie soll das denn gehen? Du als Frau an der Akademie?« Er schüttelte den Kopf. »Willst du etwa mit fremden Männern zusammen in einem Raum arbeiten?«

»Warum nicht? In den privaten Kunstakademien geht das doch auch.« Entschlossen schaute sie ihn an, während Karl ihrem Blick auswich.

»Es hat schon seine Gründe, weshalb Frauen an den staatlichen Akademien nicht zugelassen werden«, meinte er schließlich und kniff die Augen zusammen, wie immer, wenn ihm ein Gesprächsthema unangenehm war und er es lieber beenden wollte.

»Welche Gründe?« Ella starrte Karl an, manchmal war er ihr ein wenig fremd. Dabei kannten sie sich schon aus frühen Kindertagen. Ihre Eltern waren seit Langem gut befreundet und die beiden Familien wohnten nicht weit voneinander entfernt im Villenviertel der Stadt. Karl war der einzige Nachkomme des Spediteurs Karl Friedrich Vandenberg, seine Geschwister waren früh verstorben. Ella hatte dagegen noch zwei jüngere Brüder, bei denen sie sich durchzusetzen wusste. Mit Karl hatte sie sich daher schon immer gut verstanden, obwohl eine Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Mädchen eher ungewöhnlich war. Dabei war die impulsive Ella im Gegensatz zu ihm stets viel temperamentvoller und hatte den ruhigen, braven Jungen früher zu manchem Streich verführt. Aus der einstigen Freundschaft entwickelte sich bei den Heranwachsenden eine innige Zuneigung. Zur Freude ihrer Eltern verlobten sie sich an Ellas 19. Geburtstag im Sommer 1898, bald sollte die Hochzeit stattfinden.

Ella konnte sich keinen besseren Ehemann und Vater ihrer künftigen Kinder vorstellen, ebenso wichtig war ihr die Tatsache, dass sie einander auch freundschaftlich sehr verbunden waren. Sie teilten ihre Leidenschaft für die Kunst und träumten davon, sie zu ihrem Beruf zu machen. Von den Eltern wurden diese Wünsche aus unterschiedlichen Gründen zuerst skeptisch verfolgt. Karls Vater hätte seinen Sohn lieber an der Spitze seines Unternehmens gesehen, und Ella musste gegen die gesellschaftlich etablierte Haltung ankämpfen, dass man den Damen zwar das Malen als Freizeitbeschäftigung zugestand, eine professionelle Ausübung der Kunst allerdings als »unweiblich« ablehnte.

Trotz aller Vorbehalte unterstützten beide Elternpaare jedoch seit geraumer Zeit die Ambitionen ihrer Kinder, weil sie deren Talente wertschätzten und ihre Wünsche tolerierten. Karls Eltern finanzierten daher ihrem Sohn ein Studium an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, während Ella sich mit einem Privatlehrer begnügen musste. Professor Wilhelm Ansgar Peeters hatte früher ebenfalls an der Düsseldorfer Akademie studiert und beherrschte sein Fach. Er besaß in Benrath sein Atelier und bot seit Längerem Hausunterricht für junge Damen an. Peeters genoss allseits einen guten Ruf und brachte seinen Schülerinnen die Grundlagen der Zeichnung und Malerei bei, ohne sie zu überfordern. So kam er jeden Donnerstag in das Haus der Janßens, um Ella und ihre gleichaltrige Cousine Auguste im Malen und Zeichnen zu unterweisen. Die beiden jungen Frauen hatten Freude an dem Unterricht, auch wenn Guste längst nicht so ehrgeizig wie Ella war. Meistens saßen sie mit Bleistift und Kohle vor ihren Skizzenbüchern, seltener standen sie mit Farbpalette und Pinsel an der Staffelei, um nach den Vorgaben des geduldigen Professors zu arbeiten.

Es war allgemein üblich, dass junge Frauen aus dem Bürgertum zur Erbauung zeichneten und malten, meist bunte Blumenbilder oder Früchtestillleben. Guste schien dieser Unterricht zu genügen, anders Ella, die sich längst einen neuen Lehrer wünschte, denn von Professor Peeters konnte sie nicht mehr viel Neues lernen. Daher rührte auch ihr dringlicher Wunsch, wie Karl eine Akademie zu besuchen. Ein wenig neidete Ella ihm diese selbstverständliche Freiheit und wurde nicht müde, sich von ihm immer wieder von der Akademie erzählen zu lassen, wissbegierig verfolgte sie seine Fortschritte. Hatten sich ihre Fertigkeiten in der Malerei früher in einem ähnlichen Tempo entwickelt, musste Ella feststellen, dass Karl ihr technisch mittlerweile meilenweit voraus war. Das stachelte ihren Eifer weiter an – und auch ihre Erbitterung gegen die strengen Konventionen, die sie als Frau von der Düsseldorfer Akademie ausschlossen.

»Denk doch mal an die Anatomiestudien!«, warf Karl ein. »Zum Studium an den Akademien gehören Aktkurse, und es schickt sich nicht für eine Dame, daran teilzunehmen.«

Ella war von seiner Antwort nicht überzeugt. »Warum denn nicht? Was ist daran so schlimm? Die Menschen wurden schließlich ohne Kleider von Gott erschaffen. Es ist ja nicht so, dass ich noch nie eine unbekleidete Person gesehen hätte.« Als sie daraufhin Karls konsterniertes Gesicht sah, musste Ella lachen. Jetzt will er wohl wissen, wen ich schon mal nackt gesehen habe, dachte sie. Dabei durfte sie das Wort »nackt« gar nicht laut aussprechen, das war gesellschaftlich verpönt. Aber Karl würde nicht weiter nachfragen, erst recht nicht in der Öffentlichkeit.

So fuhr Ella gleichmütig fort: »Eine Aktdarstellung ist doch an sich nichts Anrüchiges. Der Anatomieunterricht darf uns Damen nicht am Betreten der Akademie hindern! Was soll am Anblick eines unbekleideten Menschen zu Studienzwecken für Frauenaugen so ungehörig sein? Was könnte überhaupt an einem nackten Körper falsch sein?« Ella war lauter geworden und hatte das eigentlich für Damen verbotene Wort nun doch gesagt: Nackt!

Karl schaute sich nervös um. »Pscht, Ella, ich bitte dich, nicht so laut … Man kann dich hören.«

Sie amüsierte sich über seine Verlegenheit, die dieses kleine Wort bei ihm auslöste, und es machte ihr Vergnügen, es zu wiederholen. »Mein lieber Karl! Wenn wir beide erst einmal verheiratet sind, werden wir uns wohl öfter nackt sehen!«

»Bitte sprich leiser, Ella«, bat ihr Verlobter mit hastigem Blick auf die Leute um sie herum, worunter auch einige Bekannte waren. Karl senkte den Kopf in ihre Richtung, als er mit gedämpfter Stimme streng hinzufügte: »Es gehört sich nicht für eine Dame, an so was überhaupt zu denken, geschweige denn, darüber zu sprechen.«

»Du bist doch sonst nicht so stockkonservativ«, wunderte sich Ella und verkniff sich mühsam, ihn mit dem Wort »nackt« ein weiteres Mal zu provozieren.

»Lass uns bitte nicht vom eigentlichen Thema abkommen«, mahnte sie. »Es geht mir nur darum, dass wir Künstlerinnen dieselben Rechte haben wollen wie die Männer. Um Menschen richtig malen zu können, muss ich die Körper studieren, ohne dass sie von Stoff verdeckt werden.« Ella zupfte sich unwirsch erneut die störrische Haarsträhne aus der Stirn und meinte erbost: »Sonst heißt es nur wieder, wir Frauen malen ungenau und dilettantisch. Manche Künstlerinnen haben sich schon ins Leichenschauhaus geschlichen, um menschliche Körper studieren zu können. Ist das nicht eine Schande?«

Karl konnte nur schwer an sich halten. »Frauen und Anatomiestudien? Das gehört sich nicht und das weißt du auch. Zusammen mit fremden Herren in einem Raum auf den Körper einer unbekleideten Person schauen, um sie dann in unterschiedlichen Posen zu zeichnen oder zu malen. Undenkbar!« Er schüttelte sich vor Unbehagen. »Denk auch an die Aktmodelle. Nicht alle sind weiblich, Ella. Es wäre unmöglich, dass eine unverheiratete Frau mit deinem gesellschaftlichen Stand sich in solch einem Umfeld einen Mann ohne Kleidung ansieht! Das, meine Liebe, wäre völlig anstößig.«

Karl fuhr entschieden fort: »Ich verstehe deinen Wunsch nach professionellem Unterricht, Ella, aber es geht nicht an, dass Frauen an den staatlichen Akademien studieren. Das wäre unschicklich, das gab es noch nie!«

Ella widersprach ihm vehement: »Und ob es das schon gegeben hat, sogar Mitte dieses Jahrhunderts haben es einige angehende Künstlerinnen an die Akademien geschafft. Ich denke da an Marie Ellenrieder aus Konstanz, die bereits 1813 die Kunstakademie München besuchte.«

»Sie war aber wohl die erste Künstlerin bei uns, der das gelang«, parierte Karl. »Diese Frauen benötigten dafür immer einen Fürsprecher, mussten protegiert werden, um solch eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten. So einfach ging das nicht.«

»Gut, dann war das eben eher selten«, räumte Ella ein und gab erbittert den gesellschaftlichen Tenor wieder: »Eigentlich sollen wir Frauen die Kunst möglichst gar nicht professionell, sondern nur als schöngeistige Beschäftigung in unserer Freizeit ausüben.«

»Ach Ella, das stimmt doch so gar nicht mehr. Mittlerweile finden sich viele Frauen an den Kunstgewerbeschulen. Oder sie arbeiten als Zeichenlehrerinnen.«

»Schönen Dank auch, das klingt ganz großartig«, meinte Ella sarkastisch. »Nein, das wäre nichts für mich. Lehrerinnen dürfen nicht einmal heiraten«, knurrte sie. »Gib es zu, Karl, freie Künstlerinnen sind in unserer Gesellschaft einfach nicht vorgesehen. Die werden immer noch bespöttelt und von vielen einfach als unweiblich abgestempelt. Kreatives Schaffen steht angeblich nur Männern zu, sodass Frauen mit solch ›männlichen Begierden‹ angeblich ›wider die Natur handeln‹.« Ella schnaubte höhnisch: »Das ist nur eine dumme Ausrede, dass es angeblich die Keuschheit gefährde, wenn Frauen unbekleidete Menschenkörper studieren und abbilden. Was für ein Unsinn! Solch eine Arbeitssituation im Atelier hat doch mit Erotik rein gar nichts zu tun. Das wäre in diesem Falle nur lediglich für berufliche Zwecke. Als Künstlerin würde ich mir das unbekleidete Aktmodell genauso sachlich ansehen wie ein bekleidetes. Selbst wenn es ein Mann ist …«

Karl verzog bei ihren Worten entsetzt das Gesicht. Er fand ihre Argumente wohl ziemlich ungehörig und schien nichts mehr davon hören zu wollen. Stattdessen zog er sie sanft etwas näher zu sich heran und schlug mit schmeichelnder Stimme vor: »Komm Ella, wir reden lieber ein anderes Mal über das Thema und genießen stattdessen diesen schönen Tag! Lass uns hinauf auf den Ananasberg gehen und dort eine heiße Schokolade trinken. Was meinst du dazu?« Ella nickte zustimmend, auch wenn sie den Verdacht hatte, dass Karl sie damit nur von diesem heiklen Thema ablenken wollte. Einer heißen Schokolade allerdings konnte sie einfach nicht widerstehen.

So machten sie sich gemeinsam auf den Weg zu dem Lokal auf dem sogenannten »Ananasberg«. Seinen Namen verdankte der Hügel einer Nachbildung der exotischen Frucht, die das Vordach eines einfachen Cafés zierte. Wenn die Düsseldorfer Gesellschaft durch den Hofgarten lustwandelte, genoss sie dort oben gern Kaffee und Kuchen, besonders die heiße Schokolade war legendär. Entsprechend gut besucht war das Lokal an diesem sonnigen Tag. Der Konditor hatte einen exzellenten Ruf, und Ella staunte wie immer über die süße Vielfalt, die sich in den gläsernen Vitrinen darbot. Karl freute sich darüber und meinte gönnerhaft: »Nun Ella, such dir ruhig auch ein Stück Torte aus. Was hättest du denn gern?«

Ella strahlte und wies auf die opulente Sahnetorte mit dem dicken rosa Guss. »Davon kannst du mir bitte ein Stück bestellen – die Farbe ist passend zu meiner heutigen Garderobe«, schmunzelte sie.

Ella freute sich über Karls bewundernden Blick auf ihre schlanke Figur in dem eleganten Kleid, als er ihr half, ihren Mantel auszuziehen. Dieses Kleid war nicht nur schick, sondern mit seinem glockig fallenden Rock zudem sehr bequem, ganz im Gegensatz zu den bislang recht einengenden und steifen Ausgehkleidern. Dieser neue, lockere Stil, der gerade überall in Mode kam, wie man ihr versichert hatte, war einfach herrlich. Sie beobachtete Karl, der sich dagegen in seiner feinen Sonntagskluft nicht besonders wohlzufühlen schien, einem gut geschnittenen, dunkelgrauen Anzug, den ihm wohl sein alter Hausschneider angepasst hatte. Korrekter Stil, guter Stoff, aber kein Pariser Chic. Ella krauste amüsiert die Nase, wusste sie doch, dass Karl solche modischen Dinge wenig kümmerten. Er stammte zwar wie sie aus einer recht wohlhabenden Familie, war im Alltag aber eher bescheiden und leger in seiner Kleiderwahl. Aber natürlich nicht, wenn er mit einer Dame beim Sonntagsspaziergang in der Öffentlichkeit unterwegs war. Da musste es ein feiner Anzug sein, Karl wusste, was sich gehörte. Er sah wie immer sehr adrett aus und hatte das dunkle Haar unter seinem Hut streng zurückgekämmt. Selbst wenn seine Kluft sich unbequem anfühlte, versuchte Karl, sich dies auf keinen Fall anmerken zu lassen. Ella grinste mitfühlend in sich hinein, denn sie hatte gesehen, wie er sich mehrmals ungeduldig an den steifen Kragen gefasst hatte, um ihn etwas zu lockern.

Kurze Zeit später saß sich das Paar einträchtig an einem kleinen runden Tisch am Fenster mit Blick auf den Hofgarten gegenüber. Während vor Ella eine große Tasse heiße Schokolade stand, gönnte Karl sich ein Kännchen Kaffee, dazu ebenfalls ein Stück Torte, er liebte Schwarzwälder Kirsch. Beide genossen still das Beisammensein und die sahnigen Köstlichkeiten.

Kaum waren die Teller allerdings leer, nahm Ella das Gespräch über das Aktstudium an der Kunstakademie wieder auf. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und hob zur Unterstreichung ihrer Worte ihre Kuchengabel, als sie sagte: »Ich glaube dennoch, mein Lieber, dass die Gesellschaft uns Damen unterschätzt! Wir fallen doch nicht gleich vor Entsetzen in Ohnmacht, nur weil wir blanke Haut sehen. Und das Interesse am männlichen Körper mit all seinen Details …«, sie machte kokett lächelnd eine kleine Kunstpause, »… mag zwar zuerst ein ungewohnter Anblick für uns sein, aber es dient in diesem Falle ja lediglich reinen Studienzwecken.«

Karl runzelte unbehaglich die Stirn, schob leicht unwirsch seinen Kuchenteller zur Seite und trommelte mit den Fingerspitzen nervös auf den Tisch. Er hatte wohl gehofft, dass sie das delikate Thema endlich ruhen lassen würde.

»Ach, Ella, was für ein unmöglicher Gedanke! Frauen und Männer zusammen in einer Aktklasse. Es geht ja nicht nur um den Anblick, sondern auch um das Malen des unbekleideten Modells im Beisein anderer Männer. Ich mag gar nicht daran denken, was in den Köpfen der Herren so vorgehen mag, wenn neben ihnen eine attraktive Frau im Atelier steht. Wie obszön! Eine Dame sollte sich und die Männer nicht in solch eine Lage bringen! Das ist einfach unanständig!«, stellte Karl empört fest und berief sich damit auf den Sittenkodex der bürgerlichen Gesellschaft.

»Darf ich etwa nur deshalb keine gute Künstlerin werden, weil sich Aktstudien aufgrund gesellschaftlicher Empfindlichkeiten für Damen nicht schicken?«, fragte sie spitz und hob ihre Porzellantasse, um den letzten Schluck der süßen Schokolade zu trinken, die mittlerweile fast kalt geworden war. Wenn das so weiterging mit ihrem Gespräch, würde sie lieber gleich nach einem Schnaps fragen, dachte sie. Aber leider schickte sich das ebenfalls nicht für eine Dame.

Karl schien sichtlich hin- und hergerissen zwischen der gesellschaftlichen Meinung und seinem Verständnis für ihr Anliegen, sicherlich konnte er ihre Auflehnung gegen die Konventionen gut nachvollziehen. Um sie versöhnlich zu stimmen, erklärte er schließlich: »Was soll ich noch dazu sagen? Ich habe diese Bestimmungen nicht gemacht. Und kann sie leider nicht ändern.« Kopfschüttelnd meinte er: »Aber das ist so typisch für dich, dass du einfach etablierte Regeln ignorieren willst!«

Ella bemerkte ein kleines, amüsiertes Zucken in seinem Gesicht.

»Meine kleine Rebellin tritt mal wieder forsch für die Gleichberechtigung von Frauen ein! Und fordert sogar ungeniert den Besuch der Aktklasse!«, fasste Karl ihr Anliegen zusammen und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Vermutlich stellte er sich gerade die brisante Situation vor, wie Ella zusammen mit weiteren Damen in den Malsaal stürmte und wie sie damit Aufruhr in die Akademie und die Herren in Verlegenheit brachte.

Doch dann wurde Karl wieder ernst und erklärte: »Du magst vielleicht das Berufliche und Private trennen können, für meine männlichen Geschlechtsgenossen kann ich das aber nicht garantieren. Also stellt sich die Frage, wie sich die Anwesenheit von Damen beim Malen eines Aktmodells auswirken würde. Frauen, auch wenn es sich um ehrbare Künstlerinnen handelt, den Besuch der Aktklasse an der Akademie zu gestatten, wäre einfach zu heikel …« Karl suchte nach den richtigen Worten. »Das ziemt sich nicht. Selbst wenn sich alle gesittet verhielten, könnte man diese Situation missverstehen. Man würde sich alles Mögliche zusammenfantasieren, was da passieren könnte. Wer denkt da nicht an den Sittenverfall. Ach, Ella, das brauche ich dir alles nicht zu erläutern, das weißt du doch! Eine Dame, die an solch einem Kurs teilnimmt, würde ihren guten Ruf verlieren. Und der ist unbestritten wertvoll für eine Frau und er sollte auch dir sehr wichtig sein.« Er nahm ihre Hand und drückte sie, während er sie beschwörend ansah. »Ein guter Ruf, meine Liebe, ist für eine Frau noch bedeutsamer als ihre Berufung.«

Ella verzog das Gesicht, es war schwer, dieses Argument zu widerlegen. Für sie war die Diskussion damit dennoch nicht zu Ende. »Pah, das ist albern«, machte sie abwehrend. »Solche Empfindlichkeiten oder konventionellen Gepflogenheiten sollen der Grund dafür sein, warum wir Frauen nicht an den Akademien zu Künstlerinnen ausgebildet werden dürfen?« Unzufrieden stieß sie die Luft aus. »Wie erbärmlich, Karl. Wir leben immerhin im Jahre 1899 und gehen bald in ein neues Jahrhundert. Moderne Zeiten sind angebrochen, in der Gesellschaft muss sich was ändern! Vor allem für die Frauen. Vielerorts hat sich schon was bewegt. Es gibt bereits Aktkurse für Künstlerinnen, zumindest an einigen Privatakademien. Denk an die Damenakademien in München, Karlsruhe und Berlin, an diese ersten Ausbildungsstätten nur für Frauen, die künstlerische Berufe anstreben – auch wenn die männlichen Akte da beim Posieren oft noch Badehosen tragen müssen, um die Sittlichkeit der Damen zu gewährleisten. Haha, Modelle in Badehosen!« Ella musste kichern, wurde aber schnell wieder ernst. »Es darf einfach nicht sein, dass uns Frauen weiterhin der Zugang zum gängigen Kunststudium verwehrt wird. Als Bürgerin von Düsseldorf und angehende Künstlerin möchte ich dieselben Rechte und Chancen haben wie du.« Sie schaute ihn bedeutungsvoll an. »Und genau wie die männlichen Kollegen möchte ich an Wettbewerben teilnehmen und in den Jurys sitzen. Diese Rechte wären notwendig, damit wir Künstlerinnen überhaupt öffentlich wahrgenommen werden.«

Ella blitzte ihn an, sie wollte unbedingt, dass ihr Zukünftiger ihr Anliegen nicht nur verstand, sondern sie darin auch unterstützte. Wenn nicht Karl, der ebenfalls Künstler war, wer dann? Doch Karl schien der Diskussion überdrüssig.

»Lass uns nach Hause gehen«, meinte er müde. Er half ihr galant in den Mantel, bevor sie beide das Café und den Park verließen, um mit der Kutsche nach Hause zu fahren.

Ella war enttäuscht über den Gesprächsverlauf, aber was hatte sie sich erhofft? Karl konnte ihr keinen Zutritt zur Akademie verschaffen, auch wenn er selbst sicher nichts gegen ihr Studium hätte. Viele seiner Kollegen mochten da anders denken. Die meisten Herren ertrugen keine ehrgeizigen Weibsbilder in ihren Kreisen, die sollten ihrer Meinung nach besser brav zu Hause bleiben. Manche glaubten tatsächlich, zu bedeutenden schöpferischen Leistungen wären nur Männer in der Lage, Frauen hingegen wurde die Fähigkeit zum genialen Schaffen abgesprochen. Ella kannte die Gründe, denn es hieß, dass es den Damen angeblich an dem typischen männlichen Erkenntnistrieb mangelte, der jedem Kunstwerk zugrunde läge. Schlimmer noch war die allgemeine Befürchtung, wie sie es erst neulich wieder in einem Zeitungsbericht gelesen hatte, Frauen würden, wenn sie es dennoch mit der Kunst versuchten, ihre »innere Natur vergewaltigen«, sie könnten dann »nicht mehr richtig lieben«. Frauen würden angeblich sogar zeugungsunfähig, weil die »Geschlechtsorgane von ihrem Ehrgeiz verkümmerten«, und manche fürchteten Bartwuchs als eine Konsequenz des Künstlerberufs. Was für ein Unsinn, dachte Ella erbittert. Wahrscheinlich hatten die Herren nur Angst vor Konkurrenz durch selbstbestimmte Frauen, die am Ende auch ihre Ehemänner selbst auswählen wollten. So wurde die Behauptung in der Gesellschaft weiterhin genährt, eine Künstlerin sei eine schlechte Ehefrau und Mutter, ein vom »Egoismus zerfressenes, ihrer eigenen Natur entfremdetes Wesen«.

Ella war froh, dass Karl nicht so dachte und ihr Talent anerkannte, ihren künstlerischen Ehrgeiz zu würdigen wusste. Nur ob er sie tatsächlich mit in seine Aktklasse genommen hätte, da war sie sich nach diesem Gespräch nicht mehr so sicher. Allerdings stellte sich diese Frage gar nicht, dachte Ella seufzend, und sie würde sich weiterhin nur mit seinen Erzählungen vom Unterricht abfinden müssen. Sie konnte zufrieden sein, wenn Karl zumindest ab und zu ihre Malereien begutachtete, die sie nach Anleitung des Privatlehrers angefertigt hatte, und ihr dann ehrlich seine Meinung dazu sagte. Karl schmeichelte ihr nicht, wie sie das manchmal bei Kunstprofessor Peeters argwöhnte, der sie und Guste oft lobte, wobei ihre Mitstreiterin zwar ein gutmütiges Wesen, aber wenig Kunsttalent besaß. Es gehörte wohl zum pädagogischen Konzept des Professors, den Schülerinnen unabhängig von ihren Leistungen Mut zu machen, denn immerhin wurde er von deren Eltern für seine Dienste bezahlt. Sie dagegen wollte unbedingt einen Kunstlehrer, der sie ernst nahm und nicht nur pflichtbewusst lobte, sondern auch kritisierte.

Auf dem Rückweg schwiegen sie, beide hingen ihren Gedanken nach. Ellas triste Stimmung hellte sich langsam wieder auf, als sie durch Düsseldorf fuhren. Sie lebte gern in dieser lebendigen Stadt, die seit sieben Jahren offiziell als Großstadt galt, nachdem sich deren Einwohnerzahl in den letzten fünf Jahrzehnten nahezu verdoppelt hatte. Als wichtiges Wirtschaftszentrum in der Rheinprovinz war Düsseldorf zudem eine beliebte Messestadt und besaß neben vielen attraktiven Geschäften ein großes Kaufhaus, ein angesehenes Stadttheater, einen schönen Zoo und seit Längerem einen Bahnhof, an der Königsallee wurden zudem gerade neue Straßenbahnschienen verlegt. Eigentlich war sie bislang kaum aus der Stadt hinausgekommen, überlegte sie. Wie ihr wohl das Landleben gefallen würde?

Ein Malweib will ins Teufelsmoor

»Hast du mal von der Künstlerkolonie Worpswede gehört?«, fragte sie unvermittelt.

Karl sah sie erstaunt an. »Wer hat dir denn von Worpswede erzählt?«

»Unser Professor Peeters. Er hat Guste und mir neulich begeistert von diesem besonderen Künstlerort auf dem Land berichtet, wo Männer und Frauen zusammenleben und gemeinsam malen.«

Karl nickte. »Ja, von der Worpsweder Künstlerkolonie habe ich schon gehört. Schließlich waren es sogar Akademiestudenten aus Düsseldorf, die vor einigen Jahren zum Malen in das kleine Moordorf in der Nähe von Bremen gegangen sind und dort diese Künstlervereinigung gegründet haben. Sie waren mit dem regulären Unterricht an unserer Akademie wohl unzufrieden, fanden ihn zu konventionell, die traditionellen Regeln zu streng und zu einengend.« Er zögerte. »Ja, Worpswede ist ein Ort, wo sich immer mehr Künstler zusammenfinden, die vor allem Landschaftsbilder draußen, also direkt nach der Natur, malen, wie es in Frankreich schon länger Mode ist. Die Künstlerkolonie Worpswede hat mit ihren Werken bereits einige Erfolge gefeiert. Aber dass es dort Malschülerinnen gibt, davon weiß ich nichts.«

Ella nickte heftig. »Ja, stell dir vor, dort halten sich auch einige Frauen auf, um zu studieren. Daher hat Professor Peeters mich gefragt, ob ich einen Malkurs in Worpswede machen möchte, wo ich mich auch endlich in der Landschaftsmalerei unterrichten lassen könnte. Ich bin es einfach leid, immer nur diese kleinen Stillleben anzufertigen. Guste ist zufrieden damit, aber ich möchte größere Landschaftsbilder erschaffen, wie du, Karl!« Bittend sah Ella ihn an. »Lass uns nach Worpswede fahren«, schlug sie eifrig vor. »Ich möchte diesen Künstlerort gern mit eigenen Augen sehen. Und vielleicht können wir beide dort zusammen studieren.« Sie wurde immer euphorischer bei dem Gedanken, während Karl nicht so begeistert schien.

»In Worpswede studieren? Nun mal langsam, Ella, wo denkst du hin? Ich bin als Maler sehr zufrieden mit meinen Lehrern und dem Unterricht an der Düsseldorfer Akademie. Ich möchte gar nicht woanders hin.«

»Aber wir beide könnten in der Künstlerkolonie zusammen sein und gemeinsam arbeiten!« Ella strahlte ihn erwartungsvoll an.

Karl wand sich unbehaglich. »Das geht nicht, Ella, ich werde demnächst wohl endlich hier in die Meisterklasse aufgenommen, und darauf habe ich lange genug gewartet.«

»Das könntest du doch später immer noch, oder?«, meinte Ella enttäuscht von seiner rigorosen Absage. Was könnte es Schöneres geben, als zusammen einen Malkurs zu besuchen, dann wäre sie mit ihm auf Augenhöhe! Offenbar schien Karl ihren Vorschlag aber nicht einmal in Erwägung ziehen zu wollen.

Ella setzte erneut an, um ihn zu überzeugen, aber Karl schaute nur bekümmert drein und sagte: »Bitte, Ella, versteh mich, das hat auch noch andere Gründe. Ich will nicht so weit von hier weggehen. Vater geht es gesundheitlich nicht mehr gut, und wenn er im Betrieb Hilfe brauchen sollte, möchte ich da sein.«

Ella war verblüfft, denn davon hatte er noch nie gesprochen. »Aber Karl, du bist ein Künstler! Kein Spediteur!«

Karl wurde plötzlich ernst und erklärte: »Ich bin nach dem Tod meines Bruders Ludwig nur noch der einzige Nachkomme der Familie und werde eines Tages alles erben. Da kann ich nicht mehr nur an mich und die Kunst denken. Wenn mein Vater mich braucht, werde ich für ihn da sein. Und du bist als meine Ehefrau dann hoffentlich an meiner Seite, Ella!« Eindringlich sagte er: »Also, Worpswede schlag dir aus dem Kopf! Das ist viel zu weit weg von Düsseldorf.«

Ella blickte verdrießlich und meinte entschieden: »Dann gehe ich eben allein.«

Karls Gesicht verschloss sich. »Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Eine Frau allein in einer Künstlerkolonie zwischen lauter Männern …« Er lachte freudlos auf. »Das ist nicht viel besser als eine Frau in einer Aktklasse!«

Ella ärgerte sich über ihn und wurde hitzig. »Ich wäre überhaupt nicht ›allein‹, denn dort sind noch andere Frauen, die wie ich Künstlerin werden wollen. Sie wohnen in Gasthäusern oder bei Familien, haben ihre eigenen Zimmer und Ateliers, wo sie arbeiten können, und studieren bei verschiedenen Lehrern. Genau wie an einer Akademie. Da hat alles seine Ordnung.« Karl schwieg. Ella zupfte ihn am Ärmel. »Willst du etwa nicht, dass ich weiter studiere?«

Karl ließ sich etwas Zeit mit seiner Antwort. »Natürlich will ich das, Ella. Du hast das Zeug zu einer guten Malerin. Und es ist schade, dass du nicht an der Akademie studieren darfst, nur weil du eine Frau bist. Aber deswegen in eine Künstlerkolonie ziehen, das gefällt mir nicht. Du weißt doch gar nicht, was dich da erwartet!«

Ella protestierte: »Natürlich weiß ich das! Dort gibt es eine wunderbare Heide- und Moorlandschaft, die ich malen will, und etliche Künstler und Künstlerinnen, mit denen ich mich austauschen kann. Es wäre so wichtig für mich, Gleichgesinnte kennenzulernen, denn bisher konnte ich meine Werke nur mit dir und denen von Guste vergleichen. In Worpswede bekäme ich viele neue Anregungen, was für dich an der Düsseldorfer Akademie selbstverständlich ist. Und es unterrichten da exzellente Lehrer!«, trumpfte Ella auf. »Professor Peeters hat mir erzählt, dass einige von ihnen in der Kunstwelt schon sehr bekannt sind, sogar Preise gewonnen haben wie Fritz Mackensen.«

Karl lächelte über Ellas Enthusiasmus. »Ja, von dem habe ich bereits gehört, ein ehemaliger Düsseldorfer Maler, der das Potential Worpswedes als Künstlerkolonie überhaupt erst entdeckt und sie mitbegründet hat. Das ist der Künstler mit den stimmungsvollen Naturdarstellungen, nicht wahr? Er hat auch das Bild ›Gottesdienst im Moor‹ gemalt und dafür eine Goldmedaille erhalten.«

Ella drückte bestätigend Karls Hand, ihre Augen glänzten. »Und dieser berühmte Herr Mackensen unterrichtet in Worpswede auch Frauen. Stell dir vor, ich könnte seine Schülerin werden! Und würde später auch einen Preis gewinnen …« Karls Miene war undurchdringlich geworden und Ella schielte irritiert zu ihm hin. »Das traust du mir nicht zu.«

Er zuckte die Achseln und meinte leichthin: »Natürlich traue ich dir das zu, meine Liebe, denn wenn eine Frau das schafft, dann du!« Ella lächelte selig. Dass Karl das zu ihr sagte, hatte sie gehofft. Er fügte aber traurig hinzu: »Wenn du in dieses Künstlerdorf gehst, wärst du sehr weit weg von mir und wir würden uns lange nicht sehen, wir könnten auch nicht mehr wie heute am Sonntag zusammen spazieren gehen.«

»Ich wäre doch nur für ein paar Wochen weg, und du könntest mich in Worpswede besuchen«, meinte sie zaghaft.

»Wenn überhaupt, dann nur sehr selten, es ist immerhin eine weite Fahrt«, wandte er ein. »Und was würde eigentlich aus unserer baldigen Hochzeit werden?«

»Die feiern wir eben ein wenig später. Ich werde ja nicht ewig in Worpswede bleiben. Nur für einen Sommerkurs möchte ich dahin, am besten noch in diesem Jahr, um endlich wieder etwas Neues zu lernen. Eben mehr, als Professor Peeters mir noch beibringen kann. Das gesteht er sich selbst ein, immerhin hat er mir den Besuch der Künstlerkolonie Worpswede für meine weitere Ausbildung nahegelegt.«

Karl gab sich geschlagen. »Nun gut, aber was werden deine Eltern dazu sagen?«

Ellas Augen verengten sich und sie presste die Lippen aufeinander. »Ja, Karl, du musst mir wahrscheinlich helfen, sie zu überreden! Aber erst will ich es allein versuchen. Ansonsten stehst du mir bei, oder?«

Nur wenige Stunden später kam Ella im Speisezimmer der Villa Janßen bei ihren Eltern auf das heikle Thema Worpswede zu sprechen. Sie saß mit ihrem Vater, dem respektablen Bankdirektor Heinrich Alfred Janßen, und ihrer Mutter, der kleinen, zarten Luise Maria Janßen, sowie den beiden jüngeren Brüdern Alfred und Max beim Abendessen am Tisch. Gleich würde das Dienstmädchen die Tafel abräumen. Nach dem guten Mahl herrschte eine angenehme, zufriedene Stimmung, und ehe sich der Vater mit einer Zigarre ins Herrenzimmer zurückziehen würde, nahm Ella allen Mut zusammen und fragte frei heraus ihre Eltern um Erlaubnis, im Sommer zum Malen in die Künstlerkolonie Worpswede gehen zu dürfen. Ihre überraschende Bitte sorgte zunächst für erstaunte Gesichter.

»Du willst wohin …?« Der Vater sah Ella aus seinen dunkelbraunen Augen, die ihren so ähnlich waren, verwundert an, während er schwungvoll seine Serviette abnahm und gleichzeitig sein leeres Kompottschälchen von sich schob.

»Nach Worpswede, Papa. In eine Künstlerkolonie«, wiederholte Ella. »Worpswede ist ein kleiner Ort in der Nähe von Bremen am Rande des Teufelsmoors. Ich möchte unbedingt dorthin, weil sie dort professionellen Unterricht für Malschüler anbieten. Und das Besondere daran: Auch Frauen können dort studieren!« Ella strahlte ihn begeistert an, um ihn für ihre Idee zu gewinnen, denn ihr gutmütiger Vater hatte stets ein offenes Ohr für die Wünsche seiner Kinder.

Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu, die sie ebenfalls überzeugen musste, weil sie bei solchen Entscheidungen meist das letzte Wort hatte. Ella sah in ihr irritiertes, eher ablehnendes Gesicht. Luise Janßen war eine immer perfekt gekleidete, vornehme Frau mit akkurat ondulierten, honigblonden Haaren und strahlte eine gewisse Zurückhaltung und Strenge aus. Von den ungewöhnlichen Einfällen ihrer ungestümen Tochter war sie oft wenig angetan. Gute gesellschaftliche Umgangsformen schienen ihr stets das Wichtigste zu sein, und sie predigte Ella wiederholt, dass man nur das machte, »was sich gehörte«. Ihre Tochter war zu ihrem Bedauern bedeutend unkonventioneller und sah vieles anders als sie. Ella appellierte jetzt hoffnungsvoll an ihre Mutter: »Lasst mich für einige Zeit nach Worpswede reisen, um dort Unterricht zu nehmen!«

Sie war lauter geworden und machte große, bittende Augen, denen zumindest ihr Vater selten widerstehen konnte. Heinrich Janßen, den das Anliegen seiner Tochter allerdings ebenso verwunderte wie seine Frau, räusperte sich, um etwas Zeit zu gewinnen. Etwas hilflos blickte er zu seiner Gattin. Die Mutter zuckte jedoch nur unschlüssig die Achseln, während sie ihren Dessertlöffel langsam auf den Tisch legte. »Davon höre ich heute auch zum ersten Mal. Ella, was hast du dir denn da schon wieder Neues ausgedacht?« Streng sah sie ihre Tochter an. Ella hatte großen Respekt vor ihr und wusste um ihren Einfluss auf den Vater. Jetzt lag es an ihr, die richtigen Worte zu finden.

»Versteht doch, dass ich als Malerin noch so viel lernen muss, und eine Weiterbildung wäre in Worpswede gut möglich. Dort unterrichten angesehene Lehrer, die selbst anerkannte Künstler sind und bereits in Bremen und sogar in München unter großer Beachtung ausgestellt haben. Es gibt in Worpswede außerdem viele Frauen, also Malschülerinnen, denen ich mich gern anschließen möchte. Bitte!«

Die Mutter hatte ihr aufmerksam zugehört, sah sie aber nur entgeistert an. »Aber Ella, wie stellst du dir das denn alles vor? Bremen ist so weit weg von uns. Wo willst du da wohnen? Für wie lange wäre das? Kommt Karl mit? Oder willst du etwa allein dorthin gehen?« Rasch prasselten ihre Fragen auf Ella nieder, ohne dass sie so schnell darauf antworten konnte. Als sie gerade für Erklärungen ansetzte, fuhr die Mutter aufgebracht fort: »Du brauchst gar nichts weiter zu sagen, mein Kind, denn das kommt überhaupt nicht in Frage. Es gehört sich nicht für ein anständiges Mädchen, dass es zum Malen allein in die Fremde geht. Das lassen wir nicht zu. Unmöglich!« Um Unterstützung heischend blickte sie zu ihrem Mann: »Heinrich, sag doch auch mal was!« Als dieser immer noch schwieg, fragte sie Ella: »Was meint eigentlich Karl dazu? Er war bestimmt nicht derjenige, der dich auf diesen aberwitzigen Gedanken gebracht hat, oder?«

Ella schüttelte den Kopf. »Mit Karl hat mein Wunsch rein gar nichts zu tun. Dieser Vorschlag stammt von Professor Peeters, der mir kürzlich von dieser Worpsweder Künstlerkolonie erzählt hat. Karl hat allerdings schon von ihr gehört, denn es waren ehemalige Düsseldorfer Studenten der Kunstakademie, die vor einigen Jahren in dieses Dorf gegangen sind, um dort Landschaftsbilder zu malen. Karl schätzt diese Kollegen sehr, er wird aber nicht mit mir mitkommen, sondern hier weiterstudieren.« Etwas trotzig fügte sie hinzu: »Karl darf aber auch an die Düsseldorfer Akademie gehen, wo er alles hat, was er für sein Kunststudium braucht. Und ich nicht!«

Sofort reagierte die Mutter erregt: »Nun sei mal nicht so undankbar, mein Kind. Du hast doch hier ebenfalls alles, was du für deine Kunst benötigst. Wir bezahlen dir sogar privaten Unterricht bei einem angesehenen Kunstprofessor, der ebenfalls die Düsseldorfer Kunstakademie besucht hat. Das alles ermöglichen wir dir. Reicht dir das etwa nicht?«

»Nein, das reicht mir nicht mehr, Mutter. Und Professor Peeters war es sogar, der mir zu einem Sommerkurs in Worpswede geraten hat«, trumpfte Ella auf. »Er meint, dass er mir in seinem Unterricht nichts mehr Neues beibringen kann, dafür hat er mir diese Künstlerkolonie empfohlen. Ansonsten sind die Möglichkeiten für Frauen ja leider begrenzt.« Grimmig schaute sie in die Runde, wo es nach ihren atemlosen Ausführungen still war.

Auch Alfred und Max hatten aufmerksam dem Streitgespräch zwischen Ella und den Eltern gelauscht und stießen sich nun grinsend mit den Ellenbogen an. Die beiden Halbwüchsigen wussten, dass ihre rebellische Schwester immer für eine Überraschung gut war und stets versuchte, ihren Willen durchzusetzen. Sie hatten jedoch wenig Lust, die Diskussion zwischen ihr und den Eltern weiterzuverfolgen. So baten sie höflich um die Erlaubnis, auf ihr Zimmer gehen zu dürfen. Als der Vater sie ihnen zerstreut erteilt hatte und die beiden Jungen hinausschlichen, hörte Ella sie noch leise unken: »Unsere Schwester wird wohl so ein verrücktes Malweib …« Über diese in ihren Augen groteske Vorstellung lachten sie laut wiehernd auf, ehe sich hinter ihnen die schwere Tür schloss und sie im Flur verschwanden.

Ella schnaubte nur empört und insistierte weiter: »Es wäre wirklich eine große Chance für mich, in dieser Künstlerkolonie zu malen. Lasst mich bitte zum Studium nach Worpswede fahren!«

Der Vater sah unbehaglich von ihr zu seiner Frau, denn er wollte keine von beiden gegen sich aufbringen. Er war ein friedfertiger Mann und hasste solche schwierigen Situationen, die ihn als Familienoberhaupt zu einem Entschluss zwangen, ohne die Konsequenzen absehen zu können. Am liebsten überließ er die Entscheidungen, die die Kinder betrafen, seiner Frau. So rief er zunächst das Hausmädchen zu sich, das seit geraumer Zeit fragend in der Tür stand, und wies es an, ihm einen Cognac zu bringen. »Wie lange dauert solch ein Kurs in Worpswede?«, brummte er schließlich. »Und was würde das alles kosten, so mit Kost und Logis? Vielleicht sollten wir uns zuerst einmal genauer über diese Künstlergruppe erkundigen …«

Luise unterbrach ihn entrüstet: »Das kommt gar nicht in Frage, habe ich gesagt. Heinrich, wir werden unsere Tochter nicht allein so weit weg irgendwo in die Wildnis zu fremden Künstlern fahren lassen!« Dann wandte sie sich entschieden an Ella und sagte in strengem Ton: »Mein liebes Kind, du hast in Düsseldorf dein Zuhause, hier gehörst du hin. Zu uns. Zu deiner Familie. Und bald zu Karl. Nicht in irgendeine zügellose Künstlerkolonie auf dem Lande. Was sollen denn die Leute denken?« Sie holte tief Luft. »Du wolltest immer malen, Ella, also haben wir dir das erlaubt und dich darin unterstützt, haben dir dafür auch einen guten Lehrer besorgt. Der Professor kommt zu uns ins Haus, wie es sich bei einer jungen Dame gehört. Hier warst du nie allein mit ihm im Zimmer, sondern eine weitere Person, nämlich Auguste, war stets dabei. Also war alles ganz so, wie es sich gehört. Aber jetzt sollte damit sowieso bald Schluss sein. Du brauchst keinen Unterricht mehr, denn du bist verlobt und heiratest demnächst. Danach wirst du dich um deinen Ehemann und deine künftige Familie kümmern, dazu viele andere Aufgaben haben, die wichtiger sind, als Bilder zu malen.«

Ellas Gesicht verschloss sich, was der Mutter nicht entging. Erregt hieb sie daraufhin mit der Hand leicht auf den Esstisch. »Es würde mich wirklich wundern, wenn Karl mit solch einer Eskapade einverstanden wäre!«

Ella sprang auf und erwiderte: »Doch, das ist er. Ich habe erst heute mit ihm darüber gesprochen. Karl hat schon viel Gutes von der Künstlerkolonie Worpswede berichtet, und er kann auch verstehen, dass ich …«

Die Mutter unterbrach sie strikt: »Nein, ich glaube nicht, dass dein Verlobter diese Idee wirklich gutheißt. Karl ist zu gutmütig und nachgiebig mit dir, er will dir nur alles recht machen und lässt dir viel zu viel durchgehen. Kein Mann möchte, dass seine zukünftige Frau, selbst wenn es nur für eine gewisse Zeit ist, so weit von ihm entfernt ist und dann auch noch im Kreis fremder Männer lebt. Wir wissen doch gar nicht, wer sich in diesem Worpswede alles aufhält und wie es da zugeht, welche Moralvorstellungen in dieser Künstlerkolonie herrschen und ob sich diese Künstler so verhalten, wie es sich geziemt. Aber das verstehst du noch nicht, mein Kind.«

Ella verdrehte ungehalten die Augen.

»Da brauchst du gar nicht so zu gucken und setz dich wieder hin. Mehr Respekt, Ella. Vor uns, auch vor deinem zukünftigen Gatten. Wir erwarten von dir, dich so zu verhalten, wie es sich für eine Dame der Gesellschaft gehört, so haben wir dich erzogen. Du sollst kein liederliches ›Malweib‹ werden, das dulden wir nicht!«

»Aber Mama …«

»Nein, Ella«, Luise hatte sich längst in Rage geredet und ließ sich nicht unterbrechen. »Wir haben dich wirklich lange genug unterstützt, auch deine Malkünste gefördert. Wenn aber Professor Peeters meint, dass du genug Unterricht hattest …«

»Er meint nicht, dass ich ›genug‹ Unterricht hatte, sondern dass er mir mittlerweile nichts mehr beibringen kann. Und in Worpswede …«

Jetzt sprang auch die Mutter auf und schlug nun energischer auf den Tisch. »Schluss jetzt, Elisabeth! Das kommt nicht in Frage!«

Oh je, dachte Ella, wenn die Mutter sie schon bei ihrem vollen Vornamen nannte, war es ernst. Solange sie so wütend war, nutzte es nichts mehr, weiter zu bitten. Sie schielte zu ihrem Vater, der immer noch schweigend an seinem Cognac nippte. Er sah nachdenklich aus.

»Papa?«

»Ella, wir reden später nochmal darüber«, raunte er ihr leise zu. Und Ella wusste, dass noch nicht alles verloren war.

Ein paar Tage später war Karl bei Ellas Eltern zum nachmittäglichen Kaffee eingeladen. Diesmal saßen sie im Salon nur zu viert um den Tisch. Die beiden Brüder, die kein Interesse an Gesprächen über Ellas »Spinnereien« hatten, wie sie es nannten, waren draußen unterwegs. Auch diese Freiheit neidete Ella den Männern: Die durften einfach hingehen, wohin sie wollten, Lokale und verschiedene Einrichtungen besuchen und sich uneingeschränkt durch die Stadt bewegen, ohne dass ihr guter Ruf in Gefahr geriet. Keiner fragte sie danach, was sie vorhatten. Frauen jedoch mussten ihre Pläne stets irgendjemandem mitteilen, sie den Eltern, ihren Brüdern oder ihrem Mann gegenüber genau erläutern und meist auch begründen. Dazu durften sie selten allein gehen, benötigten meist eine Begleitung, wenn sie außer Haus etwas unternehmen wollten.

Ella wusste, dass sie dank der Toleranz und Großzügigkeit ihrer Eltern immerhin etwas mehr Freiheiten genoss als viele ihrer Geschlechtsgenossinnen. Bei Guste zu Hause ging es beispielsweise viel strenger zu, da wurde oft einfach über ihren Kopf hinweg etwas entschieden, ohne dass man nach ihrer Meinung fragte. Doch ihre Cousine beschwerte sich nicht darüber, sondern nahm es klaglos hin. »Das ist nun mal so, Ella, wir sind eben Frauen«, sagte sie nur dazu. Guste empfand es anscheinend sogar als ein Privileg, dass Frauen diesbezüglich anders behandelt wurden als Männer, deutete dies als Fürsorge und fühlte sich dadurch von ihren Angehörigen beschützt. Gustes Ziel war es auch nicht, wie Ella Malerin zu werden. Sie sah die künstlerische Tätigkeit lediglich als eine schöngeistige Beschäftigung und netten Zeitvertreib, bis sie den passenden Ehemann gefunden hatte. Guste besaß genaue Vorstellungen von ihrem Zukünftigen und hatte Ella sogar eine Liste der notwendigen Kriterien gezeigt. Ihr zukünftiger Gatte sollte attraktiv sein, über ausreichend Ansehen und Geld verfügen, ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen und sie stets auf Händen tragen. Bislang war solch ein Mann für sie noch nicht in Sicht. Dass Ella demnächst Karl heiraten würde, fand Guste beneidenswert. »So ein schneidiger Mann, der Herr Vandenberg, so gutaussehend, wohlhabend und großzügig«, hatte sie einmal schwärmerisch zu Ella gesagt und träumerisch die Augen verdreht. »Dein Karl würde mir auch gefallen. Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast, dass er dich zur Frau haben will!«

Ja, Ella war glücklich, dass sie ihren Karl hatte. Nur hatte sie es mit der Hochzeit noch nicht so eilig, schließlich hatte sie als Künstlerin noch so viel zu lernen. Sie war keine 20 Jahre alt, also konnte man mit der Eheschließung noch etwas warten, fand sie. Seit Ella von der Künstlerkolonie Worpswede gehört hatte, wollte sie dort unbedingt den Unterricht besuchen! Immerhin wusste sie Karl auf ihrer Seite. Zum Glück mochten ihre Eltern ihn sehr und schätzten seine Meinung. Wenn Karl Ellas Fürsprecher war, würden sie sich von ihm überreden lassen, hoffte sie. Daher hatte Ella ihm eingeschärft, das Gespräch beim Kaffeetrinken möglichst bald auf Worpswede zu lenken. Dabei sollte er seine Zustimmung für Ellas Sommeraufenthalt bekräftigen. Karl sollte ihnen erklären, wie wichtig dieser für sie wäre, und betonen, dass er ihren Aufenthalt in Worpswede auf jeden Fall wohlwollend guthieße.

Nachdem sie am Kaffeetisch bereits über verschiedene Themen gesprochen hatten, auch über eine neue Kunstausstellung an der Düsseldorfer Akademie, die gerade in aller Munde war, fand Karl den Zeitpunkt ideal für das geplante Gespräch und begann seinen künftigen Schwiegereltern gegenüber vorsichtig mit den Worten: »Was wäre es für ein Glück, wenn Ellas künstlerisches Talent noch weiter gefördert werden würde!«