Die Marathonne - Manfred H. Krämer - E-Book

Die Marathonne E-Book

Manfred H. Krämer

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Beschreibung

Ein Laufbuch für alle, die das Laufen nicht zu ernst nehmen! Mit den Reportagen und Kult-Kolumnen aus Runners World! Garantiert ohne Ernährungs- und Trainingspläne! Manfred H. Krämer: Ist kein Laufguru. Will seine Leser nicht missionieren. Hat noch nie einen Wettkampf gewonnen. Hat Übergewicht, Diabetes, Plattfüße und einen Hang zu ungesunder Lebensweise. Eben. Er ist einer von uns. Seine Kolumnen in RUNNER'S WORLD, dem größten Laufmagazin der Welt, und auf seinem Blog marathonne.de haben längst Kultstatus. Spannend - Ironisch - Lebensfroh - Dramatisch - Philosophisch Ein Buch vom Laufen und vom Leben.

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Seitenzahl: 296

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Für Raimund. Bist ganz schön faul geworden …

Ein Laufbuch für alle die das Laufen nicht zu ernst nehmen. Mit den Reportagen und Kult-Kolumnen aus Runner’s World! Garantiert ohne Ernährungs- und Trainingspläne!

Inhalt:

Der Autor

Das Buch

Wie alles begann

Die Marathonne

Marathon. Das erste Mal

Der lange Weg nach Hamburg

Auf der Reeperbahn morgens um Neun

Wenn Marathonläufer Fahrrad fahren

Der Rennsteig ruft!

2000 km bis nach Schmiedefeld

Time-Management

Nikolausi und der Drill-Sergeant

Das Fet(s)tessen

Zwischen den Jahren

The Show must go on

Pünktlich zu Ostern:

Tribute to Martha:

Läufer auf der Autobahn!

Der erste richtige „Lange“

30. GutsMuths-Rennsteiglauf

Laufen im Urlaub

Der Berg ruft!

28. Internationaler Bienwald Marathon

Der Bike-Coach

Einmal musst du nach Gossliwil!

Auf in die Schweiz!

Swiss Alpine Marathon C42

Mein Verein:

Meine Herzensangelegenheit:

Was mir noch wichtig ist:

Der Autor:

Grafik: Matthew Woodson/Runners's World

Manfred H. Krämer, 1956 geboren, lebt in Lampertheim in der Nähe von Mannheim. Hauptberuflich ist er als Lkw-Fahrer im Nahverkehr beschäftigt. Von 1999 bis 2016 war er als freier Mitarbeiter und Kolumnist für das Laufmagazin Runner’s World tätig. Bekannt wurde er mit seiner erfolgreichen Krimireihe um die kultigen Hobby-Ermittler Solo & Tarzan. (Verlag Waldkirch, Mannheim)

Manfred H. Krämer ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und eine Enkelin. Das Laufen ist für ihn weder Passion noch fällt es ihm besonders leicht. Trotzdem hat er bereits dutzende Marathon- und Halbmarathonläufe, viele Volksläufe über fünf und zehn Kilometer und sogar Ultraläufe wie den Rennsteig und den legendären Bieler 100-Kilometer-Lauf bewältigt. Krämer läuft um seinen Diabetes in Schach zu halten und um sein Gewicht zu reduzieren.

Das Buch:

„Die Marathonne“ ist kein Fachbuch und schon gar kein Lehrbuch. Es ist der Erfahrungsbericht eines Menschen, der zum Laufen gefunden hat, obwohl er sich jedesmal neu dazu aufraffen muss. Wer Anleitungen und Pläne sucht, wird hier sicher nicht fündig werden. Wer aber noch einen letzten Schubser braucht, um selbst die Laufschuhe zu schnüren. Wer raus möchte/muss aus seinem bewegungsarmen Alltag, wer das wohlige Gefühl erbrachter körperlicher Leistung unter der warmen (ja, ich dusche IMMER warm!) Dusche geniessen möchte und wer ohne Qual und Verzicht abnehmen will, der/die ist hier richtig. Krämers heiter-selbstironischer Schreibstil hat ihm bereits als Kolumnist bei Runner’s World, dem größten Laufmagazin der Welt, eine große, internationale Fangemeinde beschert. In diesem Buch werden sich viele wiederfinden. Einer wird nach der Lektüre vielleicht die alten Turnschuhe aus der Kiste kramen und eine kurzatmige Runde um den Block drehen. Eine andere auf der Couch bleiben und amüsiert den Kopf schütteln. Spaß werden beide haben. Versprochen.

Wie alles begann

In den ersten Januartagen des Jahres 1998 quälte sich ein fast 100 Kilo schwerer 42-jähriger Mann über eine knapp vier Kilometer lange Strecke durch den Lampertheimer Wald. An seiner Seite ein etwas jüngerer und etwas leichterer Gefährte, der aber ebenfalls zum ersten Mal im Laufschritt unterwegs war. Beides Familienväter, deren Frauen belustigt und zweifelnd den erwachten Ehrgeiz ihrer Gatten als rasch wieder verklingende Randerscheinung abtaten. Weder die Ladys noch die völlig ausgelaugten Vier-Kilometer-Cracks ahnten an jenem nasskalten Morgen, dass einige Jahre später beide Männer mehr oder weniger lädiert, doch lachend und stolz die Ziellinie des Bieler 100-Kilometer-Laufs passieren würden.

Der ein oder andere wird sich erinnern: „Die Marathonne" war meine erste Reportage, die in RUNNER'S WORLD erschien. Die schweißtreibenden 48 Minuten meines ersten Laufs in durchweichten Baumwollschlabberhosen und Discounter-Latschen waren mein Start ins Läuferleben. Es folgten diverse Wettkämpfe vom 10-Kilometer-Volkslauf über den Duisburg-Marathon bis zu legendären Ultraklassikern wie Rennsteig und Biel. Aus fast zwei Zentnern Lebendgewicht wurden knackige 75 Kilo, und die Gattinnen bezeichneten uns mittlerweile nicht mehr als Laufträumer, sondern als Laufverrückte.

Mittlerweile bin ich über Sechzig und habe in den letzten Jahren das Wettkampflaufen ganz aufgegeben. Nur noch für die Fitness, lautete die Devise. Ich wurde zum stressfreien, trainingsplanabstinenten Laufschluri. Heute keinen Bock zum Laufen? Bleib ich auf der Couch. Resultat des Schlendrians: Schleichend näherte sich mein Gewicht wieder speckig-jugendlichen Werten. Ups!

Aus der Lethargie weckte mich der Plan, dieses Buch-Projekt „Die Marathonne“ zu veröffentlichen. Mit ausgewählten Reportagen und Kolumnen aus RUNNER’S World sowie aktuellen Texten. Ich erschrak. So, wie es mittlerweile um mich stand, würde es eine Parabel werden: vom dicken jungen Mann über den gut trainierten Sportler zum dicken Opa. Das durfte nicht geschehen! Deshalb mache ich nun eine Schreibpause und gehe in den Wald. Jetzt! Sofort! Es regnet, es stürmt, es ist kalt. Egal! Bleibt dran, gleich geht's weiter! Ihr könnt jetzt was essen, oder selber laufen gehen oder einfach weiterlesen …

Geschafft! Acht Kilometer in 53:33 Minuten. Anstrengend wie früher ein 15er, aber fast im gewohnten Tempo von 6:40 Min/km. Mit Wampe! Kampfgewicht: 87 Kg. Wenn ich jetzt dranbleibe, kann ich das Ruder noch rumreißen. Heißt aber auch: weg mit dem ganzen Süßkram, den ich seit Wochen in mich reinstopfe.

Regelmäßige Leserinnen und Leser meiner Kolumnen wissen: Manni ist ein Frustfresser +. Das „+" steht dafür, dass ich nicht unbedingt Frust haben muss, um ungehemmt über Schoki, Torte & Co. herzufallen. Das wird am schwersten werden. Aber ich habe bereits eine Lösung im Blick. In meiner Lieblingsbuchhandlung in Nachbarort gibt es einen Shop-im-Shop mit toskanischen Spezialitäten. Da habe ich mir jüngst eine mediterrane Genusstüte füllen lassen. Vor dem Fernseher frisch abgesäbelten Parmigiano mit Oliven zu knabbern, verweist jede Chipstüte ins Abseits. Was aber wirklich schmerzt: auf die heißgeliebten süßen Teilchen vom Bäcker zu verzichten, die ich täglich um 10 und 15 Uhr zur Erhaltung der allgemeinen Fahrtüchtigkeit mampfe.

Diesen Monat steht übrigens wieder eine Blutentnahme beim Diabetologen an. Also Disziplin! Ja, ihr dürft lachen. Disziplin passt zu mir wie ein Heizstrahler zum Schneemann. Aber: Uffbasse! Unter 85 Kilo werfe ich hiermit in den Ring. En garde!

So. Jetzt kennt ihr meine Schreibe und meine Einstellung zum Laufen. Ich habe zwar alles gemacht, was ein „richtiger“ Läufer glaubt, gemacht haben zu müssen, also diverse Marathons, Halbmarathons, Zehn-Kilometer-Läufe und sogar Ultras. (Alles was über Marathon hinausgeht) Aber ich musste mir alles erkämpfen, stand nie auf einem Siegertreppchen und hatte stets den Besenwagen oder das Besenfahrrad im Genick. Spaß hat es aber immer gemacht. Zumindest, wenns vorbei war und ich mir zum zwanzigsten mal gesagt habe: Nie wieder! Mittlerweile bin ich ein reiner Spaßläufer, der das Zusammensein mit dem kunterbunten Laufvölkchen genießt, die „Wettkämpfe“ nach landschaftlicher Schönheit oder Extravaganz aussucht und so ganz nebenbei seinem Diabetes davongelaufen ist.

In diesem ersten Band könnt ihr nachlesen, wie alles begann. Vom ersten Marathon bis zum Hundert-Kilometerlauf. Vom fast Zweizentnermann zum schlanken Sportsmann und (fast) wieder zurück. In diesem Buch findet ihr die frühen RUNNER’s World Reportagen ab 1999 und die ersten monatlichen Kolumnen die ich für dieses Magazin schrieb.

Die Marathonne

Dein Atem geht tief und rhythmisch, dein Blut pulsiert spürbar durch das Netzwerk von Adern und Venen, deine Beine tragen dich wie der Wind durch den verschneiten Wald. Du schließt kurz die Augen, breitest die Arme aus und glaubst zu fliegen.

So ist Laufen! Oder?

Schwer stampfen die Füße auf den Boden. Röchelnd und keuchend lechzen die Lungen nach Sauerstoff, schweißnass klatscht das T-Shirt auf Bauch und Rücken. Die Brille rutscht, die Nase läuft, die Oberschenkel brennen wie Feuer. Schweiß rinnt in Strömen, die Arme werden taub, das Herz rast. Die Bäume beginnen sich zu drehen, der Weg windet sich wie eine Schlange, rote Sterne tanzen vor deinen Augen.

Ein Marathoni, Sekunden vor dem neuen Weltrekord?

Ein Ultraläufer bei Kilometer 98?

Fast richtig! Es handelt sich um den Autor dieser Zeilen nach den ersten 400 Metern Waldlauf in seinem 42-jährigen Leben.

Warum tut man sich so was an? "Man" hat eine tolle Familie, ist beruflich etabliert, gesellschaftlich anerkannt und mit den ehrlich erworbenen Schwimmringen hat man sich arrangiert.

Wirklich?

Meine Frau wiegt exakt die Hälfte, mein Sohn ist ein Strichmännchen und meine Tochter eine filigrane Ballettmaus.

Bis vor wenigen Jahren hatten wir immerhin noch einen übergewichtigen Zwergdackel.

Nachdem jedoch im letzten Urlaub der Stolz über meine jugendlich aussehende Ehefrau, der Angst wich, für ihren Vater gehalten zu werden, beschloß ich etwas für meinen Körper zu tun: keine Schokolade, kein Alkohol, keine Sahnetörtchen! Kein Schweinsbraten, keine Käseflips und kein Nutella-fingerdick!!

Erwartungsgemäß schlug alles fehl und um so mehr an: Sylvester 1996 war ich mit 95 kg so schwer wie nie und um eine schreckliche Erkenntnis reicher: Sport ist der Schlüssel zur Idealfigur!

Raimund, verständnisvoller Bauchträger wie ich, schlug vor, am nächsten Sonntag einen erholsamen Waldlauf zu machen.

Und das unglaubliche geschah:

Raimund lud mich am Sonntag morgen um 8:30 Uhr in sein Auto, fuhr mit mir zum Läufertreff am Stadtwald, lehnte mich dort gegen einen Baum, bis er sich die Schuhe geschnürt hatte und begann sogleich locker-lässig auf der Stelle zu traben wie Rocky im ersten Teil.

Irgendwie brachte ich es fertig, mit rollenden Schultern, geballten Fäusten und hervorquellenden Augen in einen schlurfenden Zuckeltrab zu fallen. Nach 400 Metern (siehe oben), kämpften wir gemeinsam gegen das Vorhaben unserer Körper, unnötigen Ballast durch Erbrechen loszuwerden.

An jenem denkwürdigen Tag haben wir die Vier-Kilometer-Strecke tatsächlich geschafft! Nach 45 Minuten erreichten wir blaß, zitternd und Klitsche-Klatsche-Naß wieder den Parkplatz, klopften uns auf die Schultern, würdigten jeweils die Leistung des Partners: "du Wildsau!", "du Wahnsinniger!" und kamen uns vor wie Olympiasieger.

Ein entspannt vorbeischwebender Läufer in hautengen Leggins, (das die Dinger Tights heißen, wußten wir damals noch nicht) grüßte uns lässig (!)

Wir gehörten dazu! Wir sind jetzt Sportler! Asse! Marathonnen! (Oder heißt es Marathoni?)

Auf der Heimfahrt, unsere sogenannten "Jogging-Anzüge " dampften permanent Brillen und Autoscheiben zu, schworen wir uns, eisern zu trainieren! Keine Schokolade, kein Alkohol, keine Sahnetörtchen! Kein Schweinsbraten, keine Käseflips und kein Nutella-fingerdick!! Na ja, jedenfalls von allem etwas weniger.

Von da an trabten wir allsonntags durch den Stadtwald, schafften es nach sechs Wochen sogar, die "Vierer" ohne Geh-, Schnauf- und Spuckpausen hinter uns zu bringen.

Als ich dann begann, heimlich unter der Woche zu laufen, war ich bereits infiziert. Die Pfunde purzelten ganz ohne Diät, die "Vierer" wurde bald langweilig und als ich das erstemal, die mit den blauen Schildern gekennzeichnete Sechs-Kilometer-Strecke lief, zeigte ich der mächtigen Kiefer am Abzweig zur "Anfängerstrecke" glücklich den Mittelfinger.

Ich war ein Läufer geworden.

Bei keiner Sportart sieht man so schnell den Erfolg wie beim Laufen. Nach wenigen Wochen spulten wir bereits lässig die "Zehner" ab. Die "Königsstrecke". Sogar Raimunds Golden Retriever rannten wir schlapp.

Der Sommer kam und mit ihm der alljährliche "Spargelfestlauf" meiner Heimatgemeinde. Ein Halbmarathon mit 10-Kilometerlauf und 5-Kilometer "Einsteigerlauf". Auch für die ganz kleinen gab es einen 1000-Meter "Bambini-Lauf".

Klar, Dass ich da mitmache!

Einsteiger war ich ja keiner mehr und zehn Kilometer lief ich jede Woche. Halbmarathon war angesagt!

Dummerweise erzählte ich allen von meinem Vorhaben. Erwartungsgemäß erntete ich ungläubiges Staunen (Du? Das hätte ich dir nie zugetraut!) und ehrfürchtige Bewunderung (Mit der Wampe auf den Halbmarathon?).

Dummerweise startete just in der Woche, in welcher die Veranstaltung stattfand, der Sommer zu seinem einzigen kurzen Hochtemperatur-Gastspiel.

Für den Wettkampftag waren Temperaturen zwischen 33 und 35° C angesagt.

Zudem sorgte Windstille und eine Luftfeuchtigkeit wie in einer Baumwollunterhose nach 10 Kilometern, für denkbar ungünstige Bedingungen.

Aber wozu war man schließlich über 40 Jahre alt? Ein Mann, Herr all seiner Sinne, fern von jugendlichem Imponiergehabe und falsch verstandenem Ehrgeiz?

Ich pfeife auf alle "ich-habs-doch-gleich-gewußt" Bemerkungen sogenannter guter Freunde. Bei dem Treibhauswetter laufe ich doch kein Halbmarathon! Ich bin doch nicht blöd!

Oder doch?

Wenn ein Mann Dinge tut, die er nicht tun will, seine durch nichts zu beeinflussende Meinung plötzlich ändert, sämtliche Vorsätze und wohlformulierten Entschuldigungen fallenläßt, dann ist er nicht blöd, dann ist er verheiratet!

Meine Frau war überhaupt nicht gewillt, sich den Sprüchen ihrer Montagabendfreundinnen auszusetzen: "Na, dein Maratönnchen, was hat er denn für eine Zeit gelaufen?", "War dein Mann etwa so schnell, dass ich ihn nicht gesehen habe?"

"Du wirst deine Nudeln essen und du wirst laufen!" befahl meine Göttin.

Ich aß meine Nudeln und ich lief.

Zuerst einmal aufs Klo, denn auch Rennpferde werden nun mal nervös vor dem Start.

Der Start war um 18:00 Uhr, um 17:00 Uhr kreuzte ich an der Meldestelle auf, erstand eine Startnummer (119), traf staunende Mitläufer: ("Was du auch? Die Zehner?") "Nö, den Halbmarathon". Erntete mitleidige Blicke und vielsagendes Augenzwinkern und schnürte meine nagelneuen "Tights" etwas enger. Das T-Shirt trug ich über der Hose, da diese hautengen Beinlinge leider äußerst figurbetonend sind. Leider schreibt niemand in Fachbüchern oder Zeitschriften, wie man die Startnummer am T-Shirt befestigt, ohne sich den Bauch zu zerstechen oder das Hemd zu zerfetzen. Aber auch das gelang mir endlich. Noch etwas Vaseline unter die Achseln. (Darüber haben sie geschrieben), noch mal ein Zwischenspurt aufs Klo, dann konnte es von mir aus losgehen.

Im Gedränge vor der Startlinie suchte ich mir einen Platz im hinteren Drittel, fachsimpelte mit meinen Nachbarn/innen und wippte und trippelte auf der Stelle. Aufgeregt? Nö, aber aufs Klo könnte ich schon wieder.

Dann der Countdown! Gemeinsam im Chor zählt die Menge (etwa 1500 Leute) von zehn bis eins, ein Knall und das Volk rennt!

Nach etwa fünf Minuten Hackentreten, Ellenbogenknuffen und Beckenstößen zerstreute sich das Feld auf eine angenehmere Dichte. Schnell fielen die Musik, die krächzenden Lautsprecher und die frenetischen Familienchöre zurück. "Trapp Trapp Trapp" war neben diversen Rotz- und Schnieflauten das vorherrschende Geräusch. "Trapp Trapp Trapp", mein Rhythmus, meine Religion, "Trapp Trapp Trapp".

Gleichmäßig laufen! Ermahnte ich mich, Gleichmäßig! Nicht mitziehen lassen! Aber den Dicken da vorne, den Kauf ich mir "Trapp Trapp Trapp" und die drei Frauen auch! "Trapp Trapp Trapp". Den ollen Opa noch, dann ist Schluss! "Trapp Trapp Trapp".

Trapp Trapp Trapp? Schnauf, keuch, pfeif? Noch nicht einmal bei Kilometer zwei und schon bist du platt? Kurzer gehetzter Blick zurück: Da läuft noch jede Menge Volk hinterher. Keine Panik. Ruhig und gleichmäßig laufen "Trapp Trapp Trapp".

Über eine Brücke, mein Gott, die müssen wir kurz vor dem Ziel noch einmal rüber! Vor einer Kneipe hocken welche, prosten uns mit Weizenbier zu. Bauch einziehen, Kopf hoch, kernig und energiegeladen aussehen!

In der Stadtmitte die erste Verpflegungsstation. "Wasser!" "Elektrolyt!" "Wasser!" schallt es uns entgegen. "Wasser!", rufe ich, jemand reicht mir einen Becher "Trapp Trapp Trapp, Gluck, Gluck, Gluck" den Rest übers Hemd. Gar nicht so einfach im Laufen zu trinken. Noch ein Becher, diesmal über den Kopf Ah! Herrlich! Hinter der Kurve kommt eine lange Gerade. Ich schloss zu einer Gruppe Männer auf, die von Statur und Laufstil her ganz gut zu mir zu passen schienen. Schnell passte ich mich an, freundliches Kopfnicken. "Trapp Trapp Trapp".

Neben mir lief ein Profi: 285,80 DM an den Füßen, Markenhosen, Markenshirt, Markenmütze. Um die Taille ein Holster, gefüllt mit Powerriegeln und zwei Trinkflaschen, die sicherlich hochgeheimes, leistungssteigerndes Dope enthielt. Ich bedachte den Profi mit einem ehrfürchtigen Blick. Der schnaufte kaum, bestimmt würde er nach kurzer Zeit seinen "Turbo" einschalten und uns alle in einer Staubwolke verschwinden lassen. Am Ortsausgang kamen uns die ersten Zehn-Kilometer-Leute entgegen, die mit uns gestartet waren und deren Wendepunkt etwa zwei Kilometer voraus war: ausgemergelte Gestalten, offene Münder, ewig lange Beine und ein Tempo. Wahnsinn!

Dann kam die Wendemarke. Ein Feuerwehrmann hielt jedem Läufer ein Megaphon unmittelbar vor den Kopf und röhrte: "Zeeeeeeehner Wende!!!!!, Zeeeeeeehner Wende!!!!!"

Meine "Zugläufer" machten allesamt kehrt und trabten wieder zurück. So ein Mist! Aber halt! Der Profi hielt sich immer noch an meiner Seite. Gerade zerrte er einen Powerriegel aus seinem Gürtel, fetzte die Folie ab und schob sich das Zeug rein. Aber jetzt! Doch nichts geschah. Der Superläufer hielt genau mein Tempo. Bestimmt ein ganz ausgefuchster. Wahrscheinlich würde er auf den letzten fünf Kilometern das gesamte Feld von hinten aufrollen!

Trapp, Trapp, Trapp, da vorne ging es in den Wald. Endlich der Sonne entronnen! Am ersten Abzweig steht THW. Eine Gestalt liegt am Boden, ein Sanitäter mit einer antiken 250er BMW braust heran. Schocklage, Eisbeutel, Infusionsflasche. Ein junger Mann, höchstens 20 Jahre alt, gute Muskulatur. Wir sind erst bei Kilometer acht. Die Hitze? Der Ehrgeiz? Keiner weiß es, jeder wirft einen scheuen Blick auf den Mann am Boden und läuft weiter: Trapp, Trapp, Trapp.

Ein Halbmarathon ist kein Spaziergang. Schon gar nicht bei 34°. Manche erkennen erst spät, dass sie sich überfordert haben. So wie ich.

Ein Ziehen im linken Oberschenkel. Egal, weiter, Trapp, Trapp, Trapp. Das Leukoplastband um den Mittelfuß löst sich durch den Schweiß ab, verklumpt zwischen Schuh und Fußsohle. Egal, weiter, Trapp, Trapp, Trapp.

Kilometer 12: Das Wasserwerk, Verpflegungsstation. "Wasser, Elektrolyt, Wasser!", rufen die Helfer. Ein Mädchen reicht einen Teller mit Bananenstücken. "Bloß nicht!", denke ich, "die poltert dir bloß im Magen herum", Wasser! Wasser!, Zwei Becher über den Kopf, einer fallengelassen, einer halbwegs geleert, weg damit. Unter den Füßen krachen und platschen die weggeworfenen Becher, Schwämme werden gereicht, Mütze ab, Stirn abwischen, Schwamm unters Mützenband, weiter, weiter! Trapp, Trapp, Trapp!

Kilometer 14: Das Feld ist keines mehr, die Spitzenleute sind schon durchs Ziel. Wie versprengte Soldaten auf eiligem Rückzug trotten Männlein und Weiblein vereinzelt oder in kleinen Gruppen durch den Wald. Wieder ein Abzweig: Zwei Ordner winken uns nach rechts, "Gut seht ihr aus!" rufen sie, "Bravo, gute Leistung! Klasse!" Ich winke dankend, den Gesichtern der Männer ist das Mitleid mit uns deutlich anzusehen. Ein schmaler Pfad, dann wieder Wohngebiet: Gelobt sei Gardena! Anwohner haben Durchlaufduschen aufgebaut. Ich vergeude wertvolle Sekunden, drehe mich dreimal um die eigene Achse, bis das Wasser in den Schuhen quietscht, genieße den Beifall und die Zurufe und laufe weiter Trapsch, Trapsch, Trapsch.

Weiter vorne spielt eine Band "Man On The Run", ein Sprecher begrüßt anhand der Teilnehmerliste die vorbeiziehenden Läufer, Geher und Schlurfer. Jetzt scheppert auch noch mein Name über den Platz. Bauch rein, Arme hoch, grins grins, Tempo alter Junge, zeig es den Bierbäuchen! Um die Ecke. Die Musik wird leiser. Noch ne Ecke, raus aus dem Wohngebiet, auf den Radweg entlang der Landstraße. Die weißen Pfeile der Streckenmarkierung sind plötzlich lila, scheinen sich zu bewegen, ich beginne zu frieren. Es ist immer noch deutlich über 30° warm. Am Waldfriedhof steht der Mann mit dem Hammer, schwingt denselben weit über den Kopf und knallt ihn mir mit Wucht auf die Stirn. Stop! Weiter! Stop! Ich stolpere vorwärts, der Atem geht stoßweise, doch statt Luft scheint nur kochender Dampf in die Lungen zu kommen. Halt an, du Idiot! Halt an! Ich gehorche meiner inneren Stimme, setze langsam einen Schritt vor den anderen, hebe die Arme hoch, versuche den Nebel vor meinen Augen zu durchdringen und zwinge mich, tief auszuatmen. Es nützt nichts. Der Puls fliegt, das Herz hämmert im Akkord, die Lungen pfeifen und der Kopf dröhnt wie eine Glocke. Zwei Silhouetten in orangefarbenen Jacken erscheinen schemenhaft vor mir. "Rechts ab Junge, rechts!" Gehorsam biege ich ab, hebe kaum die Füße, lasse die Arme hängen, versuche nicht zu torkeln und kämpfe weiter gegen die Raserei in meinem Brustkorb. Sie sagen mir nicht, dass ich gut aussehe. Niemand kommt auf die Idee, einem Zombie Komplimente zu machen.

Ich bin allein. Wahrscheinlich der letzte auf der Strecke. Zehn Minuten schlurfe ich an einem Rübenfeld vorbei. Merke kaum, wie mich die Beregnungsanlage mit einem kühlen, kalkigen Schauer überschüttet. Endlich ist das durchgehende Pferd in meiner Brust wieder ein braves Pony. Du Idiot! Warum machst du das?

Kilometer 18: Noch ein paar hundert Meter, dann führte die Strecke an meiner Wohnung vorbei. An der Straße regelt ein Polizist den Verkehr. Heute haben Fußgänger Vorfahrt. Der Polizist hat ein Funkgerät. Ich werde ihn bitten, am Ziel anzurufen und Bescheid zu geben, Dass die "119" aufgegeben hat.

Dann werde ich duschen, ein Bier trinken, mich auf die Couch werfen und dankbar dafür sein, dass letztendlich doch die Vernunft gesiegt hat. Genau! Das werde ich tun!

Kurz vor der Bahnunterführung stehen Leute mit Wasserschläuchen. Sie schauen die Läufer fragend an, manche schütteln den Kopf, das sind die Klügeren. Andere rufen "Volle Kanne!" das sind die Anfänger. Solche wie ich.

Eiskaltes Grundwasser klatscht auf mein ohnehin schon durchnäßtes Baumwollshirt.

"Volle Kanne!" ruft noch eine Stimme dicht hinter mir. Ich drehe den Kopf und glaube es kaum: Der Profi! Der Superläufer mit der schnieken Ausrüstung! Der war die ganze Zeit noch hinter mir! Jetzt sehe ich noch weiter Gestalten in bunten Trikots über den Feldweg trotten. Ich bin nicht der letzte!

"Jungs, zieht mich die letzten Kilometer mit!" ruft eine Frauenstimme. Eine drahtige Sportlerin in meinem Alter lächelt uns verzerrt an, "ich bin so froh, dass ich euch wieder eingeholt habe, ihr lauft genau mein Tempo, zieht mich mit, sonst pack ich's nicht!"

Da kam er herausgekrochen aus der angeblich dicht verschlossenen Kiste in meinem Inneren: der Macho, der Beschützer, der Neandertaler.

"Natürlich ziehen wir dich! Auf geht's, die letzten Kilometer sind Kinderkram!"

Was sind wir doch für Kerle! Aufgeben? So ein Blödsinn, ein Mann gibt nicht auf!

Durch die Unterführung, der Polizist sperrt die Straße ab, winkt uns durch. Dort, mein Haus! Meine Tochter springt mir entgegen, drückt mir die vorbereitete Flasche Cola in die Hand (Kohlensäure vorher rausgeschüttelt). Ich stoppe, setze die Flasche an, rein mit dem Gift, herrlich! Schnell ein Küsschen für die Gattin, Winken in Papas Fotoapparat und weiter! Trapp, Trapp, Trapp!

Die Leute klatschen und johlen. Wir sind wieder in der Stadt. Überall sitzen sie auf Gartenstühlen und Bierzeltbänken, bieten Getränke und Bananen an. Sie klatschen auch für uns, die (fast) letzten Mohikaner. Dann kamen sie endlich: Lang erfleht, heiß ersehnt: die Endorphine. "Runners High". Bei Kilometer 19 beginne ich zu fliegen. Spüre meine Beine nicht mehr, lache und winke den Zuschauern. Mein Vater fährt mit dem Fahrrad nebenher: "Mach langsam, du siehst grauenhaft aus! Mach langsamer!"

Ich lache ihn aus, ich weiß selbst, wie ich aussehe: das klitschnasse T-Shirt hat sich durch das ganze Wasser bis auf die Länge eines Sommerkleidchens gedehnt, schlottert mir um die Knie, während der Halsausschnitt sich rapide dem Nabel nähert. Es geht doch nichts über 100% Cotton.

Die Europabrücke kommt in Sicht. "Die fresse ich!", rufe ich meinen Kollegen zu, die Frau neben mir gibt Gas, der "Profi" hält mühsam Schritt. Zu dritt wetzen wir über die Brücke, überlassen beim Abstieg unser Tempo der Schwerkraft. Legen uns in die letzte Kurve. Lautsprechergeplärr, Fahnen, eine enge Gasse aus Absperrgittern und Flatterbändern. Das Transparent mit der Aufschrift "Ziel". Eine überdimensionale Digitaluhr vernichtet erbarmungslos die Zeit. Ich passiere die Lichtschranke bei 2:17:11. Meine Begleiterin hat mich noch auf der Zielgeraden abgehängt. Das ist der Dank. Der "Profi" läuft knapp hinter mir mit 2:17:45 ein. Profi??

"Danke Mann!" Patschnasses Schulterklopfen vom "Profi". "Danke? Wofür?", der Profi grinst mühsam, "fürs Mitschleppen, das war mein erster Wettbewerb".

"Meiner auch, ich habe mich eigentlich an dir orientiert." So kann man sich täuschen.

He, was ist denn mit meinen Knien los? Wer hat denn da Pudding reingetan? Erst mal unter den Wasserhahn mit der Rübe und dann erst mal langmachen. Mein Vater kommt, gratuliert mir. Strahlt wie ein Castor-Behälter.

"Du bist ein tolles Rennen gelaufen, bei dieser Hitze!"

Ich nicke, das kann wohl sein. Ein tolles Rennen, Trapp, Trapp, Trapp. Mit Sicherheit auch mein letztes Rennen. Solch einen Wahnsinn macht man nur einmal im Leben! Laufen ist doch eh nur für Verrückte.

Mittlerweile ist der November hereingebrochen, ich laufe in der Woche zwischen 40 und 70 Kilometer, habe eine aktuelle 10km-Zeit von 45:00 und bereite mich auf meinen ersten Marathon im Frühjahr 1999 vor. Hamburg? Paris? Helgoland? "Schaun mer mal."

Laufen ist für Verrückte. Genau das Richtige für mich!

Marathon. Das erste Mal

Das erste Mal. zittrige Knie, wie sehe ich aus? Bin ich gut vorbereitet? Alles gelesen, was es darüber zu lesen gab? Wird sie mich mögen? Werde ich es mit ihr aufnehmen können? Werde ich mich lächerlich machen? Das schwarze Shirt oder das weiße? Mütze oder nicht?

Angeschmiert! Kein pickliger Jüngling zittert hier vor dem ersten Date, sondern ein 43-jähriger Mann, der bereits vor über zwanzig Jahren alles, was man irgendwann zum ersten Mal tut, getan hat. Alles? Nun ja fast alles. eine Bank habe ich noch nicht überfallen. Das Matterhorn noch nicht bezwungen. Einen Marathon bin ich auch noch nicht gelaufen.

Also das mit dem Matterhorn schenke ich mir. Ich bekomme schon Höhenangst, wenn der Wetterfrosch ein Hoch ankündigt. Da lauf ich lieber Marathon. Hört sich ja auch irgendwie so ähnlich an wie Matterhorn.

Marathon! Zauberwort! Königin der Langstrecke! (Verzeiht mir bitte, liebe Ultraläufer, aber es gibt ja noch Kaiserinnen).

Mit dieser erlauchten Dame habe ich heute um 9:15 Uhr ein Rendezvous. Die Wetterprognose lautet sonnig und trocken, am Nachmittag vereinzelte Wärmegewitter, Tagestemperaturen zwischen 28 und 32 °C. Mann bin ich blöd!

Ausgewählt habe ich mir den 16. Rhein-Ruhr-Marathon in Duisburg am 30.05.1999. Erstens ist der Lauf groß genug um echte Marathonatmosphäre aufkommen zu lassen, zweitens ist er klein genug um nicht den Überblick zu verlieren. Außerdem wohnt mein Schwager Peter mit seiner Familie nur wenige Kilometer vom Wedau-Stadion entfernt, was mir ein prima Basislager ermöglicht.

Morgens um sechs klingelt der Wecker. Ah! Heute ist Marathontag! Dustin Hoffman fällt mir ein in dem Film "Der Marathonmann" damals hatte ich mit Laufen noch nichts an der Mütze. Dustin rannte und rannte. ganz schön bescheuert so was. Ja das war damals. Jetzt bin ich auch ein Marathonmann. Stop! Lüge!! Vielleicht bin ich heute Mittag einer. Aber zurzeit bin ich nur ein müder, wassergefüllter Frühaufsteher, der ganz dringend aufs Klo muss.

Nicht vergessen, die Zehennägel schneiden, ermahne ich mich. Ja, jaa, nachher.

Einsames Frühstück auf der Terrasse mit WAZ und dem Streckenplan des Marathons. Das Frühstück diktiert auch der Trainingsplan, deshalb erspart es mir bitte das Elend zu beschreiben. Die Startnummer habe ich mir bereits am Vortage geholt. Ich mache mich daran die 1385 auf mein Laufhemd zu fummeln. Gute Nummer, denke ich. Die 13 hat mir noch nie was getan, manches Mal sogar Glück gebracht. Bloß für die 85 fällt mir nichts ein. Mein Schwager meinte, ich hätte eventuell Pokalchancen in der Klasse M85. Der versteht es gut, einen aufzubauen.

Kurz nach Sieben mache ich mich auf die Socken (spezielle Laufsocken halb Seide, halb Wolle) Meine Ausrüstung ist hervorragend auf mich abgestimmt: stabile Dämpfungsschuhe für schwere Überpronierer, Tights und Shirt aus Spezialfasern, Mütze aus Coolmesh. Perfekt!

Dummerweise hat man dann aber nichts mehr, womit man Ausreden begründen kann. Doch! Eine habe ich noch: "Das Zielband hat zu stark die Sonne reflektiert" (!)

Noch 90 Minuten bis zum Start. Ich betrete die nach Franzbranntwein und Käsefüßen riechenden Umkleideräume, werfe meine Tasche auf eine der Bänke und tue es den anderen zahlreichen Läufern gleich: Sprüche klopfen, über das Wetter meckern und Zielzeiten schätzen. Dann wird es ernst. Ich schmiere ein halbes Pfund Hirschtalg (mittlerweile habe ich mit Vaseline bessere Erfahrungen gemacht) unter meine Arme, lege den Herzfrequenzmesser an und klebe mir die Brustwarzen ab. (Abkleben ist Mist! Besser ist dick mit Vaseline einschmieren. Die gibt es zur Not auch unterwegs bei den Sanis!) Mist, Schweiß und Hirschtalg sind kein guter Untergrund, das Heftpflaster weigert sich seine Pflicht zu tun. Ein Sportsfreund, der sich gerade die Füße bandagiert, reicht mir sein Tape-Band. Na also, das pappt. Vor dem Abreißen nach dem Rennen wird mir jetzt schon schlecht. Egal, das Singlet übergestreift, die Mütze auf und die Schuhe geschnürt. Den Chip habe ich bereits am Vorabend mit eingeschnürt. Ich habe nur 30 Minuten dafür gebraucht! So, jetzt ist aus dem gemütlichen Typ endlich ein aggressives Rennpferd geworden. Mit federnden Schritten verlasse ich die Kabine. Stürze aber gleich wieder zurück um meine Gürteltasche Marke Ballermann zu holen, die noch in der Reisetasche schlummert. Der Inhalt ist überlebenswichtig! Fünf Mark Trinkgeld für den Sani, falls ich schlapp mache und zwei Packungen Gel (Kohlenhydratgel Marke Power-Bar, aber irgendein No-Name Müsliriegel tut’s auch oder aber die gute alte Banane) für Km 21 und 35. Noch schnell ein Schluck aus der Wasserpulle. Dann geht's aber los. Vor dem Start werde ich ein bisschen über die Marathonmesse bummeln und kurz vorher noch ein wenig traben zum Aufwärmen. (Aufwärmen ist Blödsinn! Das sollten nur Eliteläufer machen! Das langsame Traben zu Beginn jedes großen Marathons ist Warm-up genug!) Meine Innereien haben allerdings andere Pläne mit mir und so verbrachte ich die nächste halbe Stunde in "Dufter" Atmosphäre vor verschlossenen Toilettentüren um anschließend eine exakt 37,5°C warme Klobrille zu besetzen. Das ist Marathon. Mecker nicht rum Krämer, du brauchst das! Endlich wieder frische Luft, die Verkaufsstände schenke ich mir, die Zeit wird knapp. Locker laufe ich im Slalom um Polizeimotorräder, Getränkelaster und das bunte Läufervolk. Eine Footballmannschaft in voller Panzerung, alle mit Startnummern, kommt mir entgegen. Die Jungs in Helm und Polster sehen Spitze aus und schwitzen wie die Schweine. Es ist kurz vor Neun und bereits 26°C warm. Kein Windhauch bringt Linderung.

Lautsprecher quäken, Musikkapellen schmettern. Der Startbereich füllt sich mit all den Verrückten, die heute durch elf Duisburger Stadtteile rennen wollen.

Ah, da sind ja die Zug- und Bremsläufer! Schilder werden hochgehalten: 3:00 (um Gotteswillen!); 3:30 (welch Wahnsinn!); 4:00 (schon besser, für diese Zeit habe ich trainiert); 4:15 (wenn die 4er nicht klappt, nehme ich diese Gruppe); und dann die 4:30er (ich nenne sie die Gruppe der Vernunft) (da wäre ich besser aufgehoben gewesen!)

Dann endlich der letzte Aufruf an die Läuferinnen und Läufer. Das Gedränge wird enger, schwitziger und aggressiver. Jedoch ist es eine positive Art von Aggression, die hier spürbar wird. Alle sind heiß auf den Start, scharren mit den Füßen, hüpfen auf der Stelle oder stehen einfach nur still da und schließen die Augen. Ich sehe mich um, erwidere manch verkrampftes Lächeln, taxiere die anderen. Seltsamerweise sehe ich in den anderen keine Gegner oder Wettbewerber. Die Spitzengruppe einmal ausgenommen, läuft hier jeder für sich selbst. Die 42,195 sind der Gegner. Die Strecke und ich selbst.

Ach ja die Zehennägel zu schneiden habe ich vergessen. typisch. (Iss aber wichtig!!)

Ich rufe mir den Streckenplan ins Gedächtnis: die Altstadt, der Hafen, die Rheinbrücken. alles kriegen wir heute auf dem silbernen Tablett serviert.

Der Hirschtalg rinnt zusammen mit meinem Schweiß in Richtung Hose. Zum Glück halten die Tape-Pflaster noch.

Dann geht ein Raunen durch die Menge, den Startschuss habe ich fast überhört. Weit vorne steigt eine bunte Wolke Luftballons in den Duisburger Himmel. Mein Herzschlag ist bereits jetzt über dem Trainingsmittel. Dann geht es voran. Schritt für Schritt, wie beim Rockkonzert. Stocken, Stillstand, drängeln von hinten.

Drei Reihen vor mir beginnen die ersten in einen trippelnden Laufschritt zu fallen. Dann endlich! Niemand spricht mehr. Das Trappeln tausender Laufschuhe übertönt beinahe den unermüdlich quäkenden Lautsprecher. Die Rufe und Schreie der Zuschauer, das Trompeten, Trommeln, Klatschen und Pfeifen dringt wie durch Watte an meine Ohren. Marathon!

Da, die Startmatte! Bei jedem Läufer ein Piepston summiert zu einem schrillen Zirpen. Der Kampfschrei der Strecke. Sie ist bereit zum Angriff. Sie will es diesem Marathönnchen zeigen, das es gewagt hat, sich mit ihr anzulegen!

Die Offiziellen hinter ihren Monitoren auf der LKW-Pritsche huschen vorbei. Herzschlag 144, viel zu hoch. Ich erhasche einen Blick auf das Gelbe Trikot meines Zugläufers. Immer noch hält er das "4:00"-Schild in die Höhe. Will er das die ganze Strecke über machen?

Ich blicke nach unten: Da liefen sie, meine Beine, meine schiefen Überpronationsfüße, der gelbe Chip auf dem rechten Schuh. Hoffentlich funktioniert der auch. Meine ersten Schritte in einem Marathon. Euphorie kommt hoch. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Ich bin kein Sprücheklopfer mehr.

Ich mach das. Ich mach das!! Ich versuche mir die Distanz vorzustellen: 42,195km und jeder einzelne ganz allein für mich! In diesem Moment hätte ich vor Freude schreien können. Stop Alter, ermahne ich mich, heb´ dir das für km 30 auf, dann kannst du es garantiert besser gebrauchen.

Nach dreihundert Metern links ab. Eine Bahnunterführung. Kühlender Schatten, abgelöst von der stickigen Schwüle der breiten Ausfallstraße. Dann der erste Kilometer: Zeit: 5:40. Korrektes Tempo um in vier Stunden im Ziel zu sein. Korrektes Tempo um mich kaputtzumachen.

Die Altstadt schwebt vorbei. Leute winken, klatschen. Kinder lachen, strecken ihre Hände aus: "Give me five!". Bei Kilometer drei kommt uns einer entgegen. "Watt lous?", fragt der Zugläufer. "Kein Bock." kommt die Antwort zurück. Da gehört ja auch eine Art Mut dazu.

In der Fußgängerzone kommt die erste Verpflegungsstation. Ein Meer rotweißer Becher bedeckt bereits den Boden. Ich denke an meinen eisernen Vorsatz, falle in einen gleitenden Walking-Schritt und greife nach zwei Bechern. Langsam und sorgfältig flöße ich mir das erfrischende Nass ein. Die Mütze in der Wassertonne geschwenkt und samt Inhalt wieder auf die Rübe. Ein kalter Schwall läuft über den Rücken. Herrlich! Ich werfe die Becher weg. Ich bin ja vielleicht nicht der schnellste, aber niemand schmeißt so gekonnt und schwungvoll leere Wasserbecher weg wie ich. Das ist doch auch was oder? Ich nehme mein Tempo wieder auf. Erreiche nach kurzer Zeit wieder die Gruppe um den Zugläufer.

Das Gehen beim Wassertrinken hat mich noch keine zehn Sekunden gekostet. Dann geht es über die Ruhr in den Hafen. Duisburg Ruhrort erstreckt sich links von uns. Flirrend wabert die Luft über den Becken, Kräne recken sich bizarr in den weißen Himmel. Die Sonne ist klein, weiß und heiß. Die Strecke geht entlang des Hafenkanals über den Pontwert. Eine endlos lange Gerade. Die Luft flirrt, die Gespräche versiegen. Nur noch Trappeln und Atemgeräusche um mich herum. Jeder hat sein eigenes Rezept für diese Art von Durststrecken. Weit voraus eine Brücke. Wie eine Fata Morgana bewegen sich bunte Punkte darüber. Noch ist das Feld eine einzige lange Schlange. Am Straßenrand parken einige weißrussische LKW, werfen Schatten. Wir wechseln auf den buckligen, grasnarbigen Gehweg. Schatten, Schatten! Neben einem der Laster sitzen die Fahrer vor der Proviantkiste, kochen Fertiggerichte, trinken Bier und winken den Paradiesvögeln freundlich zu, die an ihnen vorüberhecheln.

Kilometer 10. Zeit: genau eine Stunde. Herzfrequenz: 150. Längst habe ich das Tempo zurückgenommen, lasse mich langsam zurückfallen um die 4:15er-Gruppe abzupassen. Heute wird das nix mit Vier-Null. Nach der zweiten Wasserstation haben sie mich eingeholt. Der erste Zugläufer, ein bulliger Typ der mir sofort sympathisch ist, heißt mich willkommen.

Der zweite Zugläufer läuft hinter der Gruppe wie ein guter Hütehund: "Aufschließen Loide, nich auseinanderbrechen jetzt!" mahnt er freundlich.

Dann endlich haben wir die glühend heiße Hafenstrecke hinter uns. Im Ortsteil Meiderich gibt es wieder Publikum. Schilder muntern auf: "Super Chrissie!", "Willi, denk an deine Zeiten!" und ähnliches ist zu lesen. Ein kleiner Junge läuft aufgeregt neben uns her, dann hat er gefunden, was er suchte: "Papa, Papa! Da vorne ist die Mama! Lauf links, sie will ein Foto machen!" alle Läufer auf der linken Seite lächeln von einem Ohr zum anderen und rufen "Hallo Mama, hier bin ich!"

Ich laufe jetzt neben dem Zugläufer her, beginne eine kurze Unterhaltung. Meine "Laufmaschine" ist bei Kilometer 11 endlich angesprungen. Ich habe den Rhythmus, die HF bleibt stabil, der Atem geht ruhig und gleichmäßig. Das Training zahlt sich aus. Der Zugläufer ist ein Ultra. Vor zwei Wochen den Rennsteig gelaufen. Ein Profi, genau der richtige für solch einen Job.

Dann kommt die Erste von zwei Rheinbrücken. Da der Duisburger Hafen auch von Seeschiffen angefahren wird, sind die Brücken kühn und hoch geschwungene Bauwerke. Die Friedrich-Ebert-Brücke mit ihren Schrägkabeln ist eines der Wahrzeichen von Duisburg. Sie ist für uns halbseitig gesperrt. Der Asphalt ist heiß wie Giannis Pizzablech. Die Luft stickig und staubig. Am Horizont bläst ein Stahlwerk hennarote Wolken in die Atmosphäre. Aussterbende Ruhrpottkulissen.