Nimmerwiederkehr - Alexander Kröger - E-Book

Nimmerwiederkehr E-Book

Alexander Kröger

4,8

Beschreibung

Die von Menschen gemachte Apokalypse (beschrieben in »Der erste Versuch«) ist überstanden, die Überlebenden bemühen sich, drei Jahrzehnte später eine neue und friedliche Welt aufzubauen, die beinahe ein Utopia zu sein scheint. Doch es gibt auch in der Idylle der freundlichen, sauberen und gebildeten Menschen Unzufriedene und Renegaten, sogar Terroristen! Es gibt Menschen, die ohne jeden Skrupel ihre persönlichen Ansichten durchsetzen wollen - wie auch sonst, denn der Mensch bleibt, was er ist. Außerdem nähert sich der gerade noch einmal davongekommenen Menschheit nun eine Gefahr aus dem All, diesmal jedoch keine Invasion Außerirdischer (beschrieben in »Falsche Brüder - Die Engel in den grünen Kugeln«), sondern ein Planetoid auf Kollisionskurs. Während die »akorrupte Regierung« zögerlich und bürokratisch erscheint, begibt sich eine Gruppe junger Leute auf die Suche nach Mitteln zur Rettung der Erde ... LESEPROBE: Kassio erwachte, als die Triebwerke des Nurflüglers angelassen wurden. Gebückt eilte er zu den Fenstern. In der Tat: man traf Startvorbereitungen. Das Transportband war abgestellt. Beladene Wagen standen abseits. Aus mehreren Richtungen eilten einige Menschen - auch vom Empfangsgebäude her - zu der Maschine und erklommen die Stufen. Von den Gefährten keine Spur. Dann wurde die Einstiegsluke geschlossen und die Gangway hinweggefahren. Der Triebwerksradau stieg an, die Maschine rollte vorwärts, nahm Fahrt auf, verharrte vor der Startbahn, noch einmal steigerte sich der Lärm, und das Flugzeug raste los, startete - der übliche Vorgang. Von Kassio im Augenblick wahrnehmbar, blieben lediglich zwei der Grünbekleideten auf dem Flugfeld zurück: Jener, der vordem die Treppe bedient hatte und ein anderer, der sich phlegmatisch an einem Kistenstapel zu schaffen machte. Ein düsterer Wolkenvorhang schob sich vor den noch wenig lichten Himmelsabschnitt. Es wurde rasch dunkel an diesem Tag. Ungeduldig und nervös wartete Kassio ab, bis es so finster war, dass er meinte, es wagen zu können, den Transitraum zu verlassen, ohne gesehen zu werden. Nach rechts vom Ausgang zum Flugfeld waren die Gefährten seinem Blick entschwunden. Noch einmal begab sich der Mann zu den Fenstern. Es herrschte bereits tiefe Dunkelheit, nicht ein einziges Licht glimmte. Mehr ertastet als gesehen, erreichte Kassio den Ausgang zum Flugsteig, ließ sich am Handlauf die Treppe hinab geleiten. Draußen, auf dem Betonfeld, verharrte er, lauschte. Außer dem Pochen seines Pulses hörte er nichts.

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Impressum

Alexander Kröger

Nimmerwiederkehr

Das zweite Leben, 3. Teil

ISBN 978-3-95655-678-4 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien erstmals 2009 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle.

© 2016 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Prolog

Nur eine Lampe mit schwarzem Schirm projizierte auf die Schreibtischplatte einen begrenzten Lichtfleck, dessen Reflexion die Wände des Zimmers nicht erreichte. Wären nicht ab und an Hände ins Licht geraten, dann, wenn sie eine Seite in einem nostalgischen Ordner umlegten, man hätte meinen können, nichts als dieses Leuchten existiere im Finstern - unterstrichen von lastender Lautlosigkeit.

Nach seinem Klopfen und einem undeutlichen »Herein« trat der Mann ein und blieb überrascht von der Lichterscheinung stehen. »Oh«, sagte er - dann gefasst ins Dunkle hinein: »Ich grüße dich!«

»Augenblick!« Erst wenig später zeichneten sich Umrisse von dem, der sprach, und von einem Stuhl vor dem Schreibtisch im aufdimmenden Licht einer Wandleuchte ab. Ein leises Knacken unterbrach das Hellwerden. Im Raum blieb es dennoch dämmrig. »Du bist also Thore Merx. Nimm Platz!« Der Name wurde betont ausgesprochen.

»Ja, Thore heiße ich. Meine Eltern schlossen sich dem Trend, Kinder nach Himmelsobjekten zu nennen, nicht an. Ich bin auch nostalgisch gezeugt, wenns interessiert. Dies und der Name sorgten für Spott, möglicherweise mit ein Grund, weshalb ich zum Außenseiter und später zum Kriminellen wurde.« Thore sagte das mit lustvoller Selbstironie daher, vielleicht auch mit ein wenig Bitternis, auf jeden Fall unangemessen zu einer ersten Kontaktnahme.

»Jemanden aus Eifersucht krankenhausreif zu prügeln, ist zwar verwerflich; aus meiner Sicht aber nur bedingt kriminell.«

»Gut, aus deiner Sicht. Die Ahndung wäre vielleicht auch glimpflicher ausgefallen, wenn der Betroffene nicht ausgerechnet einem Mitglied des Obersten Rates nahe stünde.«

»Nun, das ist allemal menschlich.« Christian von Steinhammers rechte Hand tauchte in den Lichtkegel und wischte gleichsam das Thema hinweg.

»Menschlich ist wohl auch, die Erinnerung an ein solches Ereignis wach zu halten.« Thores Rede klang wie zu sich selbst gesprochen.

»Ja, vielleicht die Wurzel einer möglichen gemeinsamen Mission ...« Die Worte standen im Raum, und, als wolle Christian von Steinhammer sie wirken lassen, schwieg er lange Sekunden. Dann erhob er sich, blieb jedoch hinter dem Schreibtisch, drehte dem Besucher den Rücken zu. Als schwarze Silhouette zeichnete er sich gegen die Wand ab. »Du weißt, dass unser Zusammentreffen absolute Verschwiegenheit erfordert, Späteres nur auf bedingungslosem Vertrauen beruhen könnte.«

Nach einer Weile fuhr er mit verändertem Tonfall fort: »Was würdest du sagen, wenn nie Dagewesenes, Unerhörtes entstünde, von dem du ebenso profitieren würdest wie etliche andere integre Mitstreiter? Könntest du dir solches vorstellen?« Mit den letzten Worten drehte sich Christian von Steinhammer Thore zu, stützte sich mit beiden Armen auf den Schreibtisch und beugte sich erwartungsvoll vor. Sein von schulterlangem, graumeliertem Haar umrahmtes Gesicht geriet ins Licht. Der dichte, kurzgehaltene Vollbart verbarg den zu einem Spalt geöffneten Mund nicht. Dieser, der Blick der grauen Augen und die in leichte Falten gezogene Stirn signalisierten Spannung.

»Ich bin zwar ein Vorbestrafter, aber kein Heimtücker und Schuft. Sag, was verlangt wird, und ich sage dir, ob ich mitmache. Wenn nicht, hat das Treffen nie stattgefunden.« Thore sagte das forsch, obwohl er sich irgendwie merkwürdig beeindruckt fühlte: Der überraschende Anruf am Vortag und nun der sonderbare theatralische Empfang mit Lichteffekt und erst recht diese eigenartigen Anspielungen.

»Gut!«

Mattes Leuchten einer Stehlampe erhellte plötzlich eine lederne Sitzecke zwischen üppigen Pflanzen. Von Steinhammer wies lässig dorthin. »Machen wir es uns bequemer.« Er ging schlaksig die paar Schritte und schenkte Weinbrände ein.

Jetzt, mehr im Hellen und in der Bewegung, wurde Christian von Steinhammers Erscheinung deutlich. Ein Mittfünfziger, mindestens einsneunzig groß. Hager, mit langen Armen und knochigen Fingern, in einem grauen, flattrigen Anzug, schwebte er gleichsam beherrschend über den Sitzen. Verstärkt wurde der Eindruck noch durch bizarre Schattenbilder, die die Lampe an die Wand und einen Teil der Zimmerdecke warf.

Thore kam der Aufforderung träge nach. Er trug einen weiten Halk, der jedoch einen sportlichen Körper ahnen ließ. Der schmale Mund, deutlich hervortretende Kaumuskeln und Augen mit leicht asiatischem Schnitt ließen nicht nur auf seine Altvorderen, sondern auf Entschlusskraft und Willensstärke schließen.

»Eine Parabel«, begann Christian von Steinhammer nach einer Pause, in der er zu einem Schluck aus den Cognacschwenkern animierte. »Gesetzt den Fall, es gelänge jemandem, den Prozess des Alterns eines Organismus zu ergründen und gentechnisch mit verhältnismäßig einfachen Mitteln zu stoppen. Im Zusammenwirken mit Therapien und Medikamenten könnte man auf diese Art vielleicht das durchschnittliche Menschenalter, sagen wir, zunächst verdoppeln. Was meinst du dazu?«

Thore lächelte, zögerte einen Augenblick mit der Antwort und sagte dann: »Widernatürlich wäre das schon.«

»Langsam! Seit dem Mittelalter hat sich die Lebenserwartung des Menschen einfach durch die Verbesserung seines sozialen Umfeldes ohne jegliche Genmanipulation verdoppelt.«

»Eben - ohne Manipulation.«

»Ich meine: Hieltest du eine solche Möglichkeit für wünschenswert?«

»Hm, reizvoll schon. Die Folge allerdings wäre eine Überalterung, eine sprunghafte Zunahme der Bevölkerung mit unüberschaubaren horrenden Einflüssen auf die Infra- und Sozialstruktur.«

»Nun, eine Zunahme der Bevölkerung wäre unter unserem gegenwärtigen Dilemma nach der Katastrophe nicht das Problem - jedenfalls aus der Sicht des Obersten Rates. Wozu sie jedoch wieder führen könnte, hat die Entwicklung bis zu diesem HAARP gezeigt. Ich halte die absolute Vernunft der Menschheit für eine Utopie.«

»Und, was willst du damit sagen?« Thore Merxs Gesicht drückte Ratlosigkeit aus. >Bin ich deswegen dem dubiosen Anruf des Christian von Steinhammer folgend in dieses Institut gekommen, um mir obskure pseudophilosophische Ansichten über eine imaginäre Evolution der Menschheit anzuhören? Was soll das Ganze?<

»Deshalb ... Du sagtest reizvoll. In der Tat, das wäre es! Ein Vergnügen, ein Privileg für jene, die sich eine solche Möglichkeit geschaffen haben und die es verdienen. Erlebende Chronisten auch, Beobachter ...« Von Steinhammer schwieg. Sein Blick, von seinem Gegenüber gelöst, hatte sich an den Blättern einer Monstera verfangen, schien ins Träumerische geraten zu sein.

In Thore baute sich Spannung auf. >Was hat dieser von Steinhammer gesagt? ,Nie Dagewesenes, Unerhörtes ...’ Ein Spinner? Oder sollte gar ein realer Hintergrund?< - »Also - weshalb bin ich hier?«, fragte er. Es klang, als sei es angesichts des Entrückten eine unbotmäßige Störung.

»Tja ...« Von Steinhammer gab sich einen Ruck. Er breitete in unbestimmter Geste die langen Arme. »Angenommen, es gäbe eine solche Möglichkeit und alle, die es wünschten, würden sie nutzen - glaub mir, es wären viele, sehr viele ... Abgesehen von der bereits bedachten Überbevölkerung würde sich, lediglich auf einem höheren, sagen wir: Alterspegel, ein Zustand einstellen, der zweifellos zum Chaos, zur Katastrophe, zum dann sicher endgültigen Untergang der Menschheit fuhrt. Insofern haben wir mit HAARP noch Glück gehabt, und wir haben eine unglaubliche Chance.«

»Das, Herr Professor, ist nicht die Antwort auf meine Frage!« Thore Merx lächelte.

Christian von Steinhammer lächelte zurück. Es sah aus, als wolle die über die Knochen gespannte Gesichtshaut den Muskelbewegungen nicht nachgeben. »Immer gesetzt den Fall ... Das Ganze hätte dann Sinn, wenn die, die sie haben, ihre Privilegien bewahren. Nur so ließen sich Vorteile - auch«, er klopfte nachdrücklich mit den Handknöcheln auf die Tischplatte, »für die Allgemeinheit! - realisieren. Kurz gesagt: Privilegien und Privilegierte sollten geschützt, abgegrenzt sein. Gleichzeitig aber müsste einerseits der Kreis derer, die in einen solchen Genuss kommen, durch geeignete, das heißt ausgewählte integre Leute vergrößert werden. Ihre durch längeres Leben angereicherten Erfahrungen wären für die Gesellschaft, für unsere jetzt überschaubare Welt unschätzbar, schafften natürlich auch Einfluss.« Von Steinhammer schwieg, als sollte die Bedeutung gerade dieser Aussage unterstrichen werden. »Andererseits«, fuhr er fort, »die Anzahl derer, die nicht privilegiert sind, die große Mehrheit also, dürfte dann natürlich nur in Grenzen wachsen, wenn das Ganze Sinn machen soll. So!«

Vom Schwärmerischen glitt sein Ton ins Sachliche: »Es müsste dann, Thore, Mitstreiter geben, die für eine solche Gemeinschaft, die eine verschworene wäre, Regeln entwirft, organisiert und ... eben das macht, was einen Bund bindet.« Von Steinhammer produzierte ob dieser Formulierung einen kurzen, trockenen Lacher. »Also - könntest du dir vorstellen, immer nur hypothetisch natürlich, in einem derartigen Projekt mitzuwirken?«

Thore antwortete eine Weile nicht. >Was will der von mir?<, dachte er. >Doch ein Spinner? Immerhin Professor ... Master Christian von Steinhammer ist nicht irgendwer. Er berät den Obersten Rat, ist der einzige namhafte Molekularbiologe, der die Apokalypse überlebt hat. Und der sollte spinnen? Nun ja, etliche haben über die Ereignisse den Verstand verloren, andere scheitern im Aufbaustress oder verkraften die schwindelerregenden Chancen nicht, die sich plötzlich aufgetan haben. Aber dieser von Steinhammer? Was will er mit seinen Konjunktiven? Und was redet er von ,gesetzt den Fall’, ,nehmen wir an’, ,hypothetisch freilich’ ... Ja, Unerhörtes, Ungeheuerliches könnte sich hinter seinen schwammigen Formulierungen verbergen. Noch einmal: Um jemanden zu haben, der sich das anhört, dazu hat er mich nicht hergeholt!< Thore beugte sich vor: »Ich habe dir vorhin zu verstehen gegeben: Entweder ja, oder das Treffen hat für mich nicht stattgefunden. Also, leg ohne Umschweife die Karten auf den Tisch!«

Christian von Steinhammer antwortete nicht sogleich. Dann lehnte er sich zurück, nahm den Kopf in den Nacken, dass der Adamsapfel kantig hervortrat. Er stand spontan auf, begab sich rasch zum Schreibtisch, nahm den Pappordner auf, hielt ihn in die Höhe und sagte: »Die Amerikaner waren viel weiter als wir Europäer mit unseren amtlich idiotisch beschränkten Möglichkeiten. Es könnte funktionieren, Thore!«

1. Kapitel

Das Leuchtband tauchte die Fußwege auf beiden Seiten des Boulevards in sanftes bläuliches Licht, das in einem merkwürdigen Kontrast zum gelben Hell der Schaufenster stand. In großen Abständen rollten fast lautlos Mobile in beiden Richtungen die Fahrbahn entlang. Nur wenige Fußgänger waren zu dieser nächtlichen Stunde unterwegs, eilig einige ihrer Heimstatt zustrebend, bummelnd andere, Auslagen betrachtend oder einen harmonischen Abend im Spazierschritt ausklingen lassend. Ein leichter Wind spielte in den Kronen der üppigen, die Straße säumenden Lorbeerbäume, deren glänzende Blätter eigenartig vibrierende Reflexe erzeugten. Wo die Wipfel in den dunklen Nachthimmel übergingen, unterhielten sich leise zwitschernd Schwalben. Nur die Lichtpünktchen einiger heller Sterne hatten eine Chance gegen die Ausleuchtung des Boulevards.

Kassio Brendal hatte sich dem Schritt der Bummelnden angepasst, die Hände in den Hosentaschen, sein Päckchen unter den linken Arm geklemmt. Er achtete darauf, das sich der Abstand zum vor ihm eng umschlungen flanierenden Pärchen nicht verringerte, und er musste deswegen sein Schrittmaß - gegen den inneren Drang kräftiger auszuschreiten - des Öfteren korrigieren. Schon sah er die auf gelbes Blinken geschaltete Ampel, dort, wo sich Teslar-Boulevard und 48-ste Straße kreuzten, dort, wo er nach rechts abbiegen musste und es nur noch wenige Minuten bis zu seinem Ziel waren. Je näher er diesem kam, desto höher schlug sein Puls und um so mehr musste er den Wunsch, schneller zu gehen, bezähmen. Als steuere ihn ein Navigator: Kreuzung bis zur Achtundvierzigsten, dann diese nach rechts, hundertfünfzig Meter bis zum Abzweig, dann nach links in die Achtundvierzig A und noch siebzig Meter bis zum Ziel ... Es war, als hämmere eine Automatenstimme ihm immer wieder diese Wegbeschreibung ein, eigenartigerweise eine weibliche, langweilige Stimme. Aber sie schaffte es, alles weitere Denken, alle Zweifel, die ihn tagelang heimgesucht hatten, zunächst zu verdrängen; sie gab seinem - wie er meinte - unumstößlichen Vorsatz Impuls und Richtung zugleich.

Noch immer im erzwungenen Bummelschritt erreichte Kassio die Kreuzung. Das Pärchen schlenderte selbstvergessen geradeaus weiter; Kassio beschleunigte beim Überqueren der Fahrbahn den Schritt. Als er die andere Straßenseite erreichte, befand sich das nächste Fahrzeug immer noch mindestens 50 Meter entfernt.

Kassio zwang sich erneut ins Spaziergängertempo. Der Weg führte an einer dichten, mannshohen Wacholderhecke entlang. Ein Wagen huschte in gleicher Richtung vorbei. Auf der anderen Straßenseite kamen zwei Männer entgegen, die sich lautstark über irgend eine Veranstaltung unterhielten. Ansonsten zeigte sich dieser Teil der 48-sten Straße menschenleer.

Zum ersten Mal blickte Kassio sich um. Niemand befand sich hinter ihm. Und wieder die imaginäre Weisung: Die nächste rechts, dann links ...

Obwohl die Nachtkühle den Wärmestau des Tages längst aus der Stadt hinausgedrängt hatte, spürte Kassio den kalten Schweiß in den Achselhöhlen, und er war sich sicher, dass sich auch seine Stirn feucht anfühlen würde.

Als er die 48A erreichte, stockte er, blieb stehen. >Es muss sein, verdammt!< Er gab sich einen Ruck, blickte sich abermals um und schritt, nun hastiger, weiter. Die Hände hatte er aus den Taschen genommen; das Päckchen drückte er sich mit dem rechten Arm gegen die Brust.

Dann stand Kassio vor dem Haus Nummer sieben - ein unscheinbarer Profanbau, gegenüber der Fassadenflucht um einige Meter eingerückt. Wenige Stufen führten nach oben zum kurzen Eingangsflur.

»Inspektion Menschenrecht.« Kassio las verächtlich murmelnd die in goldenen Buchstaben ausgeführte Aufschrift auf der breiten, gläsernen Eingangstür.

Mit einem Mal, am Ziel angekommen, verstummte in ihm die monotone, wegweisende Stimme. Mit ihr schwand auch der Schutz gegen anbrandende Zweifel. Unbarmherzig fielen sie über ihn her, hundertmal gedacht, dem Sinn nach vorgebracht von den Freunden und von Meda.

>Meda!<

Als ihm der Name einschoss, fühlte Kassio beinahe körperlich, wie seine Courage schwand. Er setzte sich auf die obere Stufe, legte das Päckchen neben sich und barg das Gesicht in die Hände. >Sie wird mich vielleicht verstehen, aber billigen wird sie mein Tun niemals. Den Alleingang, den Vertrauensbruch wird sie mir nicht verzeihen. Unsere Beziehung wird nicht mehr sein wie vordem.< Kassio atmete tief durch. >Noch hast du die Wahl, Kassio<, sagte er sich. >Noch kannst du umkehren!< Er straffte sich, schubste das Päckchen wenige Zentimeter von sich. >Und ich? Gehe ich reumütig zurück in die Reihen der Diskutanten, derer, die da wünschen und fordern, man müsste etwas tun, ohne dass auch nur einer bislang einen Finger gerührt hätte? Werden sie jetzt, mir zur Seite, offen für unsere Idee eintreten oder sich hinter eine So-war-es-nicht-gemeint-Barriere zurückziehen? Ich bleibe dabei! Es muss ein Zeichen gesetzt werden, und sie, meine Gesinnungsgenossen, werden Farbe bekennen müssen! Ja ich, ich zunächst allein, stelle mich offiziell gegen die Gesellschaft, gegen ihre Regeln. Und ich rüttle auf. Wenn sie hundertmal sagen werden: Ich falle zurück ins Archaikum, sei ein Terrorist - sollen sie! Es wird niemand zu Schaden kommen, ich setze lediglich ein Menetekel und hoffe, dass ich verstanden werde, von Meda, den Gleichgesinnten und anderen, die nebulös, ungelenk noch, vielleicht mit ähnlichen Zukunftsvisionen wie ich, wie wir ...< - »Ich tu‘s!«

Kassio erhob sich, stieg die Stufen hinab, tat die wenigen Schritte bis zur Straße, blickte sich um: Keine Menschenseele. Die in diesem Viertel überwiegenden Verwaltungsgebäude lagen im Dunkel. Entfernt, dort wo sich die Straße im Schein der Leuchtbänder und in den Bäumen verlor, schimmerten einige helle Flecke: Licht, das aus Fenstern fiel.

Langsam ging Kassio zurück, nahm das Päckchen, legte es unmittelbar an der Glastür ab und wickelte es auf. Ein kleiner antiquierter Reisewecker, eine Batterie und eine Kopfleuchte klapperten auf den Stein. Kassio legte die Lampe an, entnahm dem Papier eine verschraubte Büchse, wie sie zum Aufbewahren von Lebensmitteln bestimmt sind. Aus deren Deckel baumelten zwei Drähte. Sorgfältig verband er den einen mit einem Metallplättchen am Ziffernblatt des Weckers, den anderen mit der Batterie und stellte eine Verbindung her zwischen dieser und einem vorbereiteten Kontakt am großen Zeiger der Uhr. In sieben Minuten, 0.23 Uhr, würde sich der Stromkreis schließen ... Noch einmal ließ Kassio den schmalen Lichtkegel der Lampe über die simple Apparatur gleiten. Er lächelte. >Sie werden das sehr genau unter- suchen<, dachte er, >und feststellen, wie primitiv und unprofessionell die Bombe zusammengebastelt wurde, und sie werden leicht darauf kommen, dass es nicht nur das Werk eines Laien ist, sondern auch nicht das Wissen und Können Etlicher dahinter steckt. Und das ist gut so!< Ein letzter Blick, und Kassio verließ eilig den Ort. Hastig entfernte er sich Dutzende Meter bis zu einem Haus, dessen Eingangsbereich durch zwei niedrige Mauern abgegrenzt war. Hinter einer kauerte er sich nieder. Erst jetzt spürte er, wie heftig sein Puls klopfte, fühlte er Schweiß, der von seinen Nackenhaaren unangenehm kühl auf seinen Rücken tropfte. Ein Schreck durchzuckte ihn: Noch immer brannte das Lämpchen auf seiner Stirn. Er riss das Halteband herunter, schaltete aus und wagte einen ängstlichen Blick nach links und rechts in die Straße. Nichts ließ sich blicken, was sein Tun hätte verraten können. Dann kroch Kassio völlig in den Schutz der Mauer und wartete klopfenden Herzens.

2. Kapitel

Pleja fluchte leise, inbrünstig vor sich hin, dann, wenn der Versuch, erneut ins lokale Netz zu gelangen, abermals misslang. Sie probierte unvernünftig häufig und steigerte so ihren Ärger.

Eigentlich ließ sich die junge Frau im Allgemeinen nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Sie wirkte - mittelwüchsig und nicht übermäßig schlank - umgänglich, einfühlsam und gemütlich, was in der Tat auch ihrem Wesen entsprach. Das runde Gesicht und die leicht gewellte, brünette Schüttelfrisur unterstrichen dieses. Die flinken grauen Augen allerdings deuteten schnelle Auffassungsgabe und Aufmerksamkeit an. Man hatte den Eindruck, ihnen entginge nichts. Dazu widersprüchlich schien, dass sie sich beruflich dem doch eher trockenen, mitunter langweiligen geodätischen Messwesen verschrieben hatte.

»Mach doch ‘ne Pause«, schlug Hal vor, der die Frustrierte schon eine Weile leicht amüsiert beobachtete. »Du siehst doch, dass es keinen Zweck hat. Es muss irgendwo einen zentralen Defekt geben.« Er drückte die Austaste und rollte mit dem Stuhl ein Stück zurück. Der Monitor seines Computers erlosch. »Meiner tut es nicht, der von Centa nebenan auch nicht. Also ...«

Pleja lehnte sich resignierend zurück. »Ein Mist!«, fluchte sie. »Ich wollte das Protokoll noch absetzen, sie warten darauf.« Sie zog eine Grimasse und schaltete das Gerät ab. »Ein zentraler Defekt, sagst du? Das wollen wir doch mal sehen!« Sie schubste im Aufstehen den Sessel heftig zurück, dehnte sich zum Nebentisch, ergriff den Telefonhörer und betätigte hastig die Tasten. Dann lauschte sie gespannt, zehn, 30 Sekunden. Ihr Gesicht zeigte zunehmend Verwunderung. Sie nahm den Hörer vom Ohr, blickte verdutzt zu Hal und stellte fassungslos fest: »Es rauscht ...«

Hal hob gleichmütig die Schultern. »Sag’ ich doch, ein zentraler ...«

Pleja blickte zur Uhr. »Gleich kommen Nachrichten«, unterbrach sie, »vielleicht melden die etwas«, und sie schaltete den Fernseher ein.

Schlieren zogen über den Bildschirm, überlagert von Punktegestöber, und ein unangenehmes Zischen drang aus dem Apparat.

»So etwas hab’ ich noch nie erlebt, du?«

Hal schüttelte den Kopf. »Du weißt: Einmal ist immer das erste ...« Er winkte ab. »Kommst du mit? Mir ist nach einem Kaffee.«

Im Laufe des Tages wurde klar, dass ein außergewöhnliches Ereignis alle Technik, in der Elektronik steckte, auf das Heftigste störte. Es betraf dies nicht nur das örtliche Netz und Einrichtungen der Kommunikation wie Television, Funkverkehr jeglicher Art, sondern auch umfassend die Datenverarbeitung und sogar die Steuereinrichtungen in Kraftfahrzeugen, Waschmaschinen, Kühlschränken und anderen Geräten. In wenigen Stunden herrschten chaotische Zustände. Notrufe konnten nicht abgesetzt werden, maschinenbetreute Kranke verstarben, die Verbindungen zu Flugzeugen brachen ab, Produktionsanlagen fielen vollständig aus. Waren, insbesondere Lebensmittel, verdarben, und stillliegende Fahrzeuge verstopften die Straßen. Erst ab dem dritten Tag schwanden die Störungen. Zunächst funktionierten die weniger empfindlichen Systeme wieder. Andere wiesen irreparable Beeinträchtigungen auf. Es dauerte dann noch drei Tage, bis sich das Leben wieder normalisierte. Vom persönlichen Ärger und Leid Betroffener abgesehen - immerhin fanden 43 Menschen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ereignis den Tod -, ging der materielle Schaden ins Unermessliche. Die zwei anderen Wohnzentren, sogar die Orbitalstation, waren gleichermaßen betroffen. NEW-WORLD-nord meldete außerdem in diesen Breiten höchst ungewöhnliche, intensive Polarlichterscheinungen. Ein globales Phänomen also. Experten und Rat wurden sich deshalb schnell schlüssig, als es die Ursache zu ermitteln galt: Der Gedanke, Einflüsse Außerirdischer - in Erinnerung an die verheerende Invasion vor 153 Jahren - könnten eine Rolle spielen, wurde verworfen. Man einigte sich auf eine Sonneneruption, allerdings ungeahnten Ausmaßes. Jedenfalls ließen die wenigen nicht aktuellen einschlägigen Daten aus dem Netz keinen anderen Schluss zu. Ein wirklicher Experte befand sich unter den Zeitzeugen, die das HAARP-Inferno überlebt hatten, nicht. Man rekapitulierte lediglich aus dem Schulwissen, dass derartige Ereignisse in einem Zyklus von etwa 11 Jahren auftreten und mit entsprechenden Störungen einhergehen können. Bisher in diesem Zusammenhang Registriertes hielt sich allerdings - was die Auswirkungen anbetraf - in Grenzen. Gleichzeitig aber tat sich mit diesen Erkenntnissen ein weiteres Manko in der neuen Gesellschaft auf: Die ständige Beobachtung von Naturerscheinungen bedrohlichen Potenzials war noch nicht wieder umfassend Bestandteil der Forschung - aus zweierlei Gründen: Der Alltag erforderte den Einsatz aller verfügbaren Leistungsträger, und speziell ausgebildetes, insbesondere auch erfahrenes Personal gab es nicht - noch nicht wieder. Dennoch beschloss der Rat einmütig, diesen Zustand in Bezug auf die Beobachtung der Sonne, als Spenderin allen Lebens, aber auch - wie sich gezeigt hatte - als Gefahrenquelle, zu verändern und ihr künftig die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Eine ad hoc gebildete Gruppe von geeignet erscheinenden Leuten sollte sich unverzüglich dem Problem widmen.

»Zuletzt nachgetragen am dritten März - warte - vor einunddreißig Jahren.« Pleja tippte mit dem Zeigefinger an den Monitor, zuckte mit den Schultern und blickte hilflos zu Hal.

»Na, prima! Aber nach Lage der Dinge werden wir etwas Aktuelleres nicht finden. Du weißt, wie beschränkt der Zugriff noch ist«, bemerkte dieser. »Wo? Druck‘s aus!«

»Und es ist außerdem das uns nächstgelegene Observatorium, das ausschließlich auf Sonnenbeobachtungen spezialisiert war, Izana auf Teneriffa.« Pleja ließ die Datei langsam scrollen und verfolgte konzentriert die Eintragungen. »Ja«, bestätigte sie sich dann. »Das sollten wir uns als Erstes vornehmen.«

»Teneriffa! Hoffen wir, dass wir dabei sind. Dort soll es ja recht angenehm sein.«

»Na, hoffen wir es!« Plejas nachdenklich-traurigem Gesichtsausdruck war nicht anzumerken, ob sie ihr Hoffen auf eine Teilnähme oder das Angenehme der Insel bezog. Ihr war nicht bekannt, dass die Kanaren nach der Apokalypse jemals wieder aufgesucht worden wären.

Hal überflog eine papierene Liste. »Ja«, informierte er dann, »Izana hat Satu hier mit vermerkt. Also, ich werde ihn sofort unterrichten. Und als Fachmensch wird er wohl bei der Auswahl der Leute, die sich dorthin begeben, ein Mitspracherecht haben.« Er zwinkerte Pleja zu. »Kann nicht schaden, an ihm dran zu bleiben. Vielleicht brauchen sie auch einen Piloten.« - >Schön<, dachte er, >es ist wohl nicht uninteressant, und es macht Spaß, an der Planung und Projektierung der neuen Wohnanlagen mitzuwirken. Pleja ist völlig vernarrt in ihr Bepflanzungskonzept. Aber einmal raus zu kommen, vielleicht gemeinsam, und ein Projekt globalen Ausmaßes zu bearbeiten.< Er seufzte, entnahm dem Drucker das Papier und wandte sich zur Tür.

Pleja sah zur Uhr. »Das hätte auch bis morgen Zeit gehabt. Und vergiss nicht, wir wollen nach Feierabend zum Schwimmen!«

»Ich beeil’ mich!«

Pleja blickte ihm nach. >So ist er eben<, dachte sie. >Hat er einen Gedanken einmal gefasst, muss dieser sofort umgesetzt werden<, sie lächelte, >auch wenn er sich manchmal verrennt. Umsicht und Spontaneität, wo wären beide Wesenszüge je in einem Menschen so vereint gewesen wie in Hal.<

Der Neubeginn benötigte Städteplaner. Auf einem Lehrgang hatten sie sich kennengelernt. Pleja mochte den großen, etwas behäbigen Jungen mit dem runden Gesicht, dem breiten Stand der blauen Augen und der bereits im frühen Mannesalter angedeuteten natürlichen Tonsur im dünnen braunen Haar. Im dem Rat direkt unterstellten Zentralen Institut für Bauen traten sie ihre Tätigkeit an, quartierten sich in derselben Wohngemeinschaft ein.

Ohne Zweifel fühlte sich Hal zu Pleja hingezogen. Aber, so zielstrebig er seiner Arbeit nachging, so wenig verstand er die Signale zu deuten, die von der jungen Frau ausgingen. Es blieb trotz aller Vertrautheit beim Kumpelhaften.

>Teneriffa! Es wäre fantastisch, wenn wir, Hal und ich ... gemeinsam in kleiner Gruppe aufeinander angewiesen ... eine neue Nähe ...< Pleja seufzte und schloss die Datei.

3. Kapitel

Alpha Mastelli lehnte sich kräftig zurück. Der neue Sessel ächzte. >Darf der das?<, dachte sie flüchtig und sog die Luft kräftig ein. Es roch dezent nach Kunststoff, nach Lack vielleicht. Sie strich über den Schreibtisch, den außer einem Computer, Telefon und einer schmalen Stiftschale nichts belastete. Steril wie dieses Möbel wirkten auch alle anderen im Raum: Ein schlichter Schrank, ein leeres Regal, beides, wie der Tisch auch, auf helles Eichenholz dekoriert - und eine Sitzgruppe, der selbst die sich darüber hinbreitende großblättrige Monstera den Charme des Ungemütlichen nicht nehmen konnte.

Alpha seufzte. >Wir werden uns aneinander gewöhnen<, nahm sie sich vor, und sie griff nach dem Akt, den ihr - mit dem Vermerk, dass die Bearbeitung eilig und wichtig sei - Kriminaldirektor Ranus Sammerson, der Chef, im Anschluss an die kühle Begrüßung in die Hand gedrückt hatte.

Als Alpha >Chef< dachte, verzog sie leicht den Mund. Sachlich, für ihren Geschmack etwas zu unpersönlich, war der Empfang. >Um mir ein Bild von ihm zu machen, reicht das nicht.< Sie zuckte mit den Schultern und schob den Aktträger ins Gerät. Schon nach kurzer Zeit beugte sie sich aufmerksam vor und las mit zunehmendem Staunen die Schilderung eines Vorgangs, der ihr unglaublich erschien. Ihre erste Reaktion war: >Das können sie mit mir, dem Neuling, nicht machen! Ein erfahrener Ermittler müsste ... Meine Güte! Wann hätte es einen solchen Fall schon einmal gegeben!< Alpha versuchte zu rekapitulieren. Sie durchforschte ihr Gedächtnis, obwohl ihr eigentlich von vornherein klar war, dass dies fruchtlos sein würde. Zu ihrer Selbstbestätigung schüttelte sie den Kopf. Dann strich sie sich über die Stirn und las abermals, wiederholte einige Passagen. >... ist geständig. In der Nacht vom 16. auf den 17. diesen Monats gegen ein Uhr brachte er einen selbstgebastelten Sprengsatz am Portal des Hauses der Inspektion Menschenrecht zur Explosion. Es entstand geringer Sachschaden (geborstene Scheiben am Eingangsportal, zerstörter Schließmechanismus). Dennoch erregt die Tat erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit, zumal sie wegen ihrer Einmaligkeit und des gewählten Objekts von gesellschaftlicher Relevanz ist. Es muss davon ausgegangen werden, dass Kassio Brendal als Repräsentant einer Interessensgruppe oder gar Bewegung anzusehen ist, deren Motive sich gegen von der Allgemeinheit akzeptierte Regeln eines harmonischen Zusammenlebens richten. Mit seinem Handeln, so die Aussage des Täters, sollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Unzulängliches in der Gesellschaft und Ungleichbehandlung der Menschen gelenkt werden. Durch Selbstbezichtigung und Einwirkung eines seiner Mitbewohner wurde Brendals Identität festgestellt.<

»Na, prima!« Alpha las einige Sätze des von ihr als ein wenig geschraubt empfundenen Berichts abermals und lehnte sich zurück. »Ermittle die konkreten Hintergründe, die Ziele dieser Leute«, hatte Sammerson ihr auf den Weg gegeben mit der Bemerkung, dass er eine akute Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein paar solcher Querköpfe nicht sehe. Stillschweigen über die Angelegenheit sei jedoch angezeigt.

Alpha blickte nervös zur Uhr. Sie fühlte den kühlen Schweiß in den Achseln. In einer halben Stunde würde ihr jener Brendal gegenüberstehen. >Mein erster Fall - kein Dieb oder Raufbold, kein aggressiver Eifersüchtler oder krankhafter Brandstifter, sondern ein Bombenleger, ein Revoluzzer vielleicht.< Der Anflug eines sarkastischen Lächelns bei diesem Gedanken verflog im Entstehen. >Auf keinen Fall werde ich allein ...< Sie aktivierte das Display des Telefons, wählte die Nummer eines ihr bislang noch unbekannten Kollegen, hatte Glück, als jener mit sympathischer Stimme nach Anhörung ihres Wunsches freundlich zusicherte, als Beisitzer bei der bevorstehenden Befragung fungieren zu wollen.

Dann las Alpha die Personalien des Delinquenten: Ein 25-jähriger Mechatroniker, der in einer Wohngemeinschaft lebt. Sie überflog das Gutachten zum Tatwerkzeug: Ein wenig brisanter Sprengsatz, der unprofessionell, dilettantisch gar, hergestellt, darauf schließen ließ, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen Einzelfall ohne kollektive Einflussnahme handelte.

Nachdem die Akte nichts mehr hergab, was für das Gespräch hilfreich sein konnte und noch immer zehn Minuten bis zum Termin verblieben, stand Alpha auf, ging nervös einige Schritte umher, blickte aus dem Fenster hinab in den Park, ohne dessen strotzende Pracht wirklich wahrzunehmen. Sie schalt sich töricht. Was schon sollte es ausmachen, dass jener sich anscheinend von den landläufigen Regelverletzern abhob. Müsste der Umgang mit ihm nicht sogar einfacher sein als der zum Beispiel mit einem Totschläger? >Was macht mich unsicher? Etwas Unbestimmtes, Unbegreifliches haftet diesem Sachverhalt an! Ein Dieb schafft Fakten, die kann man ermitteln, klären, beurteilen. Aber dieser Brendal? Er bombt, um auf Ungleichbehandlung der Menschen aufmerksam zu machen, was immer das bedeuten mag.< Alpha ließ Etappen ihres Lebens durch ihre Erinnerung rollen: Die Kindheit, unbeschwert, behütet als Zukind, nahtlos übergegangen in Schule und Studium, aber dann schon mit dem Wissen um die Katastrophe, um die bis auf wenige Hunderttausende dezimierte Menschheit. Der Neubeginn: Unvorstellbar das Leid. >Weil ich mich zum Zeitpunkt, als es passierte, auf einer Raumexpedition befand, haben wir, die Crew und ich, überlebt. Wie oft hat Mutter uns Kindern von diesem Glücksfall erzählen müssen. Kaum eine Familie soll sich im Chaos wiedergefunden haben. Nur Menschengruppen in außergewöhnlichen Situationen und Orten - in den Unterseestationen, im Mond- und Marskosmodrom, in Bergwerken, auch Touristen, die gerade Höhlen besuchten oder wie Mutter im Raumschiff - hatten die Chance.< Alpha lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. >Kein Wunder, dass sie über die Zeit danach nicht gern sprach. .Aufräumen’ nannte sie es und .Zusammenführen’. Für uns Nachgeborene kaum nachvollziehbar.

Wenige müssen es zunächst gewesen sein, die mutig zum Neuanfang drängten, die die Vereinsamten und Trauernden, Defätisten und Verzweifelten, Glücksritter und Marodeure, um sich versammelten, für die Zukunft begeisterten. Welcher war meines alten Lehrers Leitsatz?: ,HAARP hat zwar Milliarden Menschen hinweggefegt, aber auch die Schranken, die zwischen ihnen bestanden.’ Wenn man sich die Geschichte vergegenwärtigt: Heute kaum vorstellbar, welche Unvernunft die Welt regierte. Nunmehr kein Religionsgezänk mehr - hat ein Gott die Katastrophe verhindert? Aus mit dem Parteienhader - und welche Politiker haben trotz massiver Warnungen dem Wahnsinnsprojekt Einhalt geboten? Nichts dergleichen trennt heute die Menschen. Europäer und Afrikaner, Amerikaner, Asiaten und Australier gründeten, bauten und bauen die drei Weltzentren - natürlich nicht in Anarchie. Was die Leute früher für völlig absurd, für eine spinnige Utopie sondergleichen hielten - wir haben es erreicht! Es gibt sie, die akorrupte Elite, von überwältigender Mehrheit gewählt und mit der Führung beauftragt, weil prädestiniert. Freilich - bei einer Bevölkerung von Hundert- bis Zweihunderttausend in einer Metropole ist eine solche Konstellation natürlich einfacher, weil überschaubarer, als bei einem Millionenvolk. Und da kommt so ein Außenseiter, ein Bomber wie dieser Brendal daher und will, was eben erst begann und sich offensichtlich bewährt, verändern - wohin? Ins Chaos, in Unsicherheit, eine ungewisse Zukunft allemal? Nein! Wir müssen uns das bisher Errungene bewahren, auch wenn und gerade weil die Menschheit wieder wächst ... wenn sie wächst!< Alpha seufzte. Sie verharrte einen Augenblick vor dem in der Seitenwand des Schrankes eingelassenen Spiegel und schnitt sich eine resignierende Grimasse zu, die aber ihrem runden Gesicht eher etwas Schalkhaftes verlieh. >Bis ich mich mit eigenen Nachwuchsgedanken ernsthaft befasse, werden sie diesen merkwürdigen Geburtenschwund im Griff haben.<

Es klopfte, und nach ihrem »Herein« trat Plu ins Zimmer, der freundlicherweise, als Zeuge sozusagen, der Befragung beiwohnen würde. »Also, da bin ich!«, sagte er und nickte Alpha zu. Er trug einen jener neumodischen hellen Blousons, dessen Machart seiner schmächtigen Figur etwas Wucht verlieh. Sein schmales spitzkinniges Gesicht, noch verlängert durch empordüpierte dunkle Haare, erinnerten Alpha an einen Besuch bei einem Holzbildhauer, der einen Keil auf einen Baumstumpf setzte. Sie musste bei diesem absonderlichen Vergleich lächeln, und sie sagte eilig: »Ich danke dir.«

»Du bist neu?«

Alpha nickte. »Ja, mein erster Fall.«

»Der erste ... und gleich so ein merkwürdiger.«

Alpha hob die Schultern. »Ich kann damit absolut nichts anfangen. Mir ist schleierhaft, was in einem solchen Menschen vorgeht. Wenn du ein paar Kilometer ins Umland gehst, stößt du auf Schritt und Tritt auf die entsetzlichen Zeugnisse der Katastrophe. Und anstatt das Neue zu unterstützen, macht jener ...«

Es klopfte abermals. Der Bombenleger und sein Begleiter traten ein.

Trotz dieser, nach ihrem Vorurteil, verwerflichen Handlung des jungen Mannes, fand Alpha nach dem ersten Eindruck Brendal überraschend sympathisch. Das freundliche Lächeln bei seiner leichten Verbeugung machten dessen graue Augen scheinbar strahlend und gaben dem runden Gesicht etwas gewinnend Sanftmütiges, was eigenartigerweise durch seine merkwürdige Frisur - ein so genanntes Pony reichte bis zu den Augenbrauen - unterstrichen wurde. Er trug einen gutsitzenden stahlblauen Anzug, der leger die eher sportlich-kräftige Figur kaschierte.

Nach knapper Begrüßung und Vorstellung wies Alpha entgegen ihrer ursprünglichen Absicht: hinter dem Schreibtisch sitzend sachliche Distanz zu schaffen, auf die Sitzecke. »Nimm Platz!« Wenig später wurde ihr bewusst, dass sie die Regel, den Zubefragenden ins Auflicht zu setzen, nicht beachtet hatte.

Brendals Begleiter nahm neben der Tür Aufstellung.

»Ich fasse zusammen«, begann Alpha. »Du hast gestanden, in der Nacht vom Sechzehnten zum Siebzehnten dieses Monats am Haus der Inspektion Menschenrecht einen Sprengsatz angebracht und gezündet zu haben, wobei ein Sachschaden entstand. Bei der ersten Befragung hast du angegeben, dies nicht unbedacht aus Übermut -«, Alpha suchte Blickkontakt zu ihrem Gegenüber, »das wäre wohl in Anbetracht deines Alters und deiner bisherigen Entwicklung unwahrscheinlich - getan zu haben, sondern um auf aus deiner Sicht nicht akzeptable gesellschaftliche Entwicklungen aufmerksam zu machen. Richtig?«

Kassio lehnte sich zurück. »Richtig!«, bestätigte er selbstbewusst mit nachdrücklichem Kopfnicken.

»Du hast ferner ausgesagt, dass du allein den Entschluss zur Tat gefasst und diese auch ohne Hilfe ausgeführt hast.«

»Auch das ist richtig.«

»Das Gutachten besagt, dass es sich um einen, na, laienhaft hergestellten Sprengsatz handelte. Woher stammt dieser?«

»Laienhaft stimmt schon!« Er lächelte leicht ironisch. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich habe ihn gebastelt. Besser konnte ich es halt nicht.«

»Und der Sprengstoff selbst, konventionelles Donarit?« Alpha beugte sich vor und fixierte Brendal herausfordernd.

Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort, bemerkte dann obenhin: »Weißt du, wenn man ein wenig sucht ... Es gibt noch so vieles Herrenloses nach der Katastrophe.«

»Ja, und viel Vernünftiges zu tun!« Es klang heftiger als beabsichtigt. »Also, kommen wir zum Kern: Auf welche angeblich nicht akzeptable«, Alpha mühte sich nicht, einen spöttischen Unterton zu unterdrücken; Plu runzelte leicht die Stirn, »gesellschaftliche Entwicklungen wolltest du aufmerksam machen?«

»Wir sind der Meinung, dass wir in der Entwicklung unserer drei Zentren weiter, viel weiter, dass die Auswirkungen der Katastrophe weitgehend überwunden sein könnten, wenn unsere Gesellschaft sich nicht selber den Weg erschwerte, ja zum Teil verbaut.« Er redete das leidenschaftslos mit einem leichten Anflug von Selbstgefälligkeit daher, als wollte er zum Ausdruck bringen, ohnehin nicht verstanden zu werden.

Alpha runzelte die Stirn, blickte den Mann eindringlich an. »Wir! Du hast >wir< gesagt. Wer ist wir?«

»Wir? Mehr, als euch lieb sein kann, leider noch zu wenig, um Neues durchzusetzen.«

»Also - was läuft nach deiner, oder nach eurer Meinung in unserer Gesellschaft falsch, und welches Neue sollte durchgesetzt werden?«

»Falsch ist zum Beispiel die Gleichmacherei!« Kassio sprach betont und beugte sich vor, als hätte er genug und Bedeutendes gesagt.

»Erläutere!«

Auf einmal lehnte Brendal sich zurück. Sein Gesicht nahm einen Zug an, der offenbar Distanz schaffen sollte. »Was geschieht mit meiner Aussage?«, fragte er fordernd.

Alpha zog überrascht die Stirn in Falten, Plu beugte sich aufmerksam vor »Wie meinst du das?«, entgegnete sie.

Es klang abweisend überheblich, als er eindringlich antwortete: »Du hast schon ganz richtig erkannt: Ich will tatsächlich die Öffentlichkeit aufmerksam machen. Was also geschieht mit meiner Aussage, bekomme ich einen Prozess? Bislang sieht es mir so aus, als soll die Angelegenheit unter den Teppich gekehrt werden.«

Alpha fühlte sich einen Augenblick lang hilflos. Sie spürte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Ihr fiel des Direktors Spruch ein - Stillschweigen sei angezeigt. Sie blickte zu Plu. Der hielt den Kopf gesenkt, schaute auf die Tischplatte. Dann bemerkte sie ausweichend: »Ich habe hier zu ermitteln und nicht zu beurteilen, was mit dem Ergebnis geschieht.«

»Nun denn!« Es klang endgültig. Kassio lehnte sich betont zurück. »Kläre das. Vorher sage ich nicht weiter aus!« Er wandte den Kopf zu seinem Begleiter, stand auf. »Gehen wir!«, forderte er.

Der Angesprochene blickte fragend zu Alpha, diese zu Plu. Der zuckte mit den Schultern.

Kassio stand bereits an der Tür.

Alpha zögerte einen Augenblick. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Na gut«, sagte sie dann. »Wir sehen uns! Bis auf Weiteres verlässt du die Stadt nicht!«

4. Kapitel

»Verdammter Mist«, schimpfte Hal.

Der uralte russische Doppeldecker zog laut und gemächlich südwestwärts an der Küste Teneriffas entlang. Ursprünglich für Transportzwecke eingerichtet, dienten den drei Passagieren lediglich zwei an der linken und rechten Bordwand angebrachte lange Bänke als Sitzgelegenheit, sodass man mit den Rücken zu den kleinen und ziemlich hoch installierten Fenstern saß.

Pleja stand auf der Bank der der Küste zugewandten Seite und blickte nach unten. Bräunliches Land glitt vorüber, da und dort betupft mit weißen Häusern oder grünen Palmengruppen. Wie feinstes Plissee breitete sich, scheinbar bewegungslos, der Atlantik an das Land.

Zu viert befanden sie sich in den verhältnismäßig großen Raum, dessen hinteres Ende mit festgezurrten Treibstoffkanistern, Lebensmittelpaketen und Geräten vollgestopft war.

Den Namen »Venus« verknüpft man landläufig mit einem gewissen Liebreiz. Auf jene Venus, die hinter dem Pilotensitz stand und aus dem Kanzelfenster nach vorn starrte, traf das, zumindest auf ihre Erscheinung bezogen, nicht unbedingt zu. Im schmalen, braunschwarzen Gesicht zeichneten sich die Wangenknochen deutlich ab; der schmallippige Mund und die dunklen Augen unter kräftigen Brauen vermittelten im Verbund mit den gestriegelten und hinten verknoteten schwarzen Haaren Strenge. Und ihr Wesen entsprach dem. Ursprünglich im Gesundheitsbereich tätig, erledigte sie ihr Arbeitspensum absolut verlässlich, geradlinig und diszipliniert. Sie erspürte, worauf es ankam, gab sich äußerst kollegial, dabei war sie fast humorlos und wortkarg. Als nunmehrige Computerfachfrau aber verdankte man ihr mit, dass im Institut nicht nur der Anschluss an die althergebrachte Datentechnik gewahrt geblieben war, sondern dass sich in den wenigen Jahren des Neubeginns eine Entwicklung zum Höheren vollzogen hatte. Irgendwo jedoch, recht gut verborgen selbst vor den neugierigen Freunden, schlummerten in ihr wohl noch andere Wesenszüge; denn es ließ sich kaum vorstellen, wie sie sonst mit Satu, ihrem langjährigen Partner, dem Kontaktfreudigen, Liebenswürdigen, Charmanten harmonieren sollte - und dieses nicht nur im Arbeitsgeschehen.

Im Augenblick stand jener Satu neben Pleja und musterte wie diese die Landschaft. Eine Sportsfigur wie aus dem Olympiaalbum. Ein gestutzter blonder Vollbart verbarg im Allgemeinen seine Gesichtsregungen. Nur die Fältchen um die blauen Augen verrieten, wenn er eine seiner hintergründigen Bemerkungen in die Gespräche streute. Als einer der wenigen in EUROCITY ausgebildeten Meteorologen hatte ihn der Oberste Rat um die wissenschaftliche Betreuung dieser Expedition gebeten. Als er erfuhr, dass es um Sonnenwind ging, hatte er augenzwinkernd nachgefragt, ob im Observatorium Surfbretter zu haben sein würden. Teneriffa wäre früher ein Eldorado für die Segler gewesen. Jeder im Institut kannte seine Vorliebe für diesen Sport. Aber, im Ernst, er freue sich auf diese Insel. Er habe doch mehrere Semester Geologie studiert. Die Auswirkungen eines verhältnismäßig j un- gen Vulkanismus vor Ort zu erleben, das sei ein Leckerli.

Nach dem heftigen Fluch Hals wandten sich Pleja und Satu aufgeschreckt dem Piloten zu; sie verließen ihre Plätze und drängten neben Venus zum Ausschau nach vorn.

Das Flugzeug hatte an Höhe verloren. Vor ihm lag der Airoport del Sur. Hal hatte eine Umkreisung eingeleitet.

Was seine Reaktion ausgelöst hatte, ließ sich leicht erkennen: Das Flugfeld zeigte sich übersät von den Trümmern mindestens zweier Großflugzeuge. Einige unversehrte Maschinen standen in Startposition oder befanden sich an der Abfertigung.

»Das mach’ ich nicht!«, bestimmte der Pilot.

Seine drei Passagiere blickten bestürzt nach unten. In der Tat ließ sich eine zusammenhängende freie Fläche, die eine gefahrlose Landung dieses kleinen Flugzeuges zugelassen hätte, nicht erkennen.

»Was jetzt?«, fragte Venus.

Hal flog eine Schleife. Er zuckte mit den Schultern, griff dann aber offenbar entschlossen in die Steuerung und zog die Maschine auf Gegenkurs. Jetzt tauchte gefährlich nahe der Steilhang des Chimbesque auf, an dessen langgezogenem Ausläufer das Flugzeug noch immer in Schieflage flog. Die drei waren gezwungen, sich an den Pilotensitzen und Spanten festzuklammern.

»Wir landen auf der Südautobahn«, erklärte Hal.

Nach wenigen Kurskorrekturen tauchte die Piste auf. Die vier Menschen starrten schweigsam nach unten. Hal biss die Zähne zusammen, dass die Kaumuskeln hervortraten. So weit das Auge reichte, ein kilometerlanger Autofriedhof, ein Schrottplatz. Verkeilt ineinander lagen und standen Busse und Laster, meist aber Personenwagen. Nur wenige anscheinend unversehrte Fahrzeuge standen auf der Fahrbahn.

Sie flogen eine Weile die Autobahn entlang, aber es tat sich keine Lücke auf, die eine gefahrlose Landung ermöglicht hätte.

Bislang hatte niemand das bedrückende Schweigen gebrochen. Da fragte Venus: »Im Gelände?«

Hal hob den Kopf. »Wenn etwas passiert und wir nicht wieder ...?« Er brach den Satz ab.

Venus nickte. Sie und die Kameraden wussten, dass es sein erster größerer Flug nach seiner Pilotenausbildung war.

»Es wird doch noch andere Straßen geben, die weniger verstopft sind«, bemerkte Pleja.

Hal nickte. »Nimm die Karte«, ordnete er an und hielt den Rahmen Satu hin.

»Da können wir doch gleich in die Nähe des Observatoriums fliegen«, schlug Venus vor. »Wer weiß, ob wir bei dem da«, sie wies unbestimmt nach unten, »ein brauchbares Fahrzeug finden.«

»Wenn wir dich nicht hätten«, frotzelte Satu. Er orientierte sich wenige Augenblicke anhand der Karte. »Nimm erst mal Kurs auf den Teide und dann ein Stück nordost. Dort müssen wir auf eine Hauptstraße treffen.«

Wortlos lenkte Hal die Maschine direkt nach Norden und ließ sie steigen.

Fern ragte aus einer Hochnebelbank der von der im Süden stehenden Sonne beschienene Gipfel des Teide auf. Unten rollte sich der grüne faltige Teppich des Lomo Largo aus. Auf einigen Lichtungen grasten Herden von Ziegen und Schafen, darunter auch einige Kühe. Greifvögel zogen ihre Kreise.

Stark beeindruckt von den Bildern der Zerstörung blickten die vier Menschen voraus. Keiner sprach. Pleja hatte im Copiloten-Sessel Platz genommen, die anderen zwei standen unmittelbar hinter ihr, angespannt und nervös. Die Treibstoffanzeige ging gegen null.

Hal zog die Maschine höher. Wolkenfetzen huschten vorüber, die Sicht nach unten verschlechterte sich. Doch plötzlich befanden sie sich in gleißendem Licht. Weiß stand da der Gipfel des Teide, dahinter, nach der Wolkenbank, die wie ein Wattekranz den Berg umgab, leuchtete der Ozean, die Nordküste der Insel.

»Jetzt steuere nach Osten«, gab Satu an. »Unter uns das müsste der Teide-Nationalpark sein. Dort hindurch führt die Straße, die ich meine.«

Hal drückte den Flieger langsam nach unten. Wieder zischte es grau an den Fenstern vorbei. Dann entstand erneut Bodensicht: eine bergige sattgrüne Landschaft mit Einschnitten, Buschgruppen und Wäldchen. Und auf ausgedehnten Wiesen erneut eine Unzahl von weidenden Tieren.

»Dort, dort ist sie!«, rief Pleja.

An vereinzelt stehenden niedrigen weißen Anwesen vorbei schlängelte sich eine kurvenreiche Straße, links und rechts bestückt mit Fahrzeugwracks, aber diese im Gegensatz zur Südautobahn mit größeren Abständen voneinander.

Hal lenkte das Flugzeug über die Straße und folgte ihr ostwärts im Niedrigflug. »Jetzt brauchen wir nur einen geraden, freien Abschnitt«, sagte er.

»Sieh zu, dass wir noch ein Stück weiter kommen. Links muss bald ein Restaurant auftauchen, Las Canadas del Teide heißt es. Dort verzweigt sich die Straße. Rechts geht es direkt zum Observatorio de Izana. Wenn wir dort runter können ...«

»Ich versuch‘s«, knurrte Hal, und er gab Gas.

Sie erreichten die Abzweigung. Auf dieser Straße und daneben befanden sich weniger Fahrzeuge. Dann tauchten rechts auf einem steilen Berg die weißen Kuppeln des Observatoriums auf.

»Dort!«, rief Venus.

Die vier blickten angespannt voraus.

»Hier versuch’ ich’s!«, sagte Hal entschlossen. »Festhalten!« Nach einer Kurve hatte sich ein gerades Stück der Straße aufgetan. Etliche Meter daneben lag ein Bus am Abhang.

»Bravo!«, lobte Pleja, als die Maschine nach glatter Landung zum Stehen kam. Noch ein paar federnde Drehungen des Propellers, und die plötzlich einstürzende Stille machte ein Sausen in den Ohren.

»Wir nehmen die kleine Ausrüstung mit. Ein Raum für die Übernachtung wird sich dort finden. Verpflegung für drei Tage erst mal, schlage ich vor.« Hal nahm Gepäckstücke auf, die Gefährten folgten.

Sie hangelten sich aus dem hochliegenden Ausstieg, schulterten das Gepäck und standen dann unschlüssig, blickten zu den weißen Türmen auf dem steilen Berg vor ihnen. Noch im Windschatten des Flugzeuges ließ sich eine schweißtreibende Strapaze erahnen, als wollte die Sonne mahnen: Wer sich mit mir befasst, soll mich gründlich kennenlernen.

»Da führt gewiss eine Straße hinauf«, vermutete Satu.

Voraus, im stetigen Ansteigen des Weges, zeichnete sich im Wärmeflimmern der Luft rechter Hand ein weißer Fleck ab. Venus deutete dorthin. »Ein Haus«, sagte sie.

»Also, Bewegung ist gesund. Gehen wir!« Hal nahm seinen Packen auf.

»Und die Maschine?«, fragte Satu.

»Ist höchstens den Ziegen im Wege.« Hal wies zum linken Hang, auf dem eine kleine Gruppe dieser Tiere ihr Grasen unterbrochen hatte und neugierig zu ihnen herüber äugte.

Sie setzten sich in Marsch; der Passat empfing sie kühlend, hinwegtäuschend über die Sonnengefahr.

Nach 200 Metern trafen sie auf ein Auto, das, von der Straße abgekommen, rechts in einer Buschinsel stak.

Venus löste sich von der Gruppe und steuerte darauf zu. Ein Pulk Spatzen flog knatternd und schimpfend davon.

»Lass es sein!«, raunzte Satu.

»Aber ...«

Sie waren stehengeblieben, mit Ausnahme Satus traten sie näher. Venus bog Zweige zur Seite. Augenblicke lang starrten sie auf das Seitenfenster das Fahrzeugs: Als wäre der Mensch im Schlaf überrascht worden, lehnte innen an der Scheibe sein Schädel.

Venus ließ die Zweige zurückschnellen. Betreten wandten sich die drei ab, nahmen schweigsam den Marsch wieder auf.

Da sagte Hal: »Es ist hier alles noch so, wie es war. Nichts ist auf den Inseln beräumt. Wir werden allenthalben auf sie treffen«, er blickte zu Satu, »auch oben im Observatorium.«

Sie erreichten schwitzend das Anwesen, eine kleine Finca. Zwei Personenwagen standen davor, einer davon war ein uralter.

Zögerlich blieben sie stehen. Venus, Pleja und Satu blickten zu Hal. Der nickte, ging auf eines der Autos, einem Geländewagen, zu, schaute hinein. »Okay«, rief er.

»Wenn sein Wasserstoff ebenso diffundiert ist wie mein Schweiß, wird’s wenig Sinn haben.«

Ein Wunder stellte sich erst bei dem zweiten, kleineren altmodischen Auto ein, nachdem sie durch mehrere vergebliche Versuche, das Fahrzeug anzuschieben, ziemlich erschöpft, schweißnass und eingestaubt schon aufgeben wollten.

Während der Fahrt bemühten sie sich, die jetzt nur vereinzelt am Straßenrand liegen gebliebenen Fahrzeuge zu ignorieren. Einmal mussten sie einen Personenwagen umfahren, der unversehrt mitten auf der Bahn stand. Aus dem offenen Beifahrerfenster baumelte, an textilem Gewebe leicht bewegt im Wind, eine skelettierte Hand.

Nach wenigen Kilometern zweigte nach rechts eine schmale asphaltierte Straße ab, die bergan führte. Ein angerostetes Schild wies zum Observatorio Astronómico del Teide.

»Na bitte«, sagte Hal erleichtert, und auch von seinen Gefährten schien die Anspannung der letzten Stunden gewichen zu sein.

Nach einer steilen Anfahrt, die dem kleinen überladenen Fahrzeug zu schaffen machte, erreichten sie das Plateau mit den majestätischen Bauten des Observatoriums. Vier mächtige, weiße Kuppeltürme ragten aus einem Flachbau in den blauen Himmel, Fotovoltalk-Anlagen darauf reflektierten das Licht. Niedriges Gebüsch säumte das Gemäuer. Einige Autos standen ausgerichtet unweit des repräsentativen Eingangsportals.

Dutzende Meter vor den Ensemble blieb das Auto wegen Treibstoffmangels stehen.

»Hier sind genug!« Satu wies auf die parkenden Fahrzeuge.

Pleja nahm seinen Optimismus mit gemischten Gefühlen auf. »Ja«, sagte sie. »Und deren Besitzer werden wir alle treffen - da drin.« Mit aufgesetzter Forsche setzte sie hinzu: »Wir sollten uns zunächst eine Bleibe suchen, schlage ich vor, und legen dann fest, wie wir vorgehen.«

Sie stiegen wortlos, zögerlich aus, als wären sie mitten im strahlenden Sonnenschein und angesichts des freundlichen Bauwerks in eine unheilverheißende Zone geraten, ausgelöst vielleicht durch Plejas Verweis auf jene, denen die Autos einst gehörten.

Sie schritten mit wenigem Gepäck langsam auf den Eingang zu. In den Büschen raschelte der Passat.

Venus zog den großen gläsernen Flügel auf, verhielt, als wolle sie die anderen vortreten lassen.

Die nüchtern eingerichtete Halle verwischte etwas von dem Bedrückenden. Einige Polstermöbel befanden sich darin, kleine Tische und eine Empfangsloge. Gegenüber dem Eingang stand ein Fenster offen.

Betont entschlossen öffnete Pleja eine der Türen, die von diesem Foyer zu anderen Räumen führten.

Bevor sie jedoch endgültig eintrat, musterte sie den Raum. »Na bitte, eine Küche!«, rief sie und räusperte sich den Hals frei. »Dank der Sonnenkollektoren gibt’s wahrscheinlich Strom ... Wir sollten nicht lange herumsuchen. Richten wir uns doch gleich hier in der Halle ein.«

Der Vorschlag wurde anscheinend befreiend und aufschiebend entgegengenommen, wurde doch der Augenblick, zu dem man auf Zeugnisse des Schrecklichen stoßen musste, hinausgezögert. Offenbar hatte sich zum Zeitpunkt des Ereignisses niemand in der Halle aufgehalten.

Sie richteten sich provisorisch ein, betrachteten die Aufschriften auf den Türen mit einer gewissen Scheu, insbesondere jene mit dem Schild »Zentrale«. Als es dann nichts mehr einzurichten gab und Unschlüssigkeit Raum griff, schlug Hal vor, um später nicht aufgehalten zu werden, etwas zu essen, was widerspruchslos befolgt wurde.

Dann begab sich Satu mit der Bemerkung nach draußen, er wolle sich um ein Fahrzeug kümmern.

Obwohl die Rückreise erst in vier Tagen vorgesehen war, widersprach niemand.

»Er hat Probleme mit den Rudimenten der umgekommenen Menschen«, bemerkte Venus leise, den Freund entschuldigend. »Er war noch nie in unberäumten Gebieten.«

Erst nach schweigsam verbrachten Minuten erhob sich Hal. »Es nützt nichts«, sagte er. »Fangen wir an!« Er wartete, bis sich die Gefährten aufgerafft hatten und öffnete die Tür zur Zentrale.

Noch im Eingangsbereich blieben sie gedrängt stehen. Sie musterten angespannt den großen Saal, den halb herabgelassene Jalousien an den kleinen, hochliegenden Fenstern dämmrig machten. Außer vielleicht 15 Monitor-Arbeitsplätzen, darüber ein Laufbild, einem Konferenztisch und einigen Keramiktöpfen mit vertrockneten Pflanzen enthielt der Raum nichts an Einrichtungsgegenständen.

Was sofort die Aufmerksamkeit auf sich zog, war der flackernd leuchtende Monitor am dritten Arbeitsplatz von der Tür her gesehen. Ein Mensch saß davor, die rechte Hand auf der Tastatur.

Die drei standen starr.

»Nein!«, flüsterte Pleja.

Dann löste Venus sich und schritt geräuschlos, als wolle sie einen Schlafenden nicht wecken, auf die Erscheinung zu. Sie blieb davor gesenkten Kopfes stehen, als sei sie zur Statue geworden.

Langsam wich die Betroffenheit der zwei anderen, die noch immer an der Tür verharrten.

»Was ist?«, rief Pleja stimmlos, und sie folgte zögernd Venus. Hal schloss sich ihr an.

Vor dem Monitor saß eine Frau, der Kleidung und dem Schmuck nach, den sie trug, eine junge Frau. Ihr kaum entstelltes, mumifiziertes Gesicht wirkte durch das flackernde Licht eigenartig belebt.

Behutsam legte Venus den Arm um Plejas Schultern und schob sie sacht von dem Platz weg. »Lassen wir sie in Ruhe«, sagte sie leise.

Hal räusperte sich. »Dass der Monitor heute noch funktioniert ...«, bemerkte er.

Pleja hob die Hand, zeigte auf eine Tür mit der Aufschrift »Archiv«. Wortlos wandten sie sich dorthin, schritten Bögen um zwei weitere Arbeitsplätze, vor denen auf dem Boden die mit gestockter Kleidung umhüllten Skelette derer lagen, die von den Todeswellen an den Geräten überrascht worden waren.

In dem Raum, den sie zögernd betraten, herrschte Dunkelheit. Nach Sekunden tastete Hal gewohnheitsmäßig nach einem Schalter. Dann erhellten matte Lichtbänder eine Flucht von Regalen, im Vordergrund eine Anzahl Lesegeräte mit Turmstapelmagazinen, eine Kleiderstange, an der Arbeitsmäntel hingen, und einen altmodischen Tresor. Vor diesem lag ein Skelett, bedeckt mit wenigen Kleiderresten und einer gut erhaltenen grünen Krawatte um die Halswirbel.

Nach Augenblicken der Sammlung sagte Hal: »Hier müsste zu finden sein, was wir brauchen: Aufzeichnungen über Periodika und Intensitäten der Sonnenaktivitäten, insbesondere künftig zu Erwartendes. Venus, bemüh dich, wenigstens einen der Leser in Gang zu setzen. Wir ...«, er blickte auf Pleja, »Wo bleibt denn unser Sonnenexperte? Wir versuchen, das Ablagesystem zu ergründen.«

Letzteres erwies sich, oberflächlich gesehen, als unkompliziert. An jedem der automatisierten Regale, die sich nach wenigen Versuchen auch von Hand bewegen ließen, befand sich ein Passepartout, in dem sich Einschubstreifen mit Hinweisen auf den jeweiligen Inhalt befanden. »Schon damals haben sie der Elektronik nicht hundertprozentig getraut«, kommentierte Hal mit einem Blick auf Venus.

Aber schon nach kurzer Zeit sorgfältigen und wiederholten Lesens dieser Aufschriften fand sich nicht ein Kapitel, das der Aufgabe entsprach. Auch die Abfrage der Datenbank im Lesegerät, das Venus zum Leben erweckt hatte, brachte kein anderes Ergebnis. Es entstand der Eindruck, als hätte die Sonne, der für die Menschheit wichtigste Himmelskörper, im Observatorio del Teide keine Rolle gespielt.

Entnervt schritten Venus und Pleja erneut die Front der Regale ab, während Hal die Überreste dessen, der sich wohl als Einziger zum Zeitpunkt der Katastrophe im Archiv befunden hatte, in einen Mantel hüllte. Auf dieses Tun wurden die beiden anderen aufmerksam, als sich Hal aus seiner gebückten Haltung löste und Aufmerksamkeit heischend mit einem Bund Schlüssel klingelte. Dann hob er unschlüssig die Schultern, musterte seinen Fund und trat zum Tresor. Er fand den richtigen Schlüssel, schloss mit einiger Kraftanstrengung, und - ein saugendes Geräusch - die schwere Tür schlug auf.

Sie traten näher, Pleja mit neugeschöpfter Hoffnung.

Ein kleiner Stapel papierener Journale lag da, eine offene Kassette mit dürftigem Inhalt und ein schmaler Plastikbehälter, darin neun nummerierte digitale Datenträger. Die Journale, nach Zeiträumen geordnet und handschriftlich geführt, trugen auf den Umschlagseiten lediglich die Aufschrift oder den Namen: »99953 Apophis II«.

Unverhofft erschien ein wenig ungestüm Satu in der Tür, überzeugt, eine wichtige Nachricht zu überbringen. Nicht achtend ob störend oder nicht, rief er: »Ihr seid - wir sind im falschen Komplex. Das Sonnenobservatorium ... Die richtigen Türme sind zweihundert Meter weiter nordöstlich - was habt ihr denn da?« Er hatte den offenen Tresor bemerkt, trat neugierig näher und las über Plejas Schulter gebeugt: »Apophis - das ist der Name des ägyptischer Gottes der Finsternis und Zerstörung - was bedeutet das?«

»Was du nicht alles weißt«, murmelte unbeachtet von den anderen Hal.

5. Kapitel

Je näher Thore Merx dem Airport kam, desto dichter wurde der Gegenverkehr. Spät dran, hatte er es eilig und achtete so nur auf sein eigenes Vorankommen. Doch allmählich begriff er, dass dieser Verkehrsfluss nicht normal sein konnte. Zu dieser frühen Stunde kam in EUROCITY keine Maschine an, sodass eigentlich auch das Zubringen zur Stadt entfiel.