Die Meerfrau - Sue Monk Kidd - E-Book

Die Meerfrau E-Book

Sue Monk Kidd

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Beschreibung

Eine idyllische Insel vor South Carolina: Nach langen Jahren kehrt die 40-jährige Jessie Sullivan in ihre alte Heimat zurück, weil ihre Mutter sie braucht. Schon bald gerät ihr geordnetes Leben aus der Bahn: Die verheiratete Frau verliebt sich in einen Mönch, der kurz davor steht, sein ewiges Gelübde abzulegen. Jessie will ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen. Doch die Sehnsucht nach einem Seelenverwandten, nach Sinnlichkeit und Spiritualität, droht über die Vernunft zu siegen …

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
PROLOG
 
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
 
Copyright
 
 
 
Für Scott Taylor und Kellie Bayuzick Kidd In Liebe
Ich liebe dich nicht, wie ich eine Rose aus Salz lieben würde, einen Topas, einen Nelkenpfeil, der das Feuer entfacht: ich liebe dich, wie man die dunklen Dinge liebt, heimlich, zwischen Seele und Schatten.
 
PABLO NERUDA
Liebende begegnen sich nicht eines Tages, irgendwo. Sie sind immer schon einer im andern.
 
RUMI
PROLOG
Es kam aus heiterem Himmel. Meine Ehe war in ruhigem Fahrwasser vor sich hin getrieben, und mein Leben hatte darin bestanden, Ehefrau von Hugh und Mutter von Dee zu sein - ich war eine dieser farblosen, unauffälligen Frauen, die wohl kaum den Ehrgeiz entwickeln würden, sich störend im Weltenlauf bemerkbar zu machen - da habe ich mich in einen Benediktinermönch verliebt.
Das war 1988 über den Winter und den Frühling, aber erst heute, erst ein Jahr später bin ich bereit und überhaupt in der Lage, darüber zu sprechen.
Mein Name ist Jessie Sullivan. Ich stehe am Bug der Fähre und sehe über Bull’s Bay hinüber nach Egret Island, der Insel der Reiher, dem winzigen Eiland, das der Küste von South Carolina vorgelagert ist. Hier bin ich aufgewachsen. Ich sehe die Insel schon von weitem, sie erhebt sich sichelförmig in warmem Rotbraun und kühlem Meergrün über dem Spiegel des Wassers. Der Wind ist gespickt mit den würzigen Gerüchen meiner Kindheit, das Wasser ist ultramarinblau, es schillert wie schwerer Seidentaft. Ich blicke erwartungsvoll zur Nordwestspitze der Insel: Noch kann ich die Turmspitze der Klosterkirche nicht sehen, aber ich weiß, sie ragt in den hellen Nachmittag.
Ich staune selbst heute noch darüber, was für eine brave und anständige Frau ich doch war, bevor ich ihm begegnet bin, mit was für einem schlichten, leidenschaftslosen Leben ich mich beschieden hatte, die Tage glatt und ebenmäßig wie eine Perlenschnur, die kühl durch meine Finger rann. Wenige Menschen ahnen, wozu sie eigentlich fähig sind. Mit meinen zweiundvierzig Jahren hatte ich noch nie etwas getan, das mir den Atem geraubt hätte, und ich glaube, darin hat zumindest teilweise das Problem gelegen - in meiner vollkommenen Unfähigkeit, mich selbst zu überraschen.
Und dann: Ich weiß das wohl, ich habe eine schöne Katastrophe angerichtet. Der Sünde hätte ich mich hingegeben, hat es geheißen, aber das ist noch harmlos formuliert. Ich habe mich ihr nicht hingegeben - ich habe mich in ihre Arme geradezu gestürzt.
Vor sehr langer Zeit, als ich noch mit meinem Bruder in seinem kleinen Kahn durch das Labyrinth der winzigen Buchten auf der Insel gerudert bin, als ich noch wild und ungebändigt war und mir Spanisches Moos in die Zöpfe geflochten habe oder mit langem, wirrem Haar herumgelaufen bin, hat mir mein Vater von den Meerjungfrauen erzählt, die rings um die Insel lebten. Er hat behauptet, er hätte sie einmal von seinem Boot aus gesehen - in den rosaroten Stunden des frühen Morgens, wenn die Sonne wie eine satte Himbeere auf dem Wasser trudelt. Die Meerjungfrauen wären wie Delfine um sein Boot herumgeschwommen, so hat er gesagt, sie wären aus den Wellen aufgetaucht und wieder darin versunken.
Ich habe ihm aufs Wort geglaubt. Ich habe ihm sowieso jede noch so ungeheuerliche Geschichte geglaubt. »Was haben sie denn gewollt? Ich dachte, Meerjungfrauen sitzen auf Felsen und kämmen sich ihr Haar?«, habe ich ihn gefragt. Allerdings gibt es auf der Insel gar keine Felsen, es gibt nur Marschland, dessen Gras sich im Kreislauf der Jahreszeiten färbt - von Grün zu Braun zu Gelb und wieder zu Grün - der ewige, unabänderliche Rhythmus der Insel.
»Aber ja doch, natürlich sitzen Meerjungfrauen auf Felsen und richten sich ihr Haar«, hat mir mein Vater geantwortet. »Aber ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, uns Menschen zu retten. Deshalb sind sie ja auch zu meinem Boot gekommen - um da zu sein, falls ich kentern sollte.«
Am Ende haben ihn die Meerjungfrauen dann doch nicht gerettet. Aber ich frage mich, ob sie nicht mich gerettet haben. Ich kann nur so viel sagen - sie sind zu mir gekommen, in jenen rosaroten Stunden meines Lebens.
Sie sind mein Trost. Ihretwegen bin ich getaucht, mit weit ausgebreiteten Armen, und ich bin tief getaucht. Als ich in die Fluten gesprungen bin, habe ich jeglichen Anstand, sämtliche Regeln hinter mir gelassen, aber dennoch war dieser Sprung unbedingt notwendig, und er hat mir auf wundersame Weise das Leben gerettet. Wie kann ich das jemals erklären oder gar rechtfertigen? Ich bin gesprungen, und als ich tiefer in das kühle Blau des Wassers gesunken bin, hat mich ein Paar unsichtbarer Arme umfangen.
Die Arme haben mich umschlungen, aber sie haben mich nicht emporgetragen, sondern hinab, bis auf den Meeresgrund, und erst dann haben sie mich wieder ans Licht gehoben.
Als die Fähre am Dock anlegt, trifft mich der Atem der Insel, Fischgeruch, das Flattern der Vögel und der grüne Hauch der Palmettopalmen, und schon jetzt spüre ich ganz deutlich, wie die Vergangenheit auf mich lauert, eine unheimliche Kreatur unter der Wasseroberfläche. Vielleicht kann ich ja diesmal mit ihr abschließen. Vielleicht kann ich mir ja diesmal verzeihen, und dann wird mich die Erinnerung an das, was geschehen ist, in ihren Armen wiegen und mich wärmen, solange ich lebe.
Der Kapitän lässt das Schiffshorn tuten. Er kündigt unsere Ankunft an, und ich denke: Hier bin ich also wieder, die Frau, die bis in die tiefsten Tiefen hinabgetaucht und wieder emporgeschossen ist, zurück zum Licht. Die Meerfrau, die wie Delfine schwimmen, sich aus den Wellen heben und wieder ins Wasser stürzen wollte. Die nur sich selbst gehören wollte.
KAPITEL 1
Es war der 17. Februar 1988, ich schlug die Augen auf. Eine ganze Reihe von Geräuschen hatte mich geweckt: Erst hatte das Telefon auf der anderen Seite des Bettes angefangen zu klingeln, es hatte uns um 5.04 Uhr aus dem Schlaf gerissen, und das konnte eigentlich nur Unheil bedeuten. Dann hatte ich gehört, wie der Regen auf das Dach unseres alten, viktorianischen Hauses trommelte, wie das Wasser rauschend seinen Weg durch Rinnen und Rohre in den Grund fand, und schließlich war es das Pusten gewesen, das Hugh mit der Unterlippe macht, wenn er ausatmet, ein vollkommen gleichmäßiger Rhythmus, wie ein Metronom.
Zwanzig Jahre regelmäßiges Pusten. Ich hörte es ja selbst dann schon, wenn er nicht schlief, wenn er nach dem Essen in seinem Ledersessel saß und sich durch den Stapel der Fachzeitschrift für Psychiatrie las, der vom Boden emporwuchs. Sein Pusten war der Takt, der mein Leben bestimmte.
Das Telefon klingelte erneut, und ich lag da und wartete darauf, dass Hugh abnahm. Sicher war das einer seiner Patienten, vermutlich der paranoide Schizophrene, der schon gestern Abend angerufen hatte, weil er davon überzeugt war, die CIA würde ihn in ein Regierungsgebäude in Atlanta verschleppen.
Beim dritten Klingeln griff Hugh nach dem Hörer. »Ja, hallo«, sagte er, seine Stimme klang heiser, kam aus den Tiefen des Schlafs.
Ich drehte mich weg und sah auf das fahle, wässrige Licht, das durch das Fenster drang. Mir fiel ein, dass Aschermittwoch war, und mich überfiel das unausweichliche Schuldgefühl.
Mein Vater war an einem Aschermittwoch gestorben, ich war damals neun Jahre alt gewesen, und sein Tod die Folge einer unseligen Verkettung von Umständen, die, was niemand je wirklich begriffen hatte, ich in Gang gesetzt hatte: Ich war an allem schuld.
Auf seinem Boot war ein Feuer ausgebrochen, der Treibstofftank war explodiert - so hatte es jedenfalls damals geheißen. Wrackteile waren erst Wochen später an den Strand gespült worden, und darunter war auch der Teil des Hecks gewesen, auf dem Jes-Sea geschrieben stand. Er hatte das Boot nach mir benannt, nicht nach meinem Bruder, noch nicht einmal nach meiner Mutter, die er abgöttisch geliebt hatte, sondern nach mir, Jessie.
Ich schloss die Augen und sah ölige Flammen und grelles, orangefarbenes Licht. In einem Artikel in der Tageszeitung von Charleston hatte gestanden, die Umstände der Explosion wären fragwürdig, und es hatte sogar eine Untersuchung gegeben, die jedoch zu keinem Ergebnis geführt hatte - all das wusste Mike und ich aber nur, weil wir den Zeitungsausschnitt in einer Schublade des Frisiertisches meiner Mutter entdeckt hatten, ein merkwürdiger, geheimnisvoller Hort, der zerrissene Rosenkränze, alte Heiligenmedaillons, Heiligenbildchen und eine kleine Jesusstatue, die nur einen Arm hatte, beherbergte. Mutter wäre wohl niemals auf die Idee gekommen, dass wir eines Tages in ihren kleinen Friedhof der Heiligtümer eindringen würden.
Ich war fast jeden Tag an diesen furchtbringenden Schrein gegangen, ein ganzes Jahr lang. Ich war wie besessen gewesen, hatte den Zeitungsartikel immer und immer wieder gelesen, vor allem den einen, entscheidenden Satz: »Die Polizei nimmt an, dass ein Funken aus der Pfeife ein Leck in der Treibstoffleitung entzündet hat.«
Ich war es gewesen. Ich hatte ihm die Pfeife zum Vatertag geschenkt. Davor hatte er niemals geraucht.
Ich konnte bis heute nicht an meinen Vater denken, ohne dass mir dabei das Wort »fragwürdig« in den Sinn gekommen wäre. Ich musste immerzu daran denken, dass er an jenem Tag zu Asche geworden war, an dem sich andere Menschen - ich, Mike und meine Mutter - in der Kirche ein Kreuz aus Asche auf die Stirn zeichnen lassen. Eine weitere Ironie des Schicksals in dieser langen Verquickung merkwürdiger, dunkler Ereignisse.
»Aber sicher erinnere ich mich«, hörte ich Hugh am Telefon sagen, und seine Stimme holte mich schlagartig in die Wirklichkeit zurück - der Anruf, der trübe Morgen. »Uns hier geht es gut. Wie geht es denn bei euch so?«
Das klang nicht nach einem Patienten. Und es war auch ganz sicher nicht Dee, unsere Tochter. Dafür war er viel zu förmlich. Ich fragte mich, ob es womöglich einer von Hughs Kollegen war. Oder ein Arzt aus dem Krankenhaus. Gelegentlich rief einer an, um sich über einen Fall zu beraten, aber gewöhnlich nicht um fünf Uhr morgens.
Ich schlüpfte unter der Decke hervor und ging barfuß hinüber zum Fenster, um zu sehen, wie groß die Gefahr war, dass der Regen wieder einmal den Keller überfluten und unseren Heißwasserkessel außer Gefecht setzen würde. Ich starrte hinaus auf die kalte, körnige Sintflut, den bläulichen Nebel, auf die Straße, in der das Wasser anschwoll. Ich schauderte und wünschte mir, das Haus wäre einfacher zu beheizen.
Ich hatte Hugh damals fast um den Verstand gebracht, als ich ihn gedrängt hatte, dieses riesige, unpraktische Haus zu kaufen, und obwohl wir jetzt schon seit sieben Jahren darin wohnten, weigerte ich mich immer noch, irgendetwas daran zu bemängeln. Ich fand die fünf Meter hohen Decken und die farbigen Glasfenster wundervoll. Und den kleinen Turm - Gott, was liebte ich diesen Turm! Wie viele Häuser konnten schon mit so etwas aufwarten? Man musste eine Wendeltreppe erklimmen, um in mein Atelier zu gelangen, es war im ausgebauten Dachboden auf der dritten Etage, mit Dachschrägen und einem Oberlicht - so fern ab von der Welt und so verwunschen, dass Dee es den »Rapunzelturm« getauft hatte. Sie zog mich immer damit auf. »He, Mom, wann lässt du endlich dein Haar herunter?«
Dee sagte das zwar nur zum Spaß, aber wir wussten beide, was sie eigentlich damit meinte - nämlich, dass ich allmählich verstaubte. Dass ich mich hinter einer schützenden Wand aus Bequemlichkeit und Gewohnheit verbarg. Als sie zu Weihnachten bei uns gewesen war, hatte ich für sie einen Comic von Gary Larson an den Kühlschrank gepinnt: DIE BESTE MUTTER DER WELT. Auf dem Bild standen zwei Kühe auf einer idyllischen Weide, und eine von ihnen sagte: »Mir ist egal, was all die anderen sagen, ich jedenfalls bin nicht glücklich.« Es war als kleiner Scherz gedacht, für Dee.
Ich erinnere mich, dass Hugh darüber gelacht hatte. Hugh, der sonst in anderen las, als wären sie menschliche Rorschachtests, ausgerechnet Hugh hatte nichts darin gesehen. Dee dagegen hatte außergewöhnlich lange vor dem Bild gestanden und mich dann mit einem vielsagenden Blick angesehen. Sie hatte es gar nicht zum Lachen gefunden.
Und ganz ehrlich gesagt, ich war auch nicht glücklich, ich war irgendwie rastlos geworden. Es hatte im Herbst angefangen - dieses unbestimmte Gefühl, dass die Zeit vergeht, dass mein Leben immer weiter aufgeschoben wird, dass ich eingesperrt bin. Ich wollte nicht einmal mehr hoch in mein Atelier. Das unfassbare Unbehagen vermeintlich glücklicher Kühe auf der saftigen, grünen Weide. Die das ständige Wiederkäuen so satt haben.
Im Winter hatte sich das Gefühl dann noch verstärkt. Ich brauchte nur einen der Nachbarn joggen zu sehen, und schon stellte ich mir vor, er würde für eine Klettertour am Kilimandscharo trainieren. Dann hatte ich mir von einer Freundin aus meinem Bücherclub auch noch die detailgetreue Beschreibung ihres ersten Bungeesprungs anhören müssen, sie war in Australien todesmutig von einer Brücke gesprungen. Und dann - das war das Schlimmste gewesen - war im Fernsehen ein Bericht über eine unerschrockene Frau gekommen, die ganz alleine durch das tiefe Blau Griechenlands reiste. Ich war von dem Feuerwerk an Lebensfreude, das aus diesen Abenteuern sprühte, überwältigt worden, von diesem Strom kraftvoller Lebendigkeit, von diesem unruhigen Blut, oder was es auch war, das diese Menschen mitriss. Ich hatte ganz deutlich gespürt, dass mir das Gefühl der Grenzenlosigkeit fehlte, mir gingen all die außergewöhnlichen Dinge ab, die andere Menschen in ihrem Leben machten - obwohl ich, wenn ich ehrlich zu mir selber war, eigentlich nichts von alledem tun wollte. Ich hätte damals nicht sagen können, was ich eigentlich wollte, aber in mir war ein unbestimmtes schmerzhaftes Verlangen.
Ich spürte es auch an jenem Morgen. Als ich am Fenster stand, kündigte es sich wieder grummelnd und verstohlen an. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Hugh schien zu glauben, dass mein kleines Stimmungstief - oder was ich sonst hatte - damit zusammenhing, dass Dee jetzt auf dem College war. Er war tatsächlich mit dem Klischee von Kindern angekommen, die flügge werden und das Nest verlassen.
Letztes Jahr im Herbst waren Hugh und ich, nachdem wir Dee im Vanderbilt College gut untergebracht hatten, nach Hause gerast, damit er pünktlich beim »Waverly Harris Herrenturnier« zugunsten der Krebshilfe antreten konnte, dessentwegen er schon den ganzen Sommer über nervös gewesen war. Drei Monate lang war er zweimal in der Woche unerschrocken in die Hitze des Sommers von Georgia hinausgetreten und hatte mit seinem teuren Prince Graphit-Schläger trainiert. Und dann hatte ich den ganzen Nachhauseweg über geweint. Ich hatte immer noch Dee vor mir gesehen, wie sie vor ihrem Schlaftrakt gestanden und uns nachgewunken hatte, als wir losgefahren waren. Sie hatte ihr Auge und ihre Brust berührt und dann auf uns gezeigt - das hatte sie als kleines Mädchen immer gemacht. Auge, Herz, du. Es hatte mich umgehauen. Als wir zu Hause angekommen waren, hatte Hugh trotz meiner Widerrede Scott angerufen, seinen Partner beim Doppel, und ihn gebeten, seinen Platz beim Turnier einzunehmen. Hugh war dann bei mir zu Hause geblieben und hatte sich mit mir einen Film angesehen. Ein Offizier und Gentleman. Und er hatte sich auch noch wirklich große Mühe gegeben, so zu tun, als hätte ihm der Film gefallen.
Die tiefe Traurigkeit, die an jenem Tag im Auto über mich gekommen war, hatte noch einige Wochen lang über mir gedräut, aber dann hatte sie sich verzogen. Natürlich vermisste ich Dee - das war gar keine Frage - aber ich wollte nicht glauben, dass dies allein die Ursache war.
Vor ein paar Wochen hatte mich Hugh dann dazu gedrängt, Dr. Ilg zu konsultieren, eine Kollegin aus seiner Praxis. Ich hatte mich mit dem Argument geweigert, dass sie in ihrem Büro einen Papagei hielt.
Ich wusste, dass ich ihn damit wahnsinnig machen konnte. Natürlich war das nicht der wahre Grund - ich habe nichts gegen Leute mit Papageien, es sei denn, sie zwingen sie in zu kleine Käfige. Ich benutzte die alberne Ausrede mit dem Papagei lediglich, um Hugh zu zeigen, dass ich seinen Vorschlag nicht ernst nahm. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mich seinem Willen nicht beugte.
»Sie hat einen Papagei, na, und wenn schon?«, sagte er. »Du würdest gut mir ihr klarkommen.« Vermutlich würde ich das sogar, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, so weit zu gehen - all das Herumgestochere in der Buchstabensuppe der Kindheit, aus der dann einzelne Buchstaben herausgefischt werden in der Hoffnung, dass sie sich zu erhellenden Sätzen zusammenfügen lassen, die erklären, warum sich die Dinge so und nicht anders entwickelt haben.
Gelegentlich jedoch malte ich mir im Geiste Sitzungen mit Dr. Ilg aus. Darin erzählte ich ihr von meinem Vater, und sie machte sich grunzend Notizen auf einem kleinen Block - mehr tat sie nicht. Ihren Vogel stellte ich mir als einen strahlend weißen Kakadu vor, der auf der Rückenlehne ihres Stuhls saß und alle möglichen ungeheuerlichen Kommentare ausstieß, ein endloser Widerhall, wie der Chor einer griechischen Tragödie: »Du gibst dir die Schuld, du gibst dir die Schuld, du gibst dir die Schuld.«
Vor kurzem, keine Ahnung, was da in mich gefahren war, hatte ich Hugh von meinen imaginären Sitzungen mit Dr. Ilg erzählt, selbst von dem Papagei. Er hatte gelächelt. »Vielleicht solltest du dir lieber einen Termin bei dem Vogel geben lassen«, hatte er gemeint. »Deine Dr. Ilg klingt ja wie ein völliger Trottel.«
Hugh lag im Bett und hörte der Person am anderen Ende der Leitung zu und gab etwas wie »hm-hm, aha-aha« von sich. Sein Gesicht hatte sich zu dem Ausdruck verschlossen, den Dee »Das Große Stirnrunzeln« nannte, eine Miene konzentrierten und angestrengten Zuhörens, bei der man beinahe sehen konnte, wie die verschiedenen Kolben in seinem Gehirn arbeiteten, sich abwechselnd hoben und senkten: Freud, Jung, Adler, Horney, Winnicott.
Wind pfiff über das Dach, und ich hörte, wie das Haus - wie jedes Mal bei Sturm - mit einer operettenhaften Stimme, die wir »Beverly Schrill« nannten, zu singen begann. Im Haus gab es Türen, die sich widerspenstig dagegen wehrten zuzugehen, alte Toiletten, die sich weigerten zu spülen. »Die Toiletten sind wieder mal anal-regressiv!«, rief Dee dann immer. Und ich musste beständig auf der Hut sein, dass Hugh nicht die Eichhörnchen tötete, die im Kamin seines Arbeitszimmers lebten. Wenn wir uns jemals scheiden lassen würden, sagte er immer zum Spaß, dann wegen der Eichhörnchen.
Aber ich liebte das alles, von ganzem Herzen. Ich hasste nur die allwinterlichen Überflutungen im Keller und den Durchzug. Und jetzt, wo Dee in ihrem ersten Studienjahr in Vanderbilt war, hasste ich auch die Leere.
Hugh hatte sich im Bett hingekauert, seine Ellbogen balancierten auf den Knien, und die zwei oberen Spitzen seiner Nackenwirbel zeichneten sich unter seinem Schlafanzug ab. Er sagte: »Dir ist doch klar, dass das eine sehr ernste Situation ist, oder? Sie muss in Behandlung, zu einem Psychiater, will ich damit sagen.«
In dem Moment war ich mir sicher, dass er mit einem Arzt aus dem Krankenhaus sprach, obwohl ich seinen Tonfall ziemlich belehrend fand, und es war eigentlich nicht Hughs Art, so mit Kollegen zu reden.
Durch das Fenster hindurch sah es aus, als würde die Nachbarschaft in den Fluten versinken, als ob sich die Häuser - einige so groß wie Archen - jeden Augenblick von ihren Fundamenten lösen und die Straße hinuntertreiben würden. Der Gedanke, dass ich in dieses Chaos hinauswaten musste, war mir zuwider, aber selbstverständlich würde ich gehen. Ich würde wie immer zur Kirche der Heiligen Jungfrau Maria fahren, nach Peachtree, um mein Aschekreuz zu bekommen. Als Dee noch klein gewesen war, hatte sie die Kirche einmal aus Versehen »die Feige Jungfrau Maria« genannt. Wir beide sagten das auch heute noch oft zum Spaß, und mir wurde in diesem Moment klar, wie passend der Name doch war. Ich meine, wenn Maria noch unter uns wäre, wie ja so viele Menschen glauben, darunter auch meine katholische Mutter mit ihrer unerschütterlichen Frömmigkeit, wäre sie wahrscheinlich feige. Wahrscheinlich, weil man sie auf einen so unendlich hohen Sockel gestellt hatte - vollkommene Mutter, gute Ehefrau, Musterbild sittsamer Weiblichkeit. Sie stand vermutlich dort oben, spähte hinunter und wünschte sich inständig eine Leiter herbei, einen Fallschirm, einfach irgendetwas, womit sie von dort oben herunterkommen könnte.
Seit mein Vater gestorben war, hatte ich keinen einzigen Kirchgang zu Aschermittwoch versäumt - selbst als Dee noch ein Baby gewesen war und ich sie mitnehmen musste. Ich hatte sie in eine feste Trage aus Decken gewickelt und mich mit Schnullern und Flaschen abgepumpter Muttermilch bewaffnet. Ich fragte mich, warum ich mich dem eigentlich immer wieder unterwarf - das gleiche Ritual, Jahr für Jahr in der Kirche der Heiligen Jungfrau Maria. Wenn der Priester in seinem eintönigen Singsang sagte: »Gedenke Mensch, dass du aus Staub bist, und zum Staub wirst du zurückkehren.« Das Aschekreuz auf meiner Stirn.
Ich wusste nur, dass ich all die Jahre die Schuld am Tod meines Vaters wie eine Bürde mit mir herumgetragen hatte.
Hugh war inzwischen aufgestanden. Er sagte: »Willst du selber mit ihr sprechen?« Er sah mich an, und ich spürte, wie auf einmal Furcht in mir aufstieg. Ich sah eine helle Wasserwoge vor mir, die machtvoll die Straße hinunterdrängte, um die Ecke spülte, an der Mrs. Vandiver ihre Laube zu nahe an der Auffahrt errichtet hatte, kein Wellengebirge wie ein Tsunami, eher ein gleißender, drohender Wellenhügel, der auf mich zukam und der die alberne Laube, Briefkästen, Hundehütten, Pflanzstäbe und Azaleenbüsche einfach mit sich forttrug. Ein vernichtendes Rauschen, das über alles hinwegfegte.
»Es ist für dich«, sagte Hugh. Ich rührte mich nicht, dann rief er mich beim Namen. »Jessie, der Anruf - es ist für dich.«
Er hielt mir den Hörer entgegen, er stand dort mit seinem dicken Haar, das ihm am Hinterkopf wie einem Kind zu Berge stand, und sah ernst und angespannt aus. Und draußen vor dem Fenster ergoss sich eine Flut von Wasser, eine Trillion Zinntropfen, die vom Dach herunterrannen.
KAPITEL 2
Ich griff nach meinem Bademantel, der über dem Bettpfosten hing, und zog ihn mir über die Schultern. Ich nahm das Telefon, während Hugh unschlüssig vor mir stand und nicht wusste, ob er sich lieber zurückziehen sollte oder nicht. Ich legte die Hand über den Hörer. »Es ist doch niemand gestorben, oder?«
Er schüttelte den Kopf.
»Zieh dich an. Oder geh wieder ins Bett«, riet ich ihm.
»Nein, warte...«, sagte er, aber ich hatte schon »Hallo« ins Telefon gesagt. Er drehte sich um und ging ins Badezimmer.
»Du Arme, da hab’ ich dich schon vor Tagesanbruch aus dem Schlaf gerissen«, sagte eine Frauenstimme. »Aber nur damit du’s weißt, das war keine Absicht. Ich war so lange auf, dass ich darüber glatt vergessen hab’, dass es ja noch früh am Morgen ist.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich. »Aber wer spricht denn da?«
»Herr im Himmel, ich bin ja so eine unverbesserliche Optimistin, da hab’ ich doch echt geglaubt, du würdest meine Stimme erkennen. Hier ist Kat. Egret Island Kat. Deine Patentante Kat. Die Kat, die deine vollgeschissenen Windeln gewechselt hat.«
Meine Lider schlossen sich. Sie war von jeher die beste Freundin meiner Mutter gewesen - eine zierliche Frau in den Sechzigern, die zu Stöckelschuhen Söckchen mit Spitzenmuster trug und diese dann auch noch nach unten rollte. Sie erweckte dadurch zwar äußerlich den Eindruck einer eleganten, exzentrischen und ältlichen Dame, deren Energie und Durchsetzungsvermögen proportional zu ihrer Knochendichte abgenommen hatten, aber dieser Anschein täuschte ganz gewaltig.
Ich sank auf das Bett. Ich wusste, es konnte nur einen Grund für ihren Anruf geben. Es musste etwas mit meiner Mutter zu tun haben, und aus Hughs Verhalten schloss ich, Kat brachte keine guten Nachrichten.
Mutter lebte noch immer auf Egret Island, dort, wo wir einst als Familie glücklich gewesen waren, eine ganz »gewöhnliche« Familie eigentlich, bis auf die Tatsache, dass wir direkt neben einem Benediktinerkloster gelebt hatten.
Die Wrackstücke vom Boot meines Vaters waren an das Grundstück der Abtei gespült worden. Mehrere Mönche hatten die Planke gebracht, auf der Jes-Sea stand. Sie hatten sie meiner Mutter wie die Fahne bei einem Soldatenbegräbnis präsentiert. Mutter hatte dann ganz ruhig ein Feuer im Kamin entzündet und Kat und Hepzibah angerufen, die Dritte in ihrem Bunde. Ihre Freundinnen waren gekommen und hatten gemeinsam mit den Mönchen zugeschaut, wie Mutter das Holz feierlich den Flammen übereignet hatte. Ich hatte zugesehen, wie die Buchstaben schwarz wurden, wie das Holz vom Feuer verzehrt wurde. Die Erinnerung daran überkam mich manchmal mitten in der Nacht, sogar während meiner Hochzeit hatte ich daran denken müssen. Es hatte für meinen Vater ja keine Beerdigung gegeben, keine Totenwache, mir blieb nur dieser Moment, um seiner zu gedenken.
Bald darauf hatte Mutter angefangen, den Mönchen das Mittagessen zu kochen, und das tat sie jetzt seit nunmehr dreiunddreißig Jahren. Es schien ihre Lebensaufgabe zu sein.
»Unsere kleine Insel hier könnte im Meer versinken, und es würde dich nicht weiter kratzen«, meinte Kat. »Wie lange isses jetzt her? Fünfeinhalb Jahre und eine Woche, seit du das letzte Mal einen Fuß auf die Insel gesetzt hast?«
»Das könnte hinkommen«, meinte ich. Mein letzter Besuch, anlässlich des siebzigsten Geburtstags meiner Mutter, hatte sich zu einer Katastrophe biblischen Ausmaßes entwickelt.
Ich hatte Dee mitgenommen, die damals zwölf gewesen war, und wir hatten meiner Mutter einen wunderschönen fernöstlich inspirierten Schlafanzug aus roter Seide von Saks Fifth Avenue geschenkt. Auf dem Oberteil war ein chinesischer Drache aufgestickt. Mutter hatte sich geweigert, das Geschenk anzunehmen. Und zwar aus einem völlig albernen Grund. Es war wegen des Drachens gewesen, den sie abwechselnd als »Bestie«, »Dämon« oder als »Kreatur großer sittlicher Verderbtheit« bezeichnet hatte. Die Heilige Margareta von Antiochien war von Satan in Gestalt eines Drachens verschlungen worden, hatte sie gesagt. Ob ich denn allen Ernstes erwarten würde, dass sie in dem Teil schlafen würde?
In solchen Situationen hatte es keinen Zweck, mit ihr zu streiten. Sie hatte den Schlafanzug in den Mülleimer geschleudert, ich hatte unsere Sachen gepackt.
Mutter hatte auf der Veranda gestanden und mir nachgerufen: »Wenn du jetzt gehst, brauchst du nie mehr wiederzukommen!« Das war das letzte Mal gewesen, dass ich meine Mutter gesehen hatte. Und Dee, die arme Dee hatte furchtbar geweint.
Kat hatte uns dann in ihrem Golfwägelchen zum Boot gebracht - in dem Gefährt, das sie wie eine Irre über die Schotterpisten der Insel steuerte. Sie hatte immer wieder auf die Hupe gedrückt, um die arme, tränenüberströmte Dee ein wenig abzulenken.
Und jetzt schalt mich ausgerechnet Kat zum Spaß, dass ich der Insel so lange fern geblieben war - dabei war das mein Sicherheitsabstand, der mir lieb und teuer war und den ich tunlichst einhielt.
Ich hörte, wie die Dusche im Badezimmer losbrauste. Sie übertönte sogar noch den Regen, der hart an die Fensterscheiben schlug.
»Wie geht’s Benne?«, wollte ich wissen. Ich versuchte, Zeit zu schinden, versuchte, das beängstigende Gefühl zu ignorieren, das sich über mir zusammenbraute und kurz davor war, auf mich niederzustürzen.
»Bestens«, sagte Kat. »Sie übersetzt noch immer jeden einzelnen Gedanken von Max.«
Trotz meiner wachsenden Sorge musste ich lachen. Kats Tochter, die jetzt wohl vierzig Jahre alt sein musste, war von Geburt an »nicht ganz richtig« gewesen, wie Kat es nannte. Der korrekte Ausdruck hierfür lautete »anders begabt«, und in der Tat besaß Benne ganz außergewöhnliche und seltsame Talente. Sie hatte eine seherische Gabe von geradezu unheimlicher Treffsicherheit. Manches wusste sie einfach, sie schien ihr Wissen irgendwie mit Hilfe geheimnisvoller Antennen aus der Luft zu beziehen, Antennen, die wir anderen nicht besaßen. Und sie hatte eine ganz besondere Gabe, die Gedanken von Max zu entschlüsseln, dem Inselhund, der allen und niemandem gehörte.
»Was hat Max denn dieser Tage so zu sagen?«
»Ach, das Übliche - ›Kann mir mal wieder jemand die Ohren kraulen? Die Eier lecken? Und warum soll ich eigentlich euren bescheuerten Stock zurückholen?‹«
Ich sah Kat im Geiste vor mir, in ihrem Haus, das auf Pfählen stand, wie alle Häuser auf der Insel. Ihres war zitronengelb. Ich stellte sie mir an ihrem langen Eichentisch in der Küche vor, an dem sie, Hepzibah und meine Mutter im Laufe der Jahre Zehntausende blauer Krabben gepult hatten. »Die drei Egreterinnen«, hatte mein Vater sie immer genannt.
»Hör zu, ich ruf’ wegen deiner Mutter an.« Sie räusperte sich. »Du musst nach Hause kommen und dich um sie kümmern, Jessie. Und keine Ausrede.«
Ich ließ mich rückwärts auf das Bett fallen. Ich fühlte mich wie ein Zelt, das in sich zusammenbricht. Der Mittelpfosten knickt ein, das Dach senkt sich.
»Meine Ausrede«, fing ich an, »ist die, dass sie mich nicht sehen will. Sie ist...«
»Unmöglich. Ich weiß. Aber du kannst trotzdem nicht so tun, als gäbe es deine Mutter nicht.«
Ich hätte beinahe laut losgelacht. Das zu behaupten war so, als würde man behaupten, im Meer gäbe es kein Salz. Meine Mutter beherrschte mein Denken und mein Tun. Manchmal hörte ich geradezu, wie ihre Stimme durch meine Knochen pfiff, und das warf mich jedes Mal fast um.
Ich sagte: »Ich habe Mutter letztes Jahr zu Weihnachten eingeladen. Ist sie gekommen? Natürlich nicht. Ich habe ihr Geschenke zum Geburtstag geschickt, zum Muttertag - selbstverständlich alles ohne Drachen, um das gleich klarzustellen - und ich habe nie auch nur ein Wort von ihr gehört.«
Ich war heilfroh, dass Hugh noch unter der Dusche stand und mich nicht hören konnte. Ich war bestimmt gerade ein wenig laut geworden.
»Sie braucht deine Geschenke und deine Anrufe auch nicht - sie braucht dich.«
Mich.
Warum konnte sie nicht Mike in Kalifornien anrufen und ihm eine Predigt halten? Als ich das letzte Mal mit Mike telefoniert hatte, hatte er mir gesagt, er wäre zum Buddhismus übergetreten. Ein Buddhist hätte doch sicher sehr viel mehr Geduld mit ihr als ich.
Kat schwieg. Ich hörte, wie die Dusche abgestellt wurde, wie es in den Rohren klopfte.
»Jessie«, sagte sie schließlich. »Der eigentliche Grund, weshalb ich anrufe, ist... Deine Mutter hat sich gestern einen Finger abgetrennt, mit einem Fleischmesser. Den rechten Zeigefinger.«
Schlechte Nachrichten dringen immer sehr langsam zu mir durch, ich höre zwar die Worte, aber ich verstehe ihre Bedeutung nicht. Sie schweben immer eine Weile im Zimmer, unterhalb der Decke, während sich mein Körper auf die Wucht ihres Aufpralls vorbereitet. Ich hörte mich fragen: »Ist mit ihr sonst alles in Ordnung?«
»Das wird schon alles wieder, aber sie musste im Krankenhaus, drüben in Mount Pleasant, an der Hand operiert werden. Natürlich hat sie wieder mal eine ihrer berühmten Szenen geliefert und sich geweigert, über Nacht dazubleiben, also hab’ ich sie mit zu mir genommen. Im Moment liegt sie in Bennes Bett und schläft, sie hat jede Menge Schmerzmittel im Leib, aber in der Minute, in der sie wach wird, wird sie wohl nach Hause wollen.«
Hugh öffnete die Badezimmertür, und ein Dampfschwall drang ins Schlafzimmer. »Alles klar?«, fragte er, ich nickte. Er schloss die Tür wieder, und ich hörte, wie er seinen Rasierapparat am Waschbecken ausschlug. Dreimal, wie jeden Tag.
»Die Sache ist die...«, Kat hielt inne und holte tief Luft. »Also, ich will es geradeheraus sagen. Das war kein Unfall. Deine Mutter ist rüber in die Klosterküche gegangen und hat sich den Finger abgeschnitten. Absichtlich.«
In dem Moment traf sie mich, die volle Wucht. Mir wurde bewusst, tief im Innern hatte ich schon seit Jahren darauf gewartet, dass sie irgendetwas Verrücktes tun würde. Aber doch nicht so etwas.
»Aber warum? Warum sollte sie so etwas tun?« Ich spürte, wie mir allmählich übel wurde.
»Das ist wohl ziemlich kompliziert, glaub’ ich, aber der Arzt, der sie operiert hat, vermutet, dass es was mit ihrer Schlaflosigkeit zu tun hat. Nelle hat seit Tagen, vielleicht seit Wochen nicht richtig geschlafen.«
Mein Magen zog sich zusammen, ich ließ das Telefon aufs Bett fallen und rannte ins Badezimmer. Vorbei an Hugh, der am Waschbecken stand, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Schweiß rann mir am Körper hinunter, ich warf den Bademantel von mir und beugte mich über die Toilette. Nachdem ich das bisschen, was mein Magen hergab, erbrochen hatte, würgte ich schließlich nur noch Luft.
Hugh reichte mir einen kalten Waschlappen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte es dir gerne schonend beigebracht, aber sie hat darauf bestanden, es dir selber zu sagen. Ich hätte es nicht zulassen sollen.«
Ich wies durch die Tür Richtung Bett. »Ich brauche nur einen kleinen Augenblick, dann geht es schon. Sie ist noch am Telefon.«
Er ging zum Bett und nahm den Hörer, während ich mir einen kalten Lappen über den Nacken rieb. Ich sank auf den Rattanstuhl im Badezimmer und wartete darauf, dass die Magenkrämpfe aufhörten.
»Es ist nicht leicht für sie, das zu verdauen«, hörte ich ihn sagen.
Mutter war immer schon mit einer Frömmigkeit gesegnet gewesen, die man als inbrünstig bezeichnen könnte. Zu unserer Kinderzeit mussten Mike und ich für die »Heidenkinder« Münzen in leeren Milchflaschen sammeln, und jeden Freitag mussten wir in der Kirche Herz Jesu Kerzen entzünden, und wir mussten uns mit ihr in ihrem Schlafzimmer hinknien, während sie alle fünf Strophen des Rosenkranzes aufsagte und ihr Kruzifix küsste, auf dem Jesus von so viel religiöser Hingabe schon zu einem dünnen Stöckchen zusammengeschrumpft war. Manche Menschen waren eben so. Aber das hieß ja nicht, dass sie verrückt waren.
Nach dem Feuer auf dem Boot hatte sich meine Mutter in eine Art Johanna von Orleans verwandelt - dabei führte sie weder Armee noch Krieg, sie war nur von diesem seltsamen, religiösen Eifer, einer Art Mission getrieben. Aber selbst damals hatte ich sie immer noch für normal verrückt gehalten, ihre Frömmigkeit lediglich für noch ein paar Grad heißer als glühend. Als sie sich dann so viele Heiligenmedaillons an ihren Büstenhalter heftete, dass sie bei jedem Schritt klimperte, und als sie angefangen hatte, im Kloster zu kochen, und sich benahm, als gehörte es ihr, hatte ich mir gesagt, sie wäre eben nur eine übereifrige Katholikin, die doch recht arg von ihrem Seelenheil besessen war.
Ich ging zurück ins Schlafzimmer und streckte die Hand nach dem Telefon aus, und er reichte es mir zurück. »Das kann man ja wohl kaum einen schweren Fall von Schlaflosigkeit nennen«, schimpfte ich los, mitten in den Satz hinein, den Kat gerade zu Hugh gesagt haben musste. »Jetzt hat sie endgültig den Verstand verloren.«
»Sag das niemals wieder!«, fuhr mich Kat an. »Deine Mutter hat den Verstand nicht verloren. Sie quält etwas. Das ist etwas ganz anderes. Vincent van Gogh hat sich ein Ohr abgeschnitten - glaubst du etwa auch, dass der den Verstand verloren hatte?«
»Ja, allerdings glaube ich das.«
»Nun, eine ganze Menge sehr gebildeter Menschen sind da anderer Meinung und glauben, dass ihn etwas gequält hat«, sagte sie.
Hugh stand noch immer vor mir. Ich winkte ihm zu, er solle weggehen, ich konnte mich nicht konzentrieren, wenn er da stand und auf mich heruntersah. Er schüttelte den Kopf und ging ins Ankleidezimmer.
»Und was bitte quält meine Mutter?«, wollte ich wissen. »Sag mir bitte nicht, der Tod meines Vaters. Das war vor dreiunddreißig Jahren.«
Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass Kat ein Wissen um meine Mutter barg, das für mich unerreichbar war, es war wie eine Wand, hinter der eine verschlossene Kammer lag. Kat antwortete nicht sogleich, und ich fragte mich, ob sie es mir womöglich diesmal sagen würde.
»Du suchst nach einem Grund«, sagte sie, »aber das hilft ihr im Moment nicht. Das ändert nicht das Hier und Heute.«
Ich seufzte, und im gleichen Moment kam Hugh aus dem Ankleidezimmer, in einem langärmeligen, blauen Oxfordshirt, das bis zum Kragen zugeknöpft war, einem Paar weißer Boxershorts und auf dunkelblauen Socken. Er stand da, schloss seine Armbanduhr und machte dieses Geräusch, dieses Pusten.
Diese Szene war beinahe so unabänderlich und regelmäßig wie der Weltenlauf. Ich hatte sie schon Tausende Male gesehen, aber jetzt, wo mir das Drama mit meiner Mutter in den Schoß gefallen war, ausgerechnet jetzt spürte ich wieder das Gefühl der Unzufriedenheit, das sich den Winter über in mir aufgestaut hatte. Es erwischte mich mit solcher Macht, dass ich mich fühlte, als hätte mich jemand geschlagen.
»Und«, sagte Kat, »kommst du nun oder nicht?«
»Ja, ich komme. Natürlich komme ich.«
Noch während ich die Worte aussprach, erfasste mich eine Welle der Erleichterung. Nicht angesichts der Tatsache, dass ich nach Hause, nach Egret Island fahren und mit dieser grotesken Situation umgehen musste. Nein, dieses bemerkenswerte Gefühl der Erleichterung kam, so wurde mir klar, einzig und allein von der Tatsache, dass ich wegfahren würde. Punkt.
Ich saß auf dem Bett mit dem Hörer in der Hand, staunte über mich selbst und schämte mich. So schrecklich diese Sache mit meiner Mutter auch war, ich war beinahe dankbar dafür. Denn sie hatte mir etwas geboten, von dem ich bis zu diesem Moment nicht gewusst hatte, dass ich es so dringend brauchte: einen Grund zu gehen. Einen guten, geradezu edlen Grund, meine idyllische Weide zu verlassen.
KAPITEL 3
Als ich nach unten kam, war Hugh bereits dabei, Frühstück zu machen. Ich konnte die Würstchen schon von der Treppe aus zischen hören.
»Ich hab’ keinen Hunger«, sagte ich nur.
»Aber du musst etwas essen«, erwiderte er. »Du wirst dich schon nicht wieder übergeben, glaub mir nur.«
Wann immer es eine Krise gab, machte Hugh ein reichhaltiges, mächtiges Frühstück. Er glaubte fest an dessen belebende Kräfte.
Und er hatte mir schon einen Hinflug nach Charleston gebucht und dann dafür gesorgt, dass seine Patiententermine am Nachmittag verlegt würden, damit er mich zum Flughafen bringen konnte.
Ich setzte mich an unsere Frühstückstheke und schob die Bilder beiseite: das Fleischmesser, Mutters Finger.
Der Kühlschrank öffnete sich mit einem leisen, schmatzenden Geräusch, dann schloss er sich wieder. Ich sah zu, wie Hugh vier Eier zerschlug. Er stand mit dem Pfannenwender am Herd und schob die Eier in der Pfanne hin und her. Eine Reihe feuchter, brauner Locken fiel über seinen Hemdkragen. Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass er ruhig mal wieder zum Friseur gehen könnte, dass er wie ein alternder Hippie aussähe, aber ich verkniff es mir. Vielleicht aber verpufften die Worte auch einfach nur, noch ehe ich sie ausgesprochen hatte.
Stattdessen starrte ich Hugh nur an. Hugh wurde ständig angestarrt - in Restaurants, an der Theaterkasse, in der Buchhandlung. Ich ertappte zumeist Frauen dabei, wie sie ihn musterten. Sein Haar und seine Augen hatten diesen warmen Herbstton, der einen unwillkürlich an glückliche Ernten und goldene Füllhörner denken ließ, und in der Mitte des Kinns hatte er ein hinreißendes Grübchen.
Einmal hatte ich ihn sogar damit aufgezogen, ich hatte gesagt, dass mich niemand zur Kenntnis nehmen würde, wenn wir gemeinsam einen Raum betraten, weil er so viel besser aussähe als ich, und er hatte sich genötigt gefühlt, mir zu sagen, ich wäre schön. Aber ich konnte Hugh wirklich nicht das Wasser reichen. Jetzt hatten auch noch Krähenfüße ihre gezackten Muster in die Haut um meine Augen herum eingeschrieben. Manchmal setzte ich mich vor den Spiegel und schob die Haut an meinen Schläfen mit den Fingern nach hinten. Mein Haar hatte, solange ich denken konnte, immer eine ungewöhnliche Muskatfarbe besessen, aber jetzt wurde es von den ersten Spuren von Grau durchzogen. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, wie sich mir eine Hand in den Nacken legte und mich langsam an jenen geheimnisvollen Ort zog, wo Frauen in den Wechseljahren leben. Meine Freundin Rae war schon dorthin entschwunden, und dabei war Rae gerade erst fünfundvierzig Jahre alt geworden.
Mit Hugh dagegen schien das Alter viel gnädiger umzugehen. Sein gutes Aussehen verwandelte sich einfach nur in Reife und Charakter, aber es war diese Mischung aus Intelligenz und Freundlichkeit, die er ausstrahlte, die ihn so besonders attraktiv machte. Das hatte auch mich damals sofort für ihn eingenommen.
Ich beugte mich vor, die Kälte des gesprenkelten Granits auf unserer Frühstückstheke drang bis in die Knochen meiner Ellbogen, und ich dachte daran, wie wir uns kennen gelernt hatten. Ich musste mir ins Gedächtnis zurückrufen, wie es einst gewesen war. Wie wir einst gewesen waren.
Er war auf meiner ersten so genannten Ausstellung aufgetaucht. Eigentlich hatte ich mir bloß einen schäbigen Stand auf dem Flohmarkt gemietet. Ich hatte gerade meinen Abschluss an der Kunsthochschule gemacht, und mein Traum war es damals gewesen, meine Arbeiten zu verkaufen und als freie Künstlerin zu leben. Aber den ganzen Tag über hatte sich kein Mensch meine Kunstkistchen wirklich angesehen, mit Ausnahme einer Frau, die sie als »Schaukästen« bezeichnet hatte.
Hugh, der in seinem zweiten Jahr als Assistenzarzt in der Psychiatrie am Klinikum der Emory Universität arbeitete, war an dem Tag auf den Markt gegangen, um Gemüse zu kaufen. Als er an meinem Stand vorbeigeschlendert kam, waren seine Augen an meinen »Küssenden Gänsen« hängen geblieben. Eine merkwürdige Arbeit, aber sie war auch mein Lieblingsstück gewesen.
Ich hatte das Innere der Kiste wie ein viktorianisches Interieur gestaltet - englische Tapeten mit Rosenmuster und Stehlampen mit Fransen -, dann hatte ich ein samtenes Sofa aus einem Puppenhaus davor gestellt und zwei Plastikgänse auf die Kissen geklebt. Ich hatte sie so arrangiert, dass es aussah, als wären sie in einem Schnabelkuss versunken.
Meine Inspiration war eine Zeitungsgeschichte über eine Wildgans gewesen, die ihren Schwarm verlassen hatte, um bei ihrem Partner zu bleiben, der auf einem Parkplatz verletzt worden war. Ein Angestellter hatte den kranken Vogel in ein Tierheim gebracht, aber seine Gefährtin war eine Woche lang über den Parkplatz gewandert und hatte kläglich geschnattert, bis sich der Angestellte endlich erbarmt und auch diese Gans in das Heim gebracht hatte. In dem Artikel hatte es geheißen, man hätte ihnen ein gemeinsames »Zimmer« gegeben.
Den Zeitungsartikel hatte ich ausgeschnitten und außen auf die Kiste geklebt, und auf dem Deckel hatte ich eine Tute angebracht, die wie eine quäkende Gans klang. Viele Leute, die an meinem Stand vorbeigekommen waren, hatten auf die Tute gedrückt. Ich fand, das sagte eine Menge über sie aus. Dass sie verspielter waren als andere, weniger gehemmt.
Hugh hatte sich über die Kiste gebeugt und den Artikel gelesen, während ich abgewartet hatte, was er wohl tun würde. Er hatte gleich zweimal auf die Hupe gedrückt.
»Wie viel wollen Sie dafür haben?«, hatte er gefragt.
Ich hatte tief Luft geholt, meinen ganzen Mut zusammengenommen und dann gesagt: »Fünfundzwanzig Dollar.«
»Sind vierzig genug?«, hatte er erwidert und nach seinem Portemonnaie gegriffen.
Ich hatte erneut gezögert, völlig verblüfft angesichts der Tatsache, dass jemand so viel für meine küssenden Gänse bezahlen wollte.
»Fünfzig?«
Ich hatte keine Miene verzogen. »In Ordnung, fünfzig.«
Wir hatten uns noch für denselben Abend verabredet. Vier Monate später waren wir verheiratet. Jahrelang hatten die »Küssenden Gänse« auf seiner Kommode gestanden, bis sie irgendwann auf ein Bücherregal in seinem Arbeitszimmer umzogen. Vor ein paar Jahren hatte ich ihn einmal dabei überrascht, wie er sorgfältig alle losen Teile wieder anklebte.
Er hatte mir eines Tages gestanden, dass er nur deshalb so viel Geld geboten hatte, damit ich mich mit ihm verabredete, dabei liebte er das Kistchen wirklich. Und die Tatsache, dass er auf die Hupe gedrückt hatte, hatte sehr viel über ihn ausgesagt, hatte eine Seite an ihm offenbart, die nur wenige Menschen sahen. Sie sahen immer nur seinen bemerkenswerten Verstand, seine Fähigkeit zu sezieren und zu analysieren, dabei machte er gerne Späße, und oft kam er mit völlig verrückten Vorschlägen: Eigentlich könnten wir doch ausgehen und den Mexikanischen Unabhängigkeitstag feiern, oder möchtest du lieber zum Matratzenrennen? Wir hatten dann einen ganzen Samstagnachmittag bei einer Rallye verbracht, deren Teilnehmer Räder an Betten montiert hatten und damit durch das Zentrum von Atlanta gerast waren.
Wenigen nur fiel auch auf, wie tief und ernst er empfand. Er weinte immer noch, wenn sich einer seiner Patienten das Leben nahm, und es stimmte ihn unendlich traurig, in was für dunkle, schauerliche Winkel sich manche Menschen zurückzogen.
Im vergangenen Herbst war ich, während ich die Wäsche wegräumte, auf Hughs Schmuckkästchen gestoßen, ganz hinten in der Schublade mit seinen Unterhosen. Ich hätte das natürlich nicht tun sollen, aber ich hatte mich auf das Bett gesetzt und die Schatulle durchstöbert. Sie enthielt sämtliche von Dees Milchzähnen, so klein und gelb wie Maiskörner, und mehrere Zeichnungen, die sie auf seinem Rezeptblock gemacht hatte. Da waren die Anstecknadel seines Vaters aus Pearl Harbor, die Taschenuhr seines Großvaters und die vier Paar Manschettenknöpfe, die ich ihm zu verschiedenen Anlässen geschenkt hatte. Ich hatte ein Gummiband von einem kleinen Bündel Papiere gezogen und ein zerknittertes Foto entdeckt. Darauf war ich, während unserer Flitterwochen in den Blue Ridge Mountains, und posierte vor der Hütte, die wir uns gemietet hatten. Der Rest waren Karten und kleine Liebesbriefchen, die ich ihm im Laufe der Jahre geschickt hatte. Er hatte sie alle aufbewahrt. Er war es auch gewesen, der zuerst »Ich liebe dich« gesagt hatte, zwei Wochen, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, noch bevor wir überhaupt miteinander geschlafen hatten. Wir waren in einem Diner in der Nähe des Campus gewesen und hatten in einer Nische am Fenster gefrühstückt. Er hatte gesagt: »Ich weiß so gut wie nichts von dir, aber ich liebe dich.« Und von dem Moment an war es ihm ernst gewesen. Bis heute verging kaum ein Tag, an dem er es mir nicht sagte.
Am Anfang unserer Beziehung war ich geradezu hungrig nach ihm gewesen, ein heißes, unstillbares Verlangen, das sich erst gelegt hatte, als Dee geboren wurde. Erst da war es allmählich abgeflaut und gezähmt worden. Wie bei Tieren, die man aus der Wildnis holt und in künstliche Habitate steckt, die ihnen ihre ursprüngliche Umgebung vorgaukeln und in denen sie genügsam und passiv werden, weil sie genau wissen, wann und woher ihre nächste blutleere Nahrung kommt. Für die Jagd und das Wilde ist darin kein Platz mehr.
Hugh stellte mir einen Teller mit Eiern und Würstchen hin. »So, dann iss mal schön«, sagte er.
Wir aßen, Seite an Seite, die Fenster noch verhangen von der Dunkelheit des frühen Morgens. Regen rauschte die Abflussrohre hinunter, und ich hörte ein Geräusch, das klang, als schlüge irgendwo ein Fensterladen.
Ich legte die Gabel nieder und lauschte.
»Auf der Insel haben unsere Sturmläden auch immer so gegen das Haus geschlagen, wenn ein Hurrikan kam«, sagte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen.
Hugh hörte auf zu kauen und sah mich an.
»Mutter hat dann immer ein großes Tuch über den Tisch gelegt und ist mit mir und Mike darunter gekrochen, dann hat sie eine Taschenlampe angemacht und uns vorgelesen. Sie hatte ein Kruzifix von unten an den Tisch genagelt, und wir haben immer auf dem Boden gelegen und es angesehen, während sie uns vorgelesen hat. Es hieß bei uns ›das Sturmzelt‹. Wir haben uns dort immer vollkommen sicher gefühlt, dort würde uns nichts geschehen.«
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »The Mermaid Chair« bei Viking Penguin Inc., New York, N.Y.
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1. Auflage
Copyright © by Sue Monk Kidd Ltd., 2005
Published by arrangement with Viking Penguin, a member of Penguin Group (USA) Inc. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Die Verse auf S.: 7, aus: Pablo Neruda: Hungrig bin ich, will deinen Mund. Luchterhand Literaturverlag, 2001, S. 27 Die Verse auf S.: 225 aus: William Butler Yeats, Die Gedichte, Luchterhand Literaturverlag, 2005, S. 392
eISBN : 978-3-641-02472-7
 
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