Die Marsfrau – Originalausgabe - Alexander Kröger - E-Book

Die Marsfrau – Originalausgabe E-Book

Alexander Kröger

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Beschreibung

Sylvester Reim, jüngster Mitarbeiter am Institut für resistente Flora, ist einem Geheimnis auf der Spur. Es geht um die Faunella, jene Alge, die es Haustieren ermöglichen soll, durch in der Haut abgelagertes Chlorophyll die Energie des Sonnenlichts zu nutzen. Warum jedoch wurden die Versuche mit der Faunella-Alge vor einigen Jahren abrupt beendet? Hat dieser Abbruch der Experimente etwas mit dem Unfall der Biologin Anne Müller auf dem Mars zu tun? Und weshalb hat der Genoperateur Allan Nagy damals gekündigt? Am Institut erfährt Sylvester darüber nur wenig. Er sucht Allan Nagy auf, aber auch der schweigt sich aus. Sylvester ahnt nicht, dass er wenig später zusammen mit ihm zum Mars fliegen wird, als dort zwei Wissenschaftler eine sensationelle Entdeckung gemacht haben. Eine spannende Handlung in einem Science Fiction-Roman in der Originalfassung von 1980 mit dem Hintergrund künftiger moralisch-ethischer Probleme, die unweigerlich auf die Menschheit zukommen.

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Impressum

Alexander Kröger

Die Marsfrau – Originalausgabe

Wissenschaftlich-phantastischer Roman

ISBN 978-3-95655-766-8 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien erstmals 1980 im Verlag Neues Leben, Berlin (Band 161 der Reihe „Spannend erzählt“). Dem E-Book liegt die Originalausgabe von 1980 zugrunde. Es wurde lediglich auf neue Rechtschreibung umgestellt.

© 2017 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

1. Kapitel

Sylvester Reim zog den Schal, den er um den Mantelkragen geschlungen hatte, fester und drehte den Kopf so, dass der eisige Wind mit seinen spitzigen Eisnadeln das Gesicht nicht frontal traf. Er konnte nur wenige Schritt weit sehen. Fast waagerecht zog das Gestöber Schneeschnüre, die sich zu einem dichten Vorhang verwoben.

Sylvester rechtete nicht mit Erg, seinem Leiter. Es gab bei dieser Wetterlage freilich angenehmere Tätigkeiten, als schräg gegen Wind und Schneetreiben zu laufen und die Freilandkulturen zu kontrollieren. Was notwendig ist, wird gemacht, das war seit jeher Sylvesters Devise.

Allerdings wusste er noch nicht, wie er unter fünfzig Zentimeter Schnee den Wachstumsstand erkennen sollte. Nun — im Augenblick hatte er zu tun, den Weg nicht zu verfehlen. Er orientierte sich an den dürren Stämmen der Kirschbäume, die seit zwei Jahren den Weg säumten und die bereits einen Winter gut überstanden hatten.

Viel wesentlicher als die Pflanzensuche in Schnee und Eis schien Sylvester die Frage, wie er die andere, die neue Aufgabe anpacken sollte. Von seiner Verwunderung, diesen Auftrag direkt von der Alten erhalten zu haben, hatte er sich noch nicht vollständig erholt. Er fühlte sich geehrt und — verwirrt.

Kaum einer der Mitarbeiter hatte einen persönlichen Kontakt zu Ramona-Ros Müller. Und das konnte nicht nur daran liegen, dass sie als stellvertretender Institutsdirektor auf Autorität bedacht sein musste. Außerdem, so bedeutend war dieses „Zuchtinstitut für resistente Flora“ nun wirklich nicht.

Die wenigen Male, bei denen Sylvester mehr als einen kurzen Gruß mit ihr gewechselt hatte, vermittelten ihm den Eindruck, dass sie arrogant und ziemlich altmodisch war und dass ihr ein solcher Mitarbeiter wie er im Grunde genommen gleichgültig blieb. Meist war Erg ihr Gesprächspartner, Sylvesters Vorgesetzter. Administrationsebenen überspringt man nicht.

Überhaupt gab sich die Alte unnahbar, ja unfreundlich. Und selbst Erg ging mit Unbehagen zu den Routineberatungen mit ihr. Sie war außerdem bekannt für Konsequenz und Unerbittlichkeit. Kein Wunder, dass sie sich zwar einer gewissen Autorität, aber keineswegs großer Beliebtheit erfreute, dass allenthalben schnoddrige Witze und Bemerkungen sie heimlich begleiteten. Um so größer also das Erstaunen bei Erg, den Kollegen und vor allem bei Sylvester selbst, als er zu Ramona-Ros gerufen wurde.

Ihm war bekannt, dass Ramona-Ros Müller kurz vor der Vollendung ihres sechsten Lebensjahrzehnts stand. Sie wirkte nach Sylvesters Empfinden jedoch bedeutend älter, was dadurch verstärkt wurde, dass sie füllig war, die Haare in einem strengen Scheitelknoten trug und fad gekleidet ging.

Das im Gegensatz zur Körperfülle knochig-schmale Gesicht zeigte einen herben Zug um den ehemals üppigen, jetzt fältchenumrandeten Mund. Auf der Oberlippe stand schwärzlicher Flaum. Aber der Blick wirkte jugendlich lebhaft, und es schien, als entginge ihm nichts.

Die Alte war hinter ihrem Leittisch hervorgekommen und hatte Sylvester einen Platz unter einer großen Zimmerpalme in der Sesselecke angeboten, wodurch sie ihm sofort, entgegen aller Voreingenommenheit, sympathisch wurde. Leiter, die stur hinter ihrem Leittisch sitzen bleiben, konnte Sylvester nicht ausstehen.

Ohne Einleitung sagte Ramona-Ros Müller, nachdem sie Platz genommen hatten: „Mit Erg habe ich gesprochen. Er ist meiner Meinung.“

Kunststück, dachte Sylvester.

„Wir bitten dich, nach Abschluss eurer jetzt laufenden Serie die Faunella-Liveversuche mit vorzubereiten.“

Sylvester blieb unklar, warum ein so sachlich trockener Satz mit einer eigenartigen Begeisterung hervorgebracht wurde.

Ramona-Ros sprach nicht weiter, sondern blickte erwartungsvoll auf Sylvester, als wünschte sie, dass er sofort etwas Bedeutungsvolles, vor allem aber vorbehaltlos Zustimmendes von sich gäbe.

Sylvesters Überraschung war perfekt. Er sagte zunächst gar nichts.

Die Faunella! Meine Güte, welche Spekulationen und Gerüchte gab es um diese Alge. Nur drei Mitarbeiter unter persönlicher Anleitung der Alten befassten sich seit einem Jahr wieder damit, bei strenger Informationssperre. Und ausgerechnet er — als junger, unerfahrener Kollege, wie er sich selbst einschätzte — sollte da mitwirken! Natürlich würde er das Angebot annehmen. Aber wie waren die ausgerechnet auf ihn gekommen?

Als er schwieg, sagte Ramona-Ros Müller: „Wir meinen, dass du das notwendige Organisationstalent hast. Wir brauchen — ja, so weit ist es“, fügte sie erklärend hinzu, vielleicht auf sein verdutztes Gesicht hin, „zunächst eine große Zahl von Versuchstieren. Die gilt es als erstes zu besorgen. Denk nicht, dass das einfach ist. Du bist da unbefangen — auch ein Grund, weshalb unsere Wahl auf dich fiel. Also — du bist doch einverstanden?“

Sylvester Reim beeilte sich zuzustimmen, ohne sich im Geringsten der Tragweite dieser Aufgabe bewusst zu sein. Tiere besorgen. Konnten sie nicht einfach welche anfordern?

„Die Marowa wird dich näher einweisen. Sie wird auch deine unmittelbare Partnerin sein, der Gruppenleiter.

Na, auf gutes Gelingen und — gute Zusammenarbeit!“ Die Alte lächelte und hob eins der beiden Gläser, die sie während des Gesprächs gefüllt hatte.

Sogar ein alkoholisches Getränk, wie er erstaunt feststellte. Trinkalkohol im Institut, Sylvester erinnerte sich nicht, das jemals in den drei Jahren seiner Tätigkeit erlebt zu haben.

„Und sieh zu, dass keine Panne eintritt“, sagte Ramona-Ros zu betont obenhin.

Sylvester wurde hellhörig. Sollte an den Geschichten doch etwas sein? Nur noch wenige Leute gab es im Institut, die vor einem knappen Jahrzehnt auch schon hier gearbeitet hatten. Wer schon hält es in diesem öden Werchojansk länger als fünf Jahre aus! Keine zentrale Klimaregelung, kein Transitanschluss, dafür drei Viertel des Jahres schlechtes Wetter. Unverfälschter Kältepol, na schön. Was ist heute noch unverfälscht! Also, einen, der damals an der Faunella gearbeitet hatte, gab es hier offenbar nicht mehr.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, fuhr Ramona-Ros fort: „Du hast sicher gehört, dass vor Jahren bereits einmal solche Versuche stattfanden ... Ich war mir mit der Institutsleitung einig, dass wir neu beginnen, mit neuen Leuten. Das ist die Marowa mit ihrem Kollektiv. Sie sollen — zunächst — keine Kenntnis von den alten Unterlagen haben. Jede unbewusste Beeinflussung wird so vermieden. Bei dem vorerst verhältnismäßig geringen Aufwand können wir uns das leisten.“ Sie lächelte wie verlegen, entschuldigend. Und sie fügte — wohl angesichts seines Stirnrunzelns hinzu: „Dir unverständlich?“

In der Tat, ziemlich töricht, dachte Sylvester, albern oder — beinahe mystisch. Auf jeden Fall äußerst unökonomisch. Aber wenn sie das verantworten konnten? Er ahnte, dass mehr dahintersteckte, als aus Ramona-Ros’ Worten offenkundig wurde.

„Mir liegt sehr viel daran, dass es diesmal keinen Fehlschlag gibt“, sagte Ramona-Ros leise.

Fehlschläge? Was sollte dieses Gerede? Wenn man sich verrennt in einen Weg, der in eine Sackgasse führt, kehrt man eben um, geht einen anderen. Nur ein Blödian beschreitet wieder den alten. So zu handeln ist unwissenschaftlich.

„Wird schon nicht“, gab Sylvester lakonisch zurück. Es wurde ihm peinlich, dass er nichts Konstruktives zu sagen wusste. Es kam ihm dabei nicht so vor, als rechtfertige er das Vertrauen, das man ihm mit der Berufung entgegenbrachte. Er hatte den Eindruck, dass er eine ziemlich traurige Figur abgab.

Ramona-Ros hob abermals das Glas, sah auf ihn mit einem wohlwollend-mütterlichen Blick und lächelte.

Wie alt sie ist, dachte Sylvester. Und in welch krassem Gegensatz stand ihre Erscheinung zu ihrem Vornamen, der stets in den Spötteleien um die Alte eine Rolle spielte und den Sylvester nicht nur lächerlich fand, weil er antiquiert war.

Er bemühte sich, unter den vielen Fältchen des Gesichts ein Antlitz, ein Mädchenantlitz hervorzuzaubern, auf das der Name Ramona-Ros passte. Einen Augenblick gelang ihm die Vision: Das Knochige verschwand, machte erhitzt geröteten Wangen Platz, die Haare hingen wirr gelockt herab und rahmten das Gesicht. Und die Augen passten da hinein, dieselben strahlenden Augen. Ja, das war eher eine Ramona-Ros. Aber wie lange mochte das her sein ...

Sylvester gab sich einen Ruck. Ob sie Kinder hat? dachte er noch, dann hob er ebenfalls sein Glas.

Ein Straucheln über eine Unebenheit unterm Schnee brachte Sylvester Reim in die Wirklichkeit zurück. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre längelang hingestürzt. Er fluchte, blieb stehen und versuchte sich zu orientieren. Im Klaren war er sich nicht, ob er das Feld schon erreicht hatte. Er bog von dem, was er für den Weg hielt, scharf nach rechts ab, stapfte noch ein paar Meter und begann unschlüssig mit den Stiefeln zu scharren. Wenig später blieb er mit dem linken Fuß hängen, bückte sich, wühlte im Schnee, zog dann einen Handschuh aus, weil er durch den Kunstpelz nichts fühlte, und zerrte mit klammer Hand eine Ranke ans Tageslicht, deren dunkelgrüne efeuartige Blätter wie mit Wachs überzogen aussahen. Zwischen den Blättern saßen reichlich Knospen, die offenbar bald aufgehen und eine stattliche Blüte hervorbringen würden.

Sylvester Reim rief überrascht: „Alle Wetter!“, und vergaß die klamme Hand und die Eisnadeln, die ihm hinter den Kragen drangen. Die Züchtung dieser resistenten frostharten Bodenpflanzen machte bestimmt nicht geringere Freude als die Beschäftigung mit der Faunella.

Er zog mit den Absätzen Furchen, fühlte nach und stellte so das Ausmaß der Wucherungen fest. Mehrmals stieß er die Luft durch die Zähne, weil die Erwartungen des Kollektivs weit übertroffen wurden. Sylvester kam zu dem Schluss, dass der Weg entlang den Kirschbäumen längst von einem Pflanzenteppich belegt sein musste.

Allmählich begann er in seiner warmen Kleidung zu schwitzen. Der Schal hatte sich gelöst, er zog das eine eisverkrustete Ende hinter sich her durch den Schnee. Sylvester Reim fühlte sich zufrieden, und er pfiff mit Lippen, die frostklamm den Dienst zu verweigern drohten, vergnügt vor sich hin.

2. Kapitel

Alexej Armandowitsch Bolscha lag lang ausgestreckt im Schaumsessel und starrte an die Decke. Er verfluchte im Stillen — wie bereits Hunderte Male vorher — den Innenarchitekten, der den Wohntrakt der Station entworfen hatte, schalt ihn einen penetranten Sadisten, weil er das Muster an der Decke in jener blödsinnigen viereckigen Spirale angeordnet hatte, die bei längerem Hinsehen zu flirren und zu tanzen anfing und deren Nachbild selbst bei geschlossenen Augen einen noch ganz wirr machen konnte. Dabei sollte sie beruhigend wirken, der Umgebung aber den Anschein von etwas Dynamischem geben. Vielleicht für jemanden, der sich zwei, drei Stunden hier aufhält, dachte Alexej voller Grimm. Zwei Jahre lang aber ... So muss das rote Tuch auf den Stier wirken.

Man müsste ... Wie oft schon hatte er sich vorgenommen, diese vermaledeite Decke mit Farbe zu überspritzen. Ebenso oft war dieser Entschluss im Keim stecken geblieben. Und er wusste, dass es auch diesmal nicht anders sein würde.

Er hob den linken Arm mit der Uhr. Fünfzehn Minuten über die Zeit. Pfeif drauf! Was schadete es schon, wenn die Kontrolle — und die nächste und übernächste ausfielen. Nichts und niemandem schadete es. Man hätte die Stationen schon lange voll automatisieren können. Was wäre schon, wenn eine vorübergehend versagte! Die Pflanzen würden einige Tage im Wachstum stagnieren, ein wenig kümmern. Na schön! In der Zentrale würde man das beizeiten merken, und innerhalb einer Woche könnte der Schaden behoben sein. Aber wem geht es schon um die Station und die Leute darin! Vor fünfzig Jahren von einem neunmalklugen Raummediziner ausgebrütet als Training — für die sogenannte dritte Qualifikationsstufe. — Dass ich nicht lache! Und dann haben sie diesen Unsinn durch alle Ausbildungsreformen schlüpfen lassen.

Alexej hievte sich vom Sessel, indem er erst das linke, danach das rechte Bein auf den Boden stellte und gleichsam in einer Spirale den Oberkörper hochdrehte. Er schüttelte sich, wobei ihm die langen, gewellten dunkelblonden Haare ins Gesicht fielen, dann blieb er noch eine Weile sitzen und rappelte sich träge auf.

Er überlegte einen Augenblick, wie weit er zu gehen hatte, ob er das kleine oder große Kostüm anlegen sollte, entschloss sich für das kleine.

Lustlos schloss er die Tür.

„Wird auch immer gelber, das Biest“, murmelte er nach einem Blick auf die freundliche kleine Sonne, die zu drei Vierteln über den Horizont lugte.

Alexej legte die Rechte über die Augen und sah gegen das Licht zum Roten Felsen. Mac lässt sich Zeit, dachte er. Na ja, warum sollte er den Mars nicht auch satthaben. Ist doch nur Angabe, seine zur Schau gestellte Ausgewogenheit. Aber mir braucht er doch eigentlich nichts vorzumachen. Ist sowieso kaum denkbar, dass sich hier jemand wohlfühlen kann.

Langsam ging Alexej in die Ebene hinaus, auf die Erhebungen zu. Achtlos trat er auf die Ranken der üppig über den Weg wuchernden Pflanzen, die sich in endlosem blaugrünem und kniehohem Gestrüpp bis zum Horizont zogen. Mehr im Unterbewusstsein fiel ihm auf, dass vor wenigen Tagen noch die flachen Hangars des ehemaligen, zehn Kilometer entfernten Start- und Landeplatzes über den Horizont ragten. Jetzt verschmolz der rötliche Himmel dort wie überall ringsum mit dem grünblauen Meer.

Und dann hatte Alexej die Idee, dass es der schwere Duft dieses blühenden Ozeans sein mochte, der ihn besonders missmutig stimmte, ihm auf die Nerven fiel. Ein Odeur, dem die dichtesten Schleusen nicht gewachsen waren, das scheinbar durch alle Poren drang.

Auf die Menschen kommt es diesen Pflanzentechnikern ja nicht an. Hauptsache, ihre Schützlinge gedeihen und poussieren duftend mit den Insekten. Ob mir das auf die Nerven geht, interessiert niemanden. Der Mensch ist anpassungsfähig, hat anpassungsfähig zu sein. Will oder kann er nicht, wird er trainiert wie Mac und ich. Braucht eine Maschine eine Klimaanlage, bekommt sie die, braucht das Grünzeug Hummeln und dazu Duft — kein Problem. Brauche ich ...

Ja, die Erde brauche ich. Aljoscha, das ist Heimweh, Sehnsucht nach der Erde! Menschenskind, dass dich das mal so packen würde ...

Am Baikal beginnt jetzt der Frühling. Dort muss es nun riechen — nach feuchter Erde, den Knospen der Zedern, nach eben aus dem Eis gebrochenem Wasser.

Alexej blieb stehen. Ihm war, als riefe der erste Kuckuck, zirpten Stelzen, rauschte der Wald, als plätscherte Wasser.

Dann versetzte er einer vier Zentimeter langen und entsprechend dicken Hummel einen gedämpften Fußtritt, dass sie ärgerlich aufbrummte und im hohen Bogen davonschwirrte.

„Scheißplanet“, stieß er hervor. „Na, endlich!“, setzte er hinzu, als er in seiner Richtung über dem Roten Felsen silhouettenhaft die Umrisse eines Menschen auftauchen sah.

Er hätte nicht zu begründen vermocht, warum er „endlich“ gesagt hatte. Wenn man jemanden wieder trifft, mit dem man seit über einem Jahr in dieser gottverlassenen Station zusammen ist, der noch dazu vor nunmehr nur drei Stunden zum ersten Rundgang an diesem Tag aufgebrochen war, gibt es kaum einen Grund zur Euphorie. Alexej verspürte weder Sehnsucht nach Mac, noch knüpfte er an dessen Auftauchen irgendwelche Erwartungen. Sie kannten sich beinahe bis zum Überdruss, hatten einander nichts mehr zu entdecken. Ja, Alexej kannte selbst die intimsten Wünsche Macs aus schwärmerischen Wachträumen in den vielen Abendstunden zwischen dem Ausschalten des Videofons und dem Einschlafen.

Ohne Mühe gelang es Alexej, sich Macs Zuhause vorzustellen, ja, er hätte sich wohl auch in den Zimmern des alten Hauses zurechtgefunden, aus dem Mac stammte, und er hatte auch einen nachhaltigen Eindruck von dem Mädchen Kim, das Mac heiß und innig, für Alexej beinahe unerträglich intensiv, liebte. Nur eins begriff er an seinem Gefährten nicht, die penetrante Gelassenheit, mit der Mac das tägliche Marseinerlei hinnahm, mit der er immer wieder durch den roten Sand stapfte, die Sprüher umsetzte, Senker vergrub, Exhaustoren mit Chemikalien beschickte, stur wie eine dieser ferngelenkten Raketen, die zum Nachimpfen der sieben Sonnen unbeirrbar ihrem Ziel zustrebten.

Alexej lächelte. Ist eben ein Kerl, der Mac. Was er sich vorgenommen hat, führt er stoisch aus. Wenn er meint, er braucht den dritten Qualifikationsgrad, dann erwirbt er ihn eben, ohne zu murren und unter den blödsinnigsten Bedingungen, selbst wenn er sich vor Sehnsucht nach seiner Kim fast verzehrt. So gesehen, eigentlich ein glücklicher Mensch.

Tatsächlich, der Kerl pfeift!

Wirklich klang durch den rötlich gelben Marsmorgen eine gepfiffene Melodie von mäßiger Reinheit.

Als noch etliche Meter zwischen ihnen lagen, rief Mac: „Leichte Schwierigkeiten gehabt heute, Aljoscha?“

Alexej winkte gleichgültig mit der Rechten ab.

„Du, die Berberitzen blühen jetzt auch — orangefarben. Das haben sie sauber hingekriegt.“

„Interessant“, sagte Alexej mit einem Unterton, als hätte ihm jemand mitgeteilt, dass ein gesunder Mensch imstande sei, auf zwei Beinen zu laufen. Dann setzte er, um dem Gefährten gefällig zu sein, hinzu: „Das ist doch jenes stachlige Zeug am Fuße des Roten?“

„Sag das nicht, die haben sich herrlich entwickelt. Ich habe die Sieben hingestellt.“

„Gut, gut. Ich ziehe die Regner drei und vier ein Stück näher heran.“ Alexej konnte sich nicht vorstellen, dass man diesen dornenbesetzten Berberitzen, deren Namen er sich mit Mühe gemerkt hatte, irgendetwas abgewinnen konnte.

„Ist der Kurier schon durch?“, fragte Mac. Er nestelte dabei an seinem linken Stiefel herum; die Frage klang betont gleichgültig.

Alexej grinste unverhohlen. Er wusste nur zu gut, wie sehr Mac auf die Videogramme seiner Kim lauerte, wie er bis zum Eintreffen des aktuellsten die vorhergehenden wieder und wieder abspielte, aber immer in den Stunden, in denen er allein war. Meist schaltete er schnell ab, wenn Alexej sich der Station näherte. Nur manchmal, dann, wenn Mac dachte, es sei etwas Allgemeines, was Kim berichtete, durfte Alexej die Nachricht, die nun bereits eine Woche alt war, miterleben, was er nicht gerade erhebend fand, aber das sagte er dem Gefährten nicht.

Freilich, Kim war hübsch, und sie verstand es, ihrer Kamera für Mac bestimmte zärtliche Blicke zuzuwerfen. Oft sickerten jedoch in die Schilderungen von Begebenheiten Kose- oder Codewörter und Andeutungen — nur für die Partner bestimmt — ein, und das empfand Alexej stets als ein wenig peinlich. Allerdings, so gestand er sich ein, je länger sie auf diesem Posten saßen, desto mehr hatte er sich an die Berichte Kims gewöhnt, desto weniger wollte er auf dieses Aktuell-Irdische verzichten. Es unterschied sich wohltuend von den sachlichen, unpersönlichen Nachrichten, die ihnen offiziell überspielt wurden.

Kim berichtete aus ihrem Erleben, gefärbt durch ihre Emotionen. Sie wirkte intelligent und anpassungsfähig, ihr Selbstbewusstsein war gepaart mit Zurückhaltung — ein Mensch also wie tausend andere, einer, der in die Normen passte, der sie einhielt, eine Frau aber auch, deren Meinung man achtete, die, das spürte man, ihren Platz fest innehatte im Kollektiv des Observatoriums. So hatten Alexej und Mac Gelegenheit, irdische Begebenheiten mit den Augen eines Menschen zu erleben, der sich im Alltag auf der Erde befand, und das gewann zunehmend an Wert.

Immer öfter empfand Alexej, mehr unterschwellig und stets von ihm unterdrückt, dass es durchaus etwas Großartiges sein konnte, so wie Mac mit einem Menschen und damit mit der Erde verbunden zu sein. Er schob dieses unbestimmte Sehnen auf die Langeweile, die Nerven lähmende Tätigkeit, auf das engräumige Zusammenhocken mit dem zwar sehr verträglichen Mac — es hatte niemals ernsthaften Zwist gegeben —, aber eben nicht viel mehr als verträglichen Mac. Sie waren in ihren Ansprüchen, in ihren Plänen so verschieden, dass sich kaum gemeinsame Interessen ergaben, von einer Freundschaft ganz zu schweigen. Was sie zusammengeführt hatte auf dieser — wie sagte man früher? — „gottverlassenen“ Station, war die Notwendigkeit, das verdammte Konditionstraining abzuleisten. Tja, Mac brauchte das wirklich. Als künftiger Leiter eines durchaus vergleichbaren Observatoriums in den Rocky Mountains musste man wohl solche Kondition haben. Alexej lächelte halb anerkennend, halb geringschätzig. Und ich brauche diese Qualifikationsstufe, weil sie als notwendige Voraussetzung für eine Reihe von Tätigkeiten gilt, für einen längeren Aufenthalt in einer Raumstation ebenso wie für die Arbeit als Pilot eines interplanetaren Schiffes oder eines Bathyskaphen.

Alexej schauderte es jedes Mal, versetzte er sich an Macs Stelle, um in einem „lieblichen“ Tal — wie Mac schwärmte — der Rockys zu siedeln, dort womöglich Blumen oder gar Gemüse zu züchten, eine Schar Kinder zu zeugen und tagaus, tagein den gleichen Dienst zu verrichten. Aber Glück hatte er, der gute Mac. Eine Gefährtin zu finden, die so etwas mitmacht, ja, selbst ähnliche Ambitionen zu haben scheint, lebenslang, weitab vom Puls ...

Wieder spürte Alexej jene Sehnsucht, und einen Augenblick wurde ihm bewusst, dass er in den anderthalb Jahren, die sie bereits hier am Roten Felsen verlebten, kein einziges persönliches Videogramm erhalten hatte, dass sich seinetwegen kein Mensch der Mühe unterzog, eine halbe Stunde konzentriert in eine Kamera zu sprechen oder gar, wie Kim das tat, noch andere Neuigkeiten einzuschneiden. Die Bekannten, die Mitschüler — meine Güte! Wer weiß, wie viele sich zu solchen Macs entwickelt haben. Sie haben den eigenwilligen Alexej, der meist mehr oder anders wollte als viele, vergessen, wie solche Menschen oft vergessen werden. Warum eigentlich? Überdeckt das Sichheraushebenwollen Schwächen? Schwächen, die Menschen liebenswert machen, die gravierender sind als Leistung? Kann man so nicht Wärme ausstrahlen, die andere noch nach Jahren spüren?

„Na, Aljoscha, doch schlecht geschlafen? Machst so den Nachdenklichen heute. Und das bei dem schönen Frühlingswetter!“

In Alexej wollte Ärger aufsteigen. Das mit dem Frühlingswetter war ein Scherz Macs, den er stets parat hatte. Es herrschte ständig frühlingshaftes Wetter in diesen Breiten. Auch ein Zustand, der auf die Nerven ging.

Alexej dachte an die tief verschneite Taiga, an knirschenden Schnee und tropfende, schillernde meterlange Eiszapfen vor dem Fenster der Jagdhütte. „Ach was“, sagte er. „Der Kurier war noch nicht da.“ Ihm war eingefallen, dass er Macs Frage noch nicht beantwortet hatte.

„Der richtet sich das auch ein, wie er will“, bemerkte Mac ein wenig enttäuscht.

„Na, da werde ich mal ...“, sagte Alexej lustlos. „Du, brat nicht wieder diese Steaks. Ich hätte Appetit auf etwas Kaltes, einen Kartoffelsalat oder so etwas.“

„Werde sehen, was sich tun lässt.“ Mac lachte. „Dass du mir aber dafür nicht nächste Woche täglich mit deinen Pelmenis kommst! — Ah, das müsste er sein, mach’s gut!“ Mac hatte sich aufgerichtet und zum Horizont hinübergesehen, dorthin, wo gegen die nun hoch am Himmel stehende Kaline die Station nicht auszumachen war. Aber über den unteren Rand der leuchtenden Scheibe zogen rötliche Staubschleier, also näherte sich ein Fahrzeug.

Mac setzte sich in Bewegung. Wenn der Kurier die Station anlief, dann hatte er stets etwas Persönliches, das nicht über den allgemeinen Funk gegeben wurde. Und da Alexej nie derartiges bekam, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass es ein ersehntes Videogramm von Kim war. Freudig, ohne noch einen Blick auf den Gefährten zu werfen, stapfte Mac los.

Über Alexejs Gesicht huschte abermals der Anflug eines Lächelns. Weniger beschwingt als Mac schlug er den Weg zum Roten Felsen ein. Er musterte zerstreut die wuchernden Pflanzen links und rechts, die so dicht standen, dass der rötliche Untergrund nirgends hervorsah.

Als Alexej dem Fuß des Hügels schon sehr nahe war, schwenkte er auf einen schmalen Pfad nach rechts ein. Er näherte sich einem Feld, auf dem das Grün spärlicher stand. Die Pflanzen hatten offenbar Mühe, die Anhöhe zu nehmen.

Alexej betrachtete jetzt die Umgebung aufmerksamer, und er stellte zufrieden fest, dass das Grün in der Woche, in der er diese Gegend nicht besucht hatte, um mehr als einen Meter vorgekrochen war. „Macht schon“, brummte er, „macht aus dem kümmerlichen Felsen einen grünen Hügel!“

In der Tat, dem Gebilde widerfuhr mit der Bezeichnung „Felsen“ allzu viel Ehre. Es war eine Wind erodierte brüchige Erhebung, die wohl zu der Zeit, als auf dem Planeten noch mächtige Sandstürme tobten, ihre Form erhalten hatte. Windkanäle zeigten sich an den Flanken und Wollsackgebilde, die dem Ganzen, aus der Ferne betrachtet, etwas Felsartiges verliehen. Allerdings fiel der Hügel an der Rückseite steil ab, und dieser Abbruch war ein Teil der fast senkrechten Begrenzung eines kanonartigen, vielleicht fünfzig Meter tiefen Einschnittes, der sich, so weit das Auge reichte, von Nord nach Süd zog, wohl zweihundert Meter breit sein mochte und die Ausbreitung der Felder der Station 1017 begrenzte.

Jenseits des Canons setzte sich das hügelige Dünengelände fort, verlor sich dann jedoch in einer kahlen Ebene, die bis zum Horizont reichte. Auf der höchsten Erhebung der anderen Uferseite stand, aufdringlich wie ein Fremdkörper, die Ruine eines Gerüstes, das vor Jahrzehnten den Marsodäten bei Vermessungsarbeiten als Zielzeichen gedient hatte.

Unweit von Alexejs Standpunkt zogen sich zwei schenkeldicke Rohrleitungen den Hang herab, strebten rechtwinklig auseinander und verschwanden links und rechts in den Feldern. Alexej erinnerte sich, wie ungläubig er seinerzeit vor diesen Rohren gestanden hatte. Eine Eigentümlichkeit der Station 1017. Vor Jahrzehnten entdeckte mächtige Eisablagerungen in den Uferhöhlungen des Canons wurden geschmolzen und zur Berieselung auf die Felder gehoben. So musste hier nicht wie in den übrigen zehntausend Stationen Wasser ausschließlich aus Mineralien gewonnen werden.

Alexej erfreute sich an dem Glucksen in den Rohren und dem Regengeplätscher der Berieselungsanlage drei, an der er angelangt war. Sie befand sich mehr als dreißig Meter hinter der Pflanzenfront, sodass der Regen diese kaum noch erreichte. Die Geräusche erinnerten Alexej an die Bäche, die während der Schneeschmelze das Steilufer des Baikals hinabrieselten.

Zunächst ließ Alexej die Maschine drei stehen, er ging weiter zur vier, fuhr diese ungeachtet dessen, dass Ranken und Äste in die Fahrwerke hineingewuchert waren, bis auf den kahlen Hang. Die Schreitplatten hinterließen im Grün des Feldes scharf abgegrenzte Vierecke, in denen die Pflanzen, platt an den Boden gepresst, sich nur langsam erholen würden. Dann kehrte er zur Drei zurück. Routinehaft, mit gesenktem Kopf und ohne hinzusehen, betätigte er mit der Linken das Potenziometer des Motorschalters. Da stutzte er und schaltete die Maschine, die sich brummend aufgerichtet hatte, wieder aus. „Mac muss verrückt geworden sein“, sagte er vor sich hin.

Um den Absprüher herum waren die Pflanzen zertrampelt. Pfützen standen in Vertiefungen, getreten von nackten Füßen, so als hätte sich Mac unter dem Sprüher geduscht.

Alexej schüttelte den Kopf. So tobt er sich also aus, dachte er. Und dann ist er wieder der ruhige, ausgeglichene Mac. Im Freien sich unter der Dusche aalen, in der Sonne trocknen, warum nicht?

Kleine Füße hat er. Und Alexej erinnerte sich, dass sich irgendwer einmal beim Austeilen der Arbeitskleidung über Macs kleine Füße gewundert hatte.

„Na, soll er, wenn er Spaß dran hat!“ Alexej ließ den Motor erneut anbrummen. Aber das ist doch ganz frisch, von heute Morgen, dachte er. Da hätte er doch gleich die Maschine vornehmen können, er wusste doch und sah, dass sie gerückt werden muss!

Später, auf dem Heimweg, beschloss Alexej, Mac wegen des seltsamen Gebarens nicht zur Rede zu stellen. Auch Macs Nerven litten also unter dieser Dauerbelastung. Davon war er jetzt überzeugt. Aber ansonsten wertete Alexej diesen Tatbestand als willkommene Abwechslung im täglichen Trott.

3. Kapitel

Sylvester Reim pflegte alle Dinge nacheinander zu erledigen. Er setzte einen Schlusspunkt unter den Bericht über die Versuche mit dem Schneeknöterich, richtete die Kamera auf den Raster, dem er die Anlagentabelle aufgezeichnet hatte, drückte die Stopptaste des Videografen und lehnte sich zurück.

Eine runde Sache, dachte er. Nichts Weltbewegendes freilich, aber etwas Notwendiges, und das befriedigt! Schon in den nächsten Monaten konnten die ersten Felder angelegt werden, in der Sahara, auf dem Mars oder in einer anderen öden Gegend. Und Sylvester dachte daran, wie stolz er sein würde, wenn später einmal, in einigen Jahren, die erfolgreiche Begrünung dieser oder jener unwirtlichen Landschaft bekannt gegeben würde, stolz darauf, dabei gewesen zu sein, als das, ganz klein und mit viel Mühe, begonnen wurde. Für eine solche Aussicht konnte man dieses Werchojansk mit all seinen Unbequemlichkeiten durchaus ertragen.

Sylvester saugte genüsslich an einer Juiceflasche, rekelte sich in seinem Sessel und fiel entspannt zusammen. Dann richtete er sich auf und sagte halblaut: „So, und nun zu dieser Faunella!“

Aber eilig hatte er es nicht. Seine Überraschung und eine gewisse Freude darüber, ausgewählt zu sein für dieses Vorhaben, hatten sich gelegt. Was blieb, war eine Aufgabe wie jede andere. Und dann hatten sich auch die ernüchternden Aspekte eingestellt: Ich bin Neuling. Mehr als Handlangerdienste werden wohl nicht infrage kommen. Also kein Grund zur Euphorie.

Sylvester hatte sich nicht die Zeit genommen, bereits in den wenigen Tagen, seit er von seiner neuen Aufgabe wusste, gewisse Nachforschungen zu betreiben. Aber er beabsichtigte, mehr von dem zu erfahren, was vor seiner Zeit hier im Zusammenhang mit der Faunella geschehen war. Eins nach dem anderen, nichts lief davon. Erg, mit dem er darüber gesprochen hatte, wusste oder sagte nichts, drängeln wollte Sylvester niemanden. Und sollte es unerwartete Widerstände geben, das Seelenheil hing von diesen alten Geschichten nicht ab.

Ohnehin, Sylvester warf einen Blick auf den Kalender, sind es nur noch vierzehn Tage. Dann kommt erst einmal ein Monat Urlaub. Also werde ich vorher wohl nicht mehr die Welt einreißen.

Einen Augenblick lang schwelgte Sylvester in künftigen Ferienunternehmungen. Die Eltern im Vogtland würde er besuchen, eine Woche, dann zu Alina nach Prag und mit ihr in die Hohe Tatra. Freilich, ein Seeaufenthalt wäre ihm lieber gewesen, aber Alina wollte eben in die Berge, nun, wer wird da streiten. Sylvester malte sich aus, wie gemütlich Baudenabende sein würden oder Lagerfeuer im Freien mit schwarzen Bergen im Hintergrund. Und sogar Bären, richtige, frei lebende, gab es dort noch!

Das haben sie schon gut gemacht, die Alten. Sylvester lächelte. Es gehörten sicher auch Mut und Ausdauer dazu, riesige Gebiete, solche, die landschaftlich etwas boten, für jegliche Industrie zu sperren. Da hat jede Generation ihre Aufgabe. Welche haben wir?

Sylvester lächelte erneut, reckte sich, stand auf. Ihm war jetzt nicht nach schwerwiegenden Überlegungen. Er ordnete einige Videobandkassetten, sah kurz in den verschneiten Park hinab, in dem sich pelzvermummte Gestalten ausgelassen mit Schnee bewarfen, wählte dann eine Nummer am Videofon, und als ein wuschliger stirnrunzelnder Mädchenkopf erschien, fragte er:

„Passt es jetzt?“

Nach einem Augenblick zerstreuten Nachdenkens, währenddessen sie offenbar etwas auf ihrem Tisch musterte, antwortete sie: „Aber ja, mein Lieber, komm rüber!“ Der Schirm erlosch.

Immerhin, dachte Sylvester, auf mich wartet schon deshalb keine unangenehme Tätigkeit, weil ich mit ihr zusammenarbeiten kann. Irgendwie erinnerte ihn die Marowa an Alina, vielleicht deshalb, weil beide Mädchen aus dem Gebiet der Tschechoslowakei stammten und ihm schon deshalb sympathisch waren.

Sylvester bummelte durch die großzügig angelegten Gänge und Atrien des Institutsgebäudes, blickte neugierig hier und da durch Glastüren in Laboratorien und Gewächshäuser, las Türschilder und vergaß sogleich wieder, was er gelesen hatte, nickte freundlich Bekannten zu und stand schließlich vor der Tür der Marowa.

„Diplom-Biologin Marie Marowa, Abt. ASS“ stand da. Abteilung ASS? Sylvester war nicht klar, was Abteilung ASS bedeutete. Er klopfte, sah bereits beim Öffnen der Tür das Aufleuchten des Entreeschildes und stand der Marowa gegenüber. Er kannte sie bisher nur von zwei kurzen Gesprächen über das Videofon, und sein Eindruck nun, da er sie live vor sich hatte, war anders.

Sie hatte sich erhoben und war um den Tisch herum auf ihn zugekommen; viel kleiner und zierlicher als Alina, dabei vollbusig und voller Kraft, wie es schien. Ihr rundliches Gesicht, umrahmt von dem wuschligen Haar, war gerötet wie nach einem Dauerlauf.

„Hallo, Sylvester Reim!“, begrüßte sie ihn. „Bitte!“ Sie wies auf die Sesselecke in dem kleinen, eher wie ein nostalgisches Mädchenzimmer eingerichteten Raum.

Auf dem Arbeitstisch stand ein Esel aus Plüsch, der zähnefletschend lachte, über den Sesseln balgten sich auf einem Aquarell zwei halbwüchsige Bären, und innen an der Tür hing ein Plakat, auf schwarzem Grund ein verklärtes Männerporträt, das für „Lohengrin“ warb.

„Also“, sie ging ohne Vorrede mitten in die Sache hinein, „du kümmerst dich zunächst um die Beschaffung der Versuchstiere. Wir brauchen viele, letztlich einige Hundert — und — echte!“

Im Augenblick wurde Sylvester nicht klar, was wohl unter „echten“ zu verstehen sei. Er hielt es für klüger, seine Unwissenheit für sich zu behalten, und fragte stattdessen: „Ist das schwierig? Und — welche Sorte?“

„Schweine, einfach Schweine — wie sie noch vor Jahrzehnten zu Schnitzeln verarbeitet wurden —, schöne Schweinerei!“ Sie lachte ein wenig meckernd und ein wenig — nach Sylvesters Empfinden — unmotiviert. So lustig fand er das nicht. Aber sehr regelmäßige Zähne hat sie, stellte er fest. Überhaupt ließ sich bei solchen Kollegen die Faunella ganz gut ertragen, auch wenn es sich für ihn zunächst nur um Schweine handeln sollte. Ein gutes Kollektiv war die halbe Arbeit.

„Du wirst schon sehen — es sind einfach keine zu haben. Wenn wir wenigstens ein paar Zuchttiere auftrieben, dann machten wir uns die Ferkel selbst.“ Sie lachte abermals, diesmal schmunzelte Sylvester mit. „Natürlich könnten wir uns Homunken, Doubles, züchten. Aber die Alge wird im Regelfall unter natürlichen Bedingungen eingesetzt werden. Und, du verstehst, da gibt es Probleme mit den Abwehrstoffen, der Anpassung und Verträglichkeit. Also — kurzum, wir brauchten möglichst viele echte Schweine!“

„Und wo, meint ihr, müsste ich da ansetzen? Ich hatte in meinen fünfundzwanzig Jahren noch keinen Tag mit Tieren zu schaffen.“

Marie zuckte die Schultern. „Ich denke, du bist so ein Organisationswunder? Erg hat dich wärmstens empfohlen.“ Sie lächelte ein wenig hämisch und blinzelte ihm lustig zu. „Na, pass auf!“

Sie ging zum Schrank, entnahm ihm ein zusammengefaltetes Etwas und begann dieses, nachdem sie mit ihrem Stuhl näher an Sylvester herangerückt war, auf dem Tisch auszubreiten.

Wahrhaftig, eine Karte, eine papierne Landkarte, präziser, eine Wanderkarte! Sylvester sah sich um. Da dämmerte der große Bildschirm mit der zugehörigen Projektionseinrichtung. Auch eine Eingabeeinheit stand da und ein Datenschrank. Und sie benutzte eine papierne Karte. Ob sie vielleicht gar danach wanderte?

Marie hatte offenbar seine Gedanken erraten. Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie glättend über das Papier strich.

Auf dieser Karte war Werchojansk liederlich rot umrandet. Das außerhalb der Stadt liegende Institut hatte einen grünen Kreis. Mehrere krakelige Linien schoben sich von dort aus in unterschiedlichen Farben in alle Richtungen.

Marie ergriff einen Stift und verdarb damit die Karte noch mehr, indem sie um einige Siedlungssymbole eierige Kringel zog, dazu die Ortsnamen nannte mit dem Hinweis, dass er dort sein Glück versuchen solle.

Unvermittelt brach sie die Unterredung ab. Sie stand auf, faltete die Karte falsch zusammen, sodass diese mächtig bauschte, drückte sie Sylvester in die Hand und sagte: „Vierzehn Tage, hm? Der Rover — warte —“, sie blickte zur Notiztafel auf ihrem Tisch, “elf steht dir zur Verfügung. Und dass du dich nicht ohne ein Dutzend solcher Viecher blicken lässt! Damit könnten wir nämlich etwas anfangen. Viel Glück, Syl!“ Das letzte sagte sie in verändertem Tonfall mit Wärme in der Stimme, sodass die in Sylvester aufkeimende Auflehnung gegen ihr Administrieren im Nu verflog.

Aber Sylvester wollte noch eine Frage loswerden. Er stand bereits in der Tür, als er fragte: „Die Versuche waren doch schon einmal weiter, vor Jahren, sagt man. Die werden doch auch — Schweine gebraucht haben und gewusst haben, wie man sie beschafft …“

Marie musterte ihn mit einem eigentümlichen Blick. „So“, meinte sie dann, „sagt man?“ Sie verzog die Mundwinkel und nickte. „Wenn du dich nicht unbeliebt machen willst — bei Ramro — und ich dir einen Rat geben darf, dann lass die Geschichten. Die Alte ist da allergisch, hm?“

Dieses „hm“, von einem fast mütterlichen Blick begleitet, gab wieder Wärme und Verbindlichkeit, sodass sich Sylvester einen Augenblick geneigt fühlte, den Rat eventuell zu befolgen. Dann zuckte er mit den Schultern und schloss die Tür von außen. Was kümmert mich Ramro, dachte er. Und er lächelte über die Verstümmelung des — zugegeben — sehr merkwürdigen Vornamens der Alten, die er von der Marowa zum ersten Mal gehört hatte.

4. Kapitel

Mac O’Man holte tief Luft. Mechanisch glitt seine Hand an das Ventil der Druckflasche, und er genoss die Kühle des sich entspannenden Sauerstoffs im Gesicht. Er dachte daran, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Atmosphäre ohne die Dusche einen tiefen, sättigenden Atemzug gestatten würde.

Dann hatte er den Hang erklommen und stand auf der Kuppe des felsigen Hügels. Zehn Meter vor ihm klaffte der Canon.

Gemächlich setzte er sich, lehnte sich zurück — ungeachtet der roten Bodenkrümel, die sich an seinen Anzug hängten — und stützte sich auf die Ellbogen. Er wartete geduldig, bis der Puls sich beruhigt und der Atem die normale Frequenz hatte, dann schob er die Halbmaske in die Stirn. Wenn er sich konzentrierte, vermeinte er einen Hauch des Windes zu verspüren, den die entfernt in Bunkern installierten Exhaustoren ununterbrochen erzeugten.

Mac befand sich gern an dieser Stelle. Er lag so, dass er mit dem Blick dem gesamten Sonnenbogen folgen konnte. Stundenlang konnte er so zubringen, mitunter zwei, drei Sonnen lang. Er genoss die Sonnenaufgänge und -untergänge wie, ja, wie in den Rockys. Wieder hatte er seinen Kontrollgang so eingerichtet, dass er das gleichzeitige Auf- und Untertauchen der zweiten und dritten Sonne erleben würde.

Noch stand Kaline, die zweite, eine Handbreit über dem Horizont. Mac blinzelte, als er hineinsah, aber die Blendung war nicht erheblich. Er blickte zur Uhr. In vier Tagen würde der künstlichen Sonne die Spritze verabreicht werden, ein Ereignis, das die Gemüter der Marsmenschen berührte wie auf der Erde eine Sonnenfinsternis. Jeder beobachtete das Aufflammen der Kernexplosion und die tagelang brodelnden Protuberanzen. Zwei Jahre lang würde die Sonne dann wieder heller strahlen, aber kaliumgelb würde sie bleiben und damit ihrem Namen weiter alle Ehre machen.

Kaline tauchte in der Gegend der Station, die von Macs Standort aus nicht zu sehen war, in den Horizont. In ihren unteren Rand schoben sich wie ein Schattenriss dunkle Zacken. Dort, in Richtung auf die Station, wo das üppige Buschwerk wucherte, flirrte die Luft nicht. Die Konturen der Sträucher wirkten merkwürdig klar wie die von Pflanzen in einem gut gepflegten Aquarium.

Mac O’Man drehte den Kopf nicht. Er wusste, das jetzt Viola jeden Augenblick über die Roten Felsen jenseits des Canons lugen würde. Erbaulicher als der Anblick der Sonne selbst war für Mac jedoch der Farbwechsel vom Kaliumgelb zum Dunkelveil. Wenn Viola dann vier Stunden allein strahlte — bevor Pomeranze auftauchte —, empfand Mac ihr Licht gruselig kühl. Es herrschte Dämmerung, obwohl Viola das am meisten wachstumsfördernde Licht verbreitete.

Nun wendete Mac O’Man den Kopf ganz nach rechts. In dieser Richtung setzte sich der Hügel wie eine lang gezogene Düne fort, von zahlreichen Winderosionsrinnen zerfurcht. In zwanzig Meter Entfernung stand eine Felsnase. Ihr Schatten, der jetzt, da Kaline am Horizont stand, fast Macs Füße erreichte, wirkte wie ein schwarzer Balken. Bald würde der Kampf der beiden Sonnen um jenen Schatten einsetzen. Viola würde ihn bläulich blass machen und — unsichtbar zunächst, weil gelblich überstrahlt — im stumpfen Winkel dazu ihren eigenen Schatten werfen. Es war dann, als flösse die Schwärze unmerklich von dem einen in den anderen. Und wenn Violas Schatten gesiegt hatte, dann breitete sich im Bereich der Station jenes Fluidum über die Felsen und Felder, das frösteln machen konnte, das, so glaubte Mac, früher die Märchenerzähler heraufbeschworen, als Spielwelt für ihre Geister und Kobolde. Dabei war es keineswegs finster. Man wollte nicht glauben, dass bei diesem Licht in einer polychromatischen Fotozelle ebenso viel Strom floss wie beim Schein Kalines. Viola tauchte den Mars ins Unwirkliche. Das Land wurde unheimlich, anders als im Dämmern auf der Erde, vielleicht weil der Dunst fehlte, der dort aus den Tälern stieg, oder weil die zum kalten Licht gehörige Kühle ausblieb oder die Stille ein unbändiges Sehnen nach Vogelgezwitscher, dem Zirpen von Grillen und Grashüpfern heraufbeschwor.

Wie stets befielen Mac Träume, die gleichen Träume wie Hunderte Male zuvor. Er sah sich mit Kim Hand in Hand über Berghänge wandern, mit den Kindern auf den Wiesen tollen, er als Pferd und alle drei seine Reiter — ja, drei sollten es sein, und Kim wollte sie selbst zur Welt bringen. Oder er spürte förmlich, wie sie ihn umfing, verschlafen und nach Geborgenheit duftend, wenn er vom Nachtdienst — zu Fuß, versteht sich —, vom Dienst in der Station nach Hause kommen würde. Und oft sah und winkte er ihr hinterher, wenn sie zu ihrer Schicht aufbrach.

Und Mac hatte die Entwürfe im Kopf von den Spielgeräten, die er den Kindern vor dem Haus errichten würde, Flugapparate und Oldtimer, eine Eisenbahn und selbstverständlich eine Schaukel. Und aus der schönsten Astgabel würde er eigenhändig mit dem Sohn ein exzellentes Katapult bauen.

Trotz des unübersehbaren Computerangebots würde er nur die Studeomaten anschaffen und die natürlich, die die schwerere Hausarbeit verrichteten. Kim sollte sich schonen. Sie wollten von der Natur noch etwas haben, freilich gelegentlich auch die größeren Siedlungen besuchen, befreundete Familien.

Mac sah vor sich die entsetzten Gesichter seiner Eltern, als er den Vorschlag gemacht hatte, Vater und Mutter sollten später, nach seinem Marsdienst, mit seiner Familie dort wohnen in den Rockys. Nein, wie kann man nur! Das sei Primitivismus. Vielleicht auf ein, zwei Wochen im Jahr zu Besuch. Noch nicht einmal Aussicht bestünde, dass in absehbarer Zeit eine Relaisstation für Live-Illusionen den Empfang dort ermöglichen würde. Im Übrigen könne man sich ja sehen, wann man wollte, sogar täglich bei Bedarf. Video lief zum Glück über Satellit. Und so borniert würde Mac doch wohl nicht sein, dass er vielleicht gar auf ein Videofon verzichtete. — Mac lächelte. Natürlich nicht.

Dann suggerierte er sich den kleinen See, ja, es gelang ihm sogar, das Rascheln des Schilfes zu hören, den feuchtmodrigen Uferduft zu riechen. Und da ging Kim, ihr knabenhafter Körper von der untergehenden Sonne angestrahlt. Zaghaft, die Beine hoch anhebend, durchquerte sie das Ufergestrüpp und stieg schaudernd ins Wasser, die Arme ausgebreitet wie eine Seiltänzerin.

Viola hatte gesiegt. Der Schatten war, von Mac nicht bemerkt, von seinen Füßen hinweggeglitten. Das sonst freundliche Grün der Felder lag eingehüllt in einen kalten Hauch. Die Wüste rechts verlor sich bis weithin zum Horizont in veilfarbenen Schleiern.

Mac wusste hinter sich den blendend bläulichen Ball, der jetzt bereits in voller Größe über dem anderen Ufer des Canons stand. Er richtete sich halb auf. Der Schatten seines Körpers sprang zwischen Felsbrocken etliche Meter den Hang hinab und lag dann da wie ein düsterer Hohlweg.

Rechts unten in der Ebene, dort, wo sich die Anhöhe aus den Feldern hob, schritt graziös balancierend Kim. Sie hatte jetzt langes, blaugoldenes Haar, erschien größer im Gestrüpp der niedrigen Pflanzen und war fraulich rundlicher geworden. Mac sah deutlich, wie ihre Brust im Takt der hohen Schritte wippte. Er schloss die Augen, genoss das Bild. „Kim“, murmelte er, „es hat am längsten gedauert!“

Mac strich mit der Hand über die Augen, spürte auf einmal den Schmerz in den Ellbogen, auf die er sich die ganze Zeit gestützt hatte, und mit einem Ruck setzte er sich auf. Es wird Zeit, dachte er. Alexej wird sich Gedanken machen.

Doch Mac wusste, dass sich Alexej keine Gedanken machen würde, selbst dann noch nicht, wenn er die ganze Nacht wegbliebe. Aber Mac gefiel die Vorstellung, dass ihn jemand zu einer bestimmten Zeit erwarten könnte, und bisher hatte er sich daran gehalten, auch ohne Anlass pünktlich zu sein, das Abendessen gemeinsam einzunehmen, die offiziellen Videogramme zu überfliegen, sie zu diskutieren, vielleicht eine Partie Schach zu spielen. Man konnte sich daran gewöhnen.

Mac griff nach der Halbmaske, um sie über das Gesicht zu stülpen. Dabei ging sein Blick wieder nach unten in die Ebene. Dort schritt noch immer Kim, der hervorbauchenden Düne schon beträchtlich näher als vorher.

Aber doch nicht Kim! „Das ist nicht Kim!“, murmelte Mac. Er fühlte sich plötzlich in eine ungeheure Gefühlswoge gerissen. Ihm wurde auf einmal sein unnatürlich intensives Wachträumen bewusst, die suggerierten Bilder, die ganz und gar unwirkliche Atmosphäre, der eintönige, auf die Nerven gehende Dienst, dazu das nicht abreißende Sehnen nach der Erde, nach Kim ...

„Ich werde wahnsinnig!“ Mac biss die Zähne zusammen, fuhr sich erneut über die Stirn, drückte die Finger in die Augenhöhlen, bis er den dumpfen Schmerz nicht mehr ertragen konnte. Dann stand er auf, wollte sich zwingen, den Hang hinunterzusteigen. Und dann nur noch einen kleinen Blick zum Dünenfuß ...

Wie angewurzelt blieb Mac stehen und starrte. Dort schritt — nun durch das Reiben in den Augen mit unscharfen Konturen — noch immer jene Frau. Sie hob sich hellblaugrün im Licht Violas vom dunklen Grund ab. Ihr Haar schimmerte wie blau eloxiertes Aluminium.

Mac schauderte. Sie war stehen geblieben, und es schien ihm, als blicke sie zu ihm herauf. Durch Zusammenkneifen der Augen bemühte er sich, den Blick wieder klar zu bekommen. Wie in Trance fingerte er nach dem Fernglas.

Ihr Körper, ihr Gesicht waren ihm zugewandt. Und obwohl zwischen ihm und ihr ein Abstand von zwei- bis dreihundert Metern sein mochte, bemerkte Mac ihre völlige Nacktheit.

Seine Bewegungen wurden fahrig. Er konnte den Verschluss des Fernglasetuis nicht sogleich öffnen, heftig riss er daran, zog am Umhängeriemen und hatte schließlich das Instrument frei. Als er wieder aufblickte, hatte sich die Erscheinung in Bewegung gesetzt. In einem leichten Dauerlauf verschwand sie hinter der Ausbuchtung der Düne.

Mac stand unschlüssig, das Glas umkrampft. Schweiß brach ihm aus, die Kopfhaut unter der Passung der Halbmaske begann zu kribbeln. Mechanisch drückte er die Sauerstofftaste. Aber die erfrischende Wirkung hielt nur Sekunden an.

Mac rang nach Sammlung. Wenn ich jetzt schlappmache, dachte er, ist es aus mit der Station, mit den Rockys. Noch ein halbes Jahr! Ihn überfiel Verzweiflung. Er sah seine Traumbilder zusammenstürzen, sah sich selbst hinter einem Tisch in irgendeinem Institut sitzen oder Reihen von Automaten abschreiten.

Bisher hatte er nie daran gedacht, dass er das Trainingsziel nicht erreichen könnte. Und nun das: Halluzinationen am helllichten Tag, plötzlich, aus heiterem Himmel.

Mac setzte sich, legte sein Gesicht in die Hände. Er zwang sich zu klarem Denken.

Ab und an sah er auf, musterte scharf seine Umgebung. Nichts bewegte sich im Licht Violas. Selbst die großen Insekten, von denen sonst manchmal eins vorbeibrummte, schienen sich in den Sträuchern verkrochen zu haben. Der Rhythmus hatte sich eingespielt. Viola bedeutete Ruhe, Marsdämmerung.

Mac nahm das Glas an die Augen und suchte wieder und wieder den Dünenbogen ab.

Nichts.

Dann kam langsam Ruhe über ihn. Keine Panik, suggerierte er sich. Wem schadet es schon, wenn ich eine nackte Frau über die Felder schweben sehe. Wenn keine weiteren Symptome hinzukommen, überstehe ich auch mit ihr das verbleibende halbe Jahr. Und einen Augenblick empfand er das Bild, das sich fest in ihm eingeprägt hatte, als gar nicht so unangenehm. Quatsch! Es wird nicht wieder erscheinen. Ich werde eben meine Dämmerstunde aufgeben!

Erleichtert stand Mac auf. „Wir werden sehen“, sagte er. Aber anstatt auf den Pfad zurückzukehren, schlug er einen Weg quer durch die Kulturen zum Dünenbogen ein.

Schon unterwegs begann er die wenigen nicht bewachsenen Bodenflächen zwischen den Ranken und Blättern der Pflanzen sorgfältig zu mustern.

Er betrachtete seine Spur und stellte zum ersten Mal ergrimmt fest, dass sich die niedergetretenen Stängel wieder erhoben, als wären sie aus Gummi. Sonst hatte ihn diese wunderbare Resistenz begeistert.

Dann hatte er die Stelle erreicht, an der er die Erscheinung gesehen zu haben meinte. Er ging nur noch zögernd vorwärts, sah nach links und rechts, betrachtete die Pflanzen und suchte sie nach den gleichen mageren Anzeichen ab, die er beim Hindurchlaufen hinterlassen hatte. Als erschwerend empfand er, dass er aus Violas Richtung kam. So erzeugten zwar einige durch sein gewaltsames Hindurchdringen verbogene Blätter und Ranken Reflexe, die eine schwache Spur andeuteten. Aber sie war im Winkel dazu gelaufen und mit bloßen Füßen wahrscheinlich viel vorsichtiger aufgetreten.

Mac blieb bei diesem Gedanken stehen. Also doch eine Halluzination! Wer sollte sich unbekleidet, ohne das Zusatzatemgerät hier aufhalten können? Wer kann barfuß durch solches Gestrüpp laufen?

Diese Erkenntnis traf Mac abermals wie ein Schlag. Also doch die Nerven!

Schon ohne große Aufmerksamkeit ging er noch einige Meter weiter; und dann fühlte er sich doch ein wenig erleichtert. Auf den ersten Blick war ihm, als zöge sich, leicht angedeutet, viel weniger gravierend als die seine, eine Linie quer zu seiner Spur. Je mehr er sich allerdings damit befasste, um so zweifelhafter schien sie ihm, aber wenn er sich aufrichtete, kam es ihm erneut so vor, als sei das eintönige Gleichmaß des grünen Meeres gestört, und gerade dort, wo er meinte, die Erscheinung entlangwandeln gesehen zu haben.

Ihm gingen verschiedene Ursachen durch den Kopf, die ebenfalls zu so einer Linie führen würden, und es wurde ihm klar, dass es mehrere geben konnte. So zum Beispiel einen Absatz in der Bepflanzung, Qualitätsunterschiede des Düngemittels oder einfach Spuren aus dem Rückvorgang der Berieselungsmaschinerie.

Lange stand Mac, untersuchte und deutete, glaubte, hie und da ein Blatt zu bemerken, das sich in einer unnatürlichen Lage befand. Langsam folgte er der vermeintlichen Spur. Dabei war er sich klar, dass er einfach da entlanglief, wo er die Frau gesehen hatte. Er hätte wohl diesen Weg zum Dünenbogen auch eingeschlagen ohne diese angedeuteten Merkmale.

Mac beschleunigte den Schritt immer mehr, bis er schließlich die letzten Meter rannte. Als er den Hang erreicht hatte, blieb er keuchend stehen. Für solche Eskapaden reichte eben das Atemgas der Atmosphäre noch nicht aus. Er verabreichte sich einen Sauerstoffstoß und schaute sich um. Er konnte seinen Standort, von dem aus er die Erscheinung erblickt hatte, nicht mehr ausmachen. Vor ihm zog sich der Dünenbogen nach rechts offenbar weit hin. Mac konnte nur wenige Hundert Meter überschauen, dann versperrte ihm der Hang den Blick.

Die Vegetation hörte hier auf, aber der verkrustete Boden nahm keine Spuren an. Mutlos stieg Mac einige Meter den Hügel hinan, dann sah er sich abermals um. Kahle Hänge, blaugrüne Fläche linker Hand, so weit das Auge reichte, sein langer Schlagschatten, nicht die geringste Bewegung. Weit hinten sprang ein Reflex auf, dort lag das Stationsgebäude. Alexej hatte wohl die Tür geöffnet oder irgendwie anders diesen Widerschein erzeugt.

Dann gab Mac schulterzuckend auf. In einem weiten Bogen, mitten durch die Kulturen, erreichte er den Hauptweg und schlug gedankenversunken die Richtung zur Station ein.

5. Kapitel

Sylvester Reim beschlich Mutlosigkeit. Er stemmte sich dagegen, sagte sich, dass zwei vergebliche Versuche noch nichts zu bedeuten brauchten, dass ja noch weitere zwei Möglichkeiten offenstanden, aber immerhin, so deutliche, hoffnungslose Absagen waren nicht dazu angetan, Optimismus zu schüren.

Er saß in der offenen Tür des Rovers und starrte auf die Karte der Marowa. Zwei ihrer Kringel hatte er soeben mit einem schwarzen Kreuz durchgestrichen. Die Kringel hatten Tierzuchtbetriebe gekennzeichnet, bei denen er versucht hatte, Schweine zu bekommen. Blöde Kuh, dachte er freundlich, als er sich an die massige Leiterin der ersten Station erinnerte, die ihn rundheraus auslachte, als er seinen Wunsch vorgebracht hatte.

„Natürliche Schweine will der, hast du gehört?“, hatte sie ihrem Kollegen zugerufen, der Sylvester allein deshalb sofort unsympathisch wurde, weil er wiehernd in das Lachen seiner Chefin einstimmte. „Wir sind froh, dass wir endlich im Großen doubeln können, und da kommst du mit solchen Wünschen. Wozu braucht man denn so etwas?“

Sylvester hatte es als überflüssig empfunden, dieser feixenden Walküre sein Begehren zu begründen, zumal sie nicht so aussah, als wäre sie bereit, ernsthaft zuzuhören.

Die zweite Farm befand sich am Rande eines malerischen Dorfes, das aus Holzhäusern bestand, dreihundert Kilometer von der ersten Station entfernt, mitten in der Taiga. Auf der schmalen Asphaltstraße, in die die Zeit beträchtliche Löcher genagt hatte, begegnete er keiner Menschenseele. Er benötigte für die Strecke, obwohl er schnell fuhr, mehr als drei Stunden. Unterwegs fluchte er des Öfteren über die Geizhälse im Institut, die ihm diesen lahmen Geländewagen anstelle einer Flugmaschine gegeben hatten. Sein Grimm, der vor allem dann aufflammte, wenn er in Kurven langsam fahren musste, wurde jedoch durch den Reiz der Landschaft gemildert. Sylvester überraschten die Unberührtheit der Natur, ihr Reichtum und die scheinbare Unendlichkeit der Taiga. Vom Flugzeug aus hatte er das schon zur Genüge betrachtet, aber aus der Luft, aus zehntausend Meter Höhe, schien der Abstand der Siedlungen voneinander nicht so gewaltig zu sein. Aber jetzt? Stundenlanges Fahren zwischen Birken und Lärchen, im zarten, frühlingshaften Grün. Die Zedernzweige hatten lange hellgrüne Spitzen, kündend von der urwüchsigen Kraft der Erde und — von einem guten Jahr. Der Duft der neuen Nadeln drang in die Kabine des Rovers, überlagerte den Dunst der Kunststoffe und den Ozonhauch des Elektromotors. Sylvester genoss das. Er hielt, als zwei sich zankende graue Eichhörnchen über die Straße jagten, bewunderte ihre Sprünge über die Zweige. Er stieg ein-, zweimal aus, stapfte neben der Straße durch die Taiga, überlegte, dass die Natur sehr wohl in der Lage wäre, mit dem Eindringling Asphaltstraße in einigen Jahren fertig zu werden, und er löste sorgfältig dornige Ranken aus seiner Hose.

Dann kam rechter Hand das erste Anzeichen der Siedlung: ein Bunker unweit der Straße, dessen Betonwände, noch nicht vollständig durch Hecken und Büsche verdeckt, das heterogene Ebenmaß des Waldes unterbrachen. Erst als Sylvester den Motor abgestellt hatte, vernahm er das leise Summen oder vielmehr: Er spürte es. Er zweifelte nicht, dass er eine autarke Energieanlage vor sich hatte, wie sie seit Jahrzehnten in schwerzugänglichen Gebieten eingesetzt waren, voll automatisierte, im Wesentlichen unterirdische Fusionsmeiler. Aber gesehen hatte er bisher noch keinen.

Sylvester atmete auf, weil er schon befürchtet hatte, er hätte sich trotz der Karte verfahren. Und irgendwie flößte ihm der Meiler Hoffnung ein. Der Gedanke setzte sich fest: Wo es eine moderne Energieanlage gibt, bekommt man auch Schweine ...

Dann lichtete sich der Wald, die ersten Häuser tauchten auf und auch Menschen — zunächst eine Schar Kinder, die mit Fingern auf Sylvester zeigten und ihn offenbar auslachten. Ein merkwürdiger Empfang, dachte er. Und er überlegte erfolglos, was wohl Komisches an ihm oder seinem Wagen sein könnte. Klar wurde es ihm erst, als er wenig später an einem Landeplatz für Senkrechtstarter vorüberkam, auf dem an die zwanzig Kleinschrauber parkten. Sein Wagen war wohl nicht komisch, belustigend schien, dass jemand mit einem Landfahrzeug die entlegene Siedlung aufsuchte.

Die Menschen in Vorgärten und auf der Straße, an denen Sylvester vorüberfuhr, winkten ihm freundlich zu. Er sah einen großen Schulkomplex, ein Theater, eine Vielzahl von Magazinen, alles in ähnlicher Bauweise, im ganzen niedrig, zur Landschaft passend, nach seinem Empfinden nichts Eintöniges. Und dann traf er auf die Farm, die sich an einen Hügel schmiegte, weit ausgedehnte Gehege und weiße Flachbauten.

„So, Schweine brauchst du?“, brummte der Pförtner bedächtig. Er war alt, uralt, hatte einen fast kahlen Schädel; nur ein Kranz schütterer weißer Haare stand an den Schläfen und hing vom Nacken über den Jackenkragen. Unzählige Augenfältchen und ein verschmitzter Blick mochten von Lebenserfahrung und Humor zeugen. „So, so, Schweine brauchst du, Söhnchen“, wiederholte er.

Es war nicht Sylvesters Absicht gewesen, bereits dem Pförtner sein Anliegen vorzutragen. Er fühlte sich zwiefach überrumpelt. Einmal war er darüber verwundert, dass es irgendwo überhaupt noch einen Pförtner gab. Zum anderen aber imponierte ihm der Mann selbst in seiner von vornherein zu verzeihenden listigen und lustigen Neugier. Sylvester wurde schnell klar, dass er, ohne den Wissensdurst des Alten wenigstens einigermaßen gestillt zu haben, das Tor nicht würde passieren können.

„Und wozu, wenn ich fragen darf?“, fuhr der Greis hartnäckig fort. Er richtete sich in seinem Liegesitz, den er sich in die Sonne gerückt hatte, ein wenig auf und begann in der linken Tasche seiner ziemlich abgetragenen Jacke zu kramen.

Warum, zum Teufel, dachte Sylvester, haben viele alte Leute so einen sturen Hang zum Sparen. Konnte er nicht in das nächste Magazin gehen und sich eine neue Jacke nehmen? Wie Vater! Alle zehn Jahre mal etwas Neues, und dann unter Protest. „Das geht schon noch“ und „auf meine alten Tage“ hörte er ihn sagen. Und in diesem Augenblick hatte sich Sylvester vorgenommen, während seines bevorstehenden Urlaubs einen Tag länger bei seinen Eltern zu verbringen.

Der Alte hatte offenbar gefunden, was er suchte. Er zog einen abgegriffenen Lederbeutel hervor und — Sylvester unterdrückte nur mit Mühe einen erstaunten Ausruf — eine angekohlte Pfeife mit zerbissenem Mundstück. Umständlich und bedächtig, als sei es eine sakrale Handlung, blätterte der Mann den Beutel auf, hielt ihn dabei mit den Knien fest, steckte Pfeife und rechte Hand hinein und begann darin wie ein Erdhörnchen zu wühlen.

Sylvester stieg der herbe Geruch unfermentierten Tabaks in die Nase. Und zwischen den ersten beiden Rauchwolken sagte der Alte undeutlich und stoßweise, so wie er den Qualm ausstieß: „Das ist nicht leicht, Söhnchen, was du dir da vorgenommen hast! Jetzt, wo man doch die richtigen Schweine gar nicht mehr braucht, hm!“

Sylvester erklärte ihm, wozu er die Tiere benötigte. Er bemühte sich um Klarheit und Kürze und darum, dass keine Ungeduld in seinen Worten mitschwang.

„Also“ — ein Zug aus der Pfeife — „schlachten wollt ihr sie demnach nicht!“

Sylvester schöpfte Hoffnung. Wer auf einer Farm so fragt, wer Interesse am Wohlergehen der Tiere hat, der liebt sie. Und wer Tiere liebt, der besitzt welche, wenn er die Gelegenheit dazu hat. Diese Farm hatte die Marowa gekennzeichnet, also gab es hier Schweine ... Nach dieser Logikübung beeilte sich Sylvester zu versichern, dass es den Schweinen nirgends so gut ergehen könne wie im Werchojansker Institut.

„Aha, das ist gut“, sagte der Alte. „Weißt du, ich mag die richtigen auch lieber. Als Junge habe ich noch die Sau zum Eber getrieben. Das war eine Freude!“ Sylvester blieb es unklar, für wen das eine Freude gewesen sein sollte. „Aber dann ging es bergab. Eine Zeit lang kam noch der Rucksackeber, und dann besorgten das nur noch die Weißkittligen vom Labor...“

„Und an wen kann ich mich wenden?“, fragte Sylvester, als der Alte abermals heftig an seiner Pfeife zog.

Der Greis sah ihn von unten herauf merkwürdig an. „Und du sagst, dass ihr sie wirklich gut behandelt?“

„Aber ja, Väterchen!“ Langsam wurde Sylvester ungeduldig. „Ihnen geht es gut!“

„So, es geht ihnen gut!“ Der Alte machte eine Pause. Und dann fragte er plötzlich mit zusammengekniffenen Augen, nicht ohne Schärfe in der Stimme: „Und was habt ihr da mit den vorigen gemacht, he?“

„Wieso?“, fragte Sylvester verdutzt zurück. „Mit welchen vorigen?“

„Na, die die Kleine unlängst geholt hat!“ Der Alte blinzelte zu Sylvester hoch. Reingelegt, du Grünschnabel!