Die Mimik der Haie - Matthias Rische - E-Book

Die Mimik der Haie E-Book

Matthias Rische

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Beschreibung

Amir verlässt ein Schiff. Kim verlässt die Psychiatrie. Helge will keine Lügen mehr. Lilli und Nick sind allein zu Haus. Menschen erfrieren oder kochen über.

Matthias Rische versetzt uns in die Leben der anderen, lässt uns teilhaben an ihren Ängsten und Irritationen, an ihrer Grausamkeit und ihren Süchten, aber auch an ihren Hoffnungen und Erkenntnissen. Seine Protagonisten sind oft Außenseiter, die mit einem Makel zu kämpfen haben. Etwas hat sie aus der Bahn geworfen – die familiären Umstände, körperliche Gewalt, eine Krankheit oder ein Verlust.

Diese 22 ungewöhnlichen Geschichten prägen sich ein und gehen an Herz und Nieren.

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periplaneta

MATTHIAS RISCHE: „Die Mimik der Haie – Erzählungen“ 1. Auflage, September 2023, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2023 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

PPM & Lektorat: Marion A. MüllerOriginal Coverbild: Luis Villasmil (unsplash.com) Grafik-Design, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-203-2epub ISBN: 978-3-95996-204-9

Matthias Rische

Die Mimik der Haie

Erzählungen

periplaneta

Traum vom Wasser

Schweigen ist Gold. Dieser Satz wurde Amir immer vorgebetet. Schweigen ist Gold. Vater hat es wiederholt, wie ein Muezzin beim Ruf des Morgengebets.

Vier Züge, nach links atmen. Vier Züge, nach rechts atmen. Die Beine schlagen in schnellem Takt auf und ab. Das Wasser ist dein Freund. Der Trainer hat Amir getriezt, bis er es verinnerlicht hatte.

Schweigen und Schwimmen. Die Gebote seines Lebens. Das war seine Religion. Söhne hatten zu gehorchen. Dem Vater und dem Trainer.

Schwimmenlernen war eine Notwendigkeit. Amirs Familie wohnte in einer Großstadt am Mittelmeer. Dass er schon bald durchs Wasser glitt, als würde er sein Leben darin verbringen, hatte Amir seinem Ehrgeiz zu verdanken, dem immer härter werdenden Training und dem Gebot seines Vaters.

Beim professionellen Kraulen war Sprechen unmöglich. Man musste sich auf die Koordination von Armen und Beinen konzentrieren und auf das Atmen. Konzentration besitzt keine Sprache. Krafttraining war notwendig, um die Geschwindigkeit des Gleitens zu erhöhen. Als die Bewegung zu ihm gehörte, wie sein linker Daumen oder seine Nase, stellte er automatisch auch das Denken ein.

Über Jahre trainierte er im Becken, dann warf ihn der Trainer ins Meer. Da war das Schwimmen rauer, anstrengender. Es kostete mehr Überwindung. Im Becken gab es Wasser und Kacheln. Eine Ödnis, die es einfach machte, sich zu konzentrieren.

Es dauerte seine Zeit, bis sich Amir von der Schönheit der Unterwasserwelt lösen konnte. Als ihm das gelang, hatte der Junge bald nationale Jugendspitzenklasse erreicht.

Amir und das Wasser wurden eins. Dass er Wasser verdrängen musste, um vorwärtszukommen, spürte er bald nicht mehr. Ähnlich mussten sich Menschen in der Schwerelosigkeit fühlen.

Amir registrierte erst spät, dass immer mehr Menschen der Stadt dem Gebot seines Vaters zu folgen schienen. Die Stadt war immer laut, solange er denken konnte. Verkehr, Basare, Touristen, die Muezzins, das Rauschen des Meeres. Arabisch war eine laute Sprache. Selbst wenn die Menschen nah beieinanderstanden, schienen sie sich anzubrüllen.

Nicht, dass die Lautstärke Amir jemals aufgefallen oder bewusst gewesen wäre. Er ist hier geboren. Deren Abebben hingegen nahm er wahr, als er hin und wieder aus seiner Wasserwelt auftauchte.

Es kamen weniger Touristen und die Menschen redeten immer häufiger hinter vorgehaltener Hand. Das fröhliche Geschrei wandelte sich in ein wisperndes Flüstern. Nachrichten verfolgte Amir nicht. Er hatte seinen Sport und seine Familie. Für ihn war seine Welt riesig und er hatte genug damit zu tun, allen Anforderungen gerecht zu werden.

Hier und da schnappte er Begriffe auf, die ihn verwirrten. Überwachung, Verfolgung, Aufstand. Polizei war schon immer sehr präsent. Auf die und auf das Militär bezog sich in erster Linie die Anweisung des Vaters.

Der Weg von der Schwimmhalle nach Hause dauerte zu Fuß zwanzig Minuten. Amir hätte den Bus nehmen sollen, doch das Geld sparte er oft. Eines Abends, als er in die kleine Verbindungsgasse einbog, eine Abkürzung, trat ihm einer der vielen streunenden Hunde in Algier entgegen. Ein Windhund, bei dem die Rippen scheinbar über das Fell verliefen, kam mit gebleckten Zähnen auf ihn zu getrottet. Er hätte wieder aus der Gasse flüchten können, aber vor einem Windhund davon zu laufen, war sinnlos.

Langsam löste Amir seinen Rucksack von der Schulter. Darin befanden sich die Schwimmbrille und seine Trinkflasche. Harte Gegenstände, die, wenn sie die Schnauze des Tieres trafen, als Waffe eingesetzt werden konnten. Er schwang sie konzentriert vor seinen Oberschenkeln hin und her.

Der Windhund war wenig beeindruckt. Er steigerte sein Tempo und sprang, ohne einen Ton von sich zu geben, auf den Jungen zu. Der holte aus und traf den Hund mit aller Kraft auf das spitz zulaufende Maul. Das Tier jaulte auf, fiel zur Seite und schlug auf dem Boden auf, wie ein Stein. Amir ließ ihm keine Zeit, sich zu berappeln. Immer wieder trat er ihm in den Bauch, vor sich den Körper eines fülligen, glatt rasierten Militärs sehend.

Tags darauf, mitten in der Nacht, zog seine Familie los.

Am meisten erschreckten Amir die Geräusche. In der Dunkelheit und Enge des Frachtraums umschlossen sie ihn wie schwere, gift-scharfe Luft. Er versuchte, sich daran zu gewöhnen, sprach sich in Gedanken ruhig zu. Aber die Aussicht, dieses dumpfe Dröhnen tagelang ertragen zu müssen, ließ ihn verzweifeln. Es drang aus dem Metall des Bodens und der Wände zu ihm heran und hinein in den kurzen Schlaf, der ihn immer wieder umfing. Er träumte während dieser knappen halben Stunden, und die Träume waren von Dröhnen unterlegt. Er träumte von den Geräuschen und der Farbe seines Schwimmbeckens. Vom Durchpflügen des Wassers seiner kräftigen Armzüge. Von der leichten Bewegung seiner Mutter, mit der sie Reis, Linsen und Lamm auf einen tiefen Teller füllte. Wenn er erwachte, hatte Amir weder den Geruch des Essens in der Nase, noch spürte er die Schmerzen nach dem harten Schwimmtraining. Lediglich das Dröhnen war in ihn gekrochen.

Er hatte keine Ahnung, wo seine Familie steckte, auf diesem dunklen Kahn. Beim Betreten des Schiffes durfte er nur nach vorn schauen und musste schweigen. Es war voll und eng. Als er sich umsah, waren sie verschwunden, sie hatten sich verloren. Er bekam nicht die Chance, nach ihnen zu suchen oder sie zu rufen.

Amir spürte nur die Leiber fremder Menschen, die sich still und stinkend an ihn drängten.

Amir friert. Es ist die zweite Nacht auf See. Eine unruhige Nacht. Das Schiff, das sie betreten hatten, stellte sich bei Tag als uralter Frachtkahn heraus. Er scheint Wind und Wellen beinah schutzlos ausgeliefert. Und damit auch die Menschen an Bord.

Nach dem überstürzten Aufbruch von zu Hause hätte er seinen Vater gerne gefragt, wohin die Reise denn geht. Es sind keine Ferien und mindestens ein Schwimmtraining würde er auch verpassen. Aber sein Vater ist verschollen. Zwischen den Menschenmassen an Bord untergetaucht. Hatte sich verflüchtigt, wie der Rest seiner – einst eng zusammenhaltenden – Familie.

Mit vierzehn ist er erstmals in seinem Leben führungslos.

Orientierungslos. Der einzige Halt ist die Sehnsucht nach seiner Familie und die Nähe zum Wasser. Ein Element, in dem er sich zuhause fühlt, welches er beherrschen kann. Jederzeit. Aber das, paradoxerweise – obwohl sie darauf vorwärts gleiten – weiter entfernt scheint als jemals zuvor.

Keinen Plan zu haben, macht ihn nervös. Seine Tage waren bis vor Kurzem gespickt mit Plänen. Beinahe jede Minute war verplant. Schulpläne, Trainingspläne, Aufgaben im Haushalt, feste Schlafenszeiten. Und Ziele. Die nächste Klassenarbeit, die nächste Bestzeit.

Und nun weiß er nichts. Nicht warum, nicht wohin!?

Amir hatte die Idee, dass es seinen Eltern, mit dem ganzen Militär in der Stadt zu eng geworden ist. Aber niemand hat mit ihm geredet. Wenn sie wegmussten, hätte doch Baba den Plan mit ihm besprechen können! Wenn das eine Flucht ist, dann musste die doch irgendwohin führen. Und was sollte er den Leuten dort erzählen, warum er da ist, wenn er Baba nicht wieder trifft? Ich weiß nicht. Mir ging es gut. Ich hatte fast alles, wovon ich träumte?

Das Wasser. Er muss das Wasser sehen. Darin eintauchen. Das würde ihm die Gedanken abnehmen. Atmen, schwimmen. Schwimmen, atmen.

Amir erhebt sich, soweit es geht, steigt über liegende Leiber hinweg, auf sie drauf. Irgendwo hatte er eine Luke, ein Bullauge gesehen. Riechen kann er das Wasser nicht, bei dem Gestank nach Urin, Schweiß und unguten Dämpfen. Auch das Schlagen der Wellen gegen die Bordwand vernimmt er nicht. Dazu dröhnen die Maschinen zu laut.

Er erreicht das runde Fenster. Draußen ist es dunkel und das Bullauge beschlagen oder verdreckt. Dennoch sieht er, wie aufgewühltes Wasser sich über sein Sichtfeld erhebt. Das befindet sich etwa auf Höhe des Meeresspiegels.

Die Sehnsucht wächst. Nach zwei Nächten Stillstand verlangt sein Körper nach Bewegung. Dahinein muss er gelangen. Dazu muss er raus aus dem Frachtraum.

Abgesehen vom anhaltenden Dröhnen ist es ruhig auf dem Schiff. Amir schleicht gebückt die Metallstufen hinauf. Er stößt auf keine verschlossenen Türen.

Der freie Blick aufs Meer. Es wogt. Nicht übermäßig doll. Beherrschbar sollte es sein, für einen geübten Schwimmer. Amirs schwarzes Haar fällt wellig über die Schultern. Er versucht zu erkennen, ob er nicht irgendwo Land entdeckt. Ganz hinten am Horizont sieht es danach aus. Seiner Schuhe hat er sich entledigt. Etwas wie Lampenfieber steigt in ihm auf, vor diesem letzten Sprung über die Reling. Dass der Frachter ihn nicht wieder einsammeln wird, wenn er ihn einmal verlassen hat, ist ihm klar. Das ändert nichts an seinem Entschluss. Er wird das kalte Metall hinter sich lassen, die Wellen um sich herum spüren, sich auf sie legen und sein Arm- und Beinschlag wird ihn vorwärtsbringen. Dafür hat er trainiert.

Die Lippen des Jungen bewegen sich stumm. Einige letzte Worte an seine Eltern und Familie. Er verspricht ihnen, wie immer, sein Bestes zu geben.

Der Mond versteckt sich hinter dunklen Wolken. Es regnet nicht.

Für einen Augenblick hat Amir einen Traum. Er sieht ihn klar vor sich. Er weiß, wie Gäste in seiner Heimatstadt behandelt werden. Wie kleine Könige. Jeder Wunsch wird ihnen von den Augen abgelesen. Wenn sie mit diesem Schiff nun sein Land verlassen, vor einem fremden Land ankern, dann müsste er doch …

Amir lächelt breit, nimmt Anlauf und hechtet über die Reling.

Arme und Beine seitlich vom Körper weg gestreckt, wie eine Fledermaus gleitend, fliegt er wie in Zeitlupe dem Wasser entgegen. Erst kurz vor dem Eintauchen zieht er seine Gliedmaßen zusammen. Niemand hat sein Abtauchen bemerkt, und er taucht tief. Es dauert eine Ewigkeit, bis ihn die Massen wieder an die Oberfläche spülen.

Wasser. Wasser, schwarz und schäumend. Es trägt ihn nicht. Hohe Wellen ergießen sich über ihn. Er schmeckt Salz. Amir ist ein Spielball der Wassermassen. Und erstmals in Verbindung mit Wasser empfindet er etwas, was er jedem anderen Element eher zugeschrieben hätte. Angst.

Das hier ist das offene Meer. Bisher hatte er sich nur in Strandnähe bewiesen. Er hat die Kraft des Wassers unterschätzt. Er hört die Stimme seines Trainers, der ihn vor unbekannten Strömungen warnt. Er hört die Stimme seines Trainers: „Gleichmäßig eintauchen und die Schwünge lang ziehen.“ Er hat seine Schwimmbrille vergessen, kann sich nicht orientieren. Er hört, wie sich das Dröhnen des Schiffsmotors entfernt. Er wird von einer Welle verschluckt und wieder ausgespien. Er spürt, dass seine Kraft nichts ist, was er der Stärke des Meeres entgegensetzen kann. Er ahnt, dass dies keine Bestzeit wird.

Die Mimik der Haie

Das Haus hat er vor sich im Blick. Er bleibt für einen Moment stehen, betrachtet es, als sähe er es zum ersten Mal. Es sieht aus, als hätte es ein Dreijähriger mit dicken Wachsstiften gemalt. Krumm und schief, mit Eindellungen.

Allmählich verrottendes Holz, kreuz und quer zusammengezimmert. Wirkt, als bräche es jeden Augenblick zusammen – aber es steht seit einer Ewigkeit. Omas Haus.

Helge Molling öffnet die knarzende Tür, betritt einen winzigen Vorraum, der als Garderobe dient und steht in der Küche. Es ist ruhig im Haus.

Er wäscht seine sandigen Hände oberflächlich in der Spüle und deckt den Tisch. Einen kleinen Teller für sich und Oma. Kleine Tasse mit Unterteller für Oma und ein Glas für seine Limo. Dann schaltet er den Ofen an, damit die Schokocroissants langsam durchgebacken werden. Sie soll es schön haben, wenn sie heimkommt.

An der Treppe streift er seine roten Leinenturnschuhe ab. Barfuß geht er hinauf. Hier oben wohnt er allein. Es gibt eine Gästetoilette, eine Abstellkammer und sein Zimmer. Seit elf Monaten ist das sein Reich.

Helge Mollings Zimmer spiegelt seine Lebenssituation wieder, lieblos eingerichtet und unaufgeräumt, nichts von Wert. Einen Unterschlupf, der dem Teenager maximal ein Dach über dem Kopf bietet.

Helge durchquert den Raum auf sich auflösenden Teppichresten, erreicht das Fenster. Einen Fuß stellt er auf der breiten Fensterbank ab, welche sich knapp über Kniehöhe befindet. Der Blick geht über das kleine, herbstlich gekleidete Grundstück. Es gibt eine überdachte Wanne, in der Winterholz gelagert wird, eine brache Stelle, wo Omas uralter Ford Mustang geparkt wird. Wenn sie fort ist, ist die Stelle, wo tropfendes Öl in den Boden eindringt, gut zu erkennen.

Der Blick verlässt das Gelände. Geht hinaus in die ländliche Welt dahinter, die aus Wald und Wiesen, aus Schneisen und Trampelpfaden besteht. Weit und eng zugleich.

Der Junge kippt den Riegel aus der Halterung und schiebt die Flügel auf.

Die Entscheidung fällt auf den letzten Metern, ehe Helge das Haus seiner Oma erreicht. Verstärkt durch das Fortschieben des bunten Laubes vom sandigen Untergrund mit den Füßen und dem Betrachten der nun schmucklosen dürren Äste der Bäume. Dünn und biegsam, wirken sie dennoch stabil. Wenn die abgebrochen und in die Luft geschlagen werden, erzeugen sie ein pfeifendes Zischen. Wenn dieses auf einen Körper trifft … Helge werden die Gründe für den Umzug zu seiner Oma greifbar und schmerzhaft vor Augen geführt. Schönheit und Gewalt liegen häufig nah beieinander.

Der Tag war grandios verlaufen. Einer der schönsten Tage, an die Helge sich erinnern konnte. Das riesige Aquarium, wo man das Gefühl hatte, von Meerestieren eingekreist zu sein, hatten sie schon öfter besucht. An dem Tag hatte ihn sein Vater lediglich abgeliefert, gewartet bis er sicher drin war und war wieder gefahren.

Helge hatte die nächsten Stunden allein mit seinen Haifischen verbracht. Er versuchte, ihre Kommunikation zu deuten; bewunderte ihre Wendigkeit, trotz ihres Gewichts und beobachtete vor allem ihre Mimik. Es gab sie nicht. Ob sie wütend, fröhlich, gierig oder genervt waren – es spiegelte sich nicht in ihren wundervollen Gesichtern. Ob sie zu solchen Empfindungen überhaupt in der Lage waren, wusste Helge ebenso wenig. Darum ging es ihm auch nicht.

Nach solchen Besuchen verbrachte er Stunden damit, sich selbst zu beobachten. Sich gedanklich – was ihm nicht schwerfiel – in bestimmte Stimmungen zu versetzen und es sich nicht anmerken zu lassen. Eine immergleiche oder gleichgültige Mimik zu behalten. Es misslang ihm. Jeder einzelne Versuch.

Ein Galapagoshai kam frontal auf ihn zu geschwommen. Mit abgerundeter weißer Schnauze und den großen runden Augen. Die Tiere waren hoch aggressiv, hatte Helge gelesen. Aber auch dies sieht man ihnen nicht an. Als das große Tier beinah die Scheibe erreicht hatte, wich Helge einen Schritt zurück. Der Hai schwenkte nach oben ab und es sah aus, als reinigte sein drei Meter siebzig langer Körper das Glas.

Dem Vater sah er den Stimmungsumschwung sofort an, als er ihn abholen kam. Blass, müde und genervt wirkte er – und ein Geruch nach Bier und Schnaps wehte Helge entgegen, als er ins Auto stieg. Vermutlich hatte Vater wieder beim Kartenspielen verloren.

Helge spürte, dass sich seine eigene Mimik ebenfalls veränderte. Zu lesen darin waren bestimmt Angst und Wut. Emotionen, die sein Vater deuten und erkennen musste.

Helge konnte sich den weiteren Verlauf des Abends schon ausmalen. Ein heftiger Streit zwischen seinen Eltern, vielleicht mit Schlägen für die Mutter, die daraufhin das Haus verlassen würde. Danach ein trügerischer Moment der Ruhe. Dann würde ein Klappern an der Garderobe signalisieren, dass der Vater gleich mit einer Waffe – einem Bügel – das Kinderzimmer betreten würde. Den Rest seines sich Unverstandenfühlens würde er dann an dem Jungen abreagieren. Bis alles raus war.

Helge sprach seinen Vater nicht an, erzählte von dem Erlebten, schloss die Augen und sah die übergroßen Raubfische – an sich vorbei und über sich – durch das Aquarium gleiten.

Ehe er den Punkt seiner Entscheidungsfindung erreicht hatte, war Helge im Wald gewesen. Noch hinter dem kleinen Steg, der wohl eine geländerlose Brücke über eine undefinierbare Kuhle sein sollte.

Seit er hergezogen war, hatte er kaum Kontakt zu den Dorfbewohnern gefunden. Sie hielten ihn für seltsam, aggressiv, unberechenbar und fremd. Das sagte ihm keiner. Aber er konnte es an ihren Reaktionen sehen – manchmal auch hören, wie sie über ihn sprachen. Den komischen Jungen aus der Stadt. Über den, der mindestens eine Schraube locker hat. An allem, was im Dorf schief lief, kaputtging oder verschwand, war automatisch er schuld.

Er hatte ihnen nie etwas getan. Nichts, was sie ihm nachweisen konnten.

Hier – im Wald der Hainbuchen – hatte er sein rein privates Massengrab angelegt. Die Hainbuchen boten Schutz und ihm gefielen ihre eiförmigen, gezackten Blätter. Die kaputten pflückte er ab und zerrieb sie zwischen Daumen und Zeige- und Mittelfinger. Asche zu Asche, dachte Helge, der alles andere als religiös erzogen worden war. Niemand suchte ihn hier, wenn er mal allein sein wollte.

Neben seiner taffen Oma war dies hier ein Stück Zuhause. Sie war taff, weil sie aufstand und brüllte, wenn ihr etwas nicht passte oder sie fand, dass Helge unfair und von Vorurteilen getrieben, behandelt wurde. Egal, wer vor ihr stand. Manchmal traf es auch Helge selbst, aber dann hatte er es verdient – oder er brüllte zurück.

So groß wie die entdeckten Gräber nach dem Zweiten Weltkrieg war seines nicht. Er hatte erschreckende Bilder über die Funde in mehreren Dokus im Fernsehen gesehen.

In seinem Grab lagen keine Menschenknochen. Hier verscharrte er alle Kleintiere, die er den Nachbarn gestohlen hatte. Denen er den Hals umgedreht, sie gegen Bäume geschleudert hatte oder mit einem gezielten, festen Schnitt durch die Kehle vom Dasein erlöst hatte. Einem Dasein als nicht gesellschaftskompatible Einzelgänger. Wie er selbst. Das Größte war eine kleine Ziege vom Freierhof. Die hatte er an einer Leine bis zum Schlachtort geführt. Sie würde die Letzte sein, die hier zur Ruhe gebettet wurde. Er zog sein Jagdmesser aus der Scheide. Ein Messer, das ihm sein Vater unvorsichtigerweise zu einem Geburtstag geschenkt hatte. Welcher es war, spielte keine Rolle. Es war zum Schnitzen gedacht und höllisch scharf. Das setzte er der Ziege an den Hals … hielt inne.

Es war einer der besseren Tage, die Helge mit seinem Vater hatte. Der hatte ihn noch vor Sonnenaufgang in seinen Wagen verfrachtet und sie waren zum Angeln gefahren. An einen entfernt gelegenen See, wo sie keiner kannte. Und wo es ruhig sein sollte. Ein paar entspannte Stunden wollte der Vater mit seinem Sohn verbringen. Das taten sie viel zu selten. Sie fanden einen Platz, der kaum von anderen Stellen einsehbar war, breiteten ihre Decken aus und die Köder vor. Dann warfen sie die Sehnen, so weit es ging, ins Wasser und befestigten ihre Angeln im Boden.

Helge wurde nicht wirklich wach an diesem Morgen. Sein Vater erzählte lauter belangloses Zeug. Wie schön es wäre, als Vater seinen Jungen heranwachsen zu sehen. Und nun sei er doch tatsächlich schon jugendlich. Bald würde er die erste Freundin zum Übernachten mit nach Hause bringen. Und er tat groß, strahlte wie ein Honigkuchenpferd, während er den ganzen Unsinn von sich gab. Und immer wieder schlug er Helge – etwas doller als gespielt kumpelhaft – auf die Schulter oder boxte ihn gegen die Brust.

Mit der Hand, die normalerweise den Bügel schwang.

Die Hand, die noch gestern den breiten Gürtel auf Helges nacktes Hinterteil niederfahren ließ. Immer und immer wieder. Für nichts. Weil Helge fand, dass seine Mutter etwas zu viel Salz an der Suppe hatte. Und das auch sagte. Nicht als Vorwurf. Als reine Feststellung. Aber seine Mutter hatte Geburtstag und Helge keinen Respekt. Nicht mal an ihrem Geburtstag.

Die Suppe hätte doch mit dem Geburtstag nichts zu tun, versuchte sich Helge zu rechtfertigen. Und es wäre ja auch gar keine Kritik gewesen … weiter kam er nicht. Der Vater löste seinen Gürtel aus der Hose.

Später hörte er, wie sie tranken, seine Eltern. Und der Vater die Mutter immer wieder nahm. Es war ihr Geburtstagsgeschenk. Das Geld war schon wieder verspielt.

Es gibt viele schlechte und manch schöne Tage, dachte Helge. Richtig gut wird es nie.

Helge legte den kleinen Stamm beiseite, an dem er herumschnitzte. Natürlich sollte es ein Hai werden. Ein Sandtiger, der vom Aussterben bedroht ist.

Vom Aussterben bedroht, dachte Helge mit Blick auf seinen Vater, der ans Wasser getreten war, immer noch fröhlich vor sich hin brabbelte und an seiner Angel nestelte.

Die ersten drei Stiche waren gezielt – in die Gegend von Herz und Niere. Danach wurde es wild und egal. Ein einziges Abreagieren, in dem alle Angst und Wut vor und auf den Mann lag, der behauptete, sein Vater zu sein.

Seinen Vater stieß er ins Wasser, die Angeln ließ er stecken. Dort, wo sie niemand kannte.

Die Ziege ließ Helge ausbluten. Kaum vorstellbar, dass es Menschen gab, die nach so einer Tat das Tier noch essen konnten.

Die blauen Augen suchen das Gelände ab. Suchen den Ort zu finden, an dem Helge seinen Ruhepunkt gefunden hat, inmitten dieser grausamen Langeweile. Wo kaum etwas im Verborgenen passieren kann, weil ein jeder alles sieht und was er gesehen hat, allen anderen erzählt. Eine Gemeinschaft, in der jeder glaubt, alles vom anderen zu wissen.

Oma hat erzählt, dass – wenn hier einer merkt oder glaubt, dass es mit ihm zu Ende geht – er an jede Tür geht und dem Gegenüber die an ihm begangenen Sünden oder Verfehlungen beichtet und um Vergebung bittet. Danach hat sie in die Luft geschaut und irgendeine Melodie gepfiffen – um zu zeigen, was sie von solch einem Brauch hielt. „Da müsste ich meinen nahen Tod ja Jahre vorher spüren“, hat sie dann gesagt, den Kopf geschüttelt und gelacht.

Vielleicht wäre vieles anders gekommen, wenn seine Oma von Beginn an dagewesen – und nicht erst als Notnagel kurz vor Schluss aufgetaucht wäre, denkt Helge.

Der selbst angelegte Tierfriedhof ist von hier aus nicht zu finden. Liegt zu gut versteckt. Helge lächelt.

Der Weg zurück ist lang und einsam. Helge ist es von der Stadt her gewohnt, vom Frühjahr bis kurz vor Ende des Herbstes in dreiviertellangen Hosen, T-Shirt und in den Schuhen barfuß zu laufen. Warum hätte er das hier auf dem Land ändern sollen? Weil die Leute komisch guckten und hinterher über ihn redeten? Das taten sie vorher auch schon. Nur offener.

Oma hat sich geweigert, sein Fahrrad mitzunehmen, als sie ihn aus der Stadt abgeholt und vor einer Heimunterbringung bewahrt hat. „Der Junge und das Gepäck reichen ja wohl für eine alte Frau“, hat sie getönt und ist losmarschiert.

Er hatte die Ziege ordentlich begraben, Messer und Hände oberflächlich mit Blattwerk gereinigt, den Steg überquert und hatte den Umweg durch den hochstehenden Mais gemacht. Alle Ideen waren verworfen, alle Pläne geschmiedet. Die meisten Gedanken aufgebraucht. Manchmal musste es reichen, einfach nur zu sein. Es gab ja immer noch den Wind, die fallenden bunten Blätter und das Getreide, das wuchs, wenn man es ließ.

Aus den Augenwinkeln registrierte Helge, dass am nahen Stall jemand auf seine Heugabel gestützt stand. Die alte Lara.

Er beobachtete sie eine Zeitlang. Die stand da und hielt nicht die Gabel. Die Gabel hielt die Alte – mit den langen Zinken in der Brust. Beim Denken verreckt. Passiert.

Die Alte pack ich aber nicht zu den Viechern, dachte Helge und schlenderte davon. Da die Leute ja hier alles voneinander wussten, konnte es nicht lange dauern, bis Lara gefunden wurde.

Der Gedankenstrom setzte wieder ein. Von Lara zu Lorna war es nur ein kurzes Stück, ein Katzensprung. Lorna war der Name seiner Mutter. Seiner Mutter, die irgendwo in der Stadt begraben lag.

Drei Wochen nachdem der Vater verschwunden war, saß sie weinend am Küchentisch. Helge fragte, warum es ihr nicht gut ginge, warum sie weinte? Erst hat sie ganz sanft von diesem lieben Mann gesprochen, dass ihr seine Zärtlichkeiten und seine Führung fehlten.

„Mama“, hatte Helge irritiert erwidert, „er hat dich misshandelt, beschimpft, gefickt wenn nur er es wollte …“

Die Mutter hatte sich in die Höhe gestemmt, Helge mit einer Wut im Blick angeschaut, die er noch nie bei ihr gesehen hatte und gebrüllt: „Du kleines Arschloch weißt doch gar nicht, was es heißt, eine glückliche Beziehung zu führen. Du warst es doch, der sich immer zwischen uns gestellt hat – mit seinen absurden ach so kindlichen Forderungen und so viel Weichheit, dass es kaum zu ertragen war. Der Mann hat versucht, uns ein Leben zu ermöglichen, das mehr bieten sollte als Haushalt und Fußball. Er hat versagt, aber das war nicht seine Schuld.“

Luft und Kraft waren raus.

Helge hätte viel dazu zu sagen gehabt. Und zu fragen. Seine Mutter belog ihn, redete sich das vergangene Leben schön. Ein Leben, von dem Helge dachte, dass es vorbei wäre. Aber er ging. Verließ die Wohnung und kam wieder, als er sicher sein konnte, dass sie schlief.

Seit des Vaters Tod, von dem die Mutter nichts wusste, nahm sie Schlaftabletten. Helge selbst hatte sie besorgen müssen. Bei den Worten der Mutter hatte er die unerklärliche Angst verspürt, dass sein Vater wiederkehren könnte. Dass dann alles von vorne anfing, obwohl er selbst ja …

Die Mutter hatte Helge die Schuld an dem Chaos und der Gewalt gegeben. Sie würde keine Ruhe geben. Nie wieder. Wenn sie glaubte, nicht mehr weiter zu wissen, würde sie Helge Vorhaltungen machen.

Seine Mutter atmete ganz ruhig und flach. Nun konnte er, wie der Vater früher, alles mit ihr tun, wonach ihm war. Es ging Helge darum, nicht mehr solche Lügen aus ihrem Mund zu hören. Er hatte Mullbinden aus dem Verbandskasten mitgebracht und den kleinen, weichen Ball, den seine Mutter immer gegen seine Zimmertür warf, damit er sich keine Sorgen machte, wenn es lauter wurde.

Den schob er ihr in den leicht geöffneten Mund. Dann hob er ihren Kopf an und wickelte den Mull um Hinterkopf und Mund und Nase. Bis nichts mehr übrig war. Er zerriss Teile des letzten Streifens und knotete ihn am Hinterkopf der Mutter zusammen. Er gab ihr sanft einen Kuss auf die Stirn und ging, wie er es sich von ihr oft gewünscht hatte.

Als er am Morgen wieder nach ihr sah, atmete sie weder flach noch hektisch.

Helge Molling sitzt auf der breiten Fensterbank. Die Füße hängen nach draußen. Er hat nicht das Gefühl, viel falsch gemacht zu haben. Und dennoch glaubt er, niemals irgendwo ankommen zu können.

Er hat Briefe an Mutter und Vater geschrieben. Erst sehr kurz, dann immer länger werdend. Als Erklärung. Er hat ihnen ihr Handeln erklärt – und zum Schluss – sein eigenes. Er hat Wünsche an sie geäußert, die nicht zu erfüllen sein werden. Darüber, wie er sich das Leben mit Borg und Lorna vorgestellt hätte.

Was er am Ende vermisst, ist sein Fahrrad. Das sagt genug.

Aus der Küche steigt der Geruch nach Gebackenem und Schokolade zu Helge hinauf. Er hört das Knarzen der Eingangstür.

Er wird niemals irgendwo ankommen. Seinen Platz im Leben hat er selber verbrannt. Oma ist 56 Jahre älter als er. Wie lange sie wohl noch hat?

Sein Gesicht nimmt erstmalig die Mimik der Haie an.

Der Wandler

Meine Mutter sagt immer zu mir, ich sei ein Träumer. Ob sie das positiv meint, weil ich über viel Fantasie verfügte – oder negativ, weil ich häufig abwesend zu sein schien, weiß ich nicht.

Ich glaube, ich bin irgendwo dazwischen. Ein Wandler. Ich forsche an Dingen, untersuche Dinge so lange, bis ich sie mir erklären kann. Dabei geht es selten um die Funktion von Dingen, die man berühren kann. Es geht um Dinge zwischen den Dingen.

Wo komme ich her? Und wo ist Massimo?

Dann sitze ich da und grüble über Problemlösungen. Das mag schon ein wenig abwesend ausschauen. Hänge in Fantasien fest. Denn, wie käme man ohne Fantasie zu kreativen Lösungen. Ich lese viel, um mir Wissen anzueignen oder zu vertiefen. Auch dabei bin ich schlecht ansprechbar oder bekomme vieles nicht mit, was um mich herum geschieht.

Und ich sehe Dinge. Nehme sie vielleicht anders wahr als andere. Interessiere mich plötzlich für ein Bild, an dem alle anderen achtlos vorbeigegangen sind.

Da war dieses Rauschen. Es klang, als säße es in meinem Ohr. Ein Rauschen, das durch viele Tausend Gedanken im Kopf entsteht.

Bei Menschen, die ihre Gedanken nicht mehr steuern können, macht sich dieser Kontrollverlust als Pfeifen, als Tinnitus bemerkbar. Den wurde Oma nicht mehr los. Sie versuchte, ihn durch Pfeifen durch die Zähne auszugleichen. Was nicht wirklich half und sich furchtbar anhörte. Sie ist mitten im Krieg geboren, erzählte meine Mutter entschuldigend.

Bei Gedankenlosigkeit ist es ganz still im Kopf. Denke ich.

Ich blickte mich um. Niemand anders schien es zu hören. Ich folgte dem Geräusch.

Hinter unserem Garten gab es einen Trampelpfad und dahinter ein brachliegendes Feld. Das Rauschen wurde prägnanter und befand sich eindeutig außerhalb meines Ohrs. Ein leiser Fluss von Wasser? Luftströmungen? Das schnelle Schlagen Tausender kleiner Flügel? Es drang aus der Erde schwach zu mir herauf.

Ich beugte mich hinab und grub in der Erde. Nach wenigen Zentimetern stieß ich auf ein Rohr. Schwarzes Plastik. Das Rauschen wurde stärker.

Wo komme ich her? Wo ist Massimo? Warum ist Mutter immer so traurig?

Natürlich kannte ich die Theorien, mit denen uns die Schule zuschüttete. Wie entstand die Welt? Aus dem Religionsunterricht. Wie entstand Leben? Aus dem Biologieunterricht. Und wo ich herkommen soll, aus dem Sexualkundeunterricht.

Zumindest die letzten beiden Unterrichtseinheiten hätten die katholischen, italienischen Mamas gern verboten gesehen. Wie alles, was mit Aufklärung zu tun hatte. Am liebsten würden sie ihren Brutklumpen ein Leben lang beschützen, wie eine riesige Hummel.

Nichts davon schien mir bewiesen oder schlüssig. Es gab so viele andere Möglichkeiten, die auch Erklärungen liefern konnten. Dafür hatte ich zu oft und zu lange in den Himmel geblickt. Und das Ende nie gesehen. Weder nachts noch tagsüber. Weder mit bloßem Auge noch mit dem Fernrohr.

Also war ich dem Rohr gefolgt. Nicht neben ihm, darauf. In der Schule hatten wir gelernt, dass Schmetterlinge ihre Eier gerne im Boden ablegten. Nahe an Grashalmen. Ich wollte kein Ei, keine Raupe oder Puppe zertreten. Ein langes Leben hatten die Tiere ja eh nicht.

Das Rauschen nahm zu. Einige Meter vor mir sah ich das Plastikrohr wenige Millimeter aus der Erde wachsen. Als hätte es an dieser Stelle einen Bogen gemacht, um Atem zu schöpfen.

Ich blickte mich um, um zu schauen, wo das Rohr mich hingeführt hatte. Das Rauschen war hier, am Endpunkt, deutlich kräftiger. Ich befand mich parallel zum Gartenzaun, aber bestimmt fünfzig Meter entfernt von dessen Ende.

Mein Körper tat einen kräftigen Satz über die Öffnung des Rohrs hinaus. Als meine Füße den Boden berührten, scheuchten sie einen Schwarm blau-gelber Schmetterlinge auf. Sie umschwirrten mich, als wollten sie mich in Schutzhaft nehmen. Dort, wo sie selbst noch vor kurzem waren, in einem Kokon.