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Herbst 1977. Das Chalet der Familie am Genfersee wird geräumt. Auch die dreizehnjährige Clémence ist dabei, jeden Sommer hat sie hier verbracht. Man erwartet Vincent, erfolgreicher Kunsthändler und Frauenheld, der alle zu elektrisieren scheint. Clémence hat sich in ihren Onkel verliebt; fünf Jahre später wird sie seine Geliebte. Als das Abenteuer bekannt wird, geht ein Beben durch die ganze Familie; allein – die Vorwürfe richten sich vor allem gegen Clémence. Der Roman erzählt, wie dieses für alle einschneidende Ereignis jahrzehntelang nachwirkt, und beleuchtet eine unfreiwillige Komplizenschaft der Frauen: Clémence, von ihrer Eroberung fasziniert wie verunsichert; Judith, ihre Mutter, der alles entgleitet; Anne-Lise, die Vincent jeden Seitensprung verzeiht; Nancy, beharrlich die schützende Hand über den Sohn haltend. Mit der ihr eigenen Kunst, Geheimnisse und Zweideutigkeiten in Szene zu setzen, stößt Pascale Kramer in das komplexe Innenleben einer Familie vor. Sie erkundet nicht nur weibliches Begehren, sondern auch die Nachsichtigkeit der Frauen; Nachsichtigkeit gegenüber Feigheit, Taktlosigkeit, Verrat und Kälte der Männer, Männer, die heutzutage wegen Vergewaltigung oder Missbrauch vor Gericht stehen würden.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2025
Pascale Kramer
Roman
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Atlantis
In Erinnerung an Jean-Luc Badoux,
den unvergesslichen Mentor und Freund
Oktober 1977
Es war vielleicht die erste Erinnerung, die Clémence anihren Onkel Vincent bewahrte, oder zumindest ihre erste verliebte Erinnerung. Sie war dreizehn. Ihre Eltern hatten sie früh bei ihrer Großmutter in Beausobre abgesetzt, bevor sie weiterfuhren, um an der neuen Adresse die Möbel in Empfang zu nehmen. Das ausgehängte eiserne Tor war in den Kirschlorbeer gekippt. Der kleine Louis wartete da, ganz allein peitschte er mit einem Seil die Blätter. Sie hatte sie alle, die ganze Familie aus Delémont, seit dem letzten Sommer im Chalet am See nicht mehr gesehen. Louis war noch ein Kind mit glänzenden Wangen gewesen, dessen Überfälle sie geduldig ertrug: wenn er in ihr Zimmer platzte, um zu fordern, dass sie in seines kam, oder um ihr zu helfen, ihren strammen Turnerinnenknoten mit Haarklammern zu spicken. In einem Jahr war er ein richtiger Junge geworden, mit breiter Stirn und den hellen Brauenbüscheln seiner Mutter, und mit dieser Art, die Küsschen über sich ergehen zu lassen.
Jean-Philippe war ein paar Tage vor Karine und den drei Kleinen gekommen und hatte das Gröbste erledigt. Von ihrer aller Fotos war nur eine Girlande von Nägeln an der Wand der Treppe übrig. Das Haus roch nach dem staubigen Holz der ausgeräumten Schränke, überall offene Müllsäcke, Stapel von Dingen und auf dem Boden der fahle Abdruck der Teppiche. Clémence hatte selbst darauf bestanden, zum Helfen nach Beausobre zu kommen, ohne zu ahnen, was für ein Schock die Räumung für sie sein würde.
Den ganzen Vormittag hatte sie ihrer Großmutter geholfen, all die Erinnerungsstücke auf dem Esszimmertisch auszubreiten, aus denen die drei Söhne sich etwas aussuchen sollten: Zinnbecher und -schalen, zwei Kästen mit fast schwarzem Silberbesteck in den Satinfächern, Stapel von Bettwäsche und Tischtüchern mit Monogramm, Vasen jeder Größe, Atlanten, ein Lexikon, Spieleschachteln, Hunderte Notenhefte. Selbst die goldenen Manschettenknöpfe ihres Großvaters waren zu vergeben, sogar die Krawatten, bemerkte Clémence, der diese Warenauslage zu schaffen machte. Für den Verkauf, den Vincent bei einem Kollegen organisierte, waren die schönsten Stücke bereits nach Zürich geschickt worden. Auch er sollte im Lauf des Tages vorbeikommen, Clémence erstarrte bei jedem Auto, das sie durch die Öffnung zwischen den Pfeilern des Tors erspähte. In der Schule hatte sie behauptet, bei den Dreharbeiten zu einem Filmbeitrag, den ihm vor ein paar Monaten ein französischer Sender gewidmet hatte, dabei gewesen zu sein. Niemand hatte je versucht, sie zu entlarven, aber bei der Vorstellung, die Lüge könnte bis zu ihm gedrungen sein, hatte sie Bauchweh vor Scham.
Die Kleinen begannen sich schon zu langweilen. Louis wartete draußen auf den Laster; Clémence sah ihn auf die Grundstücksmauer klettern und die Äste der Kornelkirsche schütteln, deren Früchte als roter Hagel auf den Kies prasselten. Bald erschien eine der Zwillingsschwestern auf der Freitreppe und rief ihrem Bruder zu, das werde Ärger geben. Sie stand da in ihrer Empörung, die Schulterblätter spitz wie Klingen zu beiden Seiten ihres langen braunen Zopfs. Louis antwortete mit einer neuen Salve von Früchten, dann sprang er von der Mauer, wischte seine Hände an der Hose ab und humpelte bis zur Tür.
Er hat alles runtergeschüttelt, stellte Clémence laut genug fest, um ihre Großmutter aus der Amnesie zu wecken, in die sie beim Nachzählen all der Dinge verfallen zu sein schien. Doch Nancy, mager und aufrecht in ihrem wallenden Kleid, eine erloschene Zigarette zwischen den beiden perlmuttschimmernden Strichen ihrer schmalen Lippen, reagierte nicht, schien nicht mehr zu wissen, was sie mit ihrem Feuerzeug tun sollte. Mehr noch als die Plünderung des Hauses, realisierte Clémence, war es das, was Louis aufstachelte und sie selbst niederdrückte: die plötzliche Verletzlichkeit, diese Art von Niederlage ihrer englischen Großmutter, die Dunhill rauchte und immer verlangt hatte, dass sie sie bei ihrem Vornamen nannten.
Der Abtransport des Klaviers begann gegen Mittag. Louis wartete seit dem Morgen auf diesen Augenblick; er stürzte aus dem ersten Stock herbei, sobald das gähnende Heck des Umzugswagens sich langsam auf die Toröffnung zuschob. Karine fing ihn ab und hielt ihn fest an ihre rötliche Körperfülle gepresst, während die Möbelpacker ihre Gerätschaften auf dem Parkett abstellten. Es waren drei, zu denen sich die Kumpel von Jean-Philippe gesellten, die am Vormittag gekommen waren, um die Bücherschränke abbauen zu helfen. Clémence sah zu, wie sie die Gurte befestigten und inmitten von Decken das Instrument mit unendlicher Vorsicht auf die Seite kippten. Nancy war nähergekommen, um den Frevel mitzuerleben. Sie ging langsam bis zum Kamin, suchte dort mit tastender Hand Halt. Clémence mochte es nicht, sie nun so beunruhigt und unbeachtet oder zumindest von den Entscheidungen ausgeschlossen zu sehen. Also lief sie zu einem letzten Rundgang nach oben, in das blaue Zimmer, in dem sie seit der Grundschule jeden Mittwoch geschlafen hatte. Der Verkauf des Hauses folgte einige Monate auf den Tod ihres Großvaters und kaum ein Jahr auf den Ausbruch der Krankheit ihrer Mutter. Es hatte etwas Begeisterndes, etwas Kühnes, so früh aus der Kindheit entlassen zu werden.
Die Kommode war schon ausgeräumt; auf dem Boden der offenstehenden Schublade zerbröselten ein Lavendelsäckchen und die aschtrockenen Reste eines Nachtfalters. Neben dem Fenster reflektierte der abgehängte Wandspiegel den abgewetzten Stoff des Matratzenbezugs. Auf den beiden ungemachten Betten erkannte Clémence die Zwillingspuppen, die ihre Mutter den Cousinen zum Geburtstag gestrickt hatte. Sie schaute auf die Straße hinunter, der Umzugswagen schien sich beim Zurücksetzen im Kirschlorbeer verfangen zu haben. Jean-Philippe kam mit Gurten zurück. Er hatte sich einen Schnurrbart wachsen lassen, seit er arbeitslos war, einen dichten, langen Schnurrbart, etwas abstoßend, fand Clémence, die nun gern nach Hause gefahren wäre. Sie warf noch einen Blick auf die Sachen der Kleinen, legte die Puppen Mund an Mund auf die Bettdecke und kehrte dann auf den Flur zurück, wo sie mit ausgestrecktem Arm eine nach der andern die Türen der Wandschränke zuklappte. Die Tür zum Zimmer ihrer Großmutter am Ende des Flurs war zu. Sie war abgeschlossen.
Mit der Hand auf der Klinke wartete Clémence ein paar Sekunden, bevor sie noch einmal drückte und sich mit der Schulter gegen die Tür stemmte. Lass uns, wir kommen gleich! Das war Vincent, Clémence hatte keine Ahnung, wann er eingetroffen war und warum er sich eingeschlossen hatte, ihr wurde heiß. Kein Laut drang aus dem Zimmer, in dem Vincent offenbar wartete, dass sie sich entfernte. Lass uns jetzt, bitte, erregte er sich, wir kommen gleich. Clémence fragte sich, an wen er sich zu richten glaubte. Sie wich zurück bis ans Geländer, erklomm ein paar Stufen Richtung Dachgeschoss, sodass sie die Tür beobachten konnte. Unten rollte mit durchdringendem Quietschen der beinlose Korpus des Flügels durch den Flur. Aus dem Weg gescheucht, flüchteten die drei Kleinen auf die Treppe.
Stört Vincent nicht, rief Nancy ihnen mit einem Blick nach oben zu; sie schien wieder bei sich zu sein und teilzunehmen. Karine war auch herbeigelaufen, um zu sehen, was sie anstellten. Sie herrschte sie an zu gehorchen, aber Louis hörte nicht. Mit dem Rücken zur Wand stieg er weiter die Treppe hinauf und ärgerte seine Schwestern, ein komisches Lächeln auf den blassen Lippen. Als eine der beiden ihm den Weg versperren wollte, riss er ihr grob das verzwirbelte Gummi vom Zopf. Die Kleine stieß einen Schrei aus. Hinter ihnen hatte sich die Tür geöffnet: das Zimmer lag im Dunkeln.
Vincent blieb auf der Schwelle stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, gespielte Entrüstung auf seinem schmalen Gesicht, in das lange, nur mit Wasser zurückgekämmte Strähnen fielen. Ihr schießt aus dem Boden wie Pilze, spottete er, während er leise die Tür hinter sich schloss. Er trug eine schokoladenbraune Samthose und einen schlichten schwarzen Rollkragenpullover wie auf dem Titel der Zeitschrift, die lange in der Veranda herumgelegen hatte. Nichts war übrig von der Verärgerung, mit der er Clémence vorher weggeschickt hatte. Anne-Lise ist müde, sagte er zu den Kleinen, die er mit flachen Händen zur Treppe scheuchte, stört sie nicht.
Clémence war wieder ein paar Stufen hinabgestiegen und stand jetzt reglos da, den Arm auf dem Geländer, mit klopfendem Herzen; zu sehen, wie er aus diesem dunklen Zimmer trat, das kam ihr dermaßen verboten vor.
Wie alt bist du eigentlich? Er hatte es im Flüsterton gefragt. Clémence antwortete, sie werde demnächst dreizehn. Dreizehn, wiederholte Vincent und sah sie mit einem Lächeln glücklicher Zärtlichkeit an. Ich verlasse mich darauf, dass du diese Räuber davon abhältst, Anne-Lise zu belästigen. Dann wies sein Zeigefinger, der auf die Tür gerichtet war, einen Augenblick auf sie, bevor er ihn auf ihr Handgelenk legte und über die zarte Vertiefung strich.
Clémence bewegte sich nicht. Die Überraschung dieser kurzen Berührung durchfuhr sie heftig. Vincent war auf der Treppe verschwunden, und Louis provozierte sie, indem er sich weiter der Tür näherte und so tat, als wollte er dagegentreten, bevor er die Stufen hinuntersprang. Die eine Schwester folgte ihm, ihr Zopf löste sich im Rücken, während die andere ihren Schuh zuschnürte und ihnen zurief, sie sollten warten. Clémence bemerkte, dass sie beide sehr rot waren. Sie fragte sich, was auch ihnen mit ihren sieben Jahren Unbehagen bereitet haben mochte.
Als Clémence hinunterging, hörte Vincent gerade aufmerksam Nancy zu, das Kinn zwischen den Fingern, das Samtjackett über den Schultern. Er nahm die Krawatten seines Vaters mit, die er wie ein Knäuel von Schlangen in der Hand hielt. Clémence war nur noch ein paar Stufen über ihnen, aber er hatte sie nicht gesehen. Mach dir keine Sorgen, flüsterte er seiner Mutter zu und drückte ihre Schulter. Ich lasse sie aussuchen, was sie haben will. Wir treffen uns heute Abend bei unseren Freunden, wie vorgesehen, fügte er hinzu und küsste sie auf die Stirn, wir sind das ganze Wochenende dort. Dann wandte er sich dem Wohnzimmer zu, schwenkte die Handvoll Krawatten und rief: Tschüss allerseits! Bleibst du nicht?, fragte Karine, die sich aufgerichtet hatte, erschrocken und wischte sich den Schweiß mit dem Arm aus dem Gesicht. Ein andermal, sagte er, während er kehrtmachte in Richtung Hausflur.
Clémence sah zu, wie er sich draußen im Licht auflöste, ohne sich noch einmal umgedreht zu haben. Ihre Großmutter suchte mit tastender Hand das Geländer wie vorher den Rand des Kamins. Bist du da, meine Große?, wunderte sie sich, als sie endlich ihre Anwesenheit bemerkte und vielleicht auch ihre Verstörung, ihre Enttäuschung.
Anne-Lise wollte sich scheiden lassen. Das wurde Clémence im Auto von ihrer Mutter schmallippig erklärt, als sie abends heimfuhren. Die Nachricht setzte ihren Körper in Brand, als könnte es ihre Schuld sein, etwas gewünscht oder beschleunigt zu haben. Sie lehnte sich auf dem Sitz zurück, drückte die Wange an die kühle Scheibe. Ihre Eltern schwiegen, sie waren erledigt, vielleicht auch wehmütig, und vor allem sahen sie mit Sorge (Clémence hatte sie am Abend mit Karine und Jean-Philippe gehört), dass die Familie unweigerlich auseinanderbrach. Bei jeder Straßenlampe tauchte kurz das Profil ihrer Mutter aus dem Halbdunkel auf wie eine leere Maske. Clémence hatte gesehen, wie ihr rechtes Bein nachgab, als sie ins Auto einstieg. Sie spürte, wie von nun an oft, die Furcht ihrer Mutter, ihr stilles Warten auf ein Fortschreiten der unausweichlichen Lähmung. Die Aussicht auf ihr beinahe komaartiges Schweigen in den kommenden Tagen erstickte sie langsam vor Angst.
Aus einer vollen Tasche mit Bilderrahmen neben ihr stieg ein muffiger, strenger, staubiger Geruch. Clémence verbarg ihre Nase in der Armbeuge. Ihre Mutter hatte das Fenster geöffnet und steckte sich eine Zigarette an. Sie solle nicht darüber reden, sagte sie, über die Scheidung, fügte sie hinzu, während sie sich lächelnd zu ihr umdrehte und versuchte, ihr den Arm vom Gesicht wegzuziehen. Das ist geklärt. Es waren dieselben Worte, die Nancy vorhin gebraucht hatte, als Anne-Lise endlich aus dem Schlafzimmer heruntergekommen war. Das aschfahle Gesicht ihrer Tante konnte sich Clémence immer noch nicht erklären.
Kurz nach Vincents Aufbruch hatten sie ihre Sandwichs auf den Korbsesseln der Veranda gegessen, unsere Beute, bemerkte Jean-Philippe ironisch, womit er andeuten wollte, dass er von den drei Brüdern immer der benachteiligtste war. Clémence hatte sich ein wenig abseits gesetzt, ins Licht einer der Bleiglasscheiben, ein dünnes Glas voller Blasen, hinter der die Schemen der drei Kleinen durch den Garten tollten. Sie hörte nur halb zu, langweilte sich, sorgte sich, weil ihre Eltern nicht anriefen, fragte sich, wo ihre Großmutter geblieben war und was Anne-Lise machte, und plötzlich durchfuhr sie der verrückte Gedanke, Vincent könnte sie tot im Schlafzimmer zurückgelassen haben.
Die beiden Kumpel von Jean-Philippe kamen mit Bierflaschen zurück. Sie brachten die Sprache auf die hitzigen Auseinandersetzungen, die im Gang waren. Jean-Philippe erregte Heiterkeit mit einer Bemerkung über Vincent, die Clémence nicht verstand. Nachdem er seine Pfeife wieder angezündet hatte, setzte er hinzu, Nancy hätte damals nichts dagegen gehabt. Karine schüttelte den Kopf und lachte, das dürfe er nicht sagen. Sie saß mit rundem Rücken da wie ein Mann, die Ellbogen auf den Schenkeln. Komm und unterhalte dich mit uns, forderte sie Clémence mit tadelnder Miene auf, weil sie sich von ihnen fernhielt. Spricht man in der Schule mit euch über die Abtreibungsinitiative? Clémences Antwort war ein Schulterzucken. Tatsächlich hatten Eltern eine Petition gestartet, um die Entlassung einer Biologielehrerin zu erreichen, der sie vorwarfen, die Schüler zu agitieren. Man hatte sie zitternd und wütend in den Mädchentoiletten gesehen, wo sie den aufgebrachtesten, die sie mit ihren Gewissheiten belämmerten, ein Scheißleben prophezeite. Clémence war es ein bisschen egal, zu Hause redete niemand darüber. Aber Karine beachtete sie schon nicht mehr. Sie hatte angefangen, die leeren Flaschen einzusammeln und das Besteck zu sortieren. Ihre Hose mit den zerrissenen Taschen ließ in einem Ausschnitt blasser Haut den Ansatz der Pobacken sehen. Clémence fand die beiden so prollig, Jean-Philippe und Karine, sie fragte sich, was Vincent in dieser Familie zu suchen hatte.
Im Garten hatten die Kleinen einen großen Laubhaufen gemacht, in den sie abwechselnd versanken. Mit roten Wangen kamen sie bald angelaufen und wollten Kekse, die Hände schmutzig vom Moos, das sie von der inzwischen ganz überwucherten Treppe auf der Seite der Rue Davel abgekratzt hatten. Die rauchgeschwängerte Veranda füllte sich nach und nach mit Sonne. Während Jean-Philippe ein Fenster öffnete, machte er wieder eine Bemerkung über Vincent – etwas wie: Man fragt sich manchmal, ob er wirklich unser Bruder ist –, die von Neuem Heiterkeit erregte. Eine leichte Herbstfeuchtigkeit strömte ins Haus, angezogen von der Leere. Es war schon zwei, das Gespräch und auch die Energie versiegten plötzlich in dem großen entblößten Wohnzimmer mit den braunen Schatten auf der Tapete.
Sie hatten gerade wieder angefangen, als Anne-Lise im Flur erschien, bis zu den Waden in eine hautfarbene Strickjacke gehüllt. Sie ging direkt ins Esszimmer, und Clémence, die zu ihr lief, fand sie dort, wie sie ihre Blicke über die Ausstellung alten Plunders wandern ließ, aus dem sie sich ein Geschenk aussuchen sollte. So sagte sie es zu ihrer Lieblingsnichte, während sie den Arm um sie legte: Ich soll mir wohl ein Geschenk aussuchen.
Anne-Lise war nur zwölf Jahre älter als sie. Genau wie Vincent war sie anders, sie war Französin, unglaublich hübsch mit ihrem sehr kurzen Haarschnitt, der ihr Gesicht mit kleinen blonden Zungen umrahmte, ihrem transparenten Blick unter den silbrig schimmernden Lidern, den farbigen Halsketten, die sie durch ihre Finger rieseln ließ. Ihre Zuwendung war betörend. Doch in den Umwälzungen dieses Tages fühlte sich Clémence ihr gegenüber nicht mehr ganz so wie zuvor. Anne-Lise hatte immer noch den Arm um sie gelegt, während sie langsam den Tisch umrundete. Ihre Hände rochen nach Seife, sie war traurig, Clémence merkte es am Nachdruck ihrer Umarmung.
Aus dem Arbeitszimmer waren Schläge zu hören, als versuchte jemand, die Wand zu durchbrechen. Jean-Philippe trug im Flur die Korbsessel davon, gefolgt von Louis, der bis zum Tor lief und sich dann am Esszimmerfenster hochzog, wo sein rotes, blondes Gesicht einen kurzen Moment vor ihnen stand. Anne-Lise hatte ihren Arm gelockert. Wird dir das Haus fehlen?, fragte sie, mit ihren lackierten Nägeln über eine Vase streichend. Clémence verneinte, selbst erstaunt, dass sie so sicher war.
Ihre Großmutter hatte den Raum betreten, und Anne-Lise entschied sich plötzlich für einen Spiegel in einem breiten roten Lackrahmen, den sie in ihre Tasche packte. Clémence nutzte die Gelegenheit, um sich zu befreien. Nancy trat an den Tisch und verrückte ein paar Gegenstände, um die Lücke, die der Spiegel hinterlassen hatte, zu stopfen. Vincent hat mir gesagt, es sei geklärt, konstatierte sie, ein Auge zusammengekniffen gegen den Rauch der Zigarette in ihrem zu einem halben Lächeln verzogenen Mundwinkel. Ja, bestätigte Anne-Lise, ein tonloses Ja, das ihr schwerzufallen oder sie zu erschöpfen schien. Clémence verzog sich und lief ins blaue Zimmer, von dem aus sie die Ankunft ihrer Eltern beobachten konnte.
Sie standen alle vier hinter der Tür, soweit Anne-Lise erkennen konnte, wenn sie sich auf einen Ellbogen stützte. Sogar Clémence, diese anmutige, beharrliche Nichte, die man jeden Sommer im Turnanzug auf dem Steg im See ihre Übungen aneinanderreihen sah. Vincent betrachtete die Schar, die Hände in die Hüften gestemmt, offenbar glücklich darüber, sie mit seiner Anwesenheit zu überraschen. Ihr schießt aus dem Boden wie die Pilze, hörte sie ihn amüsiert sagen, als die Tür sich über dem Dämmer des mitten im Umzug seltsam unberührten Zimmers schloss. Für ihn war der Vorfall ihrer Scheidungsdrohung abgeschlossen, genauso leicht vergessen wie die auf den Fluren begrapschten Mädchen und sogar die echten Geliebten, die er auf Geschäftsreise mitnahm. Anne-Lise wusste nur zu gut, mit welcher vollkommenen Aufrichtigkeit er sich selbst freisprach. Das hätte sie sich sagen müssen, dachte sie, dass es gar nicht zählte. Aber was zählte dann?
Vincent hatte sich beim ersten Rascheln hinter der Tür von ihr gelöst. Wir betragen uns wirklich nicht schicklich, hatte er sich leise gefreut, als er sich erhob. Seine zurückgekehrte Fröhlichkeit, seine befriedigte Fröhlichkeit ließ in ihr wieder das Gefühl hochkommen, mit Füßen getreten worden zu sein, von dem sie sich durch ihren Beschluss, sich von ihm zu trennen, zu befreien geglaubt hatte. Ich lasse mich so leicht enteignen, selbst meine Demütigungen werden mir genommen, stellte sie fest, während sie ihn betrachtete, wie er auf der Bettkante saß, einen Fuß im Slip, sein Profil von dünnen Locken eingerahmt, und wieder eins der Kinder, das die Klinke quietschen ließ, wegschickte.
Aus dem Wohnzimmer direkt unter ihnen dröhnten Hammerschläge. Anne-Lise suchte etwas, um sich abzutrocknen, damit sie keine Flecken auf dem Bettüberwurf hinterließ. Sie fühlte sich klebrig und feige, weil sie bestätigte, was Nancy immer sagte: Paare versöhnen sich im Bett. Das Bett war das große Thema ihrer Schwiegereltern gewesen. So hieß es zumindest zwischen den drei Brüdern, und so verriet es dieses Schlafzimmer mit seinen Holz- und Bordeauxtönen im blassen Schein der Wandleuchten. Nancy hatte sie hier hinaufkomplimentiert, als ihr die Tränen gekommen waren bei dem Wort Scheidung, das sie nicht mit der gewollten Selbstsicherheit hatte aussprechen können. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für ein Drama, alle sind da. Sie hatte die zweite Tür des Badezimmers, die auf den Flur ging, abgeschlossen, damit Anne-Lise nicht gestört würde. Fang dich wieder und mach dich zurecht, ich schicke ihn zu dir hinauf, sobald er kommt. Man lässt sich nicht scheiden wegen einer Dummheit.
Kurz danach war Vincent eingetroffen. Er kam direkt aus Deutschland, von wo er sie am Vortag, nachdem er den Brief erhalten hatte, angerufen und angefleht hatte, ihn wie abgemacht in Beausobre zu treffen, es komme nicht infrage, dass sie sich trennten, nicht nach dem, was sie erlebt hätten. Ich bin es, die dich verlässt, wandte sie erneut ein, sobald er da war, aber mit einer unsicheren Stimme, die sie, wie so oft, selbst an ihrer Entschlossenheit zweifeln ließ. Sie hatte ihn vor der Balkontür erwartet, die auf ein schönes herbstliches Blättergewirr hinausging, und sich nicht umgedreht, als er kam, und er hatte sich neben sie gestellt, die Hände hinter dem Rücken zum Zeichen, dass er der stillschweigenden Order gehorchte, den Blick auf die Dächer und den Himmel jenseits der gelben Bäume gerichtet.
Verstehst du nicht, dass das einzig Wichtige für mich ist, dass wir zusammenbleiben? Sein verkniffener Mund schien von einem bitteren Saft zu kosten. Er sagte nicht, dass er sie liebe, um nichts in der Welt hätte er das gesagt. Anne-Lise sah das Blut an seinen Schläfen pulsieren. Dass sie sein Lustprinzip infrage stellte, erboste ihn aber. Es macht ihn wütend, dass ich darunter leide, dachte sie, verunsichert, weil auch er darunter litt, und von einer plötzlichen, überwältigenden Angst ergriffen, er könnte leicht darüber hinwegkommen und sie nicht.
Ein kurzer Knall in der Rue Davel ließ ein paar Vögel auffliegen. Als würde er auf dieses Signal reagieren, zog er mit einer jähen Bewegung die doppelten Vorhänge zu und blickte ihr ins Gesicht. Du gehst nicht, ganz einfach! Im Halbdunkel, das sich auf sie gesenkt hatte, sah Anne-Lise in seinen Augen das Frohlocken über seinen Einfall, seine Pfiffigkeit, seinen Sieg. Sein Mund war trocken, er schmeckte nach seinen kurzen Küssen beim Aufwachen, der Geschmack einer Vertrautheit, einer Hingabe, die vielleicht wirklich nur ihnen gehörte und die zu bereuen unverzeihlich wäre. Also ließ sie ihn seinen Bauch gegen den ihren pressen und in ihr dieses plötzliche und geheimnisvolle Verlangen wecken, überwältigt zu werden.
Die Kleinen schubsten sich auf der Treppe. Anne-Lise hatte von Neuem den Eindruck, dass sich die Türklinke bewegte. Sie beeilte sich, den Pullover überzuziehen. Die Sonne schien wieder und brannte kleine Glutpunkte in den Vorhangstoff. Es war angenehm im Zimmer trotz eines faden Talkgeruchs; Anne-Lise hätte einschlafen können. Vincent kämmte sich, über den Frisiertisch seiner Mutter gebeugt, und lächelte ihr im Spiegel zu. Wie schön du bist, sagte er ganz leise und drehte sich um, zeig dich mal. Den Kopf zur Seite geneigt, ließ er den Blick über sie wandern, in höchster, nie geheuchelter, wie er schwor, Verwunderung über den so erregenden Kontrast zwischen der kindlichen Vollkommenheit ihres Gesichts und ihrem hochroten Mund. Wie wir das lieben, schwärmte er, biss sich auf die Lippe und kam näher. Mit einem Knie auf dem Bett schob er seine Hand zwischen ihre Schenkel, um sie nass zu machen, und hielt sich die Finger dann mit einem beinahe komischen Ausdruck ernsthaften Entzückens an die Nase.
Wie wir das lieben werden, das war die Formel, mit der er sie am ersten Tag angesprochen hatte und die er, um sie zu amüsieren, bei jedem Rendezvous wiederholte, das Anne-Lise ihm nicht wirklich oder nicht ernsthaft abzuschlagen versuchte, in der Tat amüsiert, genervt, verwirrt vom hartnäckigen Begehren eines Mannes wie ihm, eines Mannes in seinem Alter vor allem. Sie war im letzten Studienjahr an der Kunstgewerbeschule. Vincent hielt einen Vortrag, den sie vor dem Ende hatte verlassen müssen. Du hast mich eingeladen, dir zu folgen, lachte er ihre Einwände weg, den Blick auf ihren Lippen, von denen er sagte, sie seien erschreckend wie eine Wunde. Er schwor, warten zu können, bis sie über alles entscheiden würde. Und tatsächlich war sie es dann, die vorschlug, ihn zu besuchen, an einem Donnerstag, am frühen Abend, ohne dass sie bedacht hatte, dass es noch hell sein würde, und ohne wirklich zu wissen, warum sie es plötzlich so eilig hatte.
Nie wieder spürte Anne-Lise diese unwirkliche, lähmende Angst, die sie überkam, als sie zum ersten Mal die große Eingangshalle seines Hauses betrat. Die Wohnung war hell und unter den hohen Decken so gut wie leer. Vincent erwartete sie. Er war gerührt, beinahe verschüchtert, dankbar, und er war barfuß. Anne-Lise war nicht darauf gefasst, sofort so vertraut mit ihm zu sein, wie seine nackten Füße auf dem Parkett verhießen. Ich lasse mich von dir nehmen. Er hatte sich ausgezogen. Sein jugendlich schlanker Körper lag auf dem Bett, ruhend wie sein schlaffes Glied, auf das er ihre Hände zog, um sie dort mit einem Ausdruck schmerzlichen Wartens festzuhalten.
Anne-Lise hatte nicht vorgehabt zu bleiben, aber Vincent verlangte, dass sie zumindest wartete, bis es ganz dunkel war. Ihr Eigensinn, wie er sagte, entzückte ihn, und auch, dass sie noch bei ihrer Mutter wohnte. Sie musste versprechen, ihn einmal in ihrem Jungmädchenbett zu empfangen. Seine Augen lächelten sie an, voller Sanftmut, Dreistigkeit und beinahe rührend unschuldiger Freude, sie erobert zu haben.
Den Herbst über sahen sie sich mehrmals. Vincent traf sich mit ihr in Museen, auf Privatverkäufen, nahm sie mit in schöne Hotels außerhalb von Lyon, ließ sie Hüte aufprobieren. Sein Glück, wenn er sie überraschte, war großmütig und redselig. Du bist schön, flüsterte er, wenn Anne-Lise sich beschwerte, dass er nicht zuhörte. Und er hörte tatsächlich nicht zu, er hatte ihr zu viel zu erzählen, über die Stücke, die man ihm anvertraute, außergewöhnlich seltene Objekte, die zu verkaufen manchmal herzzerreißend sei, sagte er, und auch über ihren unanständigen Mund, den er schließlich küsste, um sie zu beruhigen, dass alles in Ordnung sei.
An Weihnachten fuhr Vincent ein paar Tage zu seinen Eltern, während Anne-Lise mit Freunden in der Camargue ihren zwanzigsten Geburtstag feierte, eine kurze Woche, in der man sich viel über diesen verschwenderischen Liebhaber alter Schule und ihr Zögern lustig machte. Anne-Lise lachte über den Spott, vor allem beschäftigt mit dem Ausbleiben ihrer Regel. Kurz nach ihrer Rückkehr bestätigte sich, dass sie schwanger war. Vincent war wegen einer Ausstellung nach Genf gefahren. Dort konnte sie ihn erreichen, und von dort kam er am nächsten Tag mit dem Auto.
Die Feiertage waren vorbei, trockene Kälte hatte die Stadt unter einem diffusen weißen Licht erstarren lassen. Anne-Lise erwartete ihn an der Uferstraße, in einen kurzen pelzgefütterten Mantel eingemummt, aus dem ihre in grünen Strumpfhosen steckenden Beine ragten. Er ließ sie einsteigen und fuhr aus der Stadt hinaus, ohne ein Wort zu sagen, zwei Finger an die Wange gepresst; ab und an warf er ihr kurze schelmische und besorgte Blicke zu. Dann hielt er plötzlich an, stellte den Motor ab und wandte sich zu ihr. Also werden wir Eltern, schien er in diesem Augenblick zu beschließen, zog seinen Handschuh aus, um ihr den Mantel abzustreifen und unter den Wollschichten ihren Bauch zu suchen. Die Kälte betonte die Blässe seiner papierenen Haut und die Fältchen um seine feuchten Augen. Zum ersten Mal sah Anne-Lise ihn so gerührt oder zumindest mit solcher Ehrlichkeit gerührt. Auch voller Liebe, glaubte sie zu erkennen.
Sie hatte herausgefunden, wo sie abtreiben konnte, sie wusste, dass das Geld kein Problem wäre, und sie sagte sich, dass es weder eine große Sache noch ein Drama war. Höchstens hatte sie gehofft, dass Vincent sie begleiten und dass es ihn erschüttern würde, sie leiden zu sehen. Seine Reaktion erfüllte sie viel mehr mit Zweifeln als mit Dankbarkeit. Er war fast so alt wie ihre Mutter, seine vogelhafte Physis und Lebhaftigkeit rührten sie, ohne ihr wirklich zu gefallen. Sie war betört von seiner Gelehrtheit, die sie aber in eine ganz neue Einsamkeit stürzte. Er hatte schon manche ihrer Freunde kennengelernt, ihr aber noch nie jemanden vorgestellt, sie blieb am Rand oder ausgeschlossen von seinem öffentlichen Leben. Sei nicht so dumm, dir jemanden entgehen zu lassen, der dich so gern verwöhnt, mahnte ihre Mutter beharrlich, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, und argumentierte mit dem Leben, dessen Zeuge Anne-Lise seit ihrem fünften Lebensjahr war, dem schmachvollen, verhinderten Leben einer geschiedenen Frau, die einem Mann nachtrauerte, der keine Fröhlichkeit kannte und sie beide fluchtartig verlassen und noch nicht einmal versucht hatte, sie zu ersetzen. Vincent rief jeden Tag an, damit Anne-Lise ihm die Empfindungen beschrieb, von denen er sie erfüllt wähnte. Sie geriet in echte Panik beim Gedanken an das, was gerade vor sich ging; vor allem beunruhigte es sie, dass sie so viel mehr geliebt wurde, als sie selbst liebte. Eigentlich hatte auch er nicht den Plan zu heiraten, und schon gar nicht sie, aber die Aussicht, Vater zu werden, schien in seinen Augen das Allerwichtigste zu sein.
Das Hochzeitsdatum wurde festgelegt, als Vincent sie seinen Eltern in Beausobre vorstellte. Es sei nicht vorgesehen, dass sie dabei seien, erklärte er mit gelassener Unverfrorenheit, auch eine kirchliche Zeremonie komme nicht infrage. Anne-Lise sei natürlich einverstanden. Und das war sie tatsächlich, als würde diese relative Heimlichtuerei sie nicht so sehr binden.
Sie arbeitete an ihrem Abschlussprojekt und verbrachte ganze Tage bei einer Freundin, mit dem Gefühl, abwechselnd zwei Leben zu leben, eines davon beinahe verlogen. Als sie eines Abends mit dem Rad nach Hause fuhr, spürte sie plötzlich eine klebrige Wärme zwischen den Beinen. Als sie in der Wohnung ankam, war ihre Hose bis zur Mitte der Oberschenkel blutgetränkt. Ihre Mutter war noch nicht da, Anne-Lise hatte Zeit, alles in die Waschmaschine zu stecken, nachdem sie lange in der Badewanne gehockt und zugesehen hatte, wie sich Schwälle von Blutgerinnseln und gräulichen Klumpen aus ihr ergossen, die sie wie ausgewrungen zurückließen, benommen und schlotternd.
Zwei Tage später heiratete sie, panisch vor Schuldgefühlen, erschütternd, würde Vincent sagen, den sie nicht informiert hatte, weil sie sich solche Vorwürfe machte, ihn gewissermaßen reinzulegen. Eines Morgens beim Aufwachen, in den von der wiedergekehrten Regel besudelten Laken, schaffte sie es, mit ihm zu reden. Vincent hörte ihr schweigend zu, grub dann einfach sein Gesicht in ihren weichen leeren Bauch. Anne-Lise streichelte seine vom Schlaf zerzausten Strähnen. Sein Atem befeuchtete ihren Bauch, einen Augenblick glaubte sie sogar, er weine. Aber warum hast du denn nichts gesagt? Ich hatte Angst, dass du es mir übelnimmst, sagte sie und ließ ihre Hände aufs Laken zurücksinken. Vincent hob ein bestürztes Gesicht zu ihr auf, dessen betroffene Güte sie plötzlich darin bestärkte, dass sie die denkbar glücklichste Wahl getroffen hatte.
Ihre Wohnung umfasste einen großen Wohn- und Essbereich, ein Arbeitszimmer und ein großes Schlafzimmer, alles in Weiß und Palisander, mit sehr schönen Parkettböden und hohen Fenstern, die auf das Laub und Licht einer Seitenallee hinausgingen. Anne-Lise fühlte sich hier wie unter ihrem eigenen ungläubigen Blick. Der Unterricht begann erst in ein paar Wochen wieder. Ihr neuer Status isolierte sie, sie wusste nichts anzufangen mit der beneidenswerten Sonderrolle, die er ihr verlieh, so wie sie auch nie einen Vorteil daraus hatte ziehen können, dass sie zu den Mädchen gehörte, die als sehr hübsch galten.
Dann fanden die Prüfungen statt, bei denen sie besser abschnitt als erhofft, dann kam der Sommer. Sie hatte Ferien, ihre engsten Freunde waren abgereist, und Vincent verschob jeden Tag den Moment, seinen Urlaub zu nehmen. Wie so oft in der Folgezeit drängte sich die Lösung des Familienchalets in der Schweiz, bei Neuchâtel, auf. Vincent hatte seine Eltern dazu gebracht, ihm das größte Zimmer mit einer ganzen Fensterfront zum See zu reservieren. Karine wäre da, im siebten Monat schwanger, wie auch sie es hätte sein sollen, und die zweijährigen Zwillinge. Für Anne-Lise wäre es angenehmer, als den ganzen Tag allein in der Stadt zu bleiben, sie würde schwimmen können und zeichnen.
Sie fuhren die Strecke am Stück und kamen abends an, gerade in dem Moment, als das Chalet mit dem Ufer zu verschmelzen schien. Anne-Lise war sofort von diesem schlichten, von trockenem Holz knarrenden Haus angetan, das mit seinen breiten Fensteröffnungen mitten im vogelreichen Schilf einfach auf Pfählen stand und von dem man zum Schwimmen mit dem Boot hinausruderte, weit weg von Blicken und Schlammbänken. Sie lernte Claude kennen, ihren Schwiegervater, dessen extreme Zurückhaltung sie einschüchterte, und einen Vincent im Kreis der Familie und im Urlaub (in Lyon musste er immer Ausstellungen besuchen oder hatte Verpflichtungen), meistens in die Zeitungslektüre vertieft, zögerlich, ins Wasser zu gehen, wortführend bei den Mahlzeiten, aber auch voller Aufmerksamkeit für die Kleinen, fast mit der Gabe eines Zauberers, um sie in seinen Bann zu ziehen, selbst die stille neunjährige Clémence, die zum ersten Mal ohne ihre Eltern gekommen war. Vincent, der sein Versprechen, zumindest ein paar Tage zu bleiben, vergaß, brach am Sonntagabend mit Jean-Philippe und ihrem Vater auf. Anne-Lise blieb die Woche über mit Nancy, den drei Kindern und Karine. Und von dieser älteren, sehr mütterlichen (durchschnittlichen, sagte Vincent) Frau mit phantastisch rotem Haar erfuhr Anne-Lise, dass Vincent, während sie Weihnachten mit ihren Freunden in der Camargue verbracht hatte, mit Carol in Beausobre war, einer Amerikanerin, die er im Frühjahr hätte heiraten sollen.