Die Erfindung der Flügel - Sue Monk Kidd - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Erfindung der Flügel E-Book

Sue Monk Kidd

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Frauen, die die Welt verändern

Die elfjährige Sarah, wohlbehütete Tochter reicher Gutsbesitzer, erhält in Charleston ein ungewöhnliches Geburtstagsgeschenk – die zehnjährige Hetty »Handful«, die ihr als Dienstmädchen zur Seite stehen soll. Dass Sarah dem schwarzen Mädchen allerdings das Lesen beibringt, hatten ihre Eltern nicht erwartet. Und dass sowohl Sarah als auch Hetty sich befreien wollen aus den Zwängen ihrer Zeit, natürlich auch nicht. Doch Sarah ahnt: Auf sie wartet eine besondere Aufgabe im Leben. Obwohl sie eine Frau ist. Handful ihrerseits sehnt sich nach einem Stück Freiheit. Denn sie weiß aus den märchenhaften Geschichten ihrer Mutter: Einst haben alle Menschen Flügel gehabt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 652

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sue Monk Kidd

Die Erfindung der Flügel

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Astrid Mania

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Invention ofWings« bei Viking, NewYork

1.Auflage

Copyright © 2014 by Sue Monk Kidd

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btbVerlag in derVerlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: semper smile, MünchenCovermotiv: © Heritage Images/Corbis © De Agostini/G. Dagli Ort /Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15149-2V007Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Sandy Kidd, mit all meiner Liebe

ERSTER TEILNovember 1803–Februar 1805

Hetty Handful Grimké

Es war einmal eine Zeit, da konnten die Menschen in Afrika fliegen. Das hat Mauma mir eines Abends erzählt. Damals war ich zehn. »Handful«, hat sie gesagt, »deine Omama hat es noch selbst gesehen. Sie sagt, über Bäume undWolken sind sie geflogen. Sie sagt, wie Schwarzdrosseln sind sie geflogen. Dann hat man sie hergebracht, und da war der Zauber vorbei.«

Meine Mauma war klug.Auch wenn sie nicht, so wie ich, lesen und schreiben konnte.Alles, was sie wusste, hatte sie ein Leben im Schatten der Gnade gelehrt. Sie hatte mir ins Gesicht geschaut, in dieses Meer aus Not und Zweifel. »Du glaubst mir nich? Mädchen, wo kommen deine Schulterblätter her?«

Die dürren Knochen. Sie hatten wie Grate aus meinem Rücken geragt. Mauma hatte sie sanft getätschelt. »Mehr is nich mehr da von deinen Flügeln, nur zwei platte Knochen. Aber einesTages kommen sie wieder.«

Ich war genauso klug wie meine Mauma. Selbst mit zehn war mir klar, Menschen, die fliegen konnten, das war Blödsinn. Wir waren doch keine besonderen Menschen, die ihre Zauberkräfte verloren hatten. Wir waren Sklaven, für uns ging es nirgendshin. Erst später habe ich verstanden, was sie mir sagen wollte. Wir konnten wirklich fliegen, aber das hatte nichts mit einem Zauber zu tun.

An demTag, an dem ich mein Leben in derWelt verloren glaubte, kochte ich im Wirtschaftshof das Bettzeug von uns Sklaven. Ich schürte das Feuer untermWaschtrog. Der Wind wehte mir die Laugenseife ins Gesicht, und meine Augen brannten. Der Morgen war kalt – die Sonne wie ein kleiner weißer Knopf fest an den Himmel geheftet. Im Sommer trugen wir nicht mehr als schlichte Baumwollkleider über der Unterhose, aber wenn ab November oder Januar der Winter wie ein müßiges Mädchen in Charleston einzog, stiegen wir in unsere Säcke – derbe Mäntel aus schwerem Garn. Es waren wirklich alte Säcke mit Ärmeln. Meiner war ein Erbstück und reichte mir bis an die Knöchel. Keine Ahnung, wie viele ungewaschene Leiber ihn vor mir getragen hatten, aber netterweise hatten sie mir alle ihren Duft hinterlassen.

Schon am Morgen hatte ich den Stock von der Missus im Rücken gespürt. Ich war eingeschlafen, beim Beten. JedenTag wurden wir Sklaven, bis auf Rosetta, die alt und verwirrt war, noch vor dem Frühstück ins Speisezimmer gepfercht, und während wir versuchten, den Schlaf abzuschütteln, brachte uns die Missus knappe Bibelverse bei, so was wie »Jesus weinte«, oder sie sprach ein Gebet zu Gottes Lieblingsthema Gehorsam.Wer eindämmerte, bekam Schläge, auch wenn Gott im gleichen Moment noch dieses oder jenes zu sagen hatte.

Bei Aunt-Sister aber riskierte ich nach dieser grässlichenVeranstaltung immer eine dicke Lippe. »Lass diesen Kelch an mir vorübergehen«, plapperte ich die Bibelstelle nach. Oder ich spottete: »Jesus weinte, weil er auch bei der Missus festsitzt, so wie wir.«

Aunt-Sister war die Köchin – sie war zur Missus gekommen, da war die Missus noch ein Mädchen gewesen –, und gemeinsam mitTomfry, dem Butler, schmiss sie den Laden. Sie war die Einzige, die nicht der Stock traf, wenn sie der Missus etwas freiheraus sagte.Von Mauma hörte ich ständig, pass auf, was du sagst, aber das tat ich trotzdem nicht. Ich fing mir bestimmt dreimal amTag von Aunt-Sister eine Backpfeife ein.

Mit mir hatten sie wirklich alle Hände voll zu tun.Aber nicht darum wurde ich Handful genannt. Das war mein Rufname. Der Master und die Missus, die gaben einem Kind den offiziellen Namen, aber eine Mauma schaute ihr Baby in seinem Körbchen an, und dabei fiel ihr der Rufname ein. Er konnte damit zu tun haben, wie ihr Neugeborenes aussah, welcherWochentag war, was dasWetter gerade machte oder einfach, wie ihr dieWelt an jenemTag erschien. Der Rufname meiner Mauma war Summer, ihr richtiger Name Charlotte. Sie hatte einen Bruder, dessen Rufname war Hardtime. Alle denken immer, ich hätte mir das ausgedacht, dabei stimmt das, ehrlich.

Mit dem Rufnamen hatte man wenigstens etwas von seiner Mauma. Master Grimké hatte mich Hetty genannt, aber Mauma hatte für mich, nachdem sie mich geboren hatte – weil ich zu früh auf dieWelt gekommen war –, Handful ausgesucht.

An demTag, als ich Aunt-Sister im Hof helfen musste, arbeitete Mauma im Haus an einem Kleid für die Missus, einem sogenanntenWatteaukleid aus goldenem Satin, mit einerTournüre im Rücken. Mauma war die beste Näherin in ganz Charleston und arbeitete sich an der Nadel die Finger krumm. Einen Putz, wie meine Mauma ihn zaubern konnte, gab es kein zweites Mal, und sie benutzte dafür nicht einmal Schablonen, denn sie hassteVorlagen und Schnittmuster. Sie wählte selbst auf dem Markt den Samt und die Seide aus, und daraus machte sie alles, was die Grimkés besaßen –Vorhänge, gesteppte Unterröcke, gebauschte Überröcke, Wildlederhosen, ja, selbst diese aufgetakelten Jockeytrachten für die Charlestoner Rennwoche.

Und für die Rennwoche lebten dieWeißen – das können Sie mir ruhig glauben. Dann jagte ein Picknick, eine Promenade, ein elegantes Ereignis das nächste. Die Party von Mrs King, wie immer am Dienstag.Am Mittwoch das Dinner im Jockey-Club. Und die ganz große Schau war am Samstag, beim St.-Cecilia-Ball, dort stolzierten alle in ihren schönsten Kleidern herum.Aunt-Sister sagte immer, Charleston würde an der Prunksucht leiden. Bis ich acht oder so wurde, hielt ich die Prunksucht für eine Art Dünnschiss.

Die Missus war eine kleine Frau mit kräftigerTaille und Hefebällchen unter den Augen. Sie weigerte sich, Mauma an die anderen Damen auszuleihen. Natürlich flehten sie die Missus an, und Mauma flehte die Missus ebenfalls an, denn von dem Lohn für diese Arbeit hätte sie einenTeil behalten können – aber die Missus sagte, auf keinen Fall lasse ich zu, dass du für die anderen etwas Besseres machst.Abends riss Mauma immer Stoffstreifen für ihre Quilts. Ich hielt dabei mit der einen Hand dasTalglicht und legte mit der anderen die Streifen zu Haufen, nach Strich und Faden, farblich sortiert. Mauma mochte helle Töne und stellte Farben zusammen, auf die niemand sonst gekommen wäre – Violett und Orange, Rosa und Rot.Von allen Formen mochte sie das Dreieck am liebsten. Aber schwarz musste es sein. Es gab kaum einen Quilt ohne ihre schwarzen Dreiecke.

Wir besaßen eine hölzerne Dose für die Stoffreste, ein Beutelchen für Nadeln und Fäden und einen Fingerhut aus echtem Messing. Mauma sagte immer, einesTages würde der Fingerhut mir gehören.Wenn sie ihn nicht brauchte, setzte ich ihn mir auf die Fingerkuppe, als wäre es ein Schmuckstück. Unsere Quilts füllten wir mit Rohbaumwolle undWebresten. Das beste Füllmaterial waren Federn, bis heute, und Mauma und ich gingen nie achtlos vorüber, wenn eine Feder auf dem Boden lag.An manchenTagen kam Mauma mit einerTasche voll Gänsefedern an, die zupfte sie im Herrenhaus aus Löchern in den Matratzen.Wenn wir ganz dringend einen Quilt füllen mussten, streiften wir Louisianamoos von der Eiche im Hof und nähten Futter und Oberseite drum herum.Auch um die Krabbeltiere.

Das war das Höchste für Mauma und mich, unsere gemeinsame Zeit mit den Quilts.

Egal, was Aunt-Sister mir im Hof zu tun gab, immer sah ich nach oben, zu dem Fenster, hinter dem Mauma nähte. Wir hatten ein Signal.Wenn ich den Eimer kopfüber vors Küchenhaus stellte, war die Luft rein. Dann öffnete Mauma das Fenster und warf mir ein Karamellbonbon zu, das sie aus dem Zimmer der Missus gestohlen hatte. Manchmal kam ein Bündel aus Stofffetzen herunter – hübscher Kattun, Gingan, Musselin und importiertes Leinen. Einmal der Fingerhut aus echtem Messing. Am liebsten aber nahm sie scharlachrotes Garn. Sie wickelte es in dieTasche von ihrem Kleid und marschierte einfach damit aus dem Haus.

An demTag aber war auf dem Hof sehr viel los, und darum hatte ich auch keine Hoffnung, dass aus dem blauen Himmel ein Bonbon fallen würde. Mariah, die Wäschesklavin, konnte nichts tun, sie hatte sich die Hand an der Holzkohle aus dem Bügeleisen verbrannt. Aunt-Sister war außer sich, so groß war der Wäschestapel.Tomfry hatte die Männer gerufen, weil er ein Schwein schlachten wollte, und das rannte laut kreischend über den Hof. Alle waren sie draußen, vom alten Snow, dem Kutscher, bis hin zu Prince, dem Stallburschen.Tomfry wollte die Sache schnell erledigen, denn die Missus hasste es, wenn auf dem Hof so ein Aufruhr war.

Lärm stand nämlich auch auf ihrer Liste von Sklavensünden, und die kannten wir alle auswendig. Ganz oben: Diebstahl. Danach: Ungehorsam. Auf Platz drei: Faulheit. Auf vier: Lärm. Ein Sklave sollte wie der Heilige Geist sein – man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, aber er schwebt immer eifrig um einen herum.

Und schon rief die Missus nachTomfry und sagte, Ruhe da draußen, eine Dame muss nicht wissen, woher ihr Schinken stammt. Darauf sagte ich zu Aunt-Sister, die Missus weiß doch nicht mal, an welchem Ende ihr Schinken rein- und an welchem er rauskommt. Und bekam eine schallende Ohrfeige.

Ich griff mir den langen Stock, den sogenannten Bleuel, fischte die Bettbezüge aus demWaschkessel und ließ sie tropfnass über die Stange klatschen, an der Aunt-Sister ihre Küchengewürze trocknete. Die Stange im Stall war verboten, denn die Augen der edlen Pferde vertrugen die Lauge nicht. Die Augen der Sklaven dagegen schon. Dann schlug ich die Laken und Decken mit dem Bleuel halb tot. Das hieß bei uns, den Schmutz rauspressen.

Als ich mit der Wäsche fertig war, hatte ich nichts mehr zu tun. Also vergnügte ich mich mit Sünde Nummer drei und lief meinenTrampelpfad entlang. Die Runde machte ich bestimmt zehn, zwölf Mal amTag. Los ging es an der Rückseite vom Herrenhaus, vorbei an Küchenhaus und Wäscherei bis hin zumWucherbaum. Manche Äste waren dicker als ich und alle so verschlungen wie Bänder in einer Schachtel. Böse Geister bewegen sich nur in geraden Linien, und an unserem Baum war keine einzige nicht-gewundene Stelle.Wenn die Hitze zu schwer drückte, versammelten wir Sklaven uns unter dem Baum. Mauma sagte immer, zupf bloß nicht das Spanische Moos von den Ästen, denn das schützt vor der Sonne und vor neugierigen Blicken.

Zurück ging es an Stall und Kutschhaus vorbei. Das war dieWelt, die ich kannte. Damals hatte ich den Globus im Haupthaus noch nicht gesehen, auf dem sich der Rest von derWelt drehte. Ich drückte mich also draußen rum und wartete, dass derTag an sein Ende kam, damit ich mit Mauma in unser Zimmer gehen konnte. Es lag über dem Kutschhaus und hatte kein Fenster.Von Stall und Kuhhaus her roch es so stark, als ob unser Bett mit Mist und nicht mit Stroh gefüllt wäre. Die Zimmer von den anderen Sklaven lagen über dem Küchenhaus.

Der Wind legte zu, und ich lauschte, ob die Segel im Hafen hinter der Straße schlugen. Ich konnte den Hafen riechen, aber gesehen hatte ich ihn noch nie. Die Segel knallten wie Peitschen, und wir horchten immer, ob im Nachbarhof ein Sklave gezüchtigt oder ein Schiff zur Ausfahrt bereit gemacht wurde. Denn in dem einen Fall hörte man Schreie, im anderen nicht.

Die Sonne war weg, an ihrer Stelle ballten sichWolken, als ob der Knopf abgefallen wäre. Ich nahm mir den Bleuel vomWaschkessel, steckte ihn einfach so in einen Kürbis und warf ihn über die Mauer. Er klatschte laut auf.

Dann stand die Luft still. Nur die Stimme von der Missus kam aus der Hintertür: »Aunt-Sister, bring auf der Stelle Hetty zu mir.«

Ich ging ins Haus. Bestimmt machte die Missus einen Aufstand um ihren Kürbis. Ich sprach meinem Rücken Mut zu.

Sarah Grimké

Mein elfter Geburtstag begann damit, dass Mutter mich aus dem Kinderzimmer beförderte. Ich hatte mich schon seit letztem Jahr danach gesehnt, dem Durcheinander aus Porzellanpuppen, Kreiseln und winzigenTeegedecken zu entfliehen, der langen Reihe der Bettchen, der verwirrenden Überfülle, die hier regierte, doch nun, da derTag gekommen war, stand ich auf der Schwelle zu meinem neuen Zimmer und scheute. Es war mit Düsternis getäfelt und verströmte die Gerüche meines Bruders – etwas Rauchiges und Ledriges. Der Eichenbaldachin mit seinen roten Samtvolants ragte so hoch auf, dass das Bett der Decke näher als dem Boden war.Vor lauter Angst vor diesem gewaltigen, anmaßenden Zimmer war ich wie erstarrt.

Ich holte tief Luft und hievte mich über die Schwelle. Auf diese wenig kunstvolle Art umschiffte ich die Klippen meiner Mädchenjahre. Ich galt als beherzte Natur, doch so furchtlos, wie alle glaubten, war ich nicht. Ich hatte dasTemperament einer Schildkröte.Wenn Schrecken, Furcht oder ein Stolperstein auf meinemWeg erschienen, hätte ich viel lieber Halt gemacht und mich in meinen Panzer verkrochen. Und doch hatte ich mir das bescheidene Motto zugelegt: Wenn du irren musst, dann irre aus Kühnheit. Dieser Satz half mir über manche Schwelle hinweg.

An jenem Morgen wehte eine kalte, kräftige Brise vom Atlantik her, und dieWolken trieben wie Windsäcke über den Himmel. Einen Augenblick lang stand ich reglos in diesem Zimmer und lauschte dem Rasseln der Säbelpalmen draußen im Freien. Das Gebälk derVeranda fauchte. Das Schaukelsofa murrte an seinen Ketten. Unten, in der Aufwärmküche, stellten die Sklaven auf Mutters Geheiß Porzellanschüsseln undWedgwood-Tassen bereit, in Erwartung meiner Geburtstagsfeier. Cindie, Mutters Zofe, hatte Mutters Perücke stundenlang mithilfe von feuchtem Papier und Eisenrollen in Form gebracht. Der säuerliche Geruch von kochendem Boraxwasser war durch dasTreppenhaus bis in die oberen Stockwerke gezogen.

Ich schaute zu, wie Binah, die Mauma unserer Kinderstube, meine Kleider in den schweren, alten Schrank einräumte. Früher hatte sie die Wiege meines jüngsten Bruders Charles mit dem Feuerhaken geschaukelt. An ihren Armen hatten Reifen aus Kaurimuscheln geklappert, und was hatte sie uns mit ihren Geschichten über die alte Booga-Hexe, die auf einem Besen ritt und bösen Kindern den Lebensatem aussaugte, Angst eingejagt! Binah würde mir fehlen. Und auch die süße kleine Anna, die beim Schlafen den Daumen in den Mund steckte. Und Ben und Henry, die wie die Wilden auf ihren Matratzen herumsprangen, bis Geysire aus Gänsefedern emporschossen, und die kleine Eliza, die so oft zu mir ins Bett geschlüpft war, um sich vor der schrecklichen Booga-Hexe zu verstecken.

Eigentlich war ich der Kinderstube längst entwachsen, aber ich musste warten, bis John aufs College kam. Unser Haus mit seinen drei Geschossen war eines der größten in ganz Charleston, und dennoch verfügte es nicht über genügend Zimmer, da Mutter derart … nun ja, derart fruchtbar war. Wir waren zehn an der Zahl: John, Thomas, Mary, Frederick und ich, gefolgt von den Bewohnern der Kinderstube – Anna, Eliza, Ben, Henry und Baby Charles. Ich war das mittlere Kind, jenes Kind, das Mutter anders undVater außergewöhnlich nannte, das mit möhrenrotem Haar und Sommersprossen, die regelrechte Konstellationen bildeten. Einmal hatten meine Brüder zur Kohle gegriffen und die hellroten Flecken auf meiner Stirn und meinenWangen zu Orion, dem GroßenWagen und Ursa Major verbunden. Es hatte mir überhaupt nichts ausgemacht – über Stunden war ich ihr Firmament gewesen.

Alle sagten, ich seiVaters Augenstern. Ich weiß nicht, ob er mich bevorzugte oder bemitleidete, aber ohne Frage war er mein Augenstern. Als Richter am Obersten Gericht von South Carolina stand er an der Spitze der gesellschaftlichen Klasse, die als Charlestons Elite galt: die Plantagenbesitzer. Er hatte unter GeneralWashington gekämpft und war in britische Gefangenschaft geraten. Ihn hinderte seine Bescheidenheit, von derlei Dingen zu sprechen – das übernahm Mutter.

Ihr Name war Mary, und damit erschöpft sich auch schon jegliche Ähnlichkeit mit der Mutter unseres Herrn. Sie entstammte einer der Gründerfamilien Charlestons, jenem kleinen Kreis von Lords, die King Charles über das Meer gesandt hatte, um seine Stadt zu gründen. Mutter flocht dieseTatsache derart beständig in jegliche Konversation ein, dass wir nicht einmal mehr die Augen verdrehten. Sie herrschte nicht nur über das Haus, eine ansehnliche Kinderschar und vierzehn Sklaven, sondern kam auch derart vielen sozialen und religiösenVerpflichtungen nach, dass es selbst Europas Königinnen und Heilige entkräftet hätte.Wenn ich großzügig gestimmt war, nannte ich meine Mutter erschöpft. Ich fürchte allerdings, dass sie in ihrem tiefsten Inneren bösartig war.

Nachdem Binah Haarkämme und Schleifen auf meinem luxuriösen neuen Frisiertisch ausgebreitet hatte, drehte sie sich zu mir um. Ich hatte dort wohl recht verloren herumgestanden, denn sie schnalzte mit der Zunge und sagte: »Arme Miss Sarah.«

Was hasste ich dieses Arme vor meinem Namen! Seit meinem vierten Lebensjahr murmelte Binah Arme Miss Sarah. Es klang wie eine Beschwörungsformel.

Meine früheste Erinnerung stammt aus jenem Jahr: Ich lege die Murmeln meines Bruders zuWorten. Es ist Sommer, ich hocke unter der Eiche im Wirtschaftshof. Thomas, der zehn ist und den ich von all meinen Brüdern am liebsten habe, hat mir neunWorte beigebracht: SARAH, MÄDCHEN, JUNGE, GEHEN, STOPP, HÜPFEN, LAUFEN, AUF, AB. Er hat sie auf ein Blatt geschrieben und mir einen Beutel mit achtundvierzig Murmeln gegeben. Damit soll ich dieWorte bilden, immer zwei. Ich lege die Murmeln auf die Erde und kopiere die Tintenworte von Thomas’ Hand. Sarah gehen. Junge laufen. Mädchen hüpfen. Ich beeile mich. Bald schon wird Binah nach mir suchen.

Dann steigt Mutter die Stufen hinab in den Hof. Binah und die anderen Haussklaven drängen sich in ihrem Gefolge, sie bewegen sich mit vorsichtigen, synchronisierten Schritten, wie ein einzigesWesen, einTausendfüßler, der ungeschütztesTerrain durchquert. Ich spüre den Schatten, der über ihnen droht, ihre gewaltige Furcht, und krieche zurück in das grün-schwarze Dunkel unter dem Baum.

Die Sklaven starren auf Mutters geraden, unnachgiebigen Rücken. Sie dreht sich um und äußert ihrenTadel. »Ihr hinkt hinterher. Rasch, lasst uns das endlich erledigen.«

Im selben Moment wird Rosetta, eine ältere Sklavin, aus dem Kuhhaus gezerrt.Von einem Mann, einem Hofsklaven. Sie wehrt sich, zerkratzt sein Gesicht. Mutter sieht ungerührt zu.

Er bindet Rosettas Hände an einenVerandapfeiler am Küchenhaus. Sie schaut über ihre Schulter und bettelt. Missus, bitte. Missus. Missus. Bitte. Sie bettelt noch, als der Mann mit der Peitsche schon zuschlägt.

Ihr Kleid ist aus Baumwolle, ein blasses Gelb. Ich schaue wie gebannt, als Blut durch den Stoff an ihrem Rücken sprießt, sich rote Knospen zu Blüten öffnen. Ich kann das Grobe der Schläge nicht mit ihrer schmeichelnden Klage und der Schönheit der Rosen versöhnen, die sich um das Spalier ihrer Wirbelsäule ranken. Irgendjemand zählt die Schläge – Mutter? Sechs, sieben.

Die Geißelung geht weiter, doch Rosetta wimmert nicht mehr. Sie sinkt gegen das Geländer. Neun, zehn. Mein Blick wendet sich ab. Er folgt einer schwarzen Ameise, sie durchwandert dieWeiten unter dem Baum – die gebirgigenWurzeln und waldigen Moose, endlose Gefahren –, und im Geiste spreche ich dieWorte aus Glas. Junge laufen. Mädchen hüpfen. Sarah gehen.

Dreizehn. Vierzehn … Ich stürze aus den Schatten, vorbei an dem Mann, der nun die Peitsche einrollt, er hat seine Sache gut gemacht, vorbei an Rosetta, dem elenden Bündel, das an seinen Händen hängt. Als ich die Stufen ins Haus hinaufrenne, ruft Mutter mir nach, und Binah versucht, mich zu fassen, doch ich entkomme, stürme durch den Gang zurVordertür hinaus. Ich stürze blindlings zum Kai.

An den Rest erinnere ich mich nur vage. Ich laufe heulend über den Landungssteg eines Segelschiffes und stolpere über einenTurban aus Seilen. Ein freundlicher Herr mit Bart und dunkler Mütze fragt mich, was ich will. Ich flehe ihn an. Sarah gehen.

Binah ist mir nachgejagt, aber das merke ich erst, als sie mich in die Arme nimmt und gurrt: »Arme Miss Sarah, arme Miss Sarah.« Beschluss, Erklärung und Prophezeiung.

Als ich nach Hause komme, bin ich Rotz undWasser, Hofschmutz und Hafendreck. Mutter zieht mich an sich, tritt zurück, schüttelt mich wütend, dann umarmt sie mich wieder. »Du musst mir versprechen, dass du niemals mehr fortläufst.Versprich es mir.«

Ich will ja. Ich versuche es. DieWorte liegen mir auf der Zunge – runde Klumpen, sie schimmern wie Murmeln.

»Sarah!«, drängt sie.

Nichts. Nichts kommt heraus. Nicht einTon.

Ich blieb eine ganzeWoche stumm. Es war, als ob meineWorte in der Kluft zwischen den Schlüsselbeinen festgesessen hätten. Langsam, schrittweise löste ich sie, durch Gebete, Drohen und Locken. Es gelang mir, wieder zu sprechen, doch mit einem seltsamen, launischen Stottern.

Ich hatte nie wirklich flüssig gesprochen, selbst meine früherenWorte waren von einer gewissen Widerspenstigkeit gewesen, doch nun waren da hässliche, hinderliche Lücken, endlose Sekunden, in denen dieWorte nicht über die Lippen wollten und mein Gegenüber den Blick abwandte. Diese entsetzlichen Pausen kamen und gingen, ganz, wie es ihrer eigenen, unergründlichen Laune entsprach. Manchmal quälten sie mich wochenlang, dann blieben sie über Monate fort, um dann ebenso plötzlich wiederzukehren, wie sie verschwunden waren.

Doch an jenemTag, als ich aus der Kinderstube ausgezogen war, um in Johns gesetztem Zimmer in das Erwachsenenleben einzutreten, hatte ich überhaupt nicht an jene Grausamkeit aus fernenTagen gedacht. Ebenso wenig an die brüchigen Fäden, an denen meine Stimme seitdem hing. Meine Sprachstörung hatte sich schon länger nicht gezeigt – vier Monate und sechsTage. Ich hatte mich fast als geheilt betrachtet.

Als dann Mutter jäh ins Zimmer rauschte – ich imTaumelgriff meiner neuen Umgebung, Binah meine Besitztümer hierhin und dorthin verstauend – und fragte, ob die neuen Räumlichkeiten zu meiner Zufriedenheit seien, und ich keine Antwort geben konnte, war ich fassungslos. Die Tür in meiner Kehle schlug zu. In mein Zimmer zog Schweigen. Mutter schaute mich an und seufzte.

Als sie ging, blinzelte ich dieTränen weg und wandte mich von Binah ab. Ich konnte kein weiteres Arme Miss Sarah ertragen.

Handful

Aunt-Sister brachte mich in die Aufwärmküche. Binah und Cindie machten sich an silbernenTabletts voller Ingwerkuchen und Äpfel mit Erdnüssen zu schaffen. Sie hatten die guten, langen Schürzen an, die gestärkten. Im Salon summte es wie in einem Bienenkorb.

In dem Moment erschien die Missus und sagte zu Aunt-Sister, dass sie mir den hässlichen Mantel ausziehen und das Gesicht waschen sollte, und zu mir: »Hetty, heute ist Sarahs elfter Geburtstag, und wir geben ein Fest für sie.«

Sie holte ein violettes Band ganz oben aus demVorratsschrank, schlang es mir um den Hals und machte eine Schleife. Aunt-Sister rieb mir mit einem Lappen das Schwarz von denWangen. Dann wickelte mir die Missus mehrere Bänder um dieTaille. Als ich daran zog, sagte sie scharf: »Hör mit dem Gehampel auf, Hetty! Halt still.«

Die Missus hatte mir das Band viel zu stramm um den Hals gebunden. Ich konnte kaum schlucken und suchte die Augen von Aunt-Sister, doch die klebten an denTabletts mit dem Essen. Gern hätte ich ihr gesagt: Befrei mich, hilf mir, ich muss mal aufs Klo. Sonst war ich immer so vorlaut, aber plötzlich war mir die Stimme wie eine Küchenmaus in den Rachen gehuscht.

Ich tänzelte von einem Bein aufs andere. Mit MaumasWorten im Ohr: »Bald isWeihnachten, benimm dich, denn da verkaufen sie die überflüssigen Kinder oder schicken sie raus aufs Feld.« Ich wusste von keinem einzigen Sklaven, den Master Grimké verkauft hatte, aber auf seine Plantage auf dem Land hatte er etliche geschickt.Von da war Mauma gekommen. Mit mir im Bauch, aber ohne meinen Daddy. Der musste dortbleiben.

In dem Moment hörte ich mit dem Gehampel auf. Ich rutschte selbst in das Loch, in dem meine Stimme schon war. Ich versuchte zu tun, was die Missus, was Gott von mir wollte. Gehorch, sei still, gib Ruhe.

Die Missus prüfte, wie ich mit den violetten Bändern aussah. Dann fasste sie mich am Arm und führte mich in den Salon, wo die Damen mit ihren aufgefächerten Kleidern und ihren Porzellantässchen und Spitzenservietten saßen. Eine Dame spielte das kleine Klavier, das Cembalo heißt, aber sie hörte auf, als die Missus in ihre Hände klatschte.

Alle Augen richteten sich auf mich. Die Missus sagte: »Das hier ist unsere kleine Hetty. Sarah, Liebes, das ist dein Geschenk, eine Kammerzofe eigens zu deinen Diensten.«

Ich presste die Hände zwischen die Beine, aber die Missus schlug sie mir weg. Sie drehte mich einmal im Kreis. Die Damen plapperten los wie Papageien –, herzlichen Glückwunsch, herzlichen Glückwunsch – und ihre aufgeputzten Köpfe nickten dazu. Miss Mary, die ältere Schwester von Miss Sarah, saß grimmig da, weil sie nicht im Mittelpunkt stand. Sie war ein scheußlicherVogel, beinah so schlimm wie die Missus. Wir konnten ja alle sehen, wie sie mit ihrer Kammerzofe umging. Sie schlug die arme Lucy von hier bis Jerusalem. Wir sagten immer, wenn Miss Mary ihrTaschentuch aus dem zweiten Stock werfen würde, müsste Lucy durchs Fenster hinterherspringen.Wenigstens war ich nicht bei der gelandet.

Miss Sarah stand auf. Sie hatte ein dunkelblaues Kleid an und rosafarbenes Haar, so glatt wie Maisbart, und überall in ihrem Gesicht waren Sommersprossen, genauso rosa. Nun holte sie tief Luft und bewegte die Lippen. Damals holte Miss Sarah dieWorte aus ihrem Hals, wie man einen Eimer aus einem Brunnen zieht.

Als der Eimer endlich oben war, konnten wir sie trotzdem nicht verstehen. »… Es tut mir leid, Mutter … Das kann ich nicht annehmen.«

Die Missus bat sie, dieWorte zu wiederholen. Miss Sarah brüllte wie ein Krabbenhändler.

Die Augen der Missus waren so hellblau wie die von Miss Sarah, aber in dem Moment wurden sie dunkel wie Indigo. Ihre Fingernägel gruben sich in mich und schnitten mir einenVogelschwarm in den Arm. Sie sagte: »Setz dich, Sarah, Liebes.«

Miss Sarah sagte: »… Ich brauche keine Kammerzofe … Ich komme bestens ohne zurecht.«

»Das reicht«, sagte die Missus. Wie man das nicht als Drohung verstehen konnte, ist mir ein Rätsel. Aber Miss Sarah hatte wohlWatte in den Ohren.

»… Kannst du sie nicht für Anna aufheben?«

»Das reicht!«

Miss Sarah plumpste auf ihren Stuhl, als ob sie jemand geschubst hätte.

In dem Moment tröpfelte mir langsam dasWasser am Bein entlang. Ich wand mich hin und her, um mich aus den Krallen von der Missus zu lösen, doch da landete schon der ganze Schwall auf demTeppich.

Die Missus stieß einen Schrei aus. Alles wurde still. Man hörte nur noch, wie im Kamin die Funken knisterten.

Ich wartete auf eine Ohrfeige oder Schlimmeres. Rosetta bekam, wenn es hilfreich war, einen Schüttelanfall, ließ Spucke aus dem Mund laufen und verdrehte die Augen ganz weit nach hinten. Dann sah sie aus wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und zappelt, aber es ersparte ihr die Bestrafung. Ich überlegte schon, auch auf den Boden zu sinken und einen Anfall vorzutäuschen.

Aber ich stand nur da, das Kleid nass an die Beine geklebt, die Scham heiß im Gesicht.

Aunt-Sister erschien und zog mich weg. Als wir an derTreppe in der Eingangshalle vorbeikamen, stand Mauma auf dem Podest und drückte die Hände an ihre Brust.

An dem Abend saßenTauben in den Bäumen und klagten. Ich klammerte mich in unserem Seilbett an Mauma und schaute auf den Quilt-Rahmen über uns an der Decke, festgezurrt an seinem Flaschenzug. Mauma sagte, der Quilt-Rahmen wäre unser Schutzengel. Sie sagte: »Alles wird gut.« Doch die Scham blieb. Sie lag mir wie ein bitteres Kraut auf der Zunge.

Die Glocken läuteten über Charleston die Sperrstunde für die Sklaven ein. Mauma sagte, bald schlägt dieWache draußen dieTrommel.

Dann rieb sie mir über die platten Knochen in meinen Schultern. Und hat mir die Geschichte erzählt, die sie von ihrer Mauma kannte. Die Geschichte aus Afrika. Mit den fliegenden Menschen. Die über Bäume undWolken geflogen sind. Die wie Schwarzdrosseln geflogen sind.

Am nächsten Morgen gab mir Mauma einen Quilt, der für meine Länge passend war, und sagte, dass ich ab jetzt nicht mehr bei ihr schlafen könnte.Von nun an müsste ich auf dem Boden im Flur liegen, vor der Schlafzimmertür von Miss Sarah. Mauma sagte: »Geh nie weg von deinem Quilt, außer Miss Sarah ruft. Streun nich nachts rum. Mach keine Kerze an. Mach kein Geräusch. Und wenn Miss Sarah klingelt, dann machst du voran.«

Mauma sagte zu mir: »Ab jetzt wird es hart für dich, Handful.«

Sarah

Ich wurde in mein neues Zimmer verbannt, mit der Order, jedem einzelnen Gast eine Entschuldigung zu schreiben. Mutter setzte mich an mein Pult, mit Papier, Tintenfass und einem Brief, der aus ihrer Feder stammte und den ich zu kopieren hatte.

»… Du hast doch nicht etwa Hetty bestraft?«, fragte ich.

»Hältst du mich für einen Unmenschen, Sarah? Dem Mädchen ist ein Malheur passiert.Was bleibt da zu tun?« Sie zuckte ratlos mit den Schultern. »Wenn sich derTeppich nicht reinigen lässt, müssen wir ihn wohl oder übel entfernen.«

Als sie sich zur Tür wandte, mühte ich mich, meinem Mund die drängendenWorte zu entreißen: »Mutter, bitte, erlaube … erlaube, dass ich dir Hetty zurückgebe.«

Dass ich dir Hetty zurückgebe. Als würde sie mir gehören. Als wäre der Besitz eines Menschen so normal wie das Atmen. Denn ungeachtet all meines Widerstandes gegen die Sklaverei atmete auch ich diese faulige Luft.

»DeineVormundschaft ist rechtens und bindend. Hetty gehört dir, Sarah, daran kannst du nichts ändern.«

»… Aber …«

Als sie zu mir an das Pult zurückkam, rauschten und raschelten ihre Unterröcke. Einer Frau wie ihr gehorchten die Winde und die Gezeiten, doch in dem Moment war sie milde gestimmt. Sie legte mir einen Finger unter das Kinn, wandte mein Gesicht dem ihren zu und lächelte sanft. »Warum musst du dich dem so stark widersetzen? Ich weiß nicht, woher du diese seltsamen Ideen hast. Es ist nun einmal unsere Lebensweise, meine Liebe, also mach deinen Frieden damit.« Sie gab mir einen Kuss auf den Kopf. »Ich erwarte alle achtzehn Briefe morgen früh.«

Die Zypressenpaneele glühten in Orange, dann schmolz der Lichtschein zu Dämmer und Schatten dahin. Mir stand Hettys Anblick noch deutlich vor Augen – ihr verwirrter und gedemütigter Ausdruck, die Zöpfe, die in alle Richtungen ragten, die schmählichen violetten Bänder. Sie war nur ein Jahr jünger als ich, aber mit ihrer kümmerlichen Statur wirkte sie wie höchstens sechs. Sie war nur Haut und Knochen. Ihre Ellbogen erinnerten an die drahtigen Windungen von Sicherheitsnadeln. Das einzig Große an ihr waren die Augen, die einen seltsamen Goldton hatten und wie glänzende Halbmonde über ihren schwarzenWangen schwebten.

Ich empfand es alsVerrat, dass ich für etwas umVerzeihung bitten sollte, das mir nicht im Mindesten leidtat. Eher bedauerte ich, dass mein Protest so kläglich ausgefallen war. Am liebsten hätte ich an diesem Tisch die Nacht verbracht, ohne nachzugeben, falls nötigTage undWochen gar, doch am Ende fügte ich mich und schrieb die verwünschten Briefe. Ich wusste ja selbst, dass ich ein sonderbares Mädchen war, mit meinen aufmüpfigen Ideen, meinem hungrigen Geist und meinem komischen Äußeren. Und dann spuckte ich beim Sprechen auch noch wie ein Pferd, das an seinem Mundstück kaut – alles wahrlich keine Eigenschaften, die dem weiblichen Geschlechte schmeicheln. Ich entwickelte mich zum Paria der Familie, und diese Rolle fürchtete ich. Mehr als alles andere.

Und so schrieb ich wieder und wieder:

Liebe Madame,

ich danke Ihnen für die Ehre und Freundlichkeit, die Sie mir mit Ihrer Teilnahme an meiner Geburtstagsfeier erwiesen haben. Mein ungebührlich schlechtes Benehmen während dieses Anlasses – trotz der guten Erziehung, die mir meine Eltern zuteilwerden ließen – bedauere ich sehr. Ich erbitte demütig Ihre Vergebung für meinen Mangel an Formgefühl und Respekt.

Ihre reuige Freundin Sarah Grimké

Ich bezwang die groteske Höhe meiner Matratze und hatte mich gerade zum Schlafen bereit gemacht, als vor dem Fenster einVogel zu trällern begann. Zunächst ergoss sich ein Sturzbach aus Pfiffen, dann folgte ein sanftes, melancholisches Lied. Ich fühlte mich sehr einsam mit meinen seltsamen Ideen.

Ich glitt von meinem Hochstand und huschte zum Fenster – dort war es in meinem weißen wollenen Hemdchen recht kühl – und schaute hinaus auf die East Bay Street, über die dunklen Dächer hinunter zum Hafen. Nun, da die Hurrikansaison vorüber war, ankerten dort an die hundertToppsegel. Sie schimmerten hell auf demWasser. Ich drückte meineWange an die kalte Scheibe. In dieser Haltung konnte ich beinahe die Sklavenquartiere über dem Kutschhaus sehen, wo Hetty eine letzte Nacht bei ihrer Mutter verbringen durfte. Am kommendenTag würde sie ihre Pflichten aufnehmen und vor meiner Türe schlafen.

In dem Moment kam mir eine Eingebung. Ich zündete an der letzten Glut der Kohle eine Kerze an, öffnete die Tür und trat in den dunklen, unbeheizten Korridor. Drei schemenhafte Gestalten zeichneten sich auf dem Boden neben den Schlafzimmertüren ab. Ich hatte dieWelt außerhalb des Kinderzimmers noch nie bei Nacht gesehen, und so dauerte es eineWeile, bis ich begriff, dass die Gestalten Sklaven waren, die in Rufweite schliefen, falls ein Grimké nach ihnen läutete.

Mutter hatte denWunsch geäußert, dieses archaische System zu erneuern, wie man es jüngst im Hause ihrer Freundin Mrs Russell getan hatte. Dort konnte man auf Knöpfe drücken, woraufhin es in den Sklavenquartieren läutete.Vater hielt so etwas fürVerschwendung. Wir waren Anglikaner, dennoch herrschte bei uns ein gewisser Hang zu hugenottischer Sparsamkeit. Nur über seine Leiche würde dieser Knöpfe-Pomp im Haus der Grimkés Einzug halten.

Ich schlich barfuß die breite Mahagonitreppe hinab zur ersten Etage, wo zwei weitere Sklaven schliefen. Cindie saß mit dem Rücken zurWand hellwach vor dem Zimmer meiner Mutter. Sie beäugte mich argwöhnisch, sprach mich aber nicht an.

Ich huschte über den Perserteppich, der fast die gesamte Länge des Hauptkorridors durchmaß, zuVaters Bibliothek, drehte am Knauf und trat ein. Ein Schleier aus Mondlicht fiel durch das große Fenster auf das kunstvoll gerahmte Porträt GeorgeWashingtons.Vater drückte seit beinahe einem Jahr ein Auge zu, wenn ich mich an MrWashington vorbeistahl, um die Bibliothek zu plündern. John, Thomas und Frederick besaßen die volleVerfügungsmacht über diesen Schatz –Vaters Bücher über Rechtswissenschaft, Geografie, Philosophie, Theologie, Geschichte, Botanik, Dichtkunst und die griechische Antike – , während es Mary und mir verboten war, auch nur einWort davon zu lesen. Mary machte das dem Anschein nach nichts aus, ich hingegen … träumte nachts von Büchern. Ich liebte sie auf eineWeise, für die ich nicht einmal Thomas gegenüberWorte fand. Dabei war er es, der mich auf ausgesuchte Bände hinwies und mich in der lateinischen Deklination drillte. Er war auch der Einzige, der um meinen verzweifeltenWunsch nach einer richtigen Bildung wusste, einer Bildung, die über alles hinausging, was ich mir bei Madame Ruffin aneignen konnte, meiner Lehrerin und Nemesis aus dem Frankenreich.

Madame Ruffin war eine kleine, aufbrausende Frau mit einer Witwenkappe, deren Bänder an ihrenWangen herunterbaumelten.Wenn es kalt war, trug sie einen exaltierten Pelzmantel und winzige fellgefütterte Schühchen. Sie genoss den zweifelhaften Ruf, ihre Mädchen beim kleinstenVergehen in die Ecke zu stellen und so lang anzuschreien, bis sie in Ohnmacht fielen. Ich hasste sie, sie und ihre »vornehme Erziehung der Frauenzimmer«, die aus Handarbeiten, Benimmunterricht, Zeichnen, Grundkenntnissen des Lesens und Schreibens, Klavierspiel, Bibelkunde, Französisch und genügend Arithmetik bestand, um zwei und zwei zu addieren. Jedes Mal, wenn wir winzige Blümchen zeichnen mussten, kam ich vorVerzweiflung beinahe um. Einmal hatte ich an den Rand meines Blocks geschrieben: »Sollte ich an dieser grässlichen Übung sterben, so mögen diese Blumen meinen Sarg schmücken.« Madame Ruffin war nicht amüsiert. Ich wurde in die Ecke beordert. Dort zeterte sie ob meiner Unverfrorenheit, und ich kämpfte gegen die Ohnmacht an.

In ihrem Unterricht überfiel mich eine immer drängendere Sehnsucht, ein flutendes, fremdesVerlangen. Ich wollte so viel wissen. Ich wollte jemand sein. Ach, wäre ich doch ein Sohn! Ich vergötterteVater, weil er mich beinahe wie einen solchen behandelte und mir gestattete, in seiner Bibliothek ein und aus zu gehen.

In jener Nacht waren die Kohlen im Kamin schon kalt, doch der Geruch von Zigarren hing noch in der Luft. Ohne Mühe fand ich Das Amt des Friedensrichters und das Öffentliche Recht von South Carolina, dasVater selbst verfasst hatte. Ich hatte oft genug in diesem Buch geblättert, um zu wissen, dass darin die Abschrift eines Freibriefs stand.

Als ich die richtige Stelle fand, nahm ich Papier und Feder vonVaters Schreibtisch und kopierte das Dokument:

Ich beurkunde hiermit, dass ich mit dem heutigen Tage, dem 26. November 1803 zu Charleston im Staate South Carolina, Hetty Grimké aus der Sklaverei entlasse und ihr diesen Freibrief übereigne.

Sarah Moore Grimké

Nun würdeVater Hettys Freiheit als ebenso rechtens und bindend erachten müssen wie zuvor den Besitz an ihrem Leib und Leben! Folgte ich doch einem Gesetzbuch, das er selbst ersonnen hatte! Ich legte meinWerk auf die Backgammon-Schachtel.

Als ich in den Korridor trat, läutete Mutters Glocke nach Cindie. Ich rannte so rasch dieTreppe hinauf, dass meine Kerze dabei erlosch.

Mein Zimmer war nun noch kälter, und auch der kleineVogel sang nicht mehr. Ich kroch unter den Berg aus Quilts und Decken, doch vor Aufregung fand ich keinen Schlaf.Welche Dankesbezeugungen Hetty und Charlotte über mich ergießen würden! Wie stolzVater wäre, wenn er das Dokument am Morgen fand – und wie verärgert Mutter. Rechtens und bindend, o ja! Endlich siegten Erschöpfung und Zufriedenheit, und ich glitt in den Schlaf.

Als ich wach wurde, glühten die Delfter Kacheln rings um den Kamin schon blau im Licht. Ich setzte mich in der Stille auf. Meine ekstatische Aufwallung der vergangenen Nacht war verebbt, nun erfüllten mich Ruhe und Klarheit. Und eine neue Gewissheit. Zwar hätte ich nicht erklären können, wie in einer kleinen Eichel eine stolze Eiche existiert oder, nicht weniger wundersam, in meinem Inneren eine große Zukunft – die Frau, zu der ich mich entwickeln würde –, doch ich wusste genau, wer sie war.

Sie war in mir, wenn ichVaters Bücher durchforstete und bei unseren abendlichen Debatten meine Argumente formulierte. Erst in der vergangenenWoche hatteVater eine Diskussion über das Phänomen fremdartiger Fossilien orchestriert. Thomas hatte argumentiert, wenn diese seltsamen Tiere wirklich ausgestorben wären, spräche dies für eine schlechte Planung unseres Schöpfers und würde das Ideal der göttlichen Perfektion in Zweifel ziehen. Ergo müssten derartigeWesen noch an entfernten Winkeln der Erde leben. Ich hatte dagegengehalten, dass es selbst Gott erlaubt sein sollte, seine Meinung zu ändern. »Warum sollte Gottes Perfektion auf der Unveränderlichkeit der Natur beruhen?«, hatte ich gefragt. »Ist Flexibilität denn nicht perfekter als Starrheit?«

Vater hatte mit der Hand auf den Tisch geschlagen. »Wenn Sarah ein Junge wäre, sie wäre der beste Anwalt in ganz South Carolina!«

In jenem Moment hatte mich sein Urteil bange gemacht, doch nun, als ich in meinem neuen Zimmer erwachte, erkannte ich seine wahre Bedeutung. Geradezu rauschhaft begriff ich mein Schicksal. Ich würde Anwalt werden.

Selbstverständlich war mir bewusst, dass es keine weiblichen Anwälte gab. Für eine Frau gab es nichts jenseits des häuslichen Bereichs und der winzigen Blümchen in ihrem Malheft. Eine Frau, die danach strebte, Anwalt zu werden – wenn das nicht von der nahenden Apokalypse kündete! Und doch wuchs ein Baum aus einer Eichel, oder nicht?

Das Leiden an meiner Stimme sollte mir auf meinemWeg kein Hemmschuh, sondern Antrieb sein. Es sollte mich stark machen, denn stark würde ich sein müssen.

Ich hatte immer schon kleine persönliche Rituale veranstaltet. Als ich zum ersten Mal ein Buch ausVaters Bibliothek entliehen hatte, hatte ich Datum und Titel – 25. Februar 1803, Lady of the Lake – auf einen Zettel geschrieben, ihn in eine Haarspange aus Schildpatt geklemmt und heimlich mit mir herumgetragen. Nun, wo sich die Morgendämmerung in hellen Sprenkeln auf mein Lager legte, wollte ich den Moment meiner bislang wohl größten Einsicht begehen.

Ich stand auf und holte das blaue Kleid aus dem Schrank, das Charlotte für mein desaströses Geburtstagsfest genäht hatte. An die Stelle, wo der Kragen auflag, hatte sie einen großen Silberknopf geheftet, mit der Gravur einer stilisierten Lilie. Ich säbelte den Knopf mit dem Brieföffner aus Karettschildpatt ab, den John mir hinterlassen hatte. Dann drückte ich den Knopf fest in meiner Hand und betete: Bitte, lieber Gott, lass diesen Samen, den du in mich gesetzt hast, Früchte tragen.

Als ich die Augen öffnete, war dieWelt wie zuvor. Das erste Licht des Morgens tüpfelte mein Zimmer, das Kleid lag wie ein Haufen blauen Himmels auf dem Boden, ich krallte die Hand um den silbernen Knopf, und doch hatte ich das Gefühl, Gott hätte mich gehört.

Alles, was ich in jener Nacht durchlebt hatte, übertrug ich auf den Sterlingknopf – meineWeigerung, Hetty zu besitzen, das Gefühl der Erleichterung, den Freibrief zu unterzeichnen, vor allem aber die Beglückung, jenen Samen in mir zu erkennen, den meinVater längst entdeckt hatte. In mir schlummerte eine Anwältin.

Ich legte den Knopf in eine kleine Dose aus italienischem Lavagestein, die ich einmal zuWeihnachten bekommen hatte, und verbarg sie tief in der Schublade meines Frisiertisches.

Im Korridor waren erste Stimmen zu hören. Kannen undTabletts klapperten. Der morgendliche Klang der Sklaverei. DieWelt erwachte.

Ich zog mich eilig an und fragte mich, ob Hetty wohl schon vor meinem Zimmer wartete. Mein Herz schlug schneller. Ich öffnete die Tür. Keine Hetty. Etwas lag zu meinen Füßen. Es war der Freibrief. Zerrissen in zweiTeile.

Handful

Mein Leben mit Miss Sarah fing auf einem sehr falschen Fuß an. Als ich am ersten Morgen zu ihrem Zimmer kam, stand die Tür offen. Miss Sarah saß im Kalten und starrte ins Leere. Ich steckte meinen Kopf ins Zimmer und sagte: »Miss Sarah, möchten Sie, dass ich reinkomme?«

Miss Sarah hatte kleine plumpe Hände mit Stummelfingern. Sie fuhren vor ihren Mund und spreizten sich wie ein Damenfächer. Ihre Augen waren blass und sprachen klarer als ihr Mund. Sie sagten: Ich will dich hier nicht. Ihr Mund aber: »Ja, komm rein … Ich freue mich, dich als meine Kammerzofe zu haben.« Dann sank sie wieder in ihrem Sessel zusammen und tat, was sie vorher getan hatte. Nichts.

Eine zehnjährige Hofsklavin, die nur machte, was Aunt-Sister ihr sagte, kam nicht oft ins Herrenhaus. Und in die oberen Etagen schon gar nicht.War das ein Zimmer! Miss Sarah hatte ein Bett so groß wie ein Pferdewagen, einen Frisiertisch mit einem Spiegel, einen Schreibtisch für Bücher und noch mehr Bücher und viele gepolsterte Sessel.Vor dem Kamin stand ein Ofenschirm, der mit rosa Blumen bestickt war. Sie stammten von Maumas Nadel. Auf dem Sims standen zwei weißeVasen aus echtem Porzellan.

Ich sah mir alles an, dann fragte ich mich, was ich tun sollte. Ich sagte: »Es ist ziemlich kalt.«

Miss Sarah gab keine Antwort, also sagte ich lauter: »ES IST ZIEMLICH KALT.«

Das riss sie aus ihrem Wände-Anstarren. »Ach ja, du kannst ja mal ein Feuer machen.«

Ich hatte schon gesehen, wie man ein Feuer macht, aber Sehen ist nicht gleichTun. Dass man den Abzug prüfen musste, wusste ich nicht, und schon kam mir der Rauch wie ein Schwarm Fledermäuse entgegen.

Miss Sarah riss die Fenster auf. Es hatte wohl ausgesehen, als ob das Haus in Flammen stehen würde, denn unten auf dem Hof schrieTomfry: »Feuer, Feuer!«

Dann fielen alle ein.

Ich holte die Schüssel zum Frischmachen aus dem Ankleidezimmer und goss dasWasser ins Feuer, aber davon qualmte es nur noch schlimmer. Miss Sarah fächelte den Rauch zu den Fenstern hinaus. Sie stand wie ein Geist zwischen den schwarzenWolken. In ihrem Zimmer war eineTapetentür, die raus auf dieVeranda führte. Ich wollte sie aufreißen undTomfry zurufen, dass es kein Feuer gab, aber bevor ich an der Tür war, rannte die Missus schon durchs Haus und brüllte allen zu, raus, und schnappt euch, was ihr könnt.

Als der Qualm nur noch feine Spinnweben zog, folgte ich Miss Sarah in den Hof. Der alte Snow und Sabe hatten schon die Pferde angespannt und zogen die Kutschen fort, für den Fall, dass der Hof mit dem Haus draufgehen sollte.Tomfry hatte Prince und Eli befohlen,Wasser von der Zisterne herbeizuschleppen. Auch aus den Nachbarhäusern erschienen Männer mit Eimern. Ein Feuer fürchteten sie alle mehr als denTeufel. Im Kirchturm von St. Michael musste den ganzenTag ein Sklave sitzen und die Dächer im Auge behalten, und ich hatte große Angst, dass er den Rauch gesehen und die Glocke geläutet hatte. Denn dann wäre auch noch die Feuerwehr gekommen.

Ich lief zu Mauma, die sich mit den anderen drängte. Das, was einer Rettung würdig galt, lag in Haufen vor ihren Füßen: Porzellanschüsseln,Teewagen, Urkundenbücher, Kleider, Porträts, Bibeln, Broschen und Perlen. Sogar eine Marmorbüste war darunter. Die Missus hielt in der einen Hand ihren Stock mit der goldenen Spitze und einen Zigarrenhalter aus Silber in der anderen.

Miss Sarah versuchte, in der ganzen Aufregung zuTomfry und den Männern durchzudringen und ihnen zu sagen, dass es nichts zu löschen gab, aber bis sie dieWorte aus ihrem Mund gezogen hatte, waren die Männer schon fort, umWasser zu holen.

Als endlich alle kapierten, was los war, tobte die Missus. »Hetty, du inkompetente Närrin, du!«

Niemand rührte sich, nicht einmal die Nachbarsmänner. Nur Mauma kam und schob mich hinter sich, aber die Missus zerrte mich wieder nach vorn. Der goldbewehrte Stock fuhr auf meinen Hinterkopf. So einen schlimmen Schlag hatte ich noch nie bekommen. Ich sank auf die Knie.

Mauma schrie. Miss Sarah schrie. Aber die Missus, die Missus hob den Arm, als ob sie gleich wieder auf mich losgehen wollte. Ich kann nicht wirklich beschreiben, was dann passiert ist. Der Hof, die Menschen, die Mauern um uns herum, all das brach in Stücke. Der Boden rollte unter mir weg, und der Himmel blähte sich wie ein Zelt im Wind. Ich war irgendwo ganz allein, an einem Ort, den die Zeit nicht kennt. Eine Stimme rief ständig in meinem Kopf: Steh auf. Steh auf und sieh ihr ins Gesicht. Halt ihr die Wange hin. Zeig’s ihr.

Ich rappelte mich auf und reckte ihr mein Gesicht entgegen. Mein Blick sagte: Schlag mich doch, dir zeig ich’s.

Die Missus ließ den Arm sinken und trat zurück.

Dann war ich wieder auf dem Hof und befühlte meinen Kopf. Da war eine Beule, so groß wie einWachtelei. Mauma berührte sie sanft mit den Fingerspitzen.

Den ganzen Rest dieses gottverdammtenTages musste jede Sklavenfrau und jedes Sklavenmädchen sämtliche Kleider, Bettwäsche,Teppiche undVorhänge aus allen oberen Zimmern auf dieVeranda bringen und lüften. Alle, bis auf Mauma und Binah, warfen mir verächtliche Blicke zu. Miss Sarah kam auch nach oben und half. Sie schleppte, wie wir anderen, Wäsche. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, betrachtete sie mich, als ob sie mich noch nie im Leben gesehen hätte.

Sarah

In den folgenden dreiTagen nahm ich die Mahlzeiten allein in meinem Zimmer ein, aus Protest gegen die Übereignung Hettys, auch wenn das niemand bemerkte. Am viertenTag schluckte ich meinen Stolz hinunter und erschien zum Frühstück im Speisezimmer. Ich hatte Mutter nicht auf den missglückten Freibrief angesprochen, doch ich vermutete, dass sie ihn zerrissen, vor meinem Zimmer deponiert und somit das letzteWort behalten hatte, ohne sich dazu zu äußern.

Im Alter von elf Jahren besaß ich eine Sklavin, der ich nicht die Freiheit schenken konnte.

Das Frühstück, die größte Mahlzeit desTages, war schon in vollem Gange –Vater, Thomas und Frederick waren bereits zu Arbeit und Schule gefahren, nur Mutter, Mary, Anna und Eliza saßen noch am Tisch.

»Du bist spät, meine Liebe«, sagte Mutter. Nicht ohne einen Hauch von Mitgefühl.

An meiner Seite erschien Phoebe, die Aunt-Sister zur Hand ging und vermutlich kaum älter als ich war. Sie brachte sämtliche Gerüche des Küchenhauses mit – Schweiß, Kohle, Rauch und ein strenges Fischaroma. Normalerweise stand sie nur bei Tisch und schwang den Fliegenwedel, doch heute schob sie mir einenTeller hin, auf dem sich Würstchen, Grießplätzchen, gesalzene Krabben, braunes Brot undTapiokagelee türmten.

Als sie versuchte, eine zittrigeTasse neben meinemTeller abzustellen, traf sie versehentlich den Löffel, und derTee schwappte auf das Tischtuch. »Oh, Missus, mir tut so leid!«, rief sie und drehte sich zu Mutter.

Mutter stieß einen Seufzer aus, als ob die Unvollkommenheit sämtlicher Neger dieserWelt auf ihren Schultern lastete. »Wo ist Aunt-Sister?Warum, in Gottes Namen, servierst du?«

»Sie zeigt mir, wie’s geht.«

»Na, dann sieh zu, dass du es lernst.«

Als Phoebe davoneilte, um sich draußen vor die Tür zu stellen, versuchte ich, ihr ein Lächeln zuzuwerfen.

»Es ist schön, dass du wieder bei Tisch erscheinst«, sagte Mutter. »Bist du genesen?«

Alle Blicke richteten sich auf mich. DieWorte sammelten sich in meinem Mund und verharrten dort. In solchen Momenten verlegte ich mich auf eine besondereTechnik. Ich stellte mir vor, meine Zunge wäre eine Schleuder. Ich spannte sie, fest, fester: »Es geht mir gut«, katapultierte ich in einem Spuckeregen quer über den Tisch.

Mary betupfte sich demonstrativ das Gesicht mit der Serviette.

Sie wird einmal genau wie Mutter. Sie wirdein Haus führen, in dem es vor Kindern und Sklaven nur so wimmelt, während ich …

»Ich gehe davon aus, dass du die Überreste deiner närrischen kleinen Grille gefunden hast?«, fragte Mutter.

Aha, ich hatte also recht. Sie hatte tatsächlich mein Dokument konfisziert, und das sehr wahrscheinlich hinterVaters Rücken.

»Welche Grille?«, fragte Mary.

Ich warf Mutter einen beschwörenden Blick zu.

»Nichts, womit du dich befassen müsstest, Mary«, sagte Mutter und neigte den Kopf, als wollte sie die Kluft zwischen uns überbrücken.

Ich sank in meinen Stuhl und erwog, mich anVater zu wenden und ihm das zerrissene Schriftstück vorzulegen. Den ganzenTag dachte ich nur über diese Frage nach, doch als es Abend wurde, sah ich ein, dass es nichts nützen würde.Vater übertrug sämtliche Angelegenheiten des Haushalts an Mutter. Und er verabscheute Petzerei. Meine Brüder petzten nie, also würde ich es auch nicht tun. Davon abgesehen wäre es idiotisch gewesen, Mutter noch mehr zu reizen.

Ich begegnete meiner Enttäuschung, indem ich mit mir energisch über meine Zukunft sprach. Alles ist möglich, einfach alles.

Und bei Nacht öffnete ich die steinerne Schatulle und schaute auf den Silberknopf.

Handful

Die Missus sagte, ich wäre die schlechteste Kammerzofe in ganz Charleston. »Du bist desaströs, Hetty, einfach nur desaströs.«

Ich fragte Miss Sarah, was desaströs bedeutet, und sie sagte: »Nicht ganz den Anforderungen entsprechend.«

Äh äh. Ich sah es der Missus doch an. Es gab schlecht, schlechter und desaströs.

Außer der Sache mit dem Rauch machte ich in der erstenWoche noch einen glitschigen Flecken, als mir Lampenöl auf den Boden lief, zerbrach eine der beiden Porzellanvasen und röstete ein Stück von Miss Sarahs rotem Haar mit dem Lockenbrenner. Sie verpetzte mich nie. Sie zog einfach denTeppich über den Fleck, versteckte die Scherben in einem Lagerraum und trennte sich das versengte Haar mit dem Dochtschneider ab.

Miss Sarah läutete nur, wenn die Missus auf demWeg zu uns war. Binah und ihre beiden Töchter Lucy und Phoebe sangen immer: »Der Stock kommt. Der Stock kommt.« Mit Miss Sarahs Alarmglocke wurde meine Leine etwas länger. Ich nutzte die Freiheit und wanderte durch den Korridor zum vorderen Alkoven.Von dort oben konnte ich sehen, wie dasWasser aus dem Hafen in das Meer floss und das Meer es weitertrug, bis es gegen den Himmel schwappte. Da kam das prächtigste Bild nicht mit.

Als ich das zum ersten Mal sah, hüpfte ich auf und ab und hob eine Hand über den Kopf. Ich tanzte. In diesem Moment hatte ich zu meiner wahren Religion gefunden. Damals hätte ich es nicht mit diesemWort beschrieben, ich sagte morgens mein Amen und gut, aber etwas war in mich gefahren. Es ließ mich spüren, dass dasWasser mir gehörte. Es ließ mich sagen, das da draußen ist meinWasser.

Ich sah es in all seinen Farben. Am einenTag war es grün, dann braun, am nächsten so gelb wie Cider. Es war violett und schwarz und blau. Es war ruhelos, immer bewegt. Auf ihm kamen und gingen die Boote, und darunter waren die Fische.

Ich sang ihm ein kleines Lied:

Übers Wasser, übers Meer,

zieh ich hinter Fischen her.

Wenn das Wasser braucht zu lang,

zieht voran, zieht voran.

Nach ein oder zwei Monaten machte ich immer weniger falsch, aber selbst Miss Sarah wusste nicht, dass ich in manchen Nächten meinen Posten vor ihrer Tür verließ und die ganze Nacht lang dasWasser beobachtete, das im Mondschein zu Silber wurde. Die Sterne funkelten so groß wieTeller. Ich konnte bis nach Sullivan’s Island sehen.Wenn es dunkel war, sehnte ich mich nach Mauma. Mir fehlte unser Bett mit dem Quilt-Rahmen, der über uns wachte. Dann stellte ich mir vor, dass Mauma ihre Quilts jetzt ganz alleine nähen musste. Ich dachte an unseren Jutesack mit den Federn, den roten Beutel mit unseren Garnen und Nadeln und meinen Fingerhut aus echtem Messing. In solchen Nächten lief ich weg, hin zu unserem Stallzimmer.

Wenn Mauma wach wurde und ich neben ihr lag, war sie stinksauer. Das würde großen Ärger geben, wenn die mich erwischen, sagte sie, und bei der Missus würde ich schon schlecht genug dastehen.

»Das wird nichts Gutes, wenn du dich davonstiehlst«, sagte sie. »Du musst auf deinem Quilt bleiben.Tu’s für mich, hast du gehört?«

Und ich tat es für sie.Wenigstens ein paar Nächte lang blieb ich auf dem Boden im Korridor und versuchte, bei all dem Durchzug nicht zu sehr zu frieren. Ich rutschte so lang rum, bis ich eine weiche Diele fand. Irgendwie ergab ich mich in mein Elend und fandTrost in meinem Meer.

Sarah

An einem trüben Morgen im März, vier Monate nach dem Desaster an meinem elften Geburtstag, wurde ich wach, und Hetty war nicht da. Das Lager auf dem Boden vor meinem Zimmer war zerwühlt. Um diese Zeit füllte sie für gewöhnlich schon mein Becken und erzählte mir eine ihrer vielen Geschichten. Es überraschte mich, dass ich ihre Abwesenheit als so schmerzlich empfand. Sie fehlte mir wie eine teure Gefährtin, und ich machte mir auch Sorgen. Mutter hatte ihren Stock schon einmal auf Hetty niedergehen lassen.

Weil ich sie im Haus nirgends fand, stellte ich mich vor die Hintertür, auf die obersteTreppenstufe, und sah mich auf dem Hof um. Ein feiner Nebel war vom Hafen herangetrieben, und hinter dem Schleier schimmerte die Sonne golden-matt wie eineTaschenuhr. Snow stand in der Tür zum Kutschhaus und flickte den Riemen an einem Hintergeschirr. Aunt-Sister saß rittlings auf einem Hocker neben dem Gemüsegarten und schuppte Fische. Da ich niemanden misstrauisch machen wollte, lief ich zurVeranda des Küchenhauses.Tomfry verteilte dort gerade Utensilien undWerkzeuge: Eli bekam Seife für die Marmorstufen, Phoebe zwei grobe Handtücher für das Kristall und Sabe eine Schaufel für die Kohlenschütte.

Während ich wartete, bisTomfry fertig war, wanderte mein Blick zu der großen Eiche hinten im Hof. Dicke Knospen prangten an den Zweigen, und obwohl der Baum noch nicht sein sommerliches Antlitz zeigte, kehrte die Erinnerung an jenen längst vergangenenTag zurück: ich, breitbeinig auf dem Boden in der drückend heißen Stille, grün gewandete Schatten,Worte aus Murmeln, Sarah gehen …

Ich schaute zur gegenüberliegenden Seite des Hofes. Dort, neben dem Holzstapel, bückte sich Charlotte, Hettys Mutter. Sie las hier und da etwas vom Boden auf.

Leise trat ich näher.Was sie da aufhob, waren kleine flaumige Federn. »… Charlotte …«

Charlotte fuhr zusammen. Die Feder in ihren Fingern trieb mit dem Wind davon, bis auf die Höhe der Mauer, die den Hof umgab. Dort blieb die Feder in der Kletterfeige hängen.

»Miss Sarah!«, sagte sie. »Sie ham mich vielleicht erschreckt.« Ihr Lachen war schrill und zittrig vor Angst. Ihr Blick schnellte zum Stall.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken … Ich wollte nur fragen, ob Sie wissen, wo …«

Sie fiel mir insWort und zeigte auf den Holzstapel. »Seh’n Sie mal, hier unten.«

Ich spähte in die Nische zwischen zwei Scheiten. Ein bräunliches Geschöpf mit spitzen Ohren schaute mir entgegen, über und über mit Flaum bedeckt. Es war eine Eule, kaum größer als ein Hühnerküken. Als ihre gelben Augen zwinkerten und sich in meine bohrten, wich ich zurück.

Charlotte lachte erneut, diesmal entspannt. »Die beißt nich.«

»Das ist ja noch ein Baby.«

»Hab’ se vor’n paarTagen entdeckt. Das arme Ding hat aufm Boden gehockt und geweint.«

»War es … verletzt?«

»Nee, nur allein. Seine Mauma is die Scheuneneule. Die is in ein Krähennest gezogen, aber nun is sie weg. Ich fürchte, die hat’s erwischt. Ich fütter das Kleine mit Essensresten.«

Die Kleideranproben waren mein einziger Kontakt mit Charlotte, doch selbst bei diesen flüchtigen Gelegenheiten war mir aufgefallen, dass ihr etwas Leidenschaftliches anhaftete.Von allen Sklaven meinesVaters hielt ich sie für die Intelligenteste, wenn nicht die Gefährlichste, ein Urteil, das sich bewahrheiten sollte.

»Ich werde Hetty gut behandeln«, platzte es plötzlich – so reumütig wie hochmütig – aus mir heraus. Als ob eine Pustel voller Schuldgefühle aufgebrochen wäre.

Charlotte riss die Augen auf, dann wurden sie eng und klein, bohrend. Sie waren honigfarben, genau wie Hettys.

»Ich wollte sie nie besitzen … Ich habe versucht, ihr die Freiheit zu schenken, doch … ich durfte nicht.« Ich konnte mich nicht mehr bremsen.

Charlotte schob eine Hand in die Schürzentasche. Die Stille wurde unerträglich. Charlotte hatte meine Schuldgefühle gesehen und wusste sie raffiniert zu nutzen. »Schon gut«, sagte sie. »Ich weiß, einesTages machen Sie es gut.«

Das M klammerte sich an meine Zunge. »… M-m-mache ich es gut?«

»Ich weiß, Sie werden ihr irgendwie helfen freizukommen.«

»Ja, das werde ich«, sagte ich.

»Das reicht nich, das müssen Sie schwören.«

Ich nickte und begriff doch kaum, wie geschickt ich zu diesem Pakt gedrängt wurde.

»Sie haltenWort«, sagte Charlotte. »Ich weiß, dass Sie das tun.«

Da erst fiel mir ein, weshalb ich zu ihr gegangen war. »Ich habe überall gesucht …«

»Handful is bei Ihnen, ehe Sie’s merken.«

Auf dem Rückweg zum Haus zog sich die Schlinge dieser seltsam vertraulichen Begegnung immer fester um meinen Hals.

Hetty erschien keine zehn Minuten später. Ihr Gesicht bestand nur aus Augen, aus glühenden Eulenaugen. Ich saß mit dem Buch, das ich mir jüngst ausVaters Bibliothek geliehen hatte, an meinem Schreibtisch. Die Abenteuer des Telemachos. Als Sohn von Penelope und Odysseus hatte er sich auf denWeg nach Sparta gemacht, um seinenVater dort zu suchen. Ohne Hetty nach ihremVerbleib zu fragen, begann ich, laut zu lesen. Hetty sank auf die Bettstufen, die zu meiner Matratze hochführten, stützte das Kinn ab und lauschte den ganzenVormittag, wieTelemachos den Widrigkeiten der Antike trotzte.

Gerissene Charlotte. An jedem einzelnenTag im März dachte ich an dasVersprechen, das sie mir abgerungen hatte.Warum hatte ich ihr nicht gesagt, dass ich Hetty unmöglich die Freiheit schenken konnte? Dass ich sie bestenfalls gut behandeln konnte?

Ostern nahte, und ich brauchte ein neues Kleid. Mir graute vor derVorstellung, Charlotte wiederzusehen, vor lauter Angst, sie könnte unser Gespräch erwähnen. Lieber hätte ich mich mit einer Nadel durchbohrt, als mich ihren stechenden Blicken auszusetzen.

»Ich brauche dieses Jahr kein neues Osterkleid«, erklärte ich Mutter.

Dennoch stand ich eine