Die Mücke Julia - Alexander Kröger - E-Book

Die Mücke Julia E-Book

Alexander Kröger

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Beschreibung

Der 1996 erstmals erschienene Band mit fantastischen Geschichten wurde 2011 überarbeitet und um neue Geschichten erweitert. Eine erotische Zeitreise, das Unheil der naiven Mücke Julia, eine tragische Klon-Story, das Opfer einer »Lautloser«-Erfindung, das »Restrisiko« eines geheimen Atomreaktors oder wie Nils Main sein Schabenweibchen kennenlernt ... Ist die Emanzipation bereits am Ende? Weiß man, was bei Aschenbrödel wirklich geschah ...? Ein breites Spektrum voller Einfälle - und nicht zuletzt mit Bezügen zu aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit.

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Impressum

Alexander Kröger

Die Mücke Julia

Fantastische Geschichten

ISBN 978-3-95655-664-7 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien erstmals 1996 im Krögervertrieb Cottbus. Das E-Book basiert auf der überarbeiteten und erweiterten Fassung, die 2011 im Projekte Verlag Halle erschien.

© 2016 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Das Mal

Das flaue Gefühl in meiner Magengegend verstärkte sich, als das Leuchtschild forderte: >Bitte anschnallen<. Wenig später verkündete eine unsichtbare Stewardess, der Kapitän bedanke sich, wir würden in wenigen Minuten landen, es herrschten siebenundzwanzig Grad Celsius im Schatten, und sie wünsche im Namen der gesamten Crew einen guten Aufenthalt. - Das Übliche.

Doktor Deutlos neben mir starrte mit verdrehtem Hals durch das Bullauge, um trotz der sichtversperrenden Tragfläche nichts auf der braunen, flirrigen Ebene unten zu verpassen. Gleichzeitig fingerte er nervös an seiner Kleidung, ob sich wohl für die Einreise nachher Pass und andere Papierchen griffbereit an ihrem Platz befänden.

Aber weder der näher rückende Zoll - warum auch - noch die niedersinkende Maschine verursachten in mir das Spannungskribbeln. Es war jene Erwartung, die sich stets an dem Ort einstellt, an dem man sich vor Zeiten einmal aufhielt, sich Bilder eingeprägt hatten - eingeritzt wie mit einem Stahlgriffel -, Bilder, die niemand und nichts würde löschen können, die man heute mit großem Abstand und verbrämender Erinnerungspatina rundherum schön empfindet. Und die unten vorbeihuschenden Fetzen der ärmlichen, sonnengedörrten Umgebung der Hauptstadt, die schütteren Büsche, zu vier Fünfteln ausgetrockneten Rinnsale und die niedrigen hellen Häuser der Dörfer zauberten diese Bilder in mich hinein, von denen ich hoffte, dass ihre Konturen wenigstens, ihre Rahmen vielleicht nur, wiedererstehen könnten, dass irgend etwas geschehen möge, das anheimelte ... Und dieses Hoffen, weit, weit Zurückliegendes möge wieder greifbar werden, gleichzeitig aber die Furcht, es könne tatsächlich geschehen, bestimmten dieses ungewisse, merkwürdige Gefühl in mir.

Natürlich sagte ich mir hundert Mal, das alles sei Unsinn. Zweitausend Jahre! Niemals würde es gelingen, über eine solche Spanne auch nur annähernd Authentisches zu erhalten, zumal niemand zu sagen vermochte, ob das Land, dessen Gäste wir sein würden, überhaupt mit jenem, das meine Erinnerung plagte, identisch sei.

Wenn, dann würde ich das Vergangene nur in den Menschen wiederentdecken können; denn in unserem innersten Wesen ändern wir uns nur langsam, äußerst langsam. Da finden Umbrüche, Revolutionen statt, man verändert das soziale Umfeld und setzt die Hoffnung, dass sich der Mensch ändere, bessere ... Freilich, was in Jahrhunderten entstanden, ist in Dekaden nicht zu löschen. Dennoch, die Gesellschaft breitet ihre Vorzüge vor dir aus. Du nimmst, willst sie nicht, wählst allenfalls aus, mäkelst. Die meisten Leute jedoch sind folgsam, ordnen sich ein - nach außen. Das Wesen Mensch aber tobt sich in seinen vier Wänden aus. Und wo das Normenband locker ist oder so erscheint, dort bricht Gewalt hindurch, wird Leid erzeugt - wie vor tausend Jahren. Nun, Motive können sich zwar ändern, aber der Tatbestand ...? Doch Hoffnung ist schon! Hätten wir sie nicht, leugneten wir das Gute, das zweifelsfrei ebenfalls in uns steckt. Aber bestimmt entwickelt sich dieses wesentlich langsamer als unser nährendes Umfeld.

Kurzum - für mich Grund genug zu folgern, dass in den Menschen, denen ich begegnen würde, am ehesten Bekanntes, Vertrautes wieder zu entdecken wäre, zumal es in diesen Landstrichen tiefgreifende Umwälzungen nicht gegeben, sich Altes, Traditionelles über Jahrhunderte erhalten hatte. Was Wunder also, dass ich bereits in der Halle des Flughafens ungebührlich lange in Gesichter blickte, vor allem in Frauengesichter, dass ich dieser oder jener Schönheit nachsah, als sei ich ein Lüstling, ich mich Deutlos und den Einreiseriten gegenüber unaufmerksam verhielt. Bis jener unerwartet bemerkte: »Kein Wunder, dass sich Ihre Frau hat scheiden lassen, wenn Sie so hinter jedem Rock oder Po hinterher stieren. Nehmen Sie sich zusammen, Mann! Passen Sie lieber mit auf, dass wir den entdecken, der uns abholen soll!« Letzteres war wieder ganz Deutlos.

Natürlich hatte er recht. Wir reisten schließlich in wichtiger Mission. Es ging um Öl und damit um eine Menge Dollars und nicht darum, Erinnerungen nachzuhängen, Gesichter zu studieren, Unwahrscheinliches entdecken zu wollen. Doch eines wusste ich auch ganz genau: Abstellen ließ sich das in mir nicht. Aber am Riemen reißen musste ich mich! Nein, was einen so tief beeindruckt und erst - ich rechnete gedanklich nach - vor vier Monaten für mich seinen Abschluss gefunden hatte, das vergisst man nicht, das ist greifbar gegenwärtig trotz bevorstehender, vielleicht schwieriger Verhandlungen und des notwendigen Auf-der-Hut-Seins in fremden Landen.

Dass meine Frau die Scheidung wollte - nun ja, vielleicht hätte ich nicht ganz so ehrlich sein sollen. Aber schließlich war es darum gegangen, meine dreiwöchige Abwesenheit, mein plötzliches Verschwinden, zu erklären. Das mach einer Frau als harmlos plausibel. Und Traudich durfte ich nicht bloßstellen. Himmel, wie konnte ich mich auf so etwas überhaupt einlassen! Glücklicherweise, wahrscheinlich weil noch zu frisch und daher nicht herumgesprochen, hatte die Scheidung keinen Einfluss auf das Reisegenehmigungsverfahren. Hätte Deutlos zu entscheiden gehabt, ich weiß nicht ... Wir sind ein seriöses Unternehmen.

Seine Bemerkung vorhin ...

»Sie träumen ja schon wieder, Mann!« Deutlos kritisierte mich abermals, jetzt bereits in ungehaltenem Ton. »Ob die uns meint?«, fragte er dann jedoch aufmerksam werdend und deutete mit einem Kopfnicken durch die Glasscheibe in die Vorhalle des Flughafengebäudes.

>Oh<, dachte ich sofort. >Wäre das eine Freude, wenn mein Begleiter recht behielte!<

Hinter der durchsichtigen Wand stand eine äußerst attraktive junge Dame mit dunklem Teint und schwarzem Haar, das sie, landesüblich, locker hochgesteckt trug - mit einem großen, verzierten metallischen Kamm darin. Die mit dem Stift leicht hervorgehobene Mandelform der Augen - die sicher auch dunkel waren, aber das ließ sich bei der diffusen Beleuchtung auf der Entfernung nicht ausmachen - betonten das Lächeln des schmalen Mundes, das außerdem eine Reihe fliesenweißer Zähne blinken ließ. Ich habe eine Schwäche für schöne Zähne. Mein Blick ging, verstohlen, wie ich glaubte, ihren Körper hinab. Ich muss schon sagen! Und abermals dachte ich: >Hoffentlich bewahrheitet sich Deutlos’ Vermutung. <

Sie tat es.

Deutlos begann heftig vor der Scheibe zu gestikulieren.

Lautmalend verdeutlichte ihr schöner Mund: »Berlin ...?« Und dann meinte ich, ihre Lippen formten unsere Namen. Oja, das Unternehmen ließ sich gut an!

Im Grunde war die Reise für mich ein Geschenk. Deutlos, der Handelsmanager, brauchte einen Fachmann - für alle Fälle. So wurde ich beigegeben. Natürlich freute ich mich darüber, wenngleich mir Deutlos nicht sonderlich sympathisch war. Aber nun schien alles noch in ein strahlendes Licht zu geraten.

Eine ausholende Armbewegung der Erscheinung hinter der Scheibe wies uns in die Zollgasse, die wir hastig und völlig unangefochten passierten.

Und dann stand sie wahrhaftig vor uns, ein einziges herzliches Willkommen, und - wenige Worte genügten - erwartete tatsächlich uns, Deutlos und mich.

Nun will ich nicht sagen, ich sei einer, der auf jedes hübsche Gesicht, auf jede gut proportionierte Figur hemmungslos fliegt. Natürlich schaue ich mir etwas Schönes gern an; wer tut es nicht. Und ich finde, jede Tätigkeit wird angenehmer, wenn man sie gemeinsam mit Menschen, die einem gefallen - auch vom Aussehen her -, verrichtet. Nun muss ein schöner Mensch bei Weitem noch kein angenehmer sein. Aber meist entwickeln sich zu Leuten, die einem ringsherum Zusagen, a priori andere, freundlichere Gefühle - und wenn sie einseitig sind. Besser ist es natürlich, sie werden erwidert.

Kurzum, Alla - sie stellte sich nur mit diesem ihrem Vornamen vor - war nicht nur ausgesprochen schön, sondern schien außerdem sehr angenehm und klug zu sein, Eigenschaften also, die mich sofort für sie einnahmen. Und wäre ich ihr nicht unsympathisch ...

Oje - ich spürte schon, dass es mir verdammt schwerfallen würde, die Instruktion einzuhalten. Aber natürlich war ich ein disziplinierter Mensch. Erstens wusste ich, was mit dem Dienstauftrag auf dem Spiele stand, zweitens war ich eben nicht so einer, und drittens schließlich war die Situation damals vor rund zweitausend Jahren eine gänzlich andere. Also - würde ich mich lediglich verstohlen an ihrer Schönheit, ihrem Esprit ergötzen, würde ihrer wohlklingenden Sprache, ihrem lustig akzentuierten Deutsch lauschen und im Übrigen an das Öl und die Dollars denken.

>Wenn sie nur nicht gar so ... Zum Teufel, wem sah sie eigentlich ähnlicher, Auri oder Berka? Fort, fort mit den Bildern, weg mit diesen Gedanken!< Mir wurde es siedend heiß. Einen Augenblick stritten in mir Furcht und Sehnen.

Ich riss mich mit Gewalt aus diesen Emotionen, hörte auf Alias Stimme. Sie erläuterte die Strecke, die wir mit dem Taxi zu unserem Hotel fuhren, machte uns vertraut mit den nächsten Programmpunkten, wonach am Anfang eine Art Verhandlungsordnung mit einer einheimischen Expertengruppe abzusprechen war, was genau in unsere Direktive passte. Später dann, man rechne mit zehn Tagen, könnte bei einem Konsens, der seitens der Gastgeber außer Frage stünde und aus unserer Sicht Bedingung war, paraphiert werden. Zur Messe dann würden die Minister die Verträge unterzeichnen, ein üblicher Ritus. Aber sie, Alla, würde uns ständig betreuen, die Sprache mitteln und auch sonst für uns da sein. Oh Himmel und Hölle!

Deutlos maß dem natürlich keine besondere Bedeutung bei. Wie ich ihn kannte, würde er in freien Stunden analysieren, ein detailliertes Programm für die nächste Sitzungsrunde konzipieren, mich dann kurz vorher informieren oder besser: unterweisen, welches Ziel anzusteuern sei. Ich war, wie gesagt, der sogenannte Experte, der das Technische, Quantitative, das Drumherum zu beachten hatte, war eigentlich in diesem Abschnitt der Verhandlungen überflüssig, nur für alle Fälle beigegeben. Doch man konnte nie wissen! Und von mir würde sich Deutlos ohnehin in sein Konzept nicht hineinreden lassen. Unsere Zeitabläufe neben den Verhandlungen würden also völlig unterschiedlich sein, und, das hörte ich von Vorgängern, Freizeit, viel Freizeit würde es geben. Etwa vier Stunden Verhandlung täglich, und nicht vor zehn Uhr begonnen, so würde sich das gestalten.

*

Schon am nächsten Tag, nach einem kleinen Essen uns zu Ehren, hatten wir am frühen Nachmittag frei. Deutlos - wie anders - wollte die Zeit nutzen, wie er meinte, die Botschaft aufzusuchen und Weiteres vorzubereiten, so wie ich mir das gedacht hatte. Und er ließ uns einfach stehen, Alla und mich, nicht ohne mich ermahnt zu haben, dass er am nächsten Tag einen Experten mit klarem Kopf benötige und im Übrigen gegen zweiundzwanzig Uhr mit mir noch das Nötige abzusprechen gedenke. Nun, die Bäume würden also nicht in den Himmel wachsen.

Wir bummelten durch die Stadt.

Ich erfuhr, dass Alla Germanistik studiert und ein Praktikum in Wien absolviert habe, dass ihr Vater ein höherer Beamter in Staatsdiensten, die Mutter Hausfrau, ihr Bruder Polizist sei und die Familie vom Lande stamme.

Wo wir gingen und standen, und obwohl ich unter der Hitze litt, versuchte ich neben den Sehenswürdigkeiten der Stadt Alla zu betrachten, intensiv zu betrachten - gleichsam unersättlich -, so wie sich das nach so kurzem Bekanntsein keineswegs schickte, ohne unverschämt oder zudringlich zu wirken. Und dabei entschied ich mich, dass sie doch, in ihrer ganzen Art, ihrem Charme und so, wie sie sich gab, Auri ähnlicher war als Berka.

Als ich sie zwei Mal mit diesem Vornamen angesprochen hatte, wurde sie hellhörig.

Wir lehnten an einer Brunneneinfriedung; sie sah mich von der Seite an. »Wie kommen Sie auf den Namen Auri?«, fragte sie.

Irgendwie fühlte ich mich ertappt, wurde sogar ein wenig verlegen. Schließlich konnte es auch hier eine unverzeihliche Sünde sein, sprach man eine Frau mit dem falschen Vornamen an. Ich stammelte also eine Entschuldigung und warf ablenkend eine Münze in das Wasser.

»Ach was!«, entgegnete sie. »Es wundert mich nur ein wenig, wie sie gerade darauf kommen. Auri ist ein sehr alter Name, der heutzutage eigentlich nicht mehr gebräuchlich ist. In den Dörfern vielleicht.«

Ich hatte das deutliche Gefühl, mich auf Glatteis zu begeben. Und nichts hasste ich mehr, als offensichtlich zu schwindeln - was mich schließlich auch meine Ehe gekostet hatte. Ich floh in ein linkisches Kompliment, indem ich versicherte, dass ich, sähe ich sie an, das Empfinden von etwas Güldenem hätte. Und in der Tat, ihr Teint, unterstrichen vom locker glänzenden Haar, strahlte - ebenso wie der Auris übrigens - im Sonnenauflicht schon Vergleichbares aus. Und, so fuhr ich fort, Au habe eben etwas mit Gold zu tun - im Periodischen System der Elemente.

Alla lachte belustigt auf, sah mich dabei jedoch an, als zweifle sie gelinde an meinem Verstand.

Es folgten zwei harte Arbeitstage, in denen die Verhandlungen schwer voran kamen. Es ging um leidige Transportprobleme, um verworrene Kompensationsgeschäfte, um Dinge also, ohne die der moderne Handel nicht auskommt, die ihn aber kompliziert machen und belasten. In diesem Stadium war meine intensive Mitwirkung vonnöten, und natürlich setzte ich alles daran, dass wir unser Ziel im Auge behielten. An den Abenden bereitete ich, gemeinsam mit Deutlos natürlich, den nächsten Tag vor, und die Bummeleien und Plaudereien kamen notwendiger- und aus meiner egoistischen Sicht bedauerlicherweise zu kurz.

Dennoch, ich betete die Frau nach wie vor an, und, oh Freude, offenbar war ich ihr nicht unsympathisch.

Während der Verhandlungen saß ich Alla am Tisch gegenüber, schaute sie an, wenn sie überlegt und wohlklingend übersetzte. Wann sonst durfte ich dieses schon unbefangen tun! In den wenigen Pausen nutzte ich jede Gelegenheit, mit ihr einige Sätze zu wechseln, deren Inhalte oft (meist!) vom Verhandlungsgegenstand abwichen.

Am vierten Tag wurde eine Teileinigung erzielt; mittags liefen die Gespräche zunächst aus, und die Delegationsleiter zogen sich zum Rapport in ihre übergeordneten Dienststellen zurück, Deutlos in unsere Botschaft, für mich eine unerwartete, höchst willkommene Situation.

Entweder hatte Alla davon gewusst oder diesen Verlauf erahnt. Wie zufällig wies sie, als wir ins Freie traten, auf ein rotes Kabriolett, das vor dem Bungalow, in dem die Gespräche stattfanden, im Schatten parkte, und sie lud mich zum Einsteigen mit dem Bemerken ein, dass wir uns einen kleinen Ausflug wohl verdient hätten - und ob ich Lust dazu verspürte. Na, und wie ich das tat!

Wir fuhren etwa eine Stunde in südliche Richtung durch eine äußerst kärgliche Landschaft mit überwiegend nackten rötlichen Böden, dürftigen Feldern nur um die ärmlichen Siedlungen herum, zumeist mit einfacher, eselgetriebener künstlicher Bewässerung. Ich sah gebeugte Menschen, halbnackte Kinder, ausgemergelte Rinder, einige rundliche Schafe auch. Die fanden wohl überall ihre Nahrung.

Sieht man solches bewusst, weiß man zu schätzen, was unsereinem daheim geboten wird, betrachtet vieles, auch das vielleicht oft unbequem oder überflüssig Anmutende, plötzlich in einem ganz anderen Licht. Und ist man wenigstens loyal eingestellt, hat so etwas schon nachhaltige Wirkung! Schade nur, dass nicht alle Menschen so empfinden, und schade auch, dass nicht mehr Gelegenheit haben oder sich nehmen, solches mit eigenen Augen zu sehen, zu erspüren.

Aber an diesem so durch und durch sonnigen Tag hielten bei mir tiefgründige sozial-philosophische Betrachtungen nicht an. Wer sollte mir das auch verübeln! Blickte ich nach links aus dem Wagen, sah ich im Vordergrund Alias Profil. Sie steuerte souverän und konzentriert, hörte mir dennoch aufmerksam zu, reagierte durch Gesichtsregungen, sicher gewiss, dass ich sie beim Sprechen anschauen würde. Der Fahrtwind spielte in ihrem Haar, das sie an diesem Tag offen trug.

Und nur einmal schien sie mein interessiertes Schauen auf die Armseligkeit ringsumher zu bemerken; denn sie sagte: »Ja, es ist viel zu tun.« Es klang wie ein Seufzer. »Ich wollte, wir könnten auch dafür von euch importieren, es wäre nützlicher als Maschinen und Optik. Dazu aber fehlen Reife und Tradition.« Ich sann lange ihren Worten nach.

Langsam veränderte sich die Landschaft. Gärten nahmen zu, Bäume. Dann wechselten Obstplantagen mit niedrigem Buschwald. Häuser zeugten von bescheidenem Wohlstand. Die Straße führte mählich bergab.

Später bogen wir in einen Seitenweg, in ein ausgedehntes, dichtes Eichengebüsch ein und hielten vor einem eisernen Tor. Alla hupte, und alsbald näherte sich von innen ein Uniformierter, der grüßend die Hand hob und öffnete.

Mir wurde es einen Augenblick lang bänglich, weil ich zweifelte, ob ein Ausflug zu einem allem Anschein nach inoffiziellen Objekt mit meiner Reisedirektive in Übereinstimmung gebracht werden könnte.

Als wenn Alla meine Gedanken erahnt hätte! Sie legte mir die Hand auf den Arm und sagte lächelnd: »Keine Angst, man weiß, wo wir sind ...«

Uns öffnete sich nach einer Kurve ein großes parkähnliches Gelände, ein wenig verwildert, wie ich es mag. Es wuchsen Palmen unterschiedlicher Arten in Gruppen, und schattige Flecken luden zum Verweilen. Ein weißer, ausgedehnter Flachbau stand da mit einer großen Terrasse davor, eine gepflegte, von Blumenrabatten gesäumte Wiese fiel zu einem Wasser hinab, einem See mit einer stark alternierenden Uferlinie.

Ich diesen See erblicken, und alle Bilder stürmten wieder auf mich ein. Kein Zweifel, es war jener See, unser See! Ich schaute mich um, sicher auffällig, suchte. Ja, dort, wo dieser profane, weißgetünchte Bungalow jetzt stand, erhob sich vor Zeiten der luftige, filigrane Sommerbau Auris, der Prinzessin! Ich tat einige Schritte darauf zu ...

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Alla, und sie sah mich aufmerksam, gar ein wenig besorgt, an.

»Pardon«, murmelte ich, mich zusammenreißend. »Eine Erinnerung, eine absurde ...«

Dieses Mal ließ sie sich nicht so einfach abspeisen. Sie sah mich prüfend von der Seite her an: »Sagten Sie nicht, dass Sie sich zum ersten Mal in unserem Land befänden? Und hierher kommt nicht gleich ein jeder ...« Sie lächelte.

»Doch, doch ...« Aber mein Blick lief das Seeufer entlang. Dort, ja dort hinter dem Busch, müsste der Bootssteg sein.

Je mehr ich aber in mich aufnahm, desto klarer wurde mir, dass es natürlich nicht jener See sein konnte. Und selbst wenn er es wäre: Kein See der Welt, wenn überhaupt noch vorhanden, behält über Jahrtausende eine konstante Uferlinie. Heute, da viele Gewässer sich in ungepflegter Umwelt binnen weniger Jahre bis zur Unkenntlichkeit verändern oder verderben, weiß man das.

Aber dieser See sah jenem ähnlich, verdammt sehr! Vielleicht aber sehen sich in diesem Land alle Seen ähnlich, viele hat es ja nicht.

Da fühlte ich Alias Hand auf der meinen. Ich wandte mich der Frau zu. Was war ich doch für ein Tropf! Ein fast überirdisches Wesen an meiner Seite und ich unaufmerksam wie ein Stück Holz! »In Ihnen geht doch etwas vor!«, sagte sie sanft und sah mich abermals prüfend an. »Sie wollen nicht darüber sprechen.« Aber eine Frage schwang da mit ...

Ich wich ihrem Blick aus. »Es ist nichts«, log ich, und ich wusste, schlecht. Deshalb setzte ich rasch hinzu: »Ich glaubte einen Augenblick, einen ähnlichen See schon einmal gesehen zu haben, und es verknüpft sich mit diesem ein Erinnern ... Zu dumm, verzeihen Sie!«

»Ein angenehmes ...?«

Ich zog die Schultern an. »Wie man es nimmt ... Oh ja, doch! Mit Folgen sogar.«

»Und es bedrückt Sie ...« Sie war eben durch und durch Mensch und daher neugierig.

Ich sah sie unschlüssig an.

»Sie möchten nicht darüber sprechen - gut!« Und in völlig verändertem Tonfall fuhr sie fort: »Man hat einen kleinen Imbiss vorbereitet, kommen Sie!« Sie hatte noch immer ihre Hand in der meinen - erst jetzt spürte ich die Wärme und den leichten, und ich bildete mir ein, wechselnden wie werbenden Druck. Und sie zog mich die wenigen Stufen auf die Terrasse hinauf.

*

Später saßen wir in bequemen Stühlen und plauderten.

Ein junger Mann servierte eine Flasche milden Rotweins und, was mir erst jetzt angenehm bewusst wurde, Alla war Nichtraucherin. Kein Wunder also, dass es mir rundherum wohl war. Sogar meine Bilder hatte ich verdrängt - nur manchmal verschwamm Allas Gesicht in dem Auris, aber ganz nah war Alla ...

Manchen Augenblick kam es mir vor, als seien wir, die schöne Alla und ich, Komparsen - oder Hauptdarsteller? - in einem der rosigen Hollywoodfilme ...

Und der Wein beschwingte zunehmend in der wohligen Wärme des blauen Nachmittags ...

Plötzlich fragte Alla in diese samtene Atmosphäre hinein: »Gehen wir schwimmen?«

Ein bisschen riss mich das schon aus meiner Stimmung, und erfrischendes Wasser würde es noch mehr tun. Aber was, zum Teufel, hatte ich eigentlich vor? Natürlich würde ich schwimmen, muss ich schwimmen! Es wurde höchste Zeit, abzukühlen. Ich sprang also auf und rief »Gern!«, was sie lächeln ließ, ein wenig spöttisch, wie mir schien.

»Dort!« Alla wies auf eine Tür im Hintergrund. Dahinter fand ich Badeutensilien vor. Ja, dies war ein Land der strengen Sitten noch, zumindest in der Öffentlichkeit.

Alla trug einen sehr knappen Bikini. Aber sie ließ mir nicht die Chance, mich, wenn mir das überhaupt möglich gewesen wäre, an ihr satt zu sehn. Leichtfüßig lief sie zum Wasser, warf sich ohne zu zögern hinein, tauchte sofort unter und wenig später, ein Stück vom Ufer entfernt, wie ein Seehund wieder auf; ihr schwarzes Haar verdeckte das Gesicht.

Ich folgte ihr, wenn auch nicht ganz so rasant.

Wir schwammen, tauchten, tollten. Und erneut griff das Erinnern mit großer Wucht nach mir. Alla bewegte sich so behände über und unter Wasser hin und her, dass für mich der Eindruck entstand, es gebe sie zwei Mal, als sei sie Auri und Berka zugleich, als wäre alles so wie in jenem See, dem ähnlichen, in dem wir uns, wie heute, erfrischten.

Wahrscheinlich ließ meine Ausgelassenheit in dieser Rückschau nach. Denn einmal packte mich Alla an den Schultern, sah mir in die Augen. »Sie sind wieder dort, ja?« Sie hatte mich abermals ertappt. Dann stieß sie sich ab und tauchte mich mit einem Ruck unter.

*

Später lagen wir auf einer Decke in der Sonne, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und starrten in den Himmel.

»Wie war das an dem See?«, fragte sie leise, wie beiläufig.

Ich antwortete nach einer kleinen Pause: »Mögen Sie - Märchen, Alla?« Ich wusste, ich konnte nicht länger ausweichen, meine Lage hatte ich nicht verändert.

»Zuweilen - wenn sie schön sind?«

Ich begann stockend, suchte zunächst nach Worten, kam dann aber zunehmend in Fluss, wusste nach einer Weile nicht, ob sie noch zuhörte oder eingeschlafen war. Aber ich blickte weiter in den Himmel und erzählte leise:

*

»Einen Tag vor seinem Urlaub musste ein Mann, ein Ingenieur, - nennen wir ihn Leo - noch auf eine Dienstreise nach, sagen wir, Leipzig. Dort traf er, wie es manchmal so ist, zufällig seinen Schulfreund Traudich, den er zwanzig Jahre nicht gesehen hatte. Dieser befand sich in einer schlechten Verfassung, hatte einige Promille Alkohol im Blut, freute sich euphorisch über das unverhoffte Treffen, und er wurde redselig - auch weiter angeregt durch einige Wiedersehensdrinks in Auerbachs Keller. Und dann schüttete er dem Freund Leo sein Herz aus, was er keineswegs gedurft hätte. Er sprach von einer Anlage, die ihresgleichen in der Welt nicht habe, in welcher sein Herzblut fließe und die fix und fertig dastehe, von >oben< aber noch nicht abgesegnet sei. Den Minister habe man abgesägt - nicht wegen der Sache natürlich - und der neue sei eben noch neu und offenbar ein Traumichnicht. Und außerdem sei das Medium ausgestiegen, angeblich aus gesundheitlichen Gründen. >Kalte Füße hat er bekommen, das ist es! Begreifst du<, fragte er inbrünstig den Freund, >was es bedeutet, wenn du jahrelang, jahrelang, verstehst du, an Epochemachendem gearbeitet hast, Tag und Nacht, und du darfst nicht probieren, ob es funktioniert?<

Freund Leo konnte sich vorstellen, was das bedeutete. Und so redeten sie eine Weile hin und her, tranken dazu weitere konzentrierte Flüssigkeiten - und schließlich heckten sie einen üblen Plan aus.

Eigenartigerweise standen beide noch dazu, auch als am anderen Morgen der Alkoholdunst verflogen war und jene kritische Fläue von beiden Besitz ergriffen hatte. Da Leo bis dato keinen bestimmten Urlaub plante, die Frau ohnehin ein paar Tage zu ihrer Mutter reisen wollte, wurde sie verständigt, dass ihr Ehemann für zehn Tage von Traudich eingeladen sei.

Erst als Leo in der Anlage saß, wurde es ihm bang, aber da war es zu spät. Zu spät auch deshalb, weil er stets zu seinem Wort stand.

Tatsächlich eine geniale, epochale Anlage, eine Zeitmaschine! Sie konnte einen Menschen in die Vergangenheit versetzen, man brauchte ihr nur einzugeben, wohin, in welche Epoche und auf wie lange.

Leo wünschte sich Baalbek, weil er fantastische Romane darüber gelesen hatte, in denen die dortigen erstaunlichen Terrassen, deren Entstehen man sich heute noch nicht so recht erklären kann - sie sogar außerirdischen Besuchern zuschreibt -, eine Rolle spielten. Also: Zweitausend Jahre zurück, zur Terrasse nach Baalbek in Kleinasien und selbst sehen ...

*

Wie nach einem langen und tiefen Schlaf kam Leo etwas benommen zu sich - auf einer freien Fläche zwischen Büschen in stachligem Gras liegend. Doch er wurde sofort hellwach: Um ihn herum standen an die sechs sehr mäßig mit Fellen bekleidete Frauen, die die Spitzen von Speeren auf ihn gerichtet hielten!

Als sie gewahrten, dass er die Augen aufschlug, begannen sie ihn zu pieksen, zu treten, nötigten ihn mit Nachdruck, aufzustehen, und sie trieben ihn - nach wie vor unter allen Anzeichen von Feindseligkeit - vor sich her.

Sein Beteuern, keine schlimmen Absichten zu hegen, und auch sein Bitten, doch glimpflicher mit ihm zu verfahren, fanden keinerlei Gehör. Wie sollten sie auch: Diese weiblichen Wildlinge gaben Laute von sich, Worte, die ihresgleichen in einer anderen Sprache nicht hatten.

Leo verfluchte sein Schicksal und Traudich, den Freund, der ihm das eingebrockt hatte. Hat sich was mit Terrassen von Baalbek und den stillen Beobachter, den man angeblich spielen könne. Wenn man sich schon etwas Neuem anvertraut!

Innerlich sträubte sich Leo zunächst standhaft gegen einen solchen Gedanken, aber es nützte nichts! Immer klarer wurde ihm, wo er tatsächlich hingeraten war. Und als sie mit Geschrei in eine Art Heerlager einrückten und er - gleichsam zur Begrüßung - noch heftiger schikaniert wurde, war es Gewissheit: Amazonen! Jenes männerverachtende Weibervolk, kriegerisch und im Ganzen wild ... Also, da war der Beweis! Es hatte sie tatsächlich gegeben, diese Amazonen! Im Augenblick hätte er aber liebend gern auf ein derartig greifbares Indiz verzichtet und weiter mit der Legende, der Spekulation und Tralows Dichtung gelebt.

In der Tat, das waren wild anzuschauende Kriegerinnen, die meisten mittelwüchsig, schlank oder stämmig, mit Fellen oder grobem Leinen behangen, zernarbte Haut, zottiges, verfilztes Haar, und kamen sie einem nah, roch man den Schweiß ... Eben ein echter, prächtiger, prähistorischer Krieger-, Kriegerinnenhaufe. Aber, und das wich erfreulicherweise von der Legende ab, sie besaßen beide Brüste und diese stramm - wie überhaupt im Ganzen durchtrainierte Körper. Außerdem schätzte Leo keine von ihnen auf mehr als dreißig Jahre.

Etwa hundertfünfzig der Kriegerinnen mochten sich im Biwak aufhalten, und wohl jede musste den Gefangenen betrachten und piesackend berühren, bevor sie wieder ihrer Verrichtung nachging. Offenbar bezogen sie dieses Lager gerade, denn etliche beschäftigten sich mit dem Aufbau von Zelten aus Häuten, einige errichteten eine Feuerstelle, andere schafften Geäst herbei.

Dann preschte eine Dame, ja, Dame, begleitet von einer kleinen Gruppe offensichtlich Chargierter - sie trugen Ketten und Federn - auf einem ziemlich kräftigen Pferd herbei. Und diese Dame unterschied sich von den anderen des Gefolges und erst recht von den Kriegerinnen beträchtlich. Sie trug eine geschneiderte Kleidung, einen kurzen Faltenrock mit einer breiten, angesetzten straffen Schärpe über der Schulter, die die linke Brust frei ließ. Im durchgekämmten langwelligen Haar, das ihr viel von Wildheit und grimmigem Aussehen nahm, staken zwei kostbare, verzierte Kämme aus silbrigem Metall.

Sie stoppte ungestüm vor dem Verängstigen und betrachtete ihn eine Weile von unten bis oben, ihm schien, einigermaßen wohlgefällig. Dann gab sie einige schnell gesprochene Anweisungen, denen sofort Aktivitäten folgten.

Der Gefangene wurde in eines der Zelte gestoßen und drin angeseilt, aber so, dass er sich in Grenzen bewegen konnte, ohne jedoch die Knoten der Riemen, die man ihm um Hände und Füße und um die Zeltpfähle geschlungen hatte, erreichen zu können.

Leo legte sich auf eine Schilfmatte, überdachte seine Lage, und langsam beruhigte er sich ein wenig, wenn auch die permanente Angst blieb. >Wollten sie mich töten, hätten sie es längst tun können, es sei denn, man spart mich zu einem würdigerem Anlass auf, zu einem Fest vielleicht.<

Fieberhaft kramte er in seinem Gedächtnis das zusammen, was er von diesen Amazonen je gehört hatte. Aber das war natürlich überhaupt nichts Authentisches, weil es das nicht gab, und es war außerdem herzlich wenig. Dass man einem Dichter nicht trauen konnte, auch wenn er Tralow hieß, lag auf der Hand. Aber dass diese Amazonen ein gestörtes Verhältnis zu Männern hatten, musste wohl stimmen, sonst hätten sie sich nicht über das Patriarchat erhoben. >Dass die Leute stets übertreiben müssen, schon damals vor zweitausend Jahren<, dachte Leo. >Weder das Patriarchat noch das Matriarchat spiegeln die humanistischen Zusammenhänge einer Gesellschaft wider. Man sollte an Stellen, wo wichtige Entscheidungen für die Menschheit oder auch nur für ein Volk getroffen werden, auf jeden Fall ebenso viele - wenn nicht gar mehr - couragierte Frauen haben wie Männer. Das wäre<, so schlussfolgerte er, >der Schlüssel zum Weltfrieden. Die Regierungen könnten den Spieltrieb, das ach so männliche Ein-wenig-losgelöst-sein vom Alltag, die Kraftmeierei und das Pfaugehabe abwägen mit der Gefühlsbetontheit der Frauen, ihrer Verbundenheit zum Alltäglichen, zum Kind und der Lust auf Geborgenheit ...<

Das ging unserem Freund durch den Kopf, und er wurde ruhiger, ließ endlich die Größe des Augenblicks auf sich wirken, trotz der noch nicht überstandenen Gefahr. >Mein Gott<, dachte er immer wieder, >ich bin bei den Amazonen!<

Doch schon bald drangen andere Anfechtungen, nicht minder erregende, auf ihn ein: Es begann damit, dass das Eingangsfell ein wenig zurückgeschlagen und dahinter einer jener zottligen Wuschelköpfe sichtbar wurde. Dieser Kopf drehte nach links und rechts, spähend, und mit einem großen Schritt stand die Wachhabende im Zelt. Leo erkannte sie an der großen Schulternarbe.

Unser Freund bekam wieder das große Zittern. Am Ende hatte sie vor, sich ein Vergnügen an einer Sonderfolterung eines verhassten Mannes zu bereiten. Doch wie sich alsbald herausstellte: Vergnügen wohl, aber keine ausgesprochene Folter.

Sie trat näher, betrachtete den Daliegenden, dann löste sie entschlossen dessen Gürtel, kam aber mit dem weiteren Öffnen der Kleidung nicht zurecht und riss mit kraftverratendem Schwung den Bundknopf von der Hose. Und Reißverschlüsse waren wohl auch nicht das, womit Amazonen täglich umgingen.

Freund Leo lag angstgelähmt still, er fürchtete eine besondere Teufelei.

Doch siehe da, die grimme Kriegerin konnte auch anders! Ihre Hände hätten zwar jedem Reibeisen Ehre gemacht, aber sie streichelten, kein Zweifel. Und langsam löste sich in unserem gefangenen Zeitreisenden die Angstspannung - um einer ganz anderen Platz zu machen ...

Er betrachtete seine Besucherin. Es war eine von den stämmigen Kleinen: Ebenmäßige Gestalt, grobe, aber keineswegs abstoßende Züge, und sie blickte begehrlich. Alles Weitere geschah wie von selbst ...

Wenig später verschwand die Dame, wie sie gekommen war, nicht ohne Leos Kleidung, soweit nach der Gewalteinwirkung noch möglich, einigermaßen sorgfältig zu ordnen. Am Zelteingang wandte sie ihm noch einmal das Gesicht zu und legte den gestreckten Zeigefinger auf die Lippen, eine Geste, unmissverständlich, wohl alt wie die Menschheit selbst.

Unser Freund lag gelöst und sann. >War das eine Vergewaltigung? Mitnichten!<

Zwei Stunden später, er hatte sich ein kleines Nickerchen gegönnt, nun bereits guter Hoffnung, dass es wohl ganz so schlimm um ihn nicht bestellt sei, da der Männerhass sich offensichtlich in Grenzen hielt, kam eine kleine Zierliche, wohl eine vom Tross; denn wie eine Kriegerin sah sie nicht aus. Sie brachte eine tönerne Schüssel, drin ein Stück gesottenes und ein Klumpen gebratenes Fleisch, eine Portion, von der der Koch einer mittleren Betriebskantine ein halbes Hundert Leute verköstigt hätte.

Die Marketenderin löste dem Gefangenen die Hände nicht, aber sie hielt ihm das Fleisch vor den Mund, das zart war und sich gut abbeißen ließ. Sie sah ihm beim Kauen zu und ging auch nicht, als er sich zufrieden und höchst gesättigt auf seine Matte zurückfallen ließ.

Wie eine Katze schob sie sich näher, bedrängte ihn ein wenig, nickte ermunternd ...

Und weil Leo gut gegessen und schließlich sie es war, die ihm das Köstliche gebracht hatte ...

Die Dritte machte nicht viel Federlesens, ging zielstrebig vor und - hätte beinahe das Nachsehen gehabt, was der vierten - unser Freund konnte sie nicht mehr erkennen, weil es mittlerweile Nacht geworden war - dann auch passierte, worüber sie sehr ärgerlich wurde, ihn mit Fußtritten bedachte und abzog.

Die Nächste dann schrie er sofort an, sie möge sich zum Teufel scheren, man solle ihn losbinden, er könne ohnehin nicht weg, und außerdem müsse er sowieso einmal raus!

Auf das Geschrei hin verschwand die Besucherin lautlos, dafür tauchten zwei Kriegerinnen mit Fackeln auf, deren Schein ihr wildes Aussehen noch unterstrich. Und Leo bedeutete ihnen durch Gesten, was er begehrte. Nach einer Weile verstanden sie und führten ihn hinaus, blieben aber kichernd wie Teenager in seiner unmittelbaren Nähe stehen.

Wieder im Zelt, fesselten sie ihn lockerer als vordem, aber sie legten sich zu ihm, jede eine Art Kurzschwert an der Seite.

Leo schlief erschöpft schnell ein, wurde aber nachts munter, weil ihn erbärmlich fror. Und wie das im Halbschlaf so geht, zumal wenn man müde ist und nichts weiter will als schlafen, kuschelte er sich an den Rücken der neben ihm liegenden Kriegerin, schmarotzend von deren wohliger Wärme. Während die andere leise Schnarchtöne von sich gab, wurde jene anscheinend ein wenig munter und kuschelte ihrerseits. Wenig später dann, ohne dass Leo tatsächlich richtig wach wurde, ergab es sich in aller Sanftheit noch einmal wie von selbst ...

*

Am Morgen fand er sich unter einer Decke, noch lose angebunden zwar, aber beinahe ausgeschlafen, hungrig und gar nicht weiter ängstlich, was seine weitere Zukunft anbetraf. Bänglich aber wurde es ihm, wenn er an die nächsten Stunden oder Tage dachte.

Er ging dann auch gleich in Abwehrstellung, als ihm eine scheue Dünne einen Frühstücksbrei brachte. Diese hatte jedoch keine anderen Absichten, dafür die nächste, die zweite Mitschläferin. Ihr versuchte er zunächst klar zu machen, dass er das dringende Bedürfnis habe, sich zu bewegen und vor allem, sich zu waschen. Sie sah eine Weile aufmerksam auf seine Gebärden, tat, als ob sie verstehe, machte ihm aber ebenso deutlich, dass das alles danach geschehen könne.

Der Freund dachte >Alles hat seinen Preis<, und schickte sich drein.

Sie hielt Wort und führte ihn wie einen Hund an der Leine nach draußen.

Es herrschte mäßiges Lagerleben; offensichtlich befanden sich längst nicht alle Kriegerinnen am Ort, und zunächst brachte man ihm nur zurückhaltende Aufmerksamkeit entgegen. Sie guckten alle, die sich in seiner Nähe befanden - aber mehr oder weniger verstohlen.

Doch das mit dem Waschen stellte sich als eine absolut dumme Idee heraus.

Das Lager befand sich an einer Wasserstelle, die in einen Tümpel und von dort als kleines Rinnsal abfloss. Nach kurzem Zögern legte Leo die Kleider ab. Ob deswegen oder überhaupt - jedenfalls stand sogleich alles, was an Frauen im Lager verblieben war, um den Teich herum und sah ihm ungeniert zu. Nach einem Augenblick vergeblicher Schamhaftigkeit sagte er sich: Wenn sie es nicht anders kennen oder wollen ... Und er beendete in aller Ruhe - so tat er jedenfalls - seine Toilette.

Als er in der Absicht, sich anzuziehen, aufs Ufer trat, war das Zuschauen jäh vorbei. Sie fielen plötzlich über ihn her zuhauf, drängten, verdrängten, knufften, schubsten, bis sich seiner eine Kräftige mit Ellenbogenfuchteln und Fausthieben bemächtigt hatte.

Er wehrte sich zunächst, aber da setzte wieder Solidarität ein: Ihrer drei hielten sie ihn am Boden, und, weiß Gott, das waren Amazonen! Eine Bärenkraft hatten die.

In all dieses Tun hinein hallte eine scharfe Stimme, es folgten klatschende Schläge. Leo riss die Augen auf. Die Reiterin! Sie hieb mit dem flachen Schwert auf ihre erhitzten Kriegerinnen ein, dass es eine Freude war. Nach allen Seiten stoben sie davon.

Leo stand auf, genierte sich plötzlich seiner Nacktheit und des Schmutzes, der seinem Körper anhaftete. Die Dame betrachtete ihn vom Pferd herab und keineswegs schamhaft. Ihm schien eher, als stehe in ihrem Blick Begehrlichkeit ...

Unser Freund tauchte noch mal ins Wasser, suchte schleunigst seine Kleider zusammen, fuhr hinein.

Sie sah interessiert zu.

Als er aufblickte, wies sie mit dem Schwert auf sich und sagte: »Berka«.

»Ah, Berka!«, wiederholte er. »Ich danke dir, es war höchste Zeit.« Und mit einer leichten Verbeugung deutete er in die Runde.

Scheu drückten sich im Hintergrund einige der Kriegerinnen. »Trotzdem, liebe Berka, man sagt von euch, dass ihr etwas gegen Männer habt, dass ihr nur einmal im Jahr euch der Nachkommen wegen mit solchen eines Nachbarstaates einlasst. Aber was ich hier erlebe ...« Er zog eine Grimasse und schüttelte im unernsten Verwundern den Kopf. »Ihr seid ganz schön heruntergekommen!«

»Heluntegechomen«, lautmalte Berka nach, und sie lächelte strahlend.

Wenig später gab es zu essen, und Leo wurde danach auf ein Pferd gesetzt - nur leicht gefesselt. Zwei ebenfalls berittene Kriegerinnen von höherem Rang, andere begegneten ihnen mit einigem Respekt, nahmen ihn in die Mitte. Und sie ritten von dannen.

Berka hob grüßend die Hand.

Sie waren anderthalb Tage unterwegs, und während einiger Rasten nahmen sich die beiden Kriegerinnen, was sie brauchten, ohne dass es unserem Freund etwa über gewesen wäre ...

*

Sie brachten den Gefangenen an einen See. Dort wurde er von einer Gruppe junger Damen in Empfang genommen, die dieser Bezeichnung alle Ehre machten. Wohlriechend und überhaupt gepflegt, völlig unkriegerisch, trugen sie leichte, aber prächtige Gewänder und umgurrten ihn wie eine Schar Tauben.

Man führte Leo in ein reichverziertes Haus mit einer Terrasse davor. Und dort empfing ihn Auri. Himmel, was war das für ein Weib! Sie trug ein weißes, weitfallendes Gewand, das ebenfalls die linke Brust unbedeckt ließ. Dunkles Haar umfloss das Gesicht, das goldbronzen leuchtete und so himmlisch war, als hätte ein Gott die Schönheitsattribute aller Epochen in einem genialen Guss vereint.

Was Wunder, dass unser Freund, der annehmen musste, zu einer Würdenträgerin gebracht worden zu sein - was sie zweifelsfrei auch war -, und die Absicht gehabt hatte, sich gründlich zu beschweren, vor lauter Befangenheit kein einziges Wort hervorbrachte, sondern zunächst nur starrte. Aber sie löste den Krampf, indem sie einige leise Sätze sprach, worauf ihn die Hofdamen ins Innere des Hauses führten, entkleideten, in ein Bassin mit wohlriechendem, warmen Wasser steckten, ihn bürsteten, dann in Tücher hüllten, noch einmal ölten und ihm ein ebensolches Gewand überstreiften, wie es die Dame auf der Terrasse trug.

Zu dieser führten sie ihn; und er erfuhr von ihr ihren Namen: Auri.

Sie empfing ihn an einer Tafel, auf der eine Reihe ihm fremder, aber auch einige durchaus bekannter Speisen standen. Lange nötigen ließ er sich nicht.