Die Mechanismen der Skandalisierung - Hans Mathias Kepplinger - E-Book

Die Mechanismen der Skandalisierung E-Book

Hans Mathias Kepplinger

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Beschreibung

Was unterscheidet einen Skandal von einem Missstand und warum gibt es die größten Skandale in Ländern mit den geringsten Missständen? Wie werden kleine Missstände zu großen Skandalen und warum gehen ­einige Skandalisierte öffentlich unter, während andere sich erfolgreich ­behaupten? Warum betrachten sich alle Skandalisierten auch dann als Opfer, wenn sie ­zugeben, was man ihnen vorwirft? Woran erkennt man, ob Skandale nützlich oder schädlich sind? Und ganz zentral: Worauf ­beruht in Skandalen die Macht der Medien und wie gehen sie damit um? Antworten liefern repräsentative Analysen von mehreren tausend Skandal­berichten in Presse, Hörfunk und Fernsehen sowie ­systematische Befragungen von weit über eintausend Journalisten, Politikern, Juristen, ­Managern und Vertretern von Interessengruppen. Ihr Ergebnis ist eine empirisch fundierte Skandaltheorie. Sie bildet die Grundlage von ­anschaulichen Fallstudien zur Skandalisierung von prominenten Personen, darunter Bundespräsident Christian Wulff und Bischof Franz-Peter ­Tebartz-van Elst; bedeutenden Unternehmen, darunter VW und Shell; wichtigen ­Technologien, darunter die Kernenergie und Dieselmotoren ­sowie erfolgreichen Produkten, darunter das G36 und Glyphosat.

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Seitenzahl: 343

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Hans Mathias Kepplinger

Die Mechanismen der Skandalisierung

Warum man den Medien gerade dann nicht vertrauen kann, wenn es darauf ankommt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95768-185-0eISBN 978-3-95768-198-0

4. aktualisierte und erheblich erweiterte Auflage

© 2018 Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek

Internet: www.lau-verlag.de

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagentwurf: pl / Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek

Umschlagabbildung: © Istockphoto/DSGpro

Satz und Layout: pl / Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek

Inhalt

Vorwort

1. Momente der Gewissheit

2. Was ist ein Skandal?

3. Der Umgang mit Ungewissheit

4. Die Etablierung von Schemata

5. Die Dramatisierung des Geschehens

6. Koorientierung und Konsens

7. Zweck und Mittel

8. Wirkungspotenziale

9. Die Zeit der Empörung

10. Der Umgang mit Nonkonformisten

11. Täter und Opfer

12. Trotz und Panik

13. Gewinner und Verlierer

14. Skandale und publizistische Konflikte

15. Die Illusion der Wahrheit

16. Der Nutzen des Schadens

Literatur

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Jeder Skandal ist einzigartig. Trotzdem besitzen alle Skandale gemeinsame Merkmale. Es geht um einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand, einen materiellen oder ideellen Schaden, der bereits eingetreten ist oder eintreten kann. Es gibt einen Täter, der den Missstand tatsächlich oder angeblich aus niederen Motiven verursacht oder zumindest nicht verhindert hat und folglich schuldig ist. Dabei kann es sich um eine einzelne Person, einen Verein, eine Partei, ein Unternehmen usw. handeln. Es gibt eine Welle von Medienberichten, die den Eindruck vermitteln, dass es sich bei dem Missstand um ein bedeutendes Problem handelt, und die den Verursacher des Missstands nahezu einhellig anprangern. Die Medienberichte rufen in der Bevölkerung eine mehr oder weniger starke Empörung hervor und vermitteln dem Täter auch dann den Eindruck, er sei Opfer einer Kampagne, wenn er die Vorwürfe nicht bestreitet.

Skandale kann man unter drei Aspekten betrachten. Man kann den Verlauf einzelner Skandale rekonstruieren und dabei die Berechtigung der Vorwürfe untersuchen. Man kann bei einer möglichst großen Zahl von Skandalen die Rollen einzelner Personen oder Organisationen betrachten – der Skandalisierer und Skandalisierten, der Medien und ihres Publikums usw. Und man kann problemorientiert die Mechanismen analysieren, die einen Missstand zu einem Skandal machen, einen Täter zu einem hilflosen Opfer, ein desinteressiertes Publikum zu einer empörten Masse und den Skandal zur Quelle von großen Schäden. Hier geht es um den dritten Aspekt – die Mechanismen der Skandalisierung. Sie werden anhand zahlreicher Skandale der jüngeren Vergangenheit analysiert. Im Zentrum steht nicht der Verlauf einzelner Skandale oder die Frage, wer recht und unrecht hat. Diese Sachverhalte werden nur angesprochen, um allgemeine Eigenschaften von Skandalen zu illustrieren – das Verhalten der Protagonisten und der Journalisten, die charakteristischen Merkmale anprangernder Medienbeiträge; die Eigendynamik der Berichterstattung, ihren Einfluss auf den Verlauf eines Skandals; ihre direkten Auswirkungen auf die Protagonisten des Skandals und das Publikum der Medien sowie ihre indirekten Folgen für die Gesellschaft. Dazu gehören vor allem die unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen der Skandalisierung von tatsächlichen und vermeintlichen Missständen.

Die Mechanismen der Skandalisierung werden in 16 Kapiteln dargestellt. Jedes Kapitel behandelt ein praktisches Problem unter theoretischen Gesichtspunkten. Dies geschieht anhand von bekannten Fällen aus verschiedenen Bereichen – angefangen bei der Skandalisierung von Birkel-Nudeln, Uwe Barschel und der Brent Spar bis zur Skandalisierung von Christian Wulff, Franz-Peter Tebartz-van Elst und Wolfgang Schäuble, der Kernenergie, des Sturmgewehrs G36, der Pegida-Demonstrationen, der Abgasmanipulationen von VW und dem Drogenfund bei Volker Beck. An zahlreichen Stellen werden Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Untersuchungen herangezogen – systematische Befragungen von mehreren hundert Journalisten, Managern und Politikern sowie vergleichende Analysen von mehreren tausend Skandalberichten in Presse, Hörfunk und Fernsehen. Sie zeigen die Sichtweisen von Tätern, Opfern und Berichterstattern, die typischen Unterschiede zwischen neutralen und skandalisierenden Berichten sowie zwischen publizistischen Konflikten und Skandalen.

Die Vorwürfe gegen die Skandalisierten werden vielfach mit Erkenntnissen konfrontiert, die sie zweifelhaft erscheinen lassen oder eindeutig widerlegen. Das geschieht nicht in der Absicht, die Skandalisierer ex post facto ins Unrecht zu setzen. Vielmehr wird anhand dieser Fälle deutlich, dass die Wirkung von Skandalisierungen nicht auf der Richtigkeit der Vorwürfe beruht: Sie wirken auch dann, wenn sie zweifelhaft oder erkennbar falsch sind, aber überzeugend präsentiert werden. Mit anderen Worten: Skandale sind keine natürlichen Reaktionen auf Missstände, sondern die Folge von erkennbaren Mechanismen öffentlicher Kommunikation.

Die Grundlage der Darstellung bildet die Unterscheidung zwischen Missständen und Skandalen. Sie ist notwendig, weil nicht jeder Missstand zum Skandal wird und nicht jeder Skandal tatsächlich auf einem Missstand beruht. Eine weitere Grundlage ist die Unterscheidung zwischen der Skandalisierung eines Missstands und einem Skandal im engeren Sinn. Sie ist notwendig, weil die Anprangerung der meisten Missstände keinen Skandal im engeren Sinn auslöst. Eine dritte Grundlage ist die Unterscheidung zwischen Skandalen und publizistischen Konflikten. Sie ist notwendig, weil nur bei Skandalen eine Sichtweise eindeutig dominiert, während bei publizistischen Konflikten mehrere gegeneinanderstehen.

Was aber ist ein Skandal? Umgangssprachlich bezeichnen wir eine Fahrpreiserhöhung, eine schlampige Reparatur oder die Ablehnung eines Antrags als Skandale. Das ist hier nicht gemeint. Ein Skandal im Sinne dieser Studie liegt nur dann vor, wenn die Mehrheit der interessierten Bevölkerung mit Empörung auf einen Missstand reagiert und Konsequenzen fordert. Dabei ist es unerheblich, ob der Missstand tatsächlich besteht oder nicht. Entscheidend ist die Vorstellung der Mehrheit. Die 16 Kapitel zeigen unter anderem, weshalb im Skandal alle glauben, sie wüssten genau Bescheid, obwohl die meisten keine Ahnung haben; weshalb sich alle maßlos empören und das später kaum noch verstehen; und weshalb sich auch Skandalisierte als Opfer fühlen, die zugeben, was ihnen vorgeworfen wird. Die einzelnen Kapitel sind Elemente einer empirisch fundierten Skandaltheorie, die den Verlauf aktueller Skandale, das Verhalten der Protagonisten und die Reaktionen des Publikums erklärt sowie ein rationales Urteil über den Nutzen und Schaden von Skandalen ermöglicht. Ein aufmerksamer Leser wird deshalb auch in zukünftigen Skandalen gleiche oder ähnliche Elemente und Verläufe erkennen.

Hans Mathias KepplingerMainz, im Herbst 2017

1. Momente der Gewissheit

Im Skandal kommt die Wahrheit ans Tageslicht – 1985 die Verseuchung von Birkel-Nudeln durch verdorbenes Flüssigei; 1987 die üblen Machenschaften des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel gegen den ahnungslosen Björn Engholm; 1988 die reaktionäre Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger über das Dritte Reich; 1991 die Ölpest im Persischen Golf als Folge des Golfkrieges und die Flugreisen von Ministerpräsident Lothar Späth auf Kosten der Industrie; 1993 die kaltblütige Erschießung von Wolfgang Grams auf dem Bahnhof in Bad Kleinen und die Gefährdung der Bevölkerung durch einen Chemieunfall bei der Hoechst AG; 1995 die ökologische Bedrohung der Nordsee durch die geplante Versenkung der Brent Spar; 1999 die geheimen Konten der CDU und der Verfassungsbruch Helmut Kohls durch die nichtdeklarierte Annahme von anonymen Spenden; 2000 die Vernichtung von Daten im Bundeskanzleramt vor dem Regierungswechsel, der Kokainkonsum von Christoph Daum und die BSE-Gefahr durch in Deutschland geborene Rinder; 2001 der Tod von Patienten nach der Einnahme von Lipobay.

Im Wahljahr 2002 ging es um die private Nutzung von Bonusmeilen durch Cem Özdemir und Gregor Gysi, die Bezahlung einer Boutiquenrechnung von Rudolf Scharping durch die PR-Agentur Hunzinger, eine Privatreise der Hanauer Oberbürgermeisterin Margret Härtel auf Kosten der Stadt, die Gefährdung der Verbraucher durch Nitrofen belastetes Futtergetreide; 2003 um die dunklen Finanzquellen von Jürgen W. Möllemann, die »Opfervolk«-Rede des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann, die Kokainorgien des Fernsehjournalisten Michel Friedman und die Lungenseuche SARS; 2004 um die Silvesterfeier der Familie von Bundesbankpräsident Ernst Welteke auf Kosten der Dresdner Bank, den Autobahnraser Rolf F. wegen des Todes einer jungen Mutter und ihres Kindes, den Ausbruch der Vogelgrippe und die tödlichen Nebenwirkungen des Rheumamittels Vioxx.

2005 wurden der massenhafte Missbrauch der neuen Visa-Regelung von Ludger Volmer und Joschka Fischer skandalisiert, die Lustreisen von VW-Betriebsräten auf Kosten des Unternehmens, die Berufung von Altkanzler Gerhard Schröder in den Aufsichtsrat eines russischen Unternehmens. 2006 wurden der Tod von 15 Menschen durch den Einsturz des Dachs der Eissporthalle in Bad Reichenhall, die Bespitzelung von Journalisten durch den BND und die Mitgliedschaft von Günter Grass in der Waffen-SS skandalisiert; 2007 der Brand eines Transformators im AKW Krümmel, die Schwangerschaft der Geliebten von Minister Horst Seehofer, die Behauptung von Günther Oettinger, Hans Filbingers Urteile als Marinerichter hätten niemanden das Leben gekostet sowie das Bedauern der Fernsehjournalistin Eva Herman über die Beseitigung des nationalsozialistischen Mutterbildes durch die 68er-Bewegung.

2008 ging es um den Verdacht der Steuerhinterziehung von Klaus Zumwinkel und seine Verhaftung vor laufenden Kameras, das illegale Ausspionieren von Mitarbeitern der Telekom und von Lidl; 2009 um das Filtern von E-Mails der Mitarbeiter der Deutschen Bahn, die private Nutzung des Dienstwagens von Ministerin Ulla Schmidt und die Gefahr einer Pandemie durch die Schweinegrippe; 2010 um den sexuellen Missbrauch von Schülern durch Lehrer der Odenwaldschule, die Ohrfeigen von Bischof Walter Mixa während seiner Tätigkeit als Stadtpfarrer, den Tod von 21 Menschen bei der Loveparade in Duisburg, die Anzeige des Wettermoderators Jörg Kachelmann wegen Vergewaltigung, die Äußerung von Bundespräsident Horst Köhler über den Einsatz militärischer Mittel zur Sicherung von Arbeitsplätzen, die Plagiate in der Dissertation von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, den Ehec-Tod von 53 Menschen, die geplante Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs (Stuttgart 21) und dioxinbelastetes Hühnerfutter.

2011 wurden in Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe bei Fukushima die deutschen Kernkraftwerke skandalisiert, der angebliche Augenzeugenbericht von René Pfister über eine Szene im Haus von Horst Seehofer, das Verhältnis des CSU-Vorsitzenden in Schleswig-Holstein, Christian von Boetticher, mit einer damals 16-Jährigen, die Lustreisen von Mitarbeitern der Hamburg-Mannheimer und Wüstenrot nach Budapest und Rio de Janeiro, die Finanzierung des Einfamilienhauses und die Schnäppchenmentalität von Bundespräsident Christian Wulff. 2012 wurde die Schleichwerbung in »Wetten dass..?« skandalisiert, der mehrjährige Zwangsaufenthalt Gustl Mollaths in einer psychiatrischen Anstalt, die unzureichenden Zitierweisen von Annette Schavan in ihrer Dissertation und die Vortragshonorare des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück; 2013 eine anzügliche Bemerkung des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich, der Pädophilie-Verdacht gegen Daniel Cohn-Bendit, die Steuerhinterziehung von Uli Hoeneß, die Luxusrenovierung des Bischofssitzes von Franz-Peter Tebartz-van Elst, die Beschäftigung der Verwandten von CSU-Abgeordneten im Landtag und die Entscheidung von Susanne Gaschke zu einem kostspieligen Vergleich mit einem Steuerschuldner.

2014 ging es um die Manipulation des ADAC bei der Kür des »Lieblingsautos der Deutschen«, Wolfgang Schäubles Vergleich der drohenden Besetzung der Ost-Ukraine mit dem Anschluss des Sudetenlandes durch Hitlerdeutschland, Innenminister Hans-Peter Friedrichs Information an Sigmar Gabriel über Ermittlungen gegen Sebastian Edathy, die Manipulation von Bestenlisten durch ARD und ZDF, Edathys Kauf der Nacktfotos von Kindern, den Crystal Meth-Konsum des SPD-Abgeordneten Michael Hartmann, Sibylle Lewitscharoffs Vergleich der künstlichen Befruchtung von Leihmüttern mit der Praxis in »Kopulationsheimen« der Nazis, den Handel von Hubert Haderthauer und seiner Frau mit Modellautos aus der Fertigung eines Psychiatrie-Insassen, die islam- und fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen sowie um den tödlichen Angriff des »Killers« und »Komaschlägers« Sanel M. auf Tugce Albayrak. 2015 wurden die Zusammenarbeit von BND und NSA skandalisiert, die Treffsicherheit des Sturmgewehrs G36 bei Dauerfeuer, das krebsgefährdende Pestizid Glyphosat, die geringen Zahlungen an die Hinterbliebenen der Germanwings-Katastrophe, die Identifikation einer Medienquelle im Bundeskanzleramt, der Vorschlag Wolfgang Schäubles zu einem »Grexit auf Zeit«, die Einschüchterung von Journalisten durch Ermittlungen gegen Netzpolitik.org, die Schwarzgeldzahlungen vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die katholische Kita in Mainz-Weisenau wegen Quälereien von Kita-Kindern durch Kita-Kinder, die Nominierung von Xavier Naidoo für den Eurovision Song Contest wegen seiner politische Meinung, der Verzehr von Wurst weil sie laut WHO das Krebsrisiko um 18 Prozent erhöht, der Schriftsteller Akif Prinçci wegen seines Bedauerns über die Schließung der KZ bei einer Pegida-Kundgebung und die Manipulation von Abgasmessungen von VW mit Hilfe eines Computerprogramms. 2016 begann mit der Skandalisierung der sexuellen Belästigungen von Frauen durch Migranten in der Kölner Silvesternacht. Es folgten die Skandalisierungen Franz Beckenbauers wegen einer verschleierten Zahlung von 6,7 Millionen Euro vor der Fußball WM in Deutschland und des innen- und religionspolitischen Sprechers der Grünen, Volker Beck, wegen eines Drogenfundes, der Existenz von 214.000 geheimen Briefkastenfirmen in Panama und der satirischen Schmähkritik des Türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von Jan Böhmermann.

Im Skandal werden die Schuldigen bestraft. Der Absatz von Birkel-Nudeln brach ein, ca. 500 Mitarbeiter mussten entlassen werden, Jenninger und Späth mussten von ihren Ämtern zurücktreten. Barschel wurde abgewählt und starb unter ungeklärten Umständen in einem Genfer Hotel. Innenminister Seiters trat nach dem Einsatz der GSG 9 in Bad Kleinen zurück, Generalbundesanwalt von Stahl wurde entlassen. Die Hoechst AG musste Schadensersatz in Millionenhöhe leisten und litt noch Jahre später unter dem Imageverlust. Die Brent Spar wurde nicht versenkt. Shell ließ sie nach Norwegen schleppen und musste die erhöhten Kosten für die Abwrackung an Land tragen. Kohl legte den Ehrenvorsitz der CDU nieder, die gesamte Führung der CDU wurde abgelöst, die Partei verlor zwei sicher geglaubte Landtagswahlen. Daum wurde nicht Trainer der Nationalmannschaft und musste seinen Trainerposten bei Bayer Leverkusen aufgeben. Özdemir legte sein Bundestagsmandat nieder, Gysi trat als Berliner Wirtschaftssenator zurück. Hohmann wurde aus der CDU/CSU-Fraktion und der hessischen CDU ausgeschlossen. Scharping wurde als Verteidigungsminister entlassen. Härtel wurde von der Hanauer Bürgerschaft abgewählt. Friedman musste seine Fernsehsendungen abgeben und verzichtete auf das Amt des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Bundesbankpräsident Welteke trat zurück. Wegen der nitrofenbelasteten Futtermittel wurden 500 landwirtschaftliche Betriebe gesperrt. Wegen des Lipobay-Skandals stürzte der Kurs der Bayer-Aktien von fast 40 auf 10 Euro. Zudem musste das Unternehmen mehr als 200 Millionen Euro Schadensersatz leisten. Möllemann sprang in den Tod, während über 100 Beamte an zahlreichen Orten im In- und Ausland seine Büros und Privatwohnung durchsuchten.

Volmer legte im Zuge der Visa-Affäre seinen Sitz im Auswärtigen Ausschuss und seine Funktion als außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen nieder. Der VW-Personalvorstand Hartz trat als Folge des VW-Skandals zurück und wurde wie weitere Mitarbeiter zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Zwei leitende Mitarbeiter der Firma Vattenfall, die das Kernkraftwerk Krümmel betreibt, wurden entlassen, der Vorstandsvorsitzende von Vattenfall Europa trat zurück. Der NDR beendete nach der Äußerung von Herman die Zusammenarbeit mit ihr und Johannes B. Kerner verwies sie demonstrativ aus seiner Talkshow. Zumwinkel wurde zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren und Geldzahlungen in Millionenhöhe verurteilt, Lidl zahlte wegen der Bespitzelung seiner Mitarbeiter ein Bußgeld in Millionenhöhe. Mehdorn musste wegen der Datenaffäre als Bahnchef zurücktreten, Bischof Mixa wegen der massiven Kritik an seinen Prügelstrafen. Kachelmann verlor seine Rolle als Wettermoderator im Fernsehen, seine Firma den Auftrag zur Produktion der Sendungen. Bundespräsident Köhler trat nach der Kritik an seiner Äußerung zum Einsatz der Bundeswehr zurück, zu Guttenberg als Verteidigungsminister. Dem Hersteller des dioxinbelasteten Tierfutters, Harles & Jentzsch, drohte die Insolvenz, mehrere Angestellte erhielten Morddrohungen. Die Jury des Henri-Nannen-Preises erkannte Pfister den Preis ab. Die Staatsanwaltschaft Duisburg erhob wegen der Durchführung der Loveparade 2010 Anklage gegen 10 Personen, der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland wurde aufgrund eines Bürgerentscheids abgewählt.

Die deutschen Kernkraftwerke wurden nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima mit Verweis auf ungeklärte Sicherheitsfragen vorübergehend abgeschaltet, der vorgezogene Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Wulff trat vom Amt des Bundespräsidenten zurück und wurde wegen Vorteilsnahme angeklagt. Das Strafverfahren gegen Mollath wurde wieder aufgenommen, die fragwürdige Beschäftigung der Verwandten von CSU-Abgeordneten beendet. Schavan wurde der Doktortitel aberkannt. Steinbrück hatte die Wahl schon verloren, bevor der Wahlkampf begann. Brüderle war so beschädigt, dass er in der Politik keine Rolle mehr spielt. Hoeneß wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Tebartz-van Elst verlor sein Bischofsamt. Die Kieler Oberbürgermeisterin Gaschke trat zurück. Der ADAC verlor eine halbe Million Mitglieder. Innenminister Hans-Peter Friedrich trat zurück. ARD und ZDF erklärten, die Manipulationen von Zuschauerabstimmungen seien nicht hinnehmbar. Edathy gab sein Bundestagsmandat auf und versteckte sich an einem unbekannten Ort. Hartmann legte sein Amt als innenpolitischer Sprecher der SPD nieder. Lewitscharoff sah sich nach ihrer Dresdner Rede einem Sturm der Entrüstung ausgesetzt, bei dem sich auch der Suhrkamp Verlag, in dem ihre Bücher erscheinen, von ihr distanzierte. Haderthauer trat als Chefin der Bayerischen Staatskanzlei zurück. Pegida-Demonstranten wurden von Gegendemonstranten niedergebrüllt und mit Gegenständen beworfen. Sanel M. wurde wegen des tödlichen Angriffs auf die Studentin Tugce zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Die Klassifikation von Glyphosat als »wahrscheinlich krebserregend« durch die WHO machte die 2016 anstehende Neuzulassung durch die EU-Kommission fraglich.

Der Spiegel stellte wegen der Identifikation eines Informanten durch die NSA Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft. Der BND schränkte die Zusammenarbeit mit der NSA ein. Das Sturmgewehr G36 hat laut Verteidigungsministerin von der Leyen in seiner jetzigen Auslegung in der Bundeswehr »keine Zukunft mehr«. Schäuble wurde als »Totengräber der Eurozone« geschmäht, das Brüsseler Verhandlungsergebnis als »Diktat« geächtet. Generalbundesanwalt Harald Range wurde, nachdem er die Ermittlungen gegen Netzpolitik.org verteidigt hatte, von Justizminister Heiko Maas in den Ruhestand versetzt. Wolfgang Niersbach, Vizepräsident des Organisationskomitees der Fußball-WM 2006, trat vom Amt des DFB-Präsidenten zurück. Die Leiterin der katholischen Kita sowie weitere Angestellte wurden vom Bistum wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht fristlos entlassen. Der NDR zog die Nominierung von Naidoo für den European Song Contest zurück und der Buchhandel stellte den Vertrieb von Prinçcis Büchern ein. Der VW-Vorstandsvorsitzende, Martin Winterkorn, trat zurück, die VW-Aktie verlor in wenigen Tagen 20 Prozent ihres Wertes. Nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht ermittelte die Bundespolizei innerhalb von zwei Wochen 32 Tatverdächtige, der Innenminister versetzte den Kölner Polizeipräsidenten, Wolfgang Albers, in den einstweiligen Ruhestand. Franz Beckenbauer beendete seine Zusammenarbeit mit Sky und verschwand weitgehend aus der Öffentlichkeit. Volker Beck gab seine Funktionen als innen- und religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen auf. Das ZDF nahm die Schmähkritik aus seiner Mediathek, Böhmermann sagte die folgende Sendung ab, die Bundesregierung ließ eine Klage nach § 103 des Strafgesetzbuchs gegen Böhmermann zu.

Angesichts solcher und ähnlicher Vorgänge erscheint es nicht verwunderlich, dass die Süddeutsche Zeitung (18./19.03.2000) während des CDU-Spendenskandals den Skandal als »Instrument der Aufklärung« bezeichnete, in dem die »bürgerliche Öffentlichkeit … in multimedialer Verwandlung überlebt«. Damit nicht genug. Nach Ansicht des Soziologen Karl Otto Hondrich kann »die Bedeutung des politischen Skandals für demokratische Herrschaft … kaum überschätzt werden«. Sie geht jedoch darüber hinaus: »Der Skandal gewährt Einblick in die Tiefenschichtung der Moral. Wie ein Taucher mit Scheinwerfer leuchtet er in die Dunkelheit einer Unterwelt … Unterhalb der politischen Kultur und der Kultur schlechthin lebt eine Sub-Kultur von moralischen Grundvorgängen, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte … Was sich im Skandal enthüllt, muss, im Lichte der herrschenden Moral, als Unmoral abqualifiziert werden.«1 Trifft diese Charakterisierung von Skandalen zu? Daran darf gezweifelt werden.

In einigen Fällen waren die meisten Berichte irreführend oder gänzlich falsch, obwohl die Fakten erkenn- oder recherchierbar waren. Die Firma Birkel hatte sofort falsche Behauptungen über ihre Produkte zurückgewiesen. Sie drang bei der Masse der Medien damit aber nicht durch. Die Feststellung der Hoechst AG, dass ortho-Nitroanisol »mindergiftig« ist, war sachlich richtig, wurde jedoch als Verharmlosung der tatsächlichen Gefahren dargestellt. Die Brent Spar enthielt nicht, wie Greenpeace auf dem Höhepunkt des Skandals suggeriert hatte, 5.500 Tonnen Ölrückstände, sondern entsprechend den Angaben von Shell weniger als 200. Zudem wäre die Versenkung der Brent Spar billiger, ungefährlicher und ökologisch verträglicher gewesen als ihre Abwrackung in Ufernähe. Das Verfahren gegen Kohl wegen nicht ordnungsgemäß gemeldeter Spenden wurde von der Bonner Staatsanwaltschaft 2001 gegen Zahlung einer Geldbuße von 300.000 Euro eingestellt.2 Von einem Verfassungsbruch war nicht mehr die Rede, weil es sich um einen Verstoß gegen das Parteiengesetz handelte. Mit der Annahme der Spenden hatte Kohl genauso wenig gegen die Verfassung verstoßen wie ein Journalist, der das Jugendschutzgesetz verletzt. Die Ermittlungen wegen des Verdachts der Vernichtung von Akten im Bundeskanzleramt wurden 2003 eingestellt, weil die Staatsanwaltschaft keine Belege dafür fand. Die Boutiquenrechnung von Scharping wurde nicht von der PR-Agentur Hunzinger bezahlt.3 Kachelmann wurde 2011 vom Landgericht Mannheim nach einem Strafprozess mit höchst fragwürdiger Medienbegleitung freigesprochen. zu Guttenberg hatte nicht bestritten, dass er fremde Texte ohne Quellenangabe benutzt hatte, sondern dass er es bewusst gemacht habe. Das wurde weder bewiesen, noch widerlegt. Köhler paraphrasierte in seinen Aussagen zur Anwendung militärischer Mittel das UN-Mandat zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sowie Erklärungen des Europäischen Rats. Die Krebsbehörde der WHO (IARC) schätzt im Unterschied zum Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) keine Risiken ein, sondern Gefahren. Bei der Einschätzung der Gefahren wird festgestellt, ob ein Stoff unter Laborbedingungen in sehr großen Mengen Krebs auslösen kann. Das trifft unter anderem auf Alkohol und Nikotin zu. Bei der Einschätzung der Risiken wird festgestellt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Stoff unter realistischen Bedingungen Krebs auslösen kann. Genau darum geht es bei der Einschätzung der mit Glyphosat verbundenen Risiken. Sie sind nach Einschätzung des BfR vernachlässigbar. Schäubles Vorschlag eines »Grexits auf Zeit« war kein Diktat. Vielmehr hatte die griechische Regierung selbst einen Grexit vorbereitet, aufgrund des von Schäuble erreichten Verhandlungsergebnisses aber nicht durchgeführt. Die Schadensersatzzahlungen der Lufthansa an die Hinterbliebenen der Germanwings-Opfer waren alles andere als gering. Das Unternehmen zahlte 50.000 Euro Soforthilfe, dazu 25.000 Euro Schmerzensgeld und 10.000 Euro an nähere Verwandte. Zudem zahlt die Lufthansa den überlebenden Ehepartnern von berufstätigen Partnern bis zu deren potenziellem Rentenalter Verdienstausfälle von bis zu einer Million Euro. Ein Gutachten im Auftrag des Verteidigungsministeriums stellte fest, dass das Sturmgewehr G36 im Unterschied zu amerikanischen und britischen Sturmgewehren nicht störanfällig ist und auch nach mehreren Jahren und über 100.000 Schüssen noch präzise schießt. Todesfälle und Verletzungen, die auf Mängel der Waffe zurückgeführt werden können, gibt es nicht. Mehrere Soldaten haben mit dem G36 Vergleichsschießen mit anders bewaffneten Verbündeten überlegen gewonnen. Die Beschuldigungen gegen die Mitarbeiterinnen der katholischen Kita erwiesen sich als falsch, das Bistum musste die Kündigung der ehemaligen Leiterin der Kita zurücknehmen. Das Risiko von Darmkrebs steigt nicht wie von der WHO gemeldet von z. B. 5 Prozent um 18 Prozent auf 23 Prozent, sondern von 5 auf 5,9 Prozent – was dem irreführenden Wert von 18 Prozent entspricht. Die Verdächtigungen Prinçcis waren falsch. Sein Bedauern über die Schließung der KZ bezog sich nicht ernsthaft auf die Flüchtlinge sondern ironisch auf die Kritiker der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.

In einigen Fällen standen die unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen in keinem Verhältnis zu den Ursachen. Die Skandalisierung Barschels, dessen Verhalten auch deshalb so empörend erschien, weil die Mitwisserschaft Engholms nicht bekannt war, endete mit dem Mord oder Selbstmord des teilweise zu Unrecht Beschuldigten.4 Auch der Tod von Möllemann steht in keinem Verhältnis zu den Anschuldigungen gegen ihn. Die Absage der Hoechst AG an eine stadtgängige Chemie und die Aufgabe der meisten Betriebe in Frankfurt-Höchst waren auch Folgen der Skandalisierung des Unternehmens wegen der Störfallserie im Frühjahr 1993 – tatsächlich gab es drei Störfälle sowie zahlreiche Betriebsstörungen minderer Bedeutung, die normalerweise kaum beachtet werden.5 Als Folge des BSE-Skandals verloren etwa 10.000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz. Der Rindfleischmarkt brach zusammen, über 80.000 Rinder wurden notgeschlachtet und auch dann vernichtet, wenn sie nicht infiziert waren. Die Belastung von Futtermitteln mit Nitrofen war so gering, dass zu keiner Zeit eine Gefahr für die Verbraucher bestand. Man hätte 200.000 Eier essen müssen, um den zulässigen Grenzwert zu erreichen. Trotzdem wurden mehrere hundert Betriebe stillgelegt, tausende Masthähnchen und Legehennen notgeschlachtet und verbrannt. An der Schweinegrippe sind in Deutschland 258 Menschen gestorben, an der saisonalen Grippe sterben jährlich zwischen 10.000 und 20.000 Menschen. An Ehec-Erkrankungen sind in Deutschland 58 Menschen gestorben, jedes Jahr sterben hier aber etwa 15.000 Menschen an Infektionen, die sie sich in Krankenhäusern zugezogen haben. Als Folge der Ehec-Berichterstattung brach der Markt für Gurken und anderes Gemüse aus Spanien ein, obwohl diese Produkte damit nichts zu tun hatten.

Die Hanauer Oberbürgermeisterin Härtel wurde aufgrund ihrer Skandalisierung von der Bürgerschaft abgewählt, bevor das Landgericht Hanau das Strafverfahren gegen sie gegen Zahlung von 4.000 Euro einstellte. Den Schaden, den sie der Stadtkasse verursacht hatte, bezifferte das Gericht auf etwa 3.000 Euro. Die Anwaltskosten der Stadt Hanau im Verfahren gegen Härtel beliefen sich auf über 100.000 Euro. In der richterlichen Urteilsbegründung hieß es, »wegen einer strafrechtlichen Marginalie« sei die »Existenz eines Menschen schwer beschädigt worden«. Als der damalige Pfarrer Mixa sich mit Prügelstrafen durchsetzen wollte, war fast die Hälfte der Deutschen der Meinung, Schläge gehörten »auch zur Erziehung« und hätten »noch keinem Kind geschadet«. In Bayern galten derartige Züchtigungen damals als Gewohnheitsrecht.6 Einige Jahre nach Mixas Rücktritt lobte Papst Franziskus einen Vater, der seine Kinder gelegentlich ein »bisschen haut«. Rainer Brüderle hatte seine anzügliche Bemerkung ein Jahr vor der anprangernden Veröffentlichung des Sterns gemacht, und die Verfasserin des Berichts, die auch danach seinen Kontakt suchte, offensichtlich nicht ins Mark getroffen.

Der Unfall im Kernkraftwerk Krümmel besaß keine Relevanz für den Betrieb der kerntechnischen Anlage und wurde deshalb von zwei unabhängigen Untersuchungskommissionen auf der 7-stufigen International Nuclear Event Scale mit dem niedrigsten Wert 0 eingestuft. Nach der Katastrophe von Fukushima stellte die Reaktor-Sicherheitskommission fest, dass die Reaktorkatastrophe in Japan keinen Einfluss auf die Einschätzung der Sicherheit der Kernkraftwerke in Deutschland hat und ihre Stilllegung aus sicherheitstechnischen Gründen nicht erforderlich ist. Die nach wenigen Tagen verfügte Stilllegung älterer Kernkraftwerke und der planlose Ausstieg aus der Kernenergie verursachen Kosten in Milliardenhöhe.7 Die UN stellte in einem Forschungsbericht über die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe in Fukushima für die japanische Bevölkerung fest, dass es keine Zunahme von Schilddrüsenkrebs, keine Änderungen der pränatalen Strahlenexposition und nur eine sehr geringe Zunahme von Brustkrebserkrankungen um 0,3 Prozent gibt.8 Die japanische Regierung beschloss, dass 2017 70 Prozent der evakuierten Bewohner wieder in ihre Häuser zurückkehren können.

Die Badewanne von Tebartz-van Elst hat nicht 15.000 Euro gekostet, sondern laut Rechnung des Architekturbüros 1.795,21 Euro. Die Baukosten für den Gesamtkomplex des »Hauses der Bischöfe« in Limburg betrugen nicht – wie man meist lesen konnte – »mindestens« 31, sondern 28,5 Millionen Euro. Davon entfiel ein geringer Anteil – etwa 10 bis 15 Prozent – auf die Privatwohnung des Bischofs.9 Allerdings ging es, wie der Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz, einer der schärfsten Kritiker des Bischofs nachträglich feststellte, »nur vordergründig um Geld. Tebartz war kein Verschwender und kein Protzbischof. Es ging um Macht« (Zeit, 03.04.2014). Über das Ergebnis der Baumaßnahmen schrieb der Architekturkritiker Rainer Schulze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.06.2015): »Wer nach Spuren von Protz und Verschwendung sucht, der wird sich wundern«. Oberbürgermeisterin Gaschke hatte mit ihrer Eilentscheidung für einen Vergleich mit dem Steuerschuldner gegen die Gemeindeordnung verstoßen, dabei jedoch eine schon von ihrem Vorgänger Albig geplante Lösung vollzogen. Ein Jahr nach dem Rücktritt von Gaschke trat ein, was sie und Albig verhindern wollten: der Steuerschuldner stellte einen Insolvenzantrag. Das Strafverfahren gegen Edathy wurde gegen Zahlung von 5.000 Euro eingestellt. Das Schiedsgericht des Parteibezirks Hannover sah keine hinreichende Grundlage für einen Ausschluss aus der SPD. Konkrete Belege für eine Gefährdung von Soldaten durch das Sturmgewehr G36 gibt es nicht. Seine voreilig angekündigte Ausmusterung und die Ersatzbeschaffung werden vermutlich zwischen 200 und 600 Millionen Euro erfordern. Sanel M. wurde während der Untersuchungshaft von einem Mithäftling aus Wut über den Tod von Tugce das Nasenbein gebrochen. Sein Antrag auf Haftverschonung wurde wegen Fluchtgefahr aufgrund der begründeten Angst vor Racheakten abgelehnt. Weil Justizminister Maas in Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Netzpolitik.org Generalbundesanwalt Range angewiesen hatte, einen externen Gutachter zu stoppen, der in einer vorläufigen Stellungnahme den Verdacht des Verrats eines Staatsgeheimnisses bestätigt hatte, wurde aus einem möglichen Eingriff Ranges in die Pressefreiheit (Netzpolitik.org) ein faktischer Eingriff von Maas in die Autonomie der Justiz (Generalbundesanwaltschaft).

In einigen Fällen wurden Unschuldige mit zum Teil gravierenden Nebenfolgen öffentlich geächtet. Die Vorwürfe gegen das Vorgehen der GSG 9 bei ihrem Einsatz in Bad Kleinen wurden nie bestätigt. Der Erschossene war, wie sich später herausstellte, an der Ermordung des Treuhandchefs Carsten Rohwedder beteiligt. Trotzdem wurden weder Seiters noch von Stahl öffentlich rehabilitiert.10 Als Folge der falschen Behauptung, Rechtsradikale hätten im Schwimmbad von Sebnitz unter den Augen der Umstehenden einen Jungen ermordet, wurde die ganze Stadt kriminalisiert. Dem Rufmord durch die Zurschaustellung von Zumwinkel und Kachelmann folgten ein relativ mildes Urteil und ein Freispruch. Wulff wurde nach einem Ermittlungsverfahren von 24 Fahndern unter Leitung von vier Staatsanwälten, der Vernehmung von 93 Zeugen und Kosten in Höhe von mehreren Millionen Euro wegen einer Rechnung über 753,90 Euro angeklagt und freigesprochen.11 Roman Herzog, ehemaliger Bundespräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte bereits bei seinem Rücktritt festgestellt, das Grundgesetz weise einen Konstruktionsfehler auf: Einerseits könne nur das Bundesverfassungsgericht einen Bundespräsidenten aus dem Amt entfernen und das nur wegen eines schweren Verbrechens. Andererseits könne ein Staatsanwalt die Aufhebung seiner Immunität beantragen, was einer Entfernung aus dem Amt gleichkomme.12 Die Honorare von Peer Steinbrück waren weder ungewöhnlich hoch noch illegal, die Art ihrer Präsentation und Diskussion machte aber die geringen Wahlchancen der SPD völlig zunichte. Die Behauptung eines Juristen, nach der Einstellung des Verfahrens gegen Edathy gelte weiterhin »die Unschuldsvermutung«, mag juristisch zutreffen, sachlich ist das Gegenteil richtig. Sie wird für ihn nie mehr gelten. Bei den meisten der bis zu 25.000 Pegida-Demonstranten 2014 handelte es sich nicht um Rechtsradikale, sondern um Bürger, die das Gefühl hatten, dass die Politik und die Medien ihre Sorgen nicht ernst nehmen. Die Gewalt bei Pegida-Kundgebungen ging fast immer von linksradikalen Gegendemonstranten aus. Trotzdem vermittelten zahlreiche Medienberichte den gegenteiligen Eindruck. Das Landgericht Duisburg lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Beschuldigten wegen des Loveparade-Unglücks mit der Begründung ab, das Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft enthalte schwerwiegende sachliche Mängel. Die Ursachen des Unglücks sind folglich nach wie vor ungeklärt, die Abwahl des skandalisierten Oberbürgermeisters von Duisburg ist aber rechtsgültig. Kann man angesichts dieser Bilanzen die These vertreten, der Skandal sei ein Instrument der Aufklärung, in dem die bürgerliche Öffentlichkeit in multimedialer Verwandlung überlebt? Oder liefert die Skandalisierung von Missständen Beispiele für die fortdauernde Aktualität der Forderung des päpstlichen Legaten vor dem Sturm auf die Hochburg der Ketzer im Albigenserkrieg: »Tötet sie alle! Der Herr wird die Seinen erkennen«?

Blickt man vom Ausland auf Skandale in Deutschland, erscheint das hiesige Verhalten häufig kurios. Aus britischer Sicht waren die Reaktionen der Deutschen auf die geplante Versenkung der Brent Spar reine Hysterie. In Frankreich, England, Spanien und den USA hätten sich Wulffs Kritiker mit ihren Vorwürfen lächerlich gemacht. In denselben Ländern ist die von Köhler geforderte Verteidigung von Wirtschaftsinteressen mit militärischen Mitteln eine historisch gewachsene Selbstverständlichkeit. In den USA rief die Deutsche Entscheidung nach Fukushima zum Ausstieg aus der Kernenergie ungläubiges Kopfschütteln hervor, in Großbritannien wurde der Bau neuer Kernkraftwerke beschlossen. Blickt man von Deutschland auf Skandale im Ausland, zeigen sich ähnliche Diskrepanzen. So empfanden die meisten Deutschen den Umgang der amerikanischen Medien mit Bill Clinton in der Lewinsky-Affäre als absurden Schauprozess. Dagegen wunderten sie sich über die Nachsicht der dortigen Medien mit George W. Bush, als im Irak nicht die Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, die ein Anlass für den Krieg gegen Saddam Hussein waren.

Soziologen erklären derartige Diskrepanzen mit kulturellen Unterschieden – und tatsächlich gibt es »Skandalkulturen«. In Großbritannien und den USA werden vor allem sexuelle Verhaltensweisen zu Skandalen, in Deutschland geldwerte Vorteile – Späth, Scharping, Gysi, Özdemir, Schröder, Steinbrück, Wulff und Tebartz-van Elst sind Beispiele dafür. In Frankreich ließ Premierminister Manuel Valls seine Kinder auf Kosten des Staates zum Champions-League-Finale nach Berlin fliegen, entschuldigte sich nach Kritik der Opposition, zahlte die anteiligen Reisekosten für seine Kinder und blieb im Amt. In Deutschland mussten Welteke und Wulff, obwohl ihre geldwerten Vorteile nicht zu Lasten des Staats gingen, ihre Ämter aufgeben. Besonders deutlich werden die Unterschiede zwischen Deutschland und den angelsächsischen Ländern beim ersten VW-Skandal 2005. In Deutschland wurden die geldwerten Vorteile zu Lasten des Unternehmens zum Skandal. Das hätte in den USA niemanden interessiert. Dort wäre zum Skandal geworden, dass die VW-Mitarbeiter ihre Ehefrauen und Lebensgefährtinnen betrogen haben. Davon war aber hierzulande nicht die Rede. Nach wie vor ist in Deutschland freiwilliger Sex zwischen Erwachsenen nicht skandalfähig, allerdings haben einige Medien Pädophilie als skandalträchtiges Thema erschlossen.

Nationale Besonderheiten sind wichtig, sie erklären aber nur einen Teil der Diskrepanzen zwischen den Ländern. Wer versteht heute noch die Wut angesichts der geplanten Versenkung der Brent Spar, die Angst vor radioaktiv belasteter Molke und dioxinbelasteten Eiern, die gewaltbereite Verzweiflung angesichts der Stationierung der Pershing II und des Vorgehens der Polizei gegen die Gegner von Stuttgart 21? Wer kann heute noch die Empörung über die SS-Mitgliedschaft von Grass, über Wullfs Anruf bei Diekmann, über Lewitscharoffs Polemik gegen Katalogbabys nachvollziehen oder die Aufregung über die Rednerhonorare von Steinbrück und den Herrenwitz von Brüderle? Die Ursachen dieser emotionalen Reaktionen sind nicht nationale Wesenszüge, sondern Besonderheiten der medialen Darstellung von mehr oder weniger großen Missständen. Zwar ist bei den meisten Skandalen die Wahrheit erkennbar, sie hat aber keine Chance. Fast immer gibt es einige Medien, die dem, was man rückblickend als Wahrheit bezeichnen kann, sehr nahe kommen. Während des Skandals gehen ihre Berichte aber in einer Welle stark übertriebener oder gänzlich falscher Darstellungen unter. Die Oberhand gewinnt sie erst, wenn der Skandal zu Ende und die Flut der anklagenden Berichte verebbt sind. Dann interessiert sich aber kaum noch jemand dafür, weil sich die Medien und mit ihnen das Publikum längst anderen Themen zugewandt haben.

1Hondrich, Karl Otto: Einblicke in die Unterwelt, S. 17 ff.

2Vgl. Maier, Jürgen: Der CDU-Parteispendenskandal. 16 Jahre nach dem Skandal hat Wolfgang Schäuble in einer Nebenbemerkung behauptet, es habe keine Spender gegeben und »schwarze Kassen« als Quelle genannt. Das erscheint plausibel, ist jedoch nicht bewiesen. Vgl. dazu Aust, Stefan: Der Weg des »Bimbes«. In: Welt am Sonntag, 23.08.2015. Für die vorliegende Argumentation ist es nicht relevant, weil es an den von Kohl genannten Finanzproblemen der CDU und seinen Motiven nichts ändert.

3Hunzinger hatte Berichtigungen und Gegendarstellungen bei mehreren Zeitungen erreicht, darunter die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau sowie die Financial Times, die jedoch in der Diskussion um Scharping untergingen. Quelle: schriftliche Mitteilung an den Verfasser.

4Vgl. Mergen, Armand: Tod in Genf.

5Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Störfallfieber.

6Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth / Piel, Edgar (Hg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978–1983, S. 94.

7Die endgültigen Kosten sind noch unbekannt. Im Frühjahr 2016 wurden nur für die Stilllegung der Kernkraftwerke Schadenersatzforderungen in Höhe von 22 Milliarden Euro genannt. Nicht eingeschlossen sind darin u.a. die Kosten für den erforderlichen Neubau von Stromtrassen. Vgl. FAZ, 07.04.2016.

8United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation: UNSCEAR 2013 Report.

9Vgl. rls: Kosten der Limburger Bischofsresidenz. Auf Spiegel Online, 10.10.2013. Vgl. auch Prüfkommission: Abschlussbericht über die externe kirchliche Prüfung der Baumaßnahme auf dem Domberg in Limburg, S. 101 ff.; Valentin, Joachim (Hg.): Der »Fall« Tebartz-van Elst.

10Vgl. Mocken, Daniela: Bad Kleinen. Entstehung eines Skandals.

11Der Vorwurf der »Schnäppchenmentalität« gegen Wulff war zynisch, weil Journalisten als vermutlich einzige Berufsgruppe Rabatte erhalten, sogenannte »Presserabatte« auf über 1.000 Angebote, darunter Autos, Reisen und Computer.

12Vgl. Hefty, Georg Paul: Mit dem Auge des Verfassungsrechtlers.

2. Was ist ein Skandal?

In der Umgangssprache bezeichnen wir viele negative Sachverhalte als »Skandale«: die Erhöhung der Fahrpreise, die Verspätungen der Deutschen Bahn, die Zustände in öffentlichen Toiletten usw. Jeder nennt das, was ihn besonders ärgert, einen Skandal. Mit einem derart ungenauen Begriff kann man keine systematischen Analysen durchführen. Im sozialwissenschaftlichen Sinn weisen Skandale sechs Merkmale auf.1Erstens: Anlass von Skandalen sind materielle und immaterielle Missstände. Dabei handelt es sich oft um Tod oder Leid von Menschen und Tieren oder um die Verletzung gesellschaftlicher Normen und Werte. Die skandalisierten Missstände unterscheiden sich von Land zu Land – deshalb konnte Gerhard Schröder 1998 trotz des spektakulären Endes seiner Ehe mit Hillu Bundeskanzler werden, während Bob Dole 1996 als Präsidentschaftskandidat in einem Skandal unterging, weil er 24 Jahre vorher eine außereheliche Affäre hatte. Zweitens: Die Missstände wurden tatsächlich oder vermeintlich durch Menschen verursacht. Ist der Missstand die Folge eines natürlichen Ereignisses oder eines Zufalls, wird er nicht zum Skandal. Deshalb wurde der Reaktorunfall bei Fukushima in Deutschland erfolgreich skandalisiert, nicht aber der Tsunami, obwohl dieser weit mehr Menschenleben gekostet hat.2Drittens: Die Verursacher der Schäden haben tatsächlich oder vermeintlich aus eigennützigen Motiven gehandelt. Deshalb wurden die finanziellen Gebaren von Bundespräsident Wulff und Bischof Tebartz-van Elst zu Skandalen, nicht aber das finanziell weitaus schwerwiegendere Versagen von Aufsichtsrat und Geschäftsführung der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH.

Viertens: Die Verursacher kannten die Folgen ihres Verhaltens und hätten auch anders handeln können. Sie haben die Missstände nicht nur verursacht, sondern sind moralisch dafür verantwortlich. Deshalb wurde der Unfall bei der Hoechst AG 1993 zu einem großen Skandal, der Absturz einer Lufthansa-Maschine im gleichen Jahr, bei dem zwei Menschen starben, aber nicht. Im ersten Fall hätte der angetrunkene Mitarbeiter anders handeln können, im zweiten Fall hatte der Pilot aufgrund der Windverhältnisse keine Chance. Fünftens: Die Medien stellen das Geschehen sehr intensiv und weitgehend übereinstimmend dar. Nur dann wird es hinreichend vielen Menschen bekannt, erscheint ihnen bedeutsam und löst Ärger, Empörung und andere negative Emotionen aus. Deshalb führte die Anprangerung des Plagiats von zu Guttenberg zu einem Skandal, die diffuse Kritik an den pädophilen Selbstbekenntnissen von Cohn-Bendit dagegen nicht. Sechstens: Weil die Angeprangerten den Missstand nicht nur verursacht haben, sondern auch moralisch dafür verantwortlich sind, müssen sie zur Rechenschaft gezogen werden. Sie haben sich schuldig gemacht. Ihre Schuld erfordert Sühne, schmerzhafte persönliche Konsequenzen – die Schließung von Betrieben, die Vernichtung von Waren, die Entlassung von Funktionären usw. Besonders wirksam ist die Kombination der Elemente zu einem hierarchischen Täter-Opfer-Schema: Der Täter ist oben und skrupellos, das Opfer ist unten und skrupulös.

Zwischen Missständen und Skandalen besteht ein kategorialer Unterschied. Die größten Umweltskandale gibt es in Staaten, in denen die Umwelt am wenigsten geschädigt ist – in den westlichen Industrienationen. Die größten Umweltschäden gibt es in Staaten, in denen es keine oder fast keine Umweltskandale gibt – in Ländern der Dritten Welt, Indien und China. Dies trifft in ähnlicher Weise auf politische Skandale zu. Auch sie häufen sich nicht in den Staaten mit den größten politischen Missständen, sondern in den Ländern mit effektiven und transparenten politischen Institutionen. Zu dem gleichen Befund führt eine chronologische Betrachtung: Die größten Umweltschäden gab es in Deutschland in den 1950er- und 1960er-Jahren. Die meisten und größten Umweltskandale gab es dagegen ab den 1980er-Jahren, als die Belastung des Wassers, der Luft und der Böden als Folge der Umweltgesetzgebung der 1970er-Jahre längst deutlich geringer war. Eine wichtige Ursache des paradoxen Verhältnisses von realen Schäden und Skandalen ist die Asymmetrie unserer Risikobereitschaft: Zur Minimierung eines Schadens akzeptieren wir große Risiken, zur Maximierung eines Nutzens lehnen wir große Risiken ab.3 Deshalb ist in armen Ländern die Risikobereitschaft groß: Dort geht es um die Überwindung eines negativen Zustands. In reichen Ländern ist sie klein: Hier geht es um die Verbesserung eines positiven Zustands. Mit steigendem Lebensstandard wachsen die Schadensaversion der Bevölkerung, ihre Offenheit für Kritik an tatsächlichen und möglichen Schäden und die Glaubwürdigkeit der Skandalisierung von Missständen. Das gilt analog auch für die Tolerierung von Regelverstößen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft: Sie schwindet in dem Maße, in dem die Funktionsfähigkeit der erwähnten Bereiche zunimmt und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung beiträgt.4

Die skizzierte Paradoxie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die erfolgreiche Skandalisierung von Missständen. Zum Skandal wird ein Missstand erst durch die Perspektive, aus der man ihn betrachtet. Die Missstände selbst sind oft nicht neu, meist beweisbar und sachlich fast immer unstrittig. Dies alles trifft auf die skandalträchtige Perspektive nicht zu. Sie ist neu, im engeren Sinn nicht beweisbar und im Unterschied zum Missstand wirkmächtig. Es gibt viele Missstände, die nie zum Skandal werden, obwohl sie bekannt sind, und es gibt einige Skandale, ohne dass ein Missstand vorliegt. Deshalb kann man weder von der Größe und Häufigkeit der Skandale auf die Größe und Häufigkeit der Missstände schließen noch umgekehrt. Der wohlwollende Kommentar Werner Höfers im Berliner 12 Uhr Blatt (20.09.1943) zur Hinrichtung des Konzertpianisten Karlrobert Kreiten, der seine journalistische Karriere beendete, war seit 1962 bekannt. Mehrere Blätter, darunter Bild am Sonntag, hatten seit 1978 darüber berichtet, Musikhistoriker hatten den Vorgang analysiert und ihre Ergebnisse in Buchform publiziert, ein Schriftsteller hatte den Vorgang dramatisiert und in Koblenz auf die Bühne gebracht. Zum Skandal wurde der Kommentar jedoch erst Ende 1987 durch einen Artikel des Spiegels. Innerhalb weniger Tage musste Höfer unter entwürdigenden Umständen die Leitung des »Internationalen Frühschoppens« aufgeben.5 Über die Flugreisen von Ministerpräsident Späth hatte die Südwest Presse Ulm bereits 1980 berichtet. Sieben Jahre später beschrieben mehrere Autoren in einem biografischen Sammelband die ungewöhnlichen Reisen des Ministerpräsidenten. Zum Skandal wurden sie jedoch erst, als der Südwestfunk Ende 1990 im Zusammenspiel mit dem Spiegel den Sachverhalt erneut aufgriff.6 Über angeblich verdorbene Rohstoffe in Eiernudeln hatten lokale Medien im Raum Stuttgart bereits ein Jahr vor dem »Flüssigei-Skandal« berichtet. Einen bundesweiten Skandal haben die kaum variierten und ergänzten Behauptungen jedoch erst ein Jahr später ausgelöst.7 Über schwarze Konten der CDU hatte der Spiegel bereits 1995 berichtet. Einen Aufschrei der Empörung gab es damals weder in der Politik noch in den Medien.

Über den sexuellen Missbrauch von Schülern durch Lehrer der Odenwaldschule hatte, nachdem sich zwei der Opfer an einen Journalisten gewandt hatten, Jörg Schindler Jahre vor dem Skandal in der Frankfurter Rundschau (17.11.1999) berichtet.8 Der Beschuldigte Gerold Becker, ehemaliger Leiter der Schule, gab danach die Mitarbeit in mehreren Gremien auf, einen Skandal löste der Bericht aber nicht aus. Becker wurde drei Jahre danach Mitherausgeber der Zeitschrift Neue Sammlung. Ein Lehrer der Odenwaldschule, Dr. Salman Ansari, informierte zu dieser Zeit die Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer brieflich über Missbrauchsvorwürfe gegen Becker. Als Antwort erhielt er ein ausweichendes Schreiben. Einen Skandal löste keiner dieser Anlässe aus. In allen genannten Fällen war der Missstand, der den Kern des späteren Skandals ausmachte, bekannt. Insofern musste nichts aufgedeckt werden – die bereits bekannten Missstände hätten allemal für einen Skandal ausgereicht. Was fehlte, war der Aufhänger, die moralische Aufladung des Missstands sowie die Bereitschaft anderer Medien, die skandalträchtigen Vorwürfe aufzugreifen und die Beschuldigten anzuprangern.