Die Nacht der Krähe – Feuersturm - Patrick Hamann - E-Book

Die Nacht der Krähe – Feuersturm E-Book

Patrick Hamann

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Beschreibung

Die große Schlacht gegen Constantin und sein Dämonenheer ist vorbei. Lennox ist tot. Aber er ist auch lebendig, denn er befindet sich in einer Zwischenwelt zwischen Leben und Tod. Verzweifelt versuchen die Menschen dort, wieder ins Reich der Lebenden zurückzukehren, doch der Preis ist hoch. Gemeinsam mit Greta und Kira, die auch zu "den Ewigen" gehören, versucht er, aus dieser Welt zu entkommen – einzig, um Nea wiederzusehen. Währenddessen vergeht Nea vor Trauer um ihren Lennox. Unschlüssig, wohin sie als Blutsklavin nun gehen soll, schließt sie sich der Bruderschaft an. Doch auch hier gibt es Probleme: Immer mehr Dämonen versetzen die Dörfer in Angst und Schrecken. Der heimtückische Victor, der die Macht über die Länder an sich reißen möchte, hat einen Parasiten entwickelt, der die Toten wieder zum Leben erweckt und sie in blutrünstige Monster verwandelt. Gemeinsam zieht Nea mit der Bruderschaft los, um ein Gegenmittel zu finden - und ganz tief im Inneren hat sie auch nicht die Hoffnung aufgegeben, irgendwie auf dem Weg Lennox wieder zu begegnen ... Von Patrick Hamann sind bei Midnight in der "Die Nacht der Krähe"-Reihe erschienen: Funkenflug (Band 1) Feuersturm (Band 2)

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Der AutorIch wurde im März des Jahres 1996 geboren. Nicht viel Zeit musste verstreichen, bis ich schließlich meine Liebe zum Lesen entdeckte. Bereits damals waren es die fantastischen Geschichten, die mich in ihren Bann zogen. Die bald darauf folgenden ersten eigenen Schreibversuche waren nicht unbedingt von Erfolg gekrönt - und so verlor ich diese Leidenschaft für die Dauer der Grundschul- und Realschulzeit beinahe völlig aus den Augen. Erst danach, als ich aus beruflichen Gründen gezwungen war, etliche Stunden im Zug zu verbringen, kehrte der Schreibhunger zurück. Seitdem bringe ich in jeder freien Minute Zeile um Zeile zu Papier, um düstere und vor allem fantastische Erzählungen in den Köpfen der Leser zum Leben zu erwecken.

Das BuchTeil 2 der fantastischen Saga um Lennox und Nea!  Die große Schlacht gegen Constantin und sein Dämonenheer ist vorbei. Lennox ist tot. Aber er ist auch lebendig, denn er befindet sich in einer Zwischenwelt zwischen Leben und Tod. Verzweifelt versuchen die Menschen dort, wieder ins Reich der Lebenden zurückzukehren, doch der Preis ist hoch. Gemeinsam mit Greta und Kira, die auch zu »den Ewigen« gehören, versucht er, aus dieser Welt zu entkommen – einzig, um Nea wiederzusehen. Währenddessen vergeht Nea vor Trauer um ihren Lennox. Unschlüssig, wohin sie als Blutsklavin nun gehen soll, schließt sie sich der Bruderschaft an. Doch auch hier gibt es Probleme: Immer mehr Dämonen versetzen die Dörfer in Angst und Schrecken. Der heimtückische Victor, der die Macht über die Länder an sich reißen möchte, hat einen Parasiten entwickelt, der die Toten wieder zum Leben erweckt und sie in blutrünstige Monster verwandelt. Gemeinsam zieht Nea mit der Bruderschaft los, um ein Gegenmittel zu finden - und ganz tief im Inneren hat sie auch nicht die Hoffnung aufgegeben, irgendwie auf dem Weg Lennox wieder zu begegnen ...  Von Patrick Hamann ist bereits bei Midnight erschienen: Die Nacht der Krähe – Funkenflug. 

Patrick Hamann

Die Nacht der Krähe – Feuersturm

Roman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Dezember 2015 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-044-3  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Wintertränen

Der ersten Schneeflocke folgte eine zweite und eine dritte. Sanft rieselten sie nieder und lösten sich im Schlamm augenblicklich auf.

Nea ließ Lennox´ leblosen Körper zu Boden gleiten. Starr blieb er liegen und seine Augen blickten hinauf in den grauen Himmel. Noch immer hallten Lennox´ letzte Worte durch die kalte Luft: »Ich liebe dich.«

Mit spitzen Fingern schloss Nea seine Augenlider. Sie scherte sich nicht um das Blut, das aus seinem Körper rann und ihre Arme benetzte.

Ein kalter Hass strömte plötzlich durch ihren Körper. Sie wollte aufspringen und um sich schlagen. Doch sie blieb am Boden. Mit Tränen in den Augen musterte sie Lennox´ Gesicht. Er lag so friedlich da, als würde er schlafen. Der Wind spielte mit seinen schwarzen Haaren, deren Spitzen sich vom Matsch bereits braun verfärbt hatten. Seine Haut war noch so warm, dass die Schneeflocken schmolzen, sobald sie darauf landeten. Doch das würde sich bald ändern.

»Es tut mir leid.«

Wie aus unendlicher Ferne drangen die Worte an ihr Ohr. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte niemand zu sprechen gewagt. Zu groß war das Entsetzen gewesen, als Lennox plötzlich in die Knie gesunken war, die Hände auf die Stichwunde in seinem Bauch gepresst.

»Es tut dir leid?« Mit einem wütenden Aufschrei wirbelte Nea herum und sprang gleichzeitig auf die Beine. Hasserfüllt sah sie Gregor an, der von zwei kräftigen Männern festgehalten wurde und sich kaum regen konnte. Seine Augen blickten tatsächlich entschuldigend, doch das Blut an seinen Händen sprach eine andere Sprache.

»Der einsame Schlachter …«, stammelte er mit trockener Stimme. »Ich hatte keine Wahl.« Auch über seine Wange rann eine Träne.

Nea zuckte zusammen. Sie kannte den einsamen Schlachter. Damals, als alles begonnen hatte. Mit unbarmherziger Wut explodierten die Bilder wieder in ihrem Gedächtnis. Sie sah den Schlachter vor sich, der liebend gern Dämonenschädel als Masken trug. Sie erinnerte sich, dass er versucht hatte, sie zu töten. Doch Lennox hatte sie damals gerettet. Den Leib des Irren durchbohrt, sodass er tot zu Boden gesunken war.

»Es gibt keinen einsamen Schlachter mehr«, flüsterte sie.

Doch Gregor schüttelte traurig den Kopf. »Er lebt. Der einsame Schlachter lebt.«

Wütend ballte Nea ihre Hände zu Fäusten. »Du hast deinen eigenen Bruder getötet! Und jetzt willst du mir erzählen, dass …«

»Er hat mich dazu gezwungen!«, fiel Gregor ihr ins Wort. »Er hat mir das Augenlicht geschenkt unter der Bedingung, dass ich den finsteren Reiter töte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass Lennox dieser finstere Reiter ist. Doch ich hatte keine Wahl!«

»Es gibt immer eine Wahl.« Nea wandte sich ab. Es hatte keinen Zweck, mit dem Irren zu diskutieren. Seine Tat bereuen wollte er anscheinend nicht, und seine Worte waren nichts als Lügen. Der einsame Schlachter war längst tot.

»Du kannst es nicht verstehen!«, rief Gregor, doch sie ignorierte seine Worte. Mit pochendem Herzen sah sie sich um. Friedlich und still lag das Schlachtfeld da, eingehüllt in einen Mantel aus immer dichter werdendem Schnee. Die Luft war eisig, und ihr Atem stand in Form einer weißen Wolke vor ihrem Mund.

Zwischen den Ruinen der Stadt verteilt, lagen die reglosen Körper der gefallenen Krieger. Es waren so viele Menschen, die in diesem Kampf ihr Leben gelassen hatten. Zerrissen von den Dämonen.

Irgendwo zwischen ihnen lag auch Constantin. Lennox hatte ihn getötet. Noch immer hatte Nea diese Auseinandersetzung vor Augen.

Schaudernd trat sie an Lennox´ Leichnam vorbei. Der Geruch nach Blut strömte aus allen Richtungen in ihre Nase. Etwas in ihrem Inneren regte sich. Sie spürte plötzlich einen unstillbaren Durst, wollte sich auf die nächste Leiche stürzen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen. Wer hatte sich lautlos an sie herangeschlichen?

»Er hat viel von dir erzählt«, raunte eine männliche Stimme in ihr Ohr. »Du hast ihm unglaublich viel bedeutet. So viel, dass er sich über alle Gefahren und Gesetze hinwegsetzte, um dich wiederzusehen.«

»Du bist Kron, habe ich recht?«, fragte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen.

»Ja.«

»Warum hat Gregor das getan? Warum?«

»Er stammelt unverständliche Sätze. Wir sollten einige Tage verstreichen lassen, bevor wir erneut versuchen, ihn zu befragen.«

»Er soll am Leben bleiben?«

»Wir können ihn auch auf der Stelle umbringen, wenn es dein Wunsch ist. Nur wird er uns dann niemals sagen können, was ihn dazu gebracht hat, seinen eigenen Bruder zu erstechen.«

Nea nickte. »Verschont ihn. Vorerst.«

Hinter ihr wurden die Stimmen wieder laut. Die Menschen lösten sich langsam aus ihrer Schockstarre. Einige realisierten erst jetzt, was tatsächlich geschehen war. Innerhalb weniger Augenblicke entstand ein undurchdringliches Geflecht aus geflüsterten Worten und gebrüllten Sätzen. Und doch schien die Zeit auf sonderbare Weise stillzustehen. Alles wirkte falsch und unecht. Die zahlreichen Schneeflocken, die auf Neas Haut landeten, spürte sie nicht einmal.

Flüchtig wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht. Rasch entfernte sie sich einige Schritte. Den Gedanken, neben Lennox´ Leichnam zu stehen, konnte sie nicht länger ertragen. Kron rief noch irgendetwas, doch sie wollte ihn nicht mehr hören und nicht mehr sehen. Sie wollte nur noch weg. Wohin auch immer. Doch sie wusste gleichzeitig, dass sie nicht gehen würde, bevor Gregor nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Ziellos irrte sie zwischen den zerstörten Gebäuden umher. Sie stieg über die Toten, obwohl sie am liebsten die schutzlosen Hälse anfallen und vom langsam erkaltenden Blut trinken wollte. Alles in ihr wehrte sich gegen diesen Wunsch. Sie war angewidert von sich selbst. Angewidert von dem Leben als Blutsklavin. Und es gelang ihr, ihre Gier zu unterdrücken. Sie schritt in Erinnerungen schwelgend über das Schlachtfeld. Die Zeit verstrich. Bald schon begann die Abenddämmerung sich über das Land zu legen. Die Menschen zogen sich aus der verwüsteten Stadt zurück. Die Gefallenen hingegen blieben liegen.

Mit Genugtuung musterte Victor das Schlachtfeld. So viel Leid, so viel Tod. Die Dämonen hatten furchtbar unter den Kriegern der Bruderschaft gewütet und etliche in die ewige Finsternis gerissen. Von Anfang an hatte Victor gewusst, dass es zu dieser gewaltigen Schlacht kommen würde. Der Leitwolf hatte geglaubt, die Überraschung auf seiner Seite zu haben – doch letztlich waren sie alle Opfer einer diabolischen Intrige geworden.

Grinsend stieß Victor mit der Fußspitze einen leblosen Körper zur Seite. Er spürte ein Kribbeln in seinem Körper. Und mit jedem Schritt, den er tiefer in die Ruinen des einstigen Ragtoras eindrang, wurde dieses Kribbeln intensiver und mächtiger.

Schließlich blieb er stehen. Er senkte den Blick. Dort lag er vor ihm. Constantin. Oder wenigstens die Gestalt, bei der es sich einmal um Constantin gehandelt haben musste. Von seinem gespaltenen Gesicht war kaum noch etwas zu erkennen. Es war vielmehr eine undefinierbare Masse aus Blut und Knochen, aus Schlamm und bitteren Tränen.

»Du hast deine Aufgabe erfüllt«, flüsterte Victor. »Ich bin dir sehr dankbar.«

Natürlich erwartete Victor keine Antwort. Dennoch war er beinahe ein wenig enttäuscht, als eins von Constantins Augen nach wie vor starr in den Nachthimmel und das andere in die Ruinen der Stadt blickte.

Victor ging in die Knie. Er tastete nach der Brust des einstigen Statthalters von Ragtoras. Mit einem Ruck riss er den Stoff des Oberteils auseinander. Die Haut darunter war kalt. Eiskalt.

»Und nun gibst du mir zurück, was rechtmäßig mir gehört.« Seine Finger gruben sich in den Leib des toten Mannes. Die spröde Haut riss, und dickflüssiges, schwarzes Blut sickerte hervor. Victor musste auch seine zweite Hand einsetzen, um Constantins Brustkorb auseinanderzureißen. Doch dann schimmerte es einladend vor seinen Augen. Das Herz des Dämonenfürsten. Zärtlich tasteten Victors spitze Finger danach.

»Ich habe dich vermisst«, flüsterte Victor. Das Herz zog sich zusammen und weitete sich wieder, als wollte es ihm antworten. »Und du hast mich ebenso vermisst, ich weiß.«

Lächelnd entfernte er das Dämonenherz aus der geöffneten Brust. Es lag warm und weich in seiner Hand. Es machte ihn stark. Er spürte die Kraft, die nun durch seinen eigenen Körper strömte.

Beinahe liebevoll legte er seine Finger auf Constantins Augenlider.

»Vielen Dank, dass du die Wirkungsweise des Herzens für mich getestet hast. Und nun, endlich, kannst du deine wohlverdiente Ruhe finden.« Vorsichtig schloss er Constantins Augen. »Ich wünsche dir angenehme Träume.«

Lächelnd stand er auf und entferne sich rasch einige Schritte. Das Herz in seinen Händen umschloss er zärtlich und hielt es an seine eigene Brust, um den rhythmischen Puls zu spüren.

Ein dumpfes Rasseln ließ ihn aufhorchen. Er hob den Kopf und sah sich um. Die Nacht lag noch wie ein düsterer Schleier über dem Land. Doch der Mond tauchte die Ruinen in ein mystisches, blaues Zwielicht.

»Es wird Zeit, dass ihr unfähigen Bastarde aus euren Verstecken gekrochen kommt«, rief Victor. »Eure Arbeit ist noch nicht erledigt!«

Schlurfende Schritte erklangen hinter ihm, doch er drehte sich nicht um. Schweigend wartete er ab. Bald schon konnte er die ersten Dämonen erkennen, die in den schmalen Gassen erschienen. Sie kletterten rasch herbei, und schon bald war der Marktplatz gefüllt. Überall waren wenige Augenblicke später die deformierten, unheimlich anmutenden Kreaturen zu sehen. Das Horn ihrer Panzer schimmerte im Mondlicht, Kauwerkzeuge, Zangen und Krallen blitzten bedrohlich.

Es waren keine weiteren Befehle vonnöten. Die Dämonen wussten, was sie zu tun hatten. In Horden fielen sie über die zahlreichen Leichen her. Für eine Weile war die Nacht erfüllt von schaurigem Knirschen und Schmatzen. Tote Körper wurden über den Boden geschleift, einzelne Menschen aus den Leichenbergen gezogen. Haut und Sehnen rissen, die Klauen der Dämonen wühlten sich in das noch warme Fleisch der Gefallenen. Schließlich jedoch wurde es wieder still.

Victor wandte sich um. Bedächtigen Schrittes näherte er sich einem der Stadttore. Die Schar von Dämonen setzte sich ebenfalls in Bewegung. Und die Toten, die Gefallenen, stemmten sich aus dem tiefen Schlamm. Infiziert mit dem ein unseliges Leben bringenden Parasiten, erhoben sie sich auf wackeligen Beinen und folgten ihrem Gebieter.

Erfüllt von einer gewissen Euphorie warf Victor einen Blick über die Schulter. Seine Armee wuchs mit jedem Atemzug. Eine einzigartige Streitmacht, bestehend aus Dämonen und auferstandenen Menschen. Einigen fehlten Gliedmaßen, ihre Körper waren durchbohrt und zerschnitten. Und dennoch würden sie schon bald das Land überrennen, die Bruderschaft gänzlich vernichten. Die kleinen Dörfer würden untergehen, und schließlich auch die Welt hinter dem Gebirge.

Er bekam seine verdiente Rache. Endlich. Nach so langer Zeit.

Längst wusste er, wohin er seine Streitmacht zu führen hatte. Fort von Ragtoras, fort von der Bruderschaft. Tiefer hinein in das Land, um dort in Seelenruhe die letzten Vorkehrungen zu treffen.

Noch gab es die mächtigen Gelehrten der Bruderschaft, die sicher Widerstand leisten würden. Doch auch sie würde er bezwingen. Früher oder später. Über die nötigen Mittel verfügte er längst.

Der Parasit, mit welchem er die Toten wieder zum Leben erwecken konnte, trug einen großen Teil zu seinem Erfolg bei.

»Bald werdet ihr bittere Tränen vergießen«, zischte er mit freudigem Glanz in den Augen. »Eiskalte Wintertränen.«

Ich schwor einst, ich vergieße nieTränen nur für dich allein, doch an diesem Tage fließen sie, Wintertränen, kalt wie grauer Stein.

Gebrochene Seelen

Wieder und wieder sah er sie vor sich – die tanzende Schneeflocke. Wild schaukelte sie von einer Seite zur anderen, der Wind riss sie von links nach rechts. Dann legte sie sich kalt auf seine Wange, schmolz zu kühlem Wasser.

»Ich liebe dich.«

Wie ein niemals endendes Echo hallten Neas Worte in seinem Ohr nach. Doch nur noch schwarze Schleier tanzten vor seinen Augen. Die Wunde in seinem Bauch schmerzte längst nicht mehr. Sie war klein und unwichtig, bedeutungslos. Dennoch wollte er sich winden, doch Lennox war wie gefesselt. Schweigend musste er dem flüsternden Wind lauschen, die unbarmherzige Kälte ertragen.

Alle Stimmen um ihn herum waren verschwunden. Von einem Strudel aus ewiger Stille verschlungen, um ihn nie mehr daran erinnern zu können, was ihm gelungen war.

Er schlug die Augen auf.

Graue Wolken mit goldenen Rändern hingen am düsteren Himmel. Sie bewegten sich nicht, sondern standen ganz still. Die Zeit schien nicht zu verstreichen.

Langsam drehte Lennox den Kopf zur Seite. Er lag auf einer grünen Wiese, an deren Rand einige knorrige Bäume standen. Ragtoras schien verschwunden zu sein. Alle Menschen ebenso. Nea, Kron – Gregor.

Er musterte seine eigene Hand, seine gekrümmten Finger. Blut und Dreck hafteten daran, doch er trug keine Waffe mehr bei sich. Als stünde es sinnbildlich für das Aushauchen seines Lebens, so war seinem Griff jegliches Verteidigungswerkzeug anscheinend entglitten.

Seine Fingerspitzen zuckten. Es gelang ihm, seinen Arm zu bewegen.

»Lebe ich?«, fragte er mit dünner Stimme. Dann drehte er den Kopf zur anderen Seite. Es gab niemanden, der ihm antworten konnte. Nur die alten Bäume schienen, als beäugten sie ihn kritisch, als musterten sie den fremden Eindringling in ihrer stillen Heimat misstrauisch.

Er lebte. Es gelang ihm, den Oberkörper langsam in die Höhe zu stemmen. Als er an sich hinabblickte, suchte er vergebens nach der Wunde in seinem Bauch. Er war unversehrt. Lediglich der Stoff seines Oberteils war zerrissen, und eine blutige Kruste haftete daran.

Er spürte keinerlei Schmerzen. Alles schien, als hätte er die vergangenen Ereignisse nur geträumt.

Er stand auf, rief willkürlich einige Namen. Das Echo hallte tausendfach über die einsame Lichtung. Doch nicht einmal erschrockene Krähen stoben auf und flatterten protestierend davon. Er war ganz allein. Allein mit sich selbst und seinem langsam wachsenden Unbehagen.

Ein erneuter Blick in den Himmel ließ die Frage aufkeimen, ob Tag oder Nacht herrschte. Das sonderbare Zwielicht gab darauf keine eindeutige Antwort. Hinter den Wolken konnte die Sonne oder der Mond leuchten.

Lennox war sich sehr sicher, dass er diesen Ort nicht kannte. Keinen Erinnerungsfetzen brachte er in Zusammenhang mit der Lichtung oder den knorrigen Bäumen.

»Wo bin ich?« Unbeantwortet hallte seine Frage durch die bedrückende Finsternis. Eine Windböe kam auf, raschelte im Geäst der Bäume. Die Böe wurde schwächer, ebbte ab. Das Rascheln blieb. Es wurde lauter, immer lauter. Schritte! Daran gab es keinen Zweifel. Schwere Schritte bahnten sich ihren Weg durch das Labyrinth aus knorrigen Bäumen.

Lennox lächelte. Sicherlich kamen Menschen, die er kannte, um ihm zu erklären, was das alles zu bedeuten hatte.

»Sorge dich nicht«, würden sie sagen, »alles ist gut. Constantin ist tot, und du lebst.« Und dann würde Nea erscheinen und nach seiner Hand greifen. Gemeinsam würden sie davonlaufen, in eine bessere Welt, um dort ein besseres Leben zu leben.

Ein kräftiger Mann trat aus dem Schatten des Waldes. In einer Hand hielt er ein mächtiges Schwert, die andere hatte er lässig in seiner Hosentasche vergraben.

»Kron?«, fragte Lennox. Der Mann antwortete nicht. Er trat einen Schritt näher. Es war nicht Kron. Weitere Männer sprangen auf die Lichtung. Sie alle waren von ähnlicher Statur, trugen ähnliche Waffen und waren ähnlich schweigsam. Was wollten sie?

»Wer seid ihr?«

Sie kamen näher, ohne ihre Waffen zu senken. Langsam schoben sie sich in das schwache Licht, das seinen Weg an den Wolken vorbei auf den Erdboden fand. Ihre Gesichter schälten sich aus der Dunkelheit.

Sie blickten finster. Zu wütenden Fratzen hatten sie ihre Antlitze verzerrt, und von den Augen ging keinerlei Glanz aus. Im Gegenteil. Die Augen wirkten schwarz, pechschwarz.

Die Brust des ersten Mannes hob und senkte sich hektisch. Seine Finger trommelten eine unruhige Melodie auf dem Griff des Schwertes.

»Wer seid ihr?«, fragte Lennox noch einmal.

»Dein Ende«, brummte der Anführer des unheimlichen Grüppchens. Er hob sein Schwert so weit an, dass die Spitze auf Lennox´ Brust wies.

»Sagt mir doch einfach, was ihr wollt!« Abwehrend hob Lennox die Hände und stolperte rückwärts. Hastig sah er sich nach seinem eigenen Schwert um, doch er konnte es nicht finden.

Der Mann trat näher, und seine stummen Gefolgsleute taten es ihm nach.

»Deine Seele«, brummte der Mann.

»Tut mir leid.« Lennox rang sich ein gequältes Grinsen ab. »Aber die werdet ihr nicht bekommen.« Noch im selben Moment wirbelte er herum, stolperte beinahe über seine eigenen Füße und lief mit wehenden Haaren davon. Als er jedoch einen Blick über die Schulter warf, stellte er erschrocken fest, dass die Männer ihm folgten. Anscheinend war es ihnen tatsächlich ernst. Deine Seele, hallten die Worte in Lennox´ Schädel nach. War das ein schlechter Witz? Warum befanden diese Männer es für lustig, Scherze mit ihm zu treiben, wo sie ihn doch töten wollten?

Der Rand des Waldes aus knorrigen Bäumen ragte vor Lennox in die Höhe. Ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, suchte er nach einem Weg oder wenigstens einem schmalen Trampelpfad, dem er folgen konnte. Doch er wurde nicht fündig. So musste er sich schließlich wahllos in das Gebüsch stürzen und hoffen, dass er sich nicht im nächsten Erdloch beide Beine brach.

Vorerst hatte er allerdings Glück. Mit ausgebreiteten Armen tauchte er ein in das Dickicht, und tief hängendes Geäst peitschte ihm ins Gesicht. Allerdings landete er aufrecht und konnte den Schwung seines Sprungs schnell abfangen. In einer geschmeidigen Bewegung setzte er über einige Äste am Boden hinweg und bahnte sich einen Weg zwischen den dicht an dicht stehenden Stämmen hindurch. Es war offensichtlich, dass er in diesem Terrain seinen Verfolgern gegenüber im Vorteil war. Er konnte sich durch schmale Lücken zwängen. Die kräftigen Männer jedoch waren zu breit gebaut, um es ihm gleichzutun. Dass er sich bei seiner Vermutung nicht irrte, verriet das laute Fluchen, das wenig später hinter ihm erklang. Es raschelte und polterte, als würde sich ein gewaltiges Untier einen Weg durch den Wald bahnen. Dann jedoch waren Geräusche zu hören, als schlüge Metall auf Holz.

Lennox´ Herz übersprang einen Schlag. Anscheinend nutzten die Männer ihre Schwerter, um die Baumstämme aus dem Weg zu räumen.

Eine Lichtung erschien vor ihm. Er warf einen raschen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass er anscheinend einen gewissen Vorsprung errungen hatte. Mit ausgreifenden Schritten überquerte er die Lichtung, um an deren Ende erneut in die Finsternis des Waldes einzutauchen. Dann blieb er mit pochendem Herzen stehen. Keuchend lehnte er sich an einen Baum und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er lauschte. Noch immer trampelten die Männer durch den Wald. Sie riefen sich wütende Befehle zu, die er nicht verstand.

Endlich bekam Lennox die Zeit, über die vergangenen Ereignisse nachzudenken. Er fragte sich, welches sonderbare Spiel mit ihm gespielt wurde. Welche Bedeutung hatten die Männer, und welches Interesse hegten sie daran, ihn umzubringen? Überhaupt erschien ihm in diesem Moment alles unwirklich und falsch. Er durfte nicht hier sein. Er sollte im vernichteten Ragtoras liegen, zwischen all den Leichen und Trümmern. Undeutlich erinnerte er sich daran, in Neas Armen gelegen zu haben. Er erinnerte sich an Gregors entschuldigenden Blick. Es tut mir leid. Ich musste es tun.

Wütend schüttelte er den Kopf. Es hatte keinen Zweck, verzweifelt nach einer Antwort zu suchen. Er war sich sicher, dass er sie nicht finden würde. Wenigstens nicht in absehbarer Zeit. Vorerst schien es sein Schicksal zu sein, alle Kraft aufzuwenden, um den Männern zu entkommen. Das ohrenbetäubende Poltern verriet ihm, dass sie die Verfolgung längst noch nicht abgebrochen hatten.

Lennox löste sich aus seiner starren Haltung und lief weiter. Vorsichtiger und leiser diesmal, denn er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Und es führte ihn weiter durch das Dickicht des Waldes.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als sich vor ihm plötzlich der Waldrand offenbarte. Mit pochendem Herzen trat er hinaus aus dem Gebüsch. Und wieder brauchte er einige Augenblicke, um das Bild auf sich wirken zu lassen.

Vor ihm lag ein felsiges Areal, das sonderbar finster und angsteinflößend wirkte. Es gab einige übergroße Gesteinsbrocken, die wie willkürlich verstreut in der Landschaft lagen. Einige von ihnen waren so gewaltig, dass sie Bergen glichen, deren Spitzen in der Finsternis am Himmel zu verschwinden schienen. Andere waren vergleichsweise klein. Doch eine Eigenschaft teilten sie sich: Um jeden dieser Brocken wand sich eine steinerne Treppe, die anscheinend hinauf bis zum höchsten Punkt führte. Die Stufen wirkten uneben und nicht sehr sorgfältig gearbeitet. Einige waren gesprungen oder beinahe gänzlich abgebrochen. Dennoch war der Anblick beeindruckend.

Langsam trat Lennox heran. Seine Verfolger hatte er vergessen. Sie spielten plötzlich keine Rolle mehr. Seine Aufmerksamkeit galt ausnahmslos der sonderbaren Landschaft, die sich vor ihm erstreckte.

Er näherte sich einer der Treppen. Mit der Fußspitze betastete er die erste Stufe, zögerte einen Moment und trat dann hinauf. Er hatte sich einen der kleineren Felsbrocken ausgesucht. Er beschloss, die Treppe zu erklimmen. Vielleicht hatte er von oben einen besseren Überblick und konnte sich orientieren – im besten Falle sogar herausfinden, an welchen eigenartigen Ort es ihn geführt hatte.

Seine Erschöpfung wurde von der Neugierde verdrängt, als er die Stufen hinaufeilte. Mit großen Schritten folgte er der Treppe, die sich um den Felsen wand. Und wenige Augenblicke später erreichte er den höchsten Punkt. Er trat auf ein breites Plateau, in dessen Mitte sich ein Hügel aus Schutt und zerbrochenen Steinen befand.

Zuerst allerdings trieb es ihn an den Rand der Plattform. Er ließ seinen Blick schweifen. Zu seinen Füßen lag nun der Wald, durch den er soeben gelaufen war. Das laute Fluchen der Männer drang noch immer an sein Ohr. Sie schienen auf der richtigen Fährte zu sein, was ihm Unbehagen bereitete. Er riss seinen Blick vom Wald los. In alle anderen Richtungen erstreckte sich das felsige Areal. Aus den übergroßen Gesteinsbrocken wurden schon bald echte Berge. Gewaltig und majestätisch, so wie er es aus zahlreichen Erzählungen kannte. Doch er konnte weder Ragtoras noch Emphorika erblicken. Als er sich hilflos im Kreis drehte, stellte er sogar fest, dass die Berge in weiter Ferne bunt zu leuchten schienen. Von ihren Spitzen ging ein seltsamer rötlicher Glanz aus, und weiter unten leuchteten sie blau. Für einen Moment stockte ihm der Atem, als er dieses Bild in sich aufsog. Dann jedoch rissen ihn die Stimmen der Männer wieder aus seinen Gedanken. Sie kamen näher, immer näher. Bald schon würden sie den Waldrand erreichen. Lennox überlegte. Er durfte es nicht riskieren, auf dem Felsbrocken auszuharren. Wenn sie ihn entdeckten, gäbe es keine Fluchtmöglichkeiten. Er konnte hinunterspringen, doch ein prüfender Blick verriet ihm, dass er am Boden unweigerlich zerschellen würde. Also blieb nur die schnelle Flucht die Stufen wieder hinab. Dann, so spann er den Gedanken weiter, musste er tiefer in das Gebirge vordringen. Er bezweifelte, dass er seinen Verfolgern dermaßen wichtig war. Sicherlich würde er bald schon entkommen.

Er wollte einen Fuß auf die erste Stufe der Treppe setzen – in diesem Moment erschien etwas weiter unten ein grimmig blickender Mann. Breit war er gebaut, und das wuchtige Schwert in seinen Händen verriet, dass er gewaltbereit war. Seine schmutzigen Finger schmiegten sich um den Griff, und aus seinen pechschwarzen Augen musterte er Lennox. Ein Grinsen umspielte seine Lippen.

»Deine Flucht ist beendet«, brummte er mit tiefer Stimme. Um die Wirkung seiner Worte zu unterstreichen, hob er die gewaltige Klinge um eine Winzigkeit an. Mit beiden Händen musste er die übergroße Waffe umklammern.

Lennox trat langsam einige Schritte zurück. Panisch suchte er nach einem Ausweg, doch er konnte nicht entkommen. Der Mann versperrte den einzigen Fluchtweg. Und er erklomm in Seelenruhe die letzten Stufen.

»Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?«, fragte Lennox noch einmal. »Ich habe nichts bei mir, für das es sich zu töten lohnte.«

Der Mann lachte bellend und präsentierte dabei seine schiefen, gelben Zähne. Er trat nun ebenfalls auf das Plateau. In Lennox festigte sich der Hauch eines Fluchtgedankens. Er musste den Mann vollends auf die Plattform locken. Wenn er schnell genug war, konnte er ihn hinter den Hügel aus Schutt führen, der sich in der Mitte des Plateaus befand. Zwei rasche Schritte würden ihn schließlich zur Treppe befördern, und er musste nur noch abwärts laufen. Ein Plan, der nicht auf unglaublicher Weisheit beruhte, für den Augenblick allerdings mehr als zweckmäßig erschien. Also zögerte Lennox nicht länger. Er gab vor, ängstlich zurückzuweichen – in Wahrheit allerdings tastete er sich langsam an den hinteren Rand des Plateaus. Und der Mann fiel darauf herein. Er ließ die Treppe hinter sich, ohne zu bedenken, dass er auf diese Weise den Fluchtweg freigab.

Kalter Schweiß stand auf Lennox´ Stirn. Vorsichtig ließ er seine Fußspitze über den Boden gleiten, bis er schließlich die gefährliche Kante fand. Ein weiterer Schritt zurück würde seinen Sturz in den sicheren Tod bedeuten. Von nun an musste er sich also seitwärts bewegen.

»Sei besser vorsichtig«, brummte der Mann, »sonst fällst du hinunter.«

»Und welchen Unterschied würde das machen?«, provozierte Lennox ihn grollend. Demonstrativ blickte er in die Tiefe. »Ich könnte einfach springen. Das wäre sicherlich besser.«

»Ich möchte dich nicht daran hindern.« Das Grinsen des Mannes wurde breiter. Die Schwertspitze richtete er auf Lennox´ Brust. »Im Gegenteil. Es würde mir und dir den unangenehmsten Teil unserer Begegnung ersparen.«

Weiter auf die Plattform hinauf würde er ihn kaum locken können. Lennox atmete tief durch, spannte seine Muskeln an – und warf sich dann zur Seite. Überrascht zuckte der Mann zusammen, im nächsten Moment zischte sein Schwert durch die Luft. Sein Hieb ging jedoch ins Leere.

Lennox sprang an dem Hügel aus Schutt und Gestein vorüber. Ein gewaltiger Schritt, ein weiterer. Die Treppe rückte in greifbare Nähe.

Wie ein Schraubstock umklammerten die Finger des Mannes plötzlich sein Bein. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Hart schlug er mit dem Kinn auf den Stein. Helle Blitze zuckten vor seinen Augen. Der Mann lachte.

Keuchend drehte Lennox sich auf den Rücken. Mit Schrecken musterte er das gewaltige Schwert, welches über seinem Gesicht zitterte. Der Mann stand breitbeinig da, richtete die Waffe auf sein Antlitz. Wie der Schatten eines Monsters wirkte er plötzlich, so bedrohlich wie der Tod selbst. Und daran, dass seine Waffe unweigerlich den Tod bringen würde, gab es keinen Zweifel.

Lennox tastete hektisch nach dem Hügel aus Schutt. Er hoffte, einen Stein zwischen die Finger zu bekommen, den er werfen konnte.

Seine Haut schrammte über den schroffen Untergrund. Dann spürte er etwas Schmales, Kaltes – Metall. Er schloss seine Hand darum. Mit einem Ruck zog er den Gegenstand aus dem Schutthaufen – und erschrak selbst, als er plötzlich ein schlankes, glänzendes Schwert nach oben streckte.

Flüchtig nur glitt sein Blick über die pechschwarze Klinge, auf der mysteriöse Runen und verworrene Zeichnungen zu finden waren.

Ebenso überrascht wirkte der Mann, der über ihm stand. Für einen kurzen Augenblick war Unglauben in seinem Antlitz zu erkennen.

Lennox schlug zu, ohne einen weiteren Atemzug zu verschwenden. Wie ein schlanker Dämon zischte seine Klinge durch die Luft. Sie traf den Schwertarm des Mannes. Geschmeidig wurden Haut und Fleisch, Sehnen und sogar Knochen durchtrennt. Die Hand mitsamt der gewaltigen Waffe stürzte zu Boden, noch bevor der Mann aufschreien konnte. Augenblicklich sprudelte Blut aus dem Armstumpf. Noch ein weiterer Moment des Unglaubens musste verstreichen, ehe der Mann endlich zurückstolperte. Mit aufgerissenen Augen musterte er abwechselnd seinen blutüberströmten Arm und dann die Hand auf dem Boden.

Lennox sprang auf die Beine. Er richtete die Klinge auf die Brust des Mannes. Wütend blickte er in die schwarzen Augen.

»Du hast gewonnen«, flüsterte der Mann erschöpft. Lennox zögerte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, einen wehrlosen Menschen zu töten. Er machte Anstalten, seine Waffe sinken zu lassen.

»Töte mich!«, zischte der Mann, als er dies bemerkte. »Beende es, sonst werden dich die anderen Seelenjäger in Stücke reißen.«

»Die anderen …« In Lennox’ Schädel tobten unzählige Gedanken, doch mit dem Begriff Seelenjäger vermochte er nichts anzufangen. Wütende Befehle rissen ihn jedoch aus seinen Gedanken. Die anderen Männer hatten den Waldrand erreicht.

»Entschuldige«, flüsterte Lennox. Dann stieß er die Schwertklinge in die Brust des Mannes. Dunkles Blut quoll aus der Wunde hervor. Die Hände des Mannes umklammerten das kühle Metall, das aus seinem Körper ragte. Keuchend sank er in die Knie.

Lennox zog das Schwert aus dem Leib. Überstürzt stolperte er an dem Sterbenden vorbei und eilte mit übergroßen Schritten die Treppenstufen hinab. Das schwere Keuchen folgte ihm, bis er schließlich den Erdboden erreichte. Dort jedoch überkamen ihn wieder völlig andere Sorgen. Hektisch sah er sich um. Die zahlreichen Gesteinsbrocken bildeten ein regelrechtes Labyrinth. Diese Tatsache konnte sich sowohl als Vorteil als auch als Nachteil erweisen. Wenn er schnell genug war, konnte er sich ein sicheres Versteck suchen – oder aber aus einem der zahlreichen Gänge überrascht werden. Mit einem Kopfschütteln schleuderte er alle Zweifel davon. Er eilte einige Schritte in eine zufällige Richtung und huschte hinter den nächsten Felsbrocken. Ein kurzer Blick ließ ihn erkennen, dass er allein und offenbar unbemerkt geblieben war. In einiger Ferne hörte er zwar die schweren Schritte der Männer, doch keiner von ihnen schien ihn gesehen zu haben. Erleichtert atmete Lennox auf. Ein rasselndes Keuchen entrang sich seiner Kehle. Die vergangenen Augenblicke hatten mehr von ihm gefordert, als er zu ertragen in der Lage war. Er presste seinen Rücken an die kühle Felswand und sank langsam in die Knie. Dann hob er das Schwert an, das ihm gerade im richtigen Augenblick in die Hände gefallen war. Er musterte die Waffe eine Weile.

Es war anscheinend ein kostbares Exemplar. Der Griff war pechschwarz und mit einem weichen Material umwickelt, sodass er gut in der Hand lag. Die Parierstange war ebenso schwarz. Sie war dünn und beschrieb auf einer Seite einen spitz zulaufenden Bogen, der den Rücken der Schwerthand schützte. Eine ausgefeilte Konstruktion, wie Lennox lächelnd feststellte.

Das Beeindruckendste allerdings war die Klinge. Sie war schlank und lang, länger noch als Lennox' ausgestreckter Arm. Außerdem war sie nicht völlig gerade. Direkt über dem Schaft war sie relativ breit. In einem Bogen wurde sie jedoch zur Mitte hin schlanker. Zahlreiche Einkerbungen ließen erkennen, dass unzählige Tage schweißtreibender Arbeit in die Anfertigung der Waffe geflossen sein mussten. Die sonderbaren Runen und Verzierungen trugen ihr Übriges dazu bei.

Vorsichtig ließ Lennox seinen Daumen über die Klinge gleiten. Sofort quoll helles Blut aus einer kleinen Wunde. Es sickerte in einem dünnen Rinnsal über die Klinge und blieb schließlich in einer der Einkerbungen haften. Auf dem Furcht einflößenden Schwarz der Waffe setzte der rote Tropfen einen farbigen Akzent, der beim ersten Betrachten sofort ins Auge stach. Lennox wischte das Blut nicht ab. Es gefiel ihm.

»Der Bastard muss hier irgendwo sein!« Ohrenbetäubend hallte die tiefe Stimme durch das Labyrinth aus Felsbrocken. »Ich rieche seine verdammte Angst!«

»Vielleicht hat er sich auf einem der Felsen versteckt«, antwortete ein anderer Mann. »Es gibt etliche Möglichkeiten!«

Mit angehaltenem Atem stemmte Lennox sich wieder auf die Beine. Die Männer waren näher gekommen, als er es erwartet hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn zufällig entdecken würden.

Mit einem Schnaufen steckte er die Schwertklinge in die Lasche an seinem Gürtel. Die Waffe saß fest, als hätte man sie eigens für seine Zwecke geschmiedet. Außerdem war sie so leicht, dass sie ihn beim Laufen kaum behinderte.

Mit schnellen Schritten entfernte er sich von seinem Versteck. Er warf einen Blick über die Schulter. Mit Entsetzen stellte er fest, dass in diesem Moment ein Mann den Felsen umrundete, hinter dem er soeben noch gekauert hatte. Wenige Atemzüge längeres Zögern hätte seine unweigerliche Entdeckung zur Folge gehabt.

»Hier ist der Hund!«

Lennox´ Kopf wirbelte in die andere Richtung. Wie ein Titan stand dort einer der Männer, das Breitschwert mit beiden Händen fest umklammernd. Er versperrte den Weg zwischen zwei Felsen hindurch. Rasche Blicke verrieten Lennox, dass es noch einen zweiten Weg gab. Er stürzte in diese Richtung. Hinter ihm erklang das wütende Trommeln von Füßen auf Stein. Jemand folgte ihm. Er blickte nicht zurück.

Auch im letzten verbleibenden Durchgang tauchte plötzlich ein Mann auf. Mit verschränkten Armen baute er sich zwischen den Felsbrocken auf. Ein hämisches Grinsen lag auf seinen Lippen.

Lennox riss das Schwert aus der Lasche an seinem Gürtel. Bedrohlich blitzte die Klinge vor seinen Augen auf. Doch auch der Mann, der ihm den Weg versperrte, zückte seine Waffe. Es handelte sich nicht um ein Breitschwert, wie es seine Kameraden zu tragen pflegten, sondern um eine mächtige Streitaxt. Von derartigen Waffen hatte Lennox bereits gehört, doch nie zuvor hatte er wahrhaftig jemanden gesehen, der damit umzugehen vermochte. Es war allgemein bekannt, dass nur unglaublich kräftige Männer eine Streitaxt führen konnten. Es erforderte eine schier übermenschliche Kraft und viel Disziplin.

Gleichzeitig allerdings zweifelte Lennox nicht daran, dass der Mann sein Handwerk verstand. Sicherlich wusste er mit der wuchtigen Waffe nur zu gut umzugehen.

Er hatte den Krieger beinahe erreicht. Wenige Schritte verblieben noch. Seine Lippen presste er fest aufeinander, sodass sie nur noch einen dünnen Strich bildeten. Mit festem Blick fixierte er den Mann. Alles um ihn herum schien zu verschwimmen. Die Welt versank in einem Strudel aus tiefstem Schwarz. Mit einer geschickten Drehung tauchte Lennox unter dem gewaltigen Hieb des Mannes hindurch. Die Axt zischte über seinem Kopf, für die Dauer eines halben Herzschlages spürte er das kalte Metall an seinem Ohr.

Der Mann taumelte, getrieben vom Schwung seines eigenen Hiebes, an ihm vorüber. Lennox nutzte diesen kurzen Augenblick der Schwäche. Er riss seine eigene Waffe herum. Tief drang die schlanke, wendige Klinge in den muskulösen Leib des Gegners. Dieser stieß einen gurgelnden Schrei aus und sprang gleichzeitig rückwärts. Das Metall fraß sich durch seinen Bauch. Als Lennox seinen Schlag beendete, klaffte im Körper des Mannes eine tiefe, längliche Wunde, aus der dunkles Blut sprühte.

Entsetzt blickte der Mann an sich herab. Unglauben stand in seinen Augen. Erschöpft ließ er seine Streitaxt sinken.

Die anderen Männer eilten heran. Ein flüchtiger Blick verriet Lennox, dass es insgesamt noch sechs an der Zahl waren.

Er konnte nicht gegen alle bestehen.

Während derjenige, den er verletzt hatte, noch mit rasselndem Atem in die Knie sank, wirbelte Lennox herum. Er wollte loslaufen – doch zwei weitere Krieger standen plötzlich vor ihm. Beide hielten ein Breitschwert in der Hand. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie ihn nicht durchlassen würden.

Kopfschüttelnd taumelte er rückwärts. Verzweifelt suchte er nach einem weiteren Ausweg, doch er saß in der Falle. Zu allen Seiten ragten die gewaltigen Felsbrocken in die Höhe. Er konnte nicht entkommen.

Eine kräftige Hand umklammerte plötzlich sein Bein. Er geriet ins Taumeln und musste die Hände zu beiden Seiten ausstrecken, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Schwert entglitt seinen Fingern und fiel klirrend zu Boden.

»Es ist vorbei, du elender Hurensohn«, flüsterte der am Boden liegende Mann, der seine Finger um Lennox´ Bein klammerte. Um seinen Körper herum hatte sich mittlerweile eine beachtliche Pfütze aus dunkelrotem Blut gebildet, doch sein eiserner Griff erschlaffte noch nicht.

Zwei weitere Männer traten an Lennox heran. Die Spitzen ihrer Waffen wiesen auf seinen Körper.

»Du hast tapfer gekämpft«, sagte einer von ihnen mit rauer Stimme. »Und doch wirst du uns nun deine Seele überlassen.«

Gedemütigt ließ Lennox den Blick sinken. Es war vorüber. Er konnte sich nicht mehr wehren. Mit pochendem Herzen starrte er auf die Schwertspitze, die sich plötzlich auf seine Brust legte. Tief atmete er ein und aus.

»Bring es zu Ende!«, keuchte der Verletzte am Boden.

Ein kühler Wind kam auf – ein Todeshauch, der Lennox die schwarzen Haare ins Gesicht peitschte. Schweigend blickte er dem Mann, der ihn gleich töten würde, in die Augen. Pechschwarz waren sie, ebenso wie die Augen seiner Kameraden. Keinerlei Emotion war darin zu erkennen. Kein Mitleid, kein Zweifel – nicht einmal Hass. Nur unendliche Leere. Seelenlosigkeit.

Der Druck auf Lennox’ Brust verstärkte sich. Die Spitze der Waffe drang langsam durch den Stoff seines Oberteils. Das kühle Metall berührte seine Haut. Ein leichter Schmerz folgte.

Ein sirrendes Geräusch unterbrach kurz die angespannte Stille. Im nächsten Moment ragte aus der Stirn des Mannes der Schaft eines Pfeiles. Überrascht taumelte er zurück und ließ seine Waffe sinken. Mit der freien Hand tastete er nach dem Pfeil, der in seinem Schädel steckte. Ungläubig verschmierte er das Blut, das plötzlich an seiner Handinnenfläche haftete. Keuchend blickte er an Lennox vorbei.

Ein zweiter Pfeil jagte heran. Dieser traf den Mann in die Brust. Er taumelte rückwärts, keuchte, flüsterte lautlose Worte. Unendlich langsam sank er zu Boden.

Eine unheimliche Stille begleitete das Schauspiel. Für einige Herzschläge war das Pfeifen des Windes zwischen den Felsbrocken das einzige hörbare Geräusch.

Lennox drehte sich langsam um. Es wurden wütende Stimmen laut. Die Männer mit den schwarzen Augen stürmten an Lennox vorbei, ohne ihn noch weiter zu beachten. Sie schienen plötzlich das Interesse an ihm verloren zu haben.

In einiger Entfernung hatten sich Gestalten aufgebaut. Eine Gruppe aus Männern und Frauen, die unterschiedliche Waffen in den Händen hielten. Ein Mann riss in diesem Moment einen Pfeil aus seinem Köcher, legte ihn auf die Bogensehne und schoss. Der Pfeil jagte so dicht an Lennox vorüber, dass er den Lufthauch an der Wange spürte. Noch im selben Atemzug keuchte hinter ihm irgendjemand erstickt auf.

Die Männer mit den schwarzen Augen warfen sich den Unbekannten entgegen. Plötzlich klirrten Waffen, das dumpfe Splittern von Knochen war zu vernehmen. Wie in Trance verfolgte Lennox, was geschah. Er wollte seine unbekannten Retter unterstützen, doch seine Beine trugen ihn plötzlich nicht mehr. Er taumelte mit ausgestreckten Armen von einer Seite zur anderen und stürzte. Dabei fand er sein Schwert wieder und musste sich daran in die Höhe stemmen und wie auf einem Gehstock abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Der Kampf fand so schnell ein Ende, wie er begonnen hatte. Die Unbekannten hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Pfeile, die wie Blitze von der Bogensehne schnellten, hatten innerhalb weniger Wimpernschläge drei weitere Männer niedergestreckt. Die Überlebenden warfen sich zwar todesmutig in den Kampf, doch die Überraschung setzte ihnen arg zu. Sie reagierten viel zu langsam, viel zu träge, um den tödlichen Klingen zu entgehen. Noch bevor Lennox wirklich begriffen hatte, was sich vor seinen Augen ereignete, stürzte der Letzte von ihnen sterbend zu Boden. Bleierne Stille legte sich wieder über das Labyrinth aus Felsbrocken und kaltem Gestein.

Mit huschenden Blicken musterte Lennox die Krieger, die ihm so überraschend das Leben gerettet hatten.

Aus der Gruppe löste sich eine Gestalt. Eine Frau, die angewidert über einen Toten hinwegstieg und sich gleichzeitig eine Strähne ihres langen, blonden Haares aus der Stirn wischte. Sie hielt zwei schlanke, glänzende Schwerter in den Händen. Beide verstaute sie lächelnd in verborgenen Laschen am Rücken ihres enganliegenden Oberteils. Nur die Griffe der Waffen ragten noch über ihre Schultern hinaus.

In respektvollem Abstand zu Lennox blieb sie stehen. Lässig steckte sie eine Hand in die Hosentasche, die andere stemmte sie in die Hüfte.

»Danke«, presste Lennox hervor. Im selben Moment stellte er fest, dass er sich noch immer wie ein gebrechlicher Greis auf sein Schwert stützte. Rasch hob er die Waffe an, was ein erschrockenes Zucken der Frau zur Folge hatte.

Er schob das Schwert in seinen Gürtel, um zu demonstrieren, dass er keinerlei feindliche Absichten hatte.

»Ihr habt mir das Leben gerettet«, fuhr er fort und ließ seinen Blick über die am Boden liegenden Toten schweifen. Auch die Krieger, die zwischen den Leichnamen standen, sah er abschätzend an. Es war ein sonderbares Grüppchen, das auf den ersten Blick willkürlich zusammengewürfelt erschien. Es gab sowohl Männer als auch Frauen, die offensichtlich keine zu unterschätzenden Kriegerinnen waren. Sie alle hielten gefährliche Waffen in den Händen, als rechneten sie noch nicht damit, dass der Kampf tatsächlich schon vorüber war.

»Uns blieb keine andere Wahl«, antwortete die Frau, die Lennox gegenüberstand.

Vorsichtig ging Lennox einen Schritt auf sie zu. Zögernd streckte er seine Hand aus, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen.

»Sie hätten mich gnadenlos getötet«, flüsterte er, als sie nach seiner Hand griff. »Ich dachte bereits, es wäre vorbei.«

Sie grinste. »Es ist längst vorbei.«

»Was?« Irritiert schüttelte Lennox den Kopf.

»Du bist neu hier, so scheint es mir.« Sie ließ seine Hand los, und Lennox´ Arm glitt schlaff hinab. Plötzlich glaubte er, keinen Halt mehr zu haben. Die Welt unter seinen Füßen schien zu erbeben, und seine Gedanken wurden von einem wütenden Sturm in alle Richtungen gewirbelt.

»Mein Name ist Kira. Mit mir gekommen sind Krieger und Kriegerinnen …« Sie begann, einige Namen aufzuzählen, doch Lennox konnte ihren Worten nicht folgen. Schließlich unterbrach er sie mit einer schwachen Handbewegung.

»Es tut mir leid«, keuchte er. »Ich fürchte, ich bin zurzeit nicht bei Sinnen.«

Kira lachte künstlich. »Niemand ist bei Sinnen, wenn er uns zum ersten Mal begegnet. Das ist völlig normal.«

»Was hat das alles zu bedeuten? Warum bin ich… hier?«

»Mit der Zeit werden sich all deine Fragen von selbst beantworten. Nun solltest du am besten erst einmal mit uns kommen. Sicherlich treiben hier noch mehr Seelenjäger ihr Unwesen. Ich möchte meine Leute nicht unnötig in Gefahr bringen.«

Seelenjäger. Zum wiederholten Male an diesem Tag kreiste das Wort in Lennox´ Kopf. Und wieder konnte er keine Erklärung finden, keinen klaren Gedanken fassen. Er beließ es bei einem schwachen Nicken und vertraute darauf, dass er Kira glauben konnte. Sicherlich würden sich Antworten auf seine Fragen finden.

Er trat an ihr vorbei und nickte den übrigen Kriegern verlegen zu. Sie starrten ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. Niemand sprach ein Wort. Erst als Kira den Befehl zum Aufbruch gab, setzte sich die Gruppe schweigend in Bewegung. In einem geschlossenen Pulk marschierten sie zwischen den Felsbrocken hindurch. Ein kräftig gebauter Mann, der ein Breitschwert in seinem Gürtel und eine Armbrust auf seinem Rücken befestigt hatte, führte den Trupp an.

Kira schloss zu Lennox auf und warf ihm einen schrägen Blick zu. Eine Weile marschierten sie schweigend nebeneinander her.

»Woher hast du das Schwert?«, fragte sie schließlich.

Unwillkürlich ließ Lennox seine Fingerkuppen über den Griff der Waffe gleiten. Er überlegte einen Augenblick. »Es ist mir zur rechten Zeit und am rechten Ort zufällig in die Hände gefallen.«

Kira starrte ihn schweigend an.

»Ich sah mich dort oben auf einem der Felsen konfrontiert mit einem jener Seelenjäger«, setzte Lennox seine Ausführungen fort. »Ich glaubte bereits, dass er mich töten würde. In dem Augenblick jedoch fand ich das Schwert. Es hat mir gute Dienste erwiesen.«

»Das ist äußerst ungewöhnlich.« Kira richtete ihren Blick wieder nach vorn. »Normalerweise liegen hier nirgendwo herrenlose Schwerter herum.«

Lennox zuckte mit den Schultern. »Wohin gehen wir eigentlich?«

»Zu unserem Lager. Es ist nicht mehr weit.«

»Ist es ein Dorf … oder gar eine Stadt?« In Lennox keimte die Hoffnung auf, einen Ort zu finden, den er kannte.

Doch Kira enttäuschte ihn: »Es ist ein einfaches Lager. Nicht mehr und nicht weniger, doch für unsere Zwecke genügt es. Die Gegend ist zu gefährlich, als dass wir es riskieren dürfen, ein ganzes Dorf herzurichten. Im Notfall müssen wir uns rasch eine andere Heimat suchen können. Du musst wissen, dass es hier sicherer ist, im Verborgenen zu leben.«

Grübelnd nickte Lennox. Seine Gedanken schweiften bereits wieder ab. Noch immer war er einer Antwort auf seine Fragen nicht einen Schritt näher gekommen.

Vor ihnen tat sich ein kleines Tal auf, in welches eine kantige Treppe hinabführte. Der schweigsame Trupp brachte die Stufen rasch hinter sich. Danach überquerten sie ein ebenes, steiniges Areal, bis sie schließlich vor einer Hecke aus kahlen Sträuchern am Rande einer Felswand zum Stehen kamen. Inmitten der Felswand gab es einen schmalen Durchgang. Die ersten Männer schlüpften hindurch, der Rest der Gruppe folgte. Kira machte schließlich eine einladende Geste.

»Tritt ein in unser bescheidenes Reich.«

Lennox folgte ihrer Aufforderung. Zögernd schob er sich durch den Spalt in der Felswand. Vor ihm präsentierte sich eine weitere Treppe, die einige Stufen in die Tiefe führte. Er legte den Kopf in den Nacken. Über ihm war noch immer der düstere Himmel zu sehen. Er befand sich also offensichtlich nicht im Inneren des Felsens.

»Die Felswand schützt uns lediglich vor allzu oberflächlichen Blicken«, bestätigte Kira seine Vermutung. Sie trat neben ihn. »Bisher hat sie uns gute Dienste geleistet, und wir sind meist unentdeckt geblieben. So können wir hier in unserem kleinen Lager ein den Umständen entsprechend recht beschauliches Leben führen.«

Lennox betrachtete das Lager am Fuße der Treppe abschätzend. Tatsächlich gab es einige windschiefe Hütten, die aus einfachem Holz errichtet waren. Sie standen in einem großen Halbkreis um den Platz herum, in dessen Mitte sich eine Feuerstelle befand. Ein Feuer brannte dort jedoch nicht, lediglich einige Holzscheite hatte man zu einem kleinen Haufen aufgestapelt.

Die Krieger und Kriegerinnen, die soeben noch als Gruppe durch das Gebirge gezogen waren, stoben nun auseinander. Einige von ihnen hatten die hölzernen Hütten zum Ziel, andere ließen sich auf den Bänken nieder, die überall im Lager verteilt waren. Es gab noch mehr Menschen, die allesamt mit wachsamen Blicken zum Eingang ihres Lagers starrten – Lennox und Kira musterten.

»Ich bringe eine neue Seele«, verkündete Kira mit dröhnender Stimme. Sie war so laut, dass Lennox erschrocken zusammenzuckte.

»Sein Name ist …« Sie sah ihn grübelnd an. Dann grinste sie breit. »Wie ist dein Name?«

»Lennox.«

»Sein Name ist Lennox. Wir werden ihn bei uns aufnehmen.«

Einige nickten, andere wirkten sonderbar unbeteiligt, gar abwesend. Ein grober Blick in sämtliche Richtungen verriet Lennox, dass Menschen aller Altersklassen vertreten waren. Er konnte Männer und Frauen entdecken, Greise, und aus der Entfernung hörte er sogar das Lachen von Kindern. Trotzdem lag eine bedrohliche Aura über dem Lager. Das bedrückende Zwielicht trug einen Teil dazu bei, doch auch das Schweigen der Anwesenden dämpfte die Stimmung beinahe bis zur Unerträglichkeit.

Zögernd stieg Lennox die wenigen Stufen hinab. Kira ging neben ihm. Sie führte ihn zu einer der Bänke, wo er sich schließlich erschöpft niederließ. Er musterte die Feuerstelle. Die vergangenen Ereignisse spukten noch einmal durch seinen Kopf. Doch wieder fand er keine Erklärung.

Kira ließ sich neben ihm nieder. Sie schlug die Beine übereinander und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Eine Weile starrte sie ebenso wie er ins Leere, grübelte, wartete.

»Du musst unzählige Fragen haben«, stellte sie schließlich trocken fest.

Lennox nickte.

»Du wirst sehr viel Zeit haben, die Antworten darauf in aller Ausführlichkeit zu erfahren.«

»Sehr viel Zeit?« Er schüttelte den Kopf. »Das denke ich nicht. Ich werde nicht hierbleiben. Ich werde zur Bruderschaft zurückkehren, zu Nea und Kron und … zu all den Menschen, mit denen ich gekämpft habe.«

»Das wirst du nicht.«

Wütend sprang Lennox auf. »Ihr könnt mich hier nicht festhalten. Ich werde gehen, wann ich es möchte.«

»Natürlich.« Sie winkte beinahe erschrocken ab. »Das ist dir selbstverständlich gestattet, und daran wird dich auch niemand zu hindern versuchen. Aber so habe ich das nicht gemeint.«

Er ließ sich wieder auf die Bank sinken.

»Bevor du hier zu dir gekommen bist …« Sie schien nach Worten zu suchen. »Bevor du zum ersten Mal diesen gold-schwarzen Himmel erblickt hast, ist etwas mit dir geschehen, habe ich recht?«

»Ich habe gekämpft, das ist wahr.« Lennox schüttelte den Kopf. »Worauf willst du hinaus?«

»War es eine Schlacht, bei der du ums Leben gekommen bist?«

»Dann wäre ich sicherlich nicht hier.« Er lachte verhalten. »Ich habe Constantin getötet. Ich allein. Seine Dämonenhorden sind geflohen.

»Und dann? Was geschah danach?«

»Ich stieg den Berg aus Dämonenleibern hinab.« Die Bilder tobten vor seinen Augen, als befände er sich noch immer inmitten dieses gewaltigen Szenarios. »Da war Nea. Sie war so glücklich. Und Kron und all die anderen. Endlich war Constantins Schreckensherrschaft beendet. Frieden.«

»Und weiter?«

»Mein Bruder lief ebenfalls auf mich zu. Ich dachte, er wollte mir in die Arme fallen und mich zu meinem Sieg beglückwünschen .«

»Doch etwas anderes geschah«, kombinierte Kira.

»Etwas anderes geschah«, bestätigte Lennox. Schweiß trat auf seine Stirn. Er musste schwer schlucken, bevor er weiterreden konnte. »Plötzlich hielt er ein Schwert in der Hand. Er stieß es in meinen Körper, und ich fiel zu Boden. Doch da war Nea. Sie hielt mich fest. Und sie sagte mir, dass sie mich lieben würde «

»Du bist gestorben«, flüsterte Kira traurig.

»Das ist nicht wahr.« Tränen traten in Lennox´ Augen. »Ich bin hier. Ich bin in eurem Lager und fühle mich ausgezeichnet.«

»All die Menschen, die du hier siehst …« Kira machte eine ausschweifende Armbewegung, mit der sie den gesamten Platz einschloss. »Sie sind alle tot. Ich bin tot, und du bist ebenso tot.«

Lennox starrte sie an, ohne dass er in der Lage war, irgendetwas zu sagen. Kira rang sich ein gekünsteltes Lächeln ab. Doch auch ihre Augen schimmerten feucht.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie.

Das Lachen der Kinder schien plötzlich verstummt. Keine Gespräche hallten mehr über den Platz. Alles war zu Eis erstarrt.

Langsam hob Lennox seine Hand, betrachtete die gekrümmten Finger. Er verfolgte die geschwungenen, filigranen Linien, die durch seine Haut verliefen. Schmutz und Blut hafteten daran. Doch war er tatsächlich tot? Er konnte es nicht glauben.

»Du lügst«, presste er schließlich hervor. »Wenn all diese Menschen tot wären … Wenn du tot wärst und ich ebenso, dann könnten wir nicht miteinander reden. Wir wären nicht hier…«

»Dann geh und finde eine andere Erklärung für diese Welt.«

Lennox wollte etwas erwidern, doch plötzlich fehlten ihm die Worte. Verbittert musste er erkennen, dass es keine Begründung zu geben schien.

»Es gibt keine andere Erklärung«, flüsterte er schließlich. »Und doch werde ich mich niemals damit abfinden, dass ich tot bin. Dass dieser Ort das Ende ist. Es kann noch nicht vorbei sein.«

»Wenn du meinst.« Sie zuckte mit den Schultern. »Letztlich müssen wir uns alle mit dem Gedanken abfinden. Die einen früher, die anderen später. Auch du wirst es irgendwann akzeptieren.«

»Warum haben diese seltsamen Männer mich dann zu töten versucht?«, hakte er mit bebender Stimme nach. »Welchen Sinn ergibt es, jemanden umzubringen, der doch angeblich bereits gestorben ist?«

Sie faltete ihre Hände und lehnte sich zurück. »Ich habe geahnt, dass du so etwas fragen würdest.«

»Nun?« Lennox grinste verbittert. »Ich bin gespannt, was du darauf antworten willst.«

»Es ist eine komplizierte Angelegenheit. Doch ich werde mich bemühen.«

Er nickte zufrieden.

»Erzählungen besagen, dass diese Welt nicht das Ende ist. Hartnäckig halten sich die Gerüchte, die vermuten lassen, dass es möglich ist, zu entkommen.«

»Entkommen? Inwiefern?«

»Als du noch lebendig warst …« Kira wandte den Blick ab und musterte das kleine Häufchen aus Holzscheiten. »Hast du an Geister geglaubt?«

»An Geister?« Er musste sich bemühen, nicht laut zu lachen. »Nein. Geister sind Erfindungen der Greise, um den Kindern Angst vor der Welt hinter den Stadtmauern zu machen. Und was sollten Geister mit der Antwort auf meine Frage zu tun haben?«

»Ganz einfach.« Sie blickte ihm wieder in die Augen. »Es heißt, dass es die Möglichkeit gibt, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Allerdings wird man selbst nicht wieder lebendig, sondern zu einem Wesen, das wohl am ehesten mit einem Geist vergleichbar ist.«

»Gibt es dafür Beweise?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber es ist schon seit jeher so, dass diese Welt der Toten gespalten ist in zwei Teile. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die daran glauben, irgendwann selbst als Geist in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Und dann gibt es auf der anderen Seite Leute wie mich und all die anderen Männer und Frauen in meinem Lager. Wir behaupten sicherlich nicht, dass die Gerüchte unwahr sind, doch wir weigern uns, die Bedingungen zu akzeptieren, die das Fortbestehen als Geist mit sich bringen würde.«

»Das heißt, ihr habt beschlossen, euch mit diesem Schicksal abzufinden, während andere daran glauben, die Erlösung zu finden?«

»So kann man es wohl ausdrücken«, bestätigte Kira.

»Und welche Bedingungen sind es, die euch derart missfallen?«

»Um als Geist in die Welt der Lebenden zurückzukehren, so heißt es, sei es erforderlich, eine gewisse Anzahl Seelen zu sammeln.«

Verwirrt fuhr Lennox sich mit den Fingern durch das Haar. Er wiederholte den letzten Satz leise, überlegte einen Moment und schüttelte schließlich den Kopf.

»Seelen sammeln? Das verstehe ich nicht.«

»Die Männer, die dich zu töten versucht haben… Du erinnerst dich sicherlich, dass sie sich selbst als Seelenjäger bezeichnet haben, nicht wahr?«

Lennox nickte. »Das ist wahr. Dennoch kann ich damit nichts anfangen.«

»Sie sammeln die Seelen anderer Menschen …«

»Das heißt, sie müssen töten, um an die Seelen zu gelangen?«

Kira bestätigte diesen Schluss.

»Ich kann es mir nicht vorstellen.« Trotzig verschränkte Lennox die Arme vor der Brust. »Das ergibt keinen Sinn, nicht im Geringsten. Willst du mir erzählen, dass sie einen Menschen töten und die Seele aus dem Leichnam dann einfach herausnehmen?«

»Gewissermaßen ist das völlig richtig. Natürlich ist die Seele formlos.«

»Unsichtbar?«

»Nein, unsichtbar ist der falsche Begriff. Unmittelbar nach dem Tod eines Menschen kannst du, wenn du genau hinsiehst, einen schwarzen Dunst erkennen, der aus seinem Leib aufzusteigen scheint. Derjenige, der den Menschen getötet hat, nimmt diesen Dunst gewissermaßen auf.«

»Mit den Händen?«

»Es geschieht von allein. Es reicht, zu töten. Der Rest erfordert kein aktives Handeln mehr.«

»Sind die Augen der Seelenjäger deshalb so schwarz? Weil sie die Seelen der Toten in sich aufnehmen?«

Kira nickte. »Je mehr Seelen sie bereits gesammelt haben, desto dunkler sind ihre Augen. Und ebenso bilden sich finstere Flecken auf der Haut, die an verschlungene, pechschwarze Dornenranken erinnern. Und wenn sie die erforderliche Anzahl an Seelen erlangt haben, bleibt in den Augen der Seelenjäger nur noch die unendliche Finsternis.«

»Das ist mehr als unheimlich.«

»Das stimmt. Und aus diesem Grund sind wir strikt gegen diese Methode, in die Welt der Lebenden zurückzukehren.«

»Eine Frage habe ich allerdings noch.« Beschwörend ließ Lennox seine Fingerspitzen zucken. »Warum fürchtet ihr euch vor dem Tod? Wenn wir doch alle bereits gestorben sind, gibt es nichts mehr, was noch schlimmer sein könnte, oder irre ich mich?«

»Du irrst dich tatsächlich. Wer in dieser Welt stirbt, gelangt in das endgültige Jenseits. Ewige Trauer und Einsamkeit herrschen dort, unendlicher Schmerz und grausame Qualen.«

»Wer sagt das?«

»Es sind Gerüchte, die seit langer Zeit …«

»Gerüchte!« Lennox lachte abfällig. »Eure Welt ist ein einziges, instabiles Gerüst aus Halbwahrheiten und Vermutungen!«

»Sicher. Doch niemand zweifelt am Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte. Nicht umsonst verfolgen sie mich, seit ich in dieser Welt gelandet bin. Jeder kennt sie. Ausnahmslos jeder.«

»Und wann bist du in dieser Welt gelandet? Es klingt, als wärst du schon etwas länger hier.«

»Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Es müssen zahllose Unendlichkeiten sein, die mittlerweile verstrichen sind.«

»Zahllose Unendlichkeiten …« Lennox sackte in sich zusammen. Trübselig überblickte er das Lager. Er konnte sich nicht vorstellen, an diesem Ort mehr als ein paar Tage zu verbringen. Alles wirkte trostlos und schwächlich. Tot.

»Gibt es nicht noch einen anderen Weg, von hier zu entkommen?«

Entschieden schüttelte Kira den Kopf. Sie stand auf. »Dieser Ort ist dein Ende.« Mit traurigem Blick sah sie ihn an. Schließlich straffte sie die Schultern und rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Ich bin die Anführerin der Ewigen. Nun habe ich dich über unser Reich aufgeklärt. Die weiteren Entscheidungen musst du selber treffen.«

»Die Ewigen nennt ihr euch also.« Er versuchte zu lächeln, was kläglich missglückte. »Welch passende Namenswahl.«

Kira zuckte mit den Schultern. Sie erwiderte sein Lächeln nicht. Im Gegenteil, plötzlich wirkte sie kalt und abweisend. Mit grimmigem Blick wirbelte sie herum.

Lennox blieb allein auf der Bank zurück.

In Gedanken vertieft musterte er die Menschen, die im Lager anscheinend ihrem gewöhnlichen Tagewerk nachgingen. Es war kein geschäftiges Treiben, wie er es aus der Welt der Lebenden kannte – vielmehr ein hoffnungsloses Dahinsiechen, als würden sie alle darauf warten, dass es endlich ein Ende fände. Das ganze Lager, so begriff er, war ein Hort der gebrochenen Seelen.

Wo längst kein Herz mehr klopftund wo Lichtstrahlen fehlen, herrscht kein König, kein Gott, sondern gebrochene Seelen.

Königreich der Angst

Blutüberströmt lag der Tote im hohen Gras. In seinen weit aufgerissenen Augen stand noch die Furcht, die kurz vor seinem Ableben über ihn gekommen war. Seine Finger waren seltsam gekrümmt, und sein Antlitz war deformiert. Die Peitsche hatte ganze Arbeit geleistet.

Katharina streckte ihr lächelnd eine Hand entgegen. »Steh auf!«

Zögernd blickte Alexis zu ihr auf. Sie zitterte am ganzen Körper, und kalter Angstschweiß stand auf ihrer Stirn. Ein Zähneklappern konnte sie nicht gänzlich unterdrücken.

Mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung musterte sie die Frau, deren schwarzes Haar im kühlen Wind flatterte. Die Peitsche, mit der sie eben noch schrecklich gewütet hatte, lag mittlerweile aufgerollt und harmlos am Boden.

Sanft pendelte der Anhänger ihrer Kette, die sie um den Hals trug, im Ausschnitt ihres hautengen Oberteils von einer Brust zur anderen. Ihre strahlend blauen Augen funkelten wie zwei gleißende Sterne an einem ansonsten pechschwarzen Nachthimmel.

Alexis griff nach der Hand und ließ sich auf die Beine ziehen.

»Er hätte mich …«, begann sie mit dünner Stimme, doch Katharina legte ihr einen Finger auf die Lippen.

»Es ist vorbei. Es ist alles vorbei. Er kann dir nichts mehr tun.«

Alexis drehte ihren Kopf. Noch einmal wollte sie den Toten betrachten, der sie wenige Augenblicke zuvor noch zu vergewaltigen versucht hatte.

»Vergiss ihn«, flüsterte Katharina. »Er wird nicht mehr aufstehen.«

Alexis wandte den Blick ab. Er würde nie mehr aufstehen. Daran gab es keinen Zweifel. Zu schwarz und zu dickflüssig war das Blut, das aus den zahlreichen Wunden in seiner blassen Haut rann. Zu leer war sein Blick und zu starr seine Körperhaltung.

Verlegen drückte Alexis sich ihre Hände auf die Brüste. Das Oberteil hatte der Perverse ihr noch im Dorf vom Leib gerissen. Auch an ihrem Rock hatte er sich zu schaffen gemacht, doch die mysteriöse Retterin war rechtzeitig erschienen, um Schlimmeres zu verhindern.

Sie erschauderte in einer eisigen Windböe. Vom Sturm wurden graue Wolken über den Himmel gepeitscht. Sie zogen vorüber. Vereinzelte Regentropfen lösten sich. Kalt benetzten sie Alexis´ Haut. Keuchend zog sie den Kopf zwischen die Schultern. Sie wollte sich abwenden, allein sein.

»Hat er dich verletzt?« Katharinas Worte waren weich und zart. In diesem Augenblick erschienen sie wie Balsam für Alexis´ Seele. Tausendfach hallte die Stimme in ihrem Schädel nach.

Sie blickte an sich hinab. Düstere Rückstände feuchter Erde hafteten an ihrer Hüfte, ein blutiger Kratzer zog sich quer über ihren Bauch. Auch an ihren Händen haftete Blut. Verschwommen konnte sie sich daran erinnern, dass sie ihre Finger in die Haut und in das Fleisch des Mannes gegraben hatte. Es war sein Blut, das nun an ihren Händen klebte. Angewidert löste sie diese von ihren Brüsten und drehte sich verlegen zur Seite.

»Er hat mich nicht verletzt«, flüsterte sie über ihre Schulter, ohne Katharina dabei in die Augen zu sehen.

Die kühle Brise bescherte ihr eine Gänsehaut. Sie sehnte sich nach einem Kleidungsstück, das sie sich über den Körper werfen konnte.