Die  Nacht der Krähe - Funkenflug - Patrick Hamann - E-Book

Die Nacht der Krähe - Funkenflug E-Book

Patrick Hamann

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aufgrund niederträchtiger Vorwürfe soll der junge Lennox am Galgen sterben, aber er kann entkommen. Gemeinsam mit der Tänzerin Nea, selber Opfer von Ungerechtigkeit, flieht er mit einer gestohlenen Kutsche aus der Stadt Ragtoras. Doch sie wissen nicht, welch Unheil sie damit entfesseln, und ihre Welt, wie sie sie kennen, stürzt ins Chaos. Lennox und Nea lernen auf ihrer Reise alte Länder und neue Magie kennen und müssen sich gegen Dämonen und Gestaltenwandler, Vampire und dunkle Mächte wehren. Können die beiden das Gleichgewicht einer fantastischen und wahnsinnig gewordenen Welt wieder herstellen? Von Patrick Hamann sind bei Midnight in der "Die Nacht der Krähe"-Reihe erschienen: Funkenflug (Band 1) Feuersturm (Band 2)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der AutorPatrick Hamann, geboren im Jahre 1996, entdeckte früh die Liebe zum Lesen, besonders zu den fantastischen Geschichten. Die ersten eigenen Schreibversuche waren nicht unbedingt von Erfolg gekrönt - erst nach der Schulzeit, als Pendler zu etlichen Stunden im Zug gezwungen, kehrte der Schreibhunger zurück. Seitdem bringt er in jeder freien Minute Zeile um Zeile zu Papier, um düstere und vor allem fantastische Erzählungen in den Köpfen der Leser zum Leben zu erwecken.

Das BuchAufgrund niederträchtiger Vorwürfe soll der junge Lennox am Galgen sterben, aber er kann entkommen. Gemeinsam mit der Tänzerin Nea, selber Opfer von Ungerechtigkeit, flieht er mit einer gestohlenen Kutsche aus der Stadt Ragtoras. Doch sie wissen nicht, welch Unheil sie damit entfesseln, und ihre Welt, wie sie sie kennen, stürzt ins Chaos. Lennox und Nea lernen auf ihrer Reise alte Länder und neue Magie kennen und müssen sich gegen Dämonen und Gestaltenwandler, Vampire und dunkle Mächte wehren. Können die beiden das Gleichgewicht einer fantastischen und wahnsinnig gewordenen Welt wieder herstellen?

Patrick Hamann

Die Nacht der Krähe -Funkenflug

Roman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Originalausgabe bei Midnight.Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuli 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-041-2

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Tanz mit dem Tod

Sanft flüsterte der Wind seine Worte. Er sang eine leise Melodie, die von Leid und Trauer sprach. Die Wipfel der höchsten Bäume schwankten im Takt dazu. Das Licht der langsam sinkenden Sonne flutete die Dächer der Häuser wie der Ausläufer eines feurig roten Meeres. Die strahlenden Fluten strömten über das Land, drängten ein letztes Mal die Finsternis zurück. Doch schon bald würde der gewaltige Feuerball hinter dem Horizont versinken und alle Helligkeit mit sich in die Tiefe reißen. Die letzten Minuten des Abends brachen an, bevor die Nacht alles Leben in sich verschlang.

Die längsten Tage waren bereits vorüber. Es war der Spätsommer, der seinen feurigen Atem über das Land hauchte. Von der sengenden Hitze der vergangenen Tage und Wochen war nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil. Die kühle Brise, die über das Land fegte, deutete im Ansatz den kommenden Herbst an.

Zappelnd hing eine Gestalt am straffen Strick. Mit den Füßen trat sie vergeblich ins Leere, bevor die Bewegungen erlahmten. Im roten Licht der schräg einfallenden Sonne war es nicht mehr als eine Silhouette, die dort einen wilden Tanz aufzuführen schien. Doch schließlich hauchte sie ihr Leben aus und hing still. Der Galgen hatte ein weiteres Menschenleben gefordert.

Ein Mann marschierte mit großen Schritten auf die hölzerne Plattform, die sich wie eine große Bühne vom Marktplatz abhob. Behäbig ließ er seinen Blick über die Köpfe der zahlreichen Menschen schweifen, die am Fuße dieser Plattform standen und nach Blut lechzten. Öffentliche Hinrichtungen trafen den Geschmack der Bevölkerung. Man wollte die Verurteilten am Galgen hängen sehen. Sie sollten büßen für ihre Verbrechen und im Wind schaukeln, bis alles Leben aus ihnen gewichen war.

Der Mann rückte seinen Umhang zurecht, wobei sehr deutlich wurde, dass er dreckige, fette Arme hatte. Dann hob er eine Pergamentrolle vor seine Nase und holte tief Luft. »Vergewaltigung wirft man diesem Mann vor«, rief er mit gesenkter Stimme über den Platz. »Das schlimmste Verbrechen, für das es nur eine gerechte Strafe gibt.« Abwartend ließ er seinen Blick erneut über den Platz schweifen. Nach dieser kleinen Kunstpause fuhr er fort: »Für diese Tat erwartet ihn nichts Geringeres als der Galgen!«

Jubelschreie brandeten in der Menge auf. Die Menschen rissen ihre geballten Fäuste in die Höhe, schrien ihre Wut heraus.

Der Angeklagte wurde auf die Tribüne geführt. Sein Oberkörper war nackt. Die Hände hatte man ihm hinter dem Rücken zusammengebunden, sodass er nicht in der Lage war, Widerstand zu leisten. Blankes Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Getrocknete Tränen waren auf seinen Wangen zu erkennen. Doch die Männer, die ihn links und rechts flankierten, umklammerten seine Arme mit eisernem Griff. Er konnte nicht mehr fliehen. Sein Schicksal war besiegelt. Der Richter verlas den Namen des Mannes, schilderte noch einmal den Grund für diese Bestrafung. Außerdem stellte er die obligatorische Frage an das Volk, ob man es für nötig befinde, Gnade walten zu lassen. Doch niemand wollte dem Mann das Leben retten. Wie eine Schar blutgieriger Wildkatzen starrten sie hinauf auf die Tribüne und warteten darauf, dass das grausame Schicksal seinen Lauf nahm.

Widerstandslos ließ sich der Mann bis zu dem hölzernen Schemel führen, über dem ein langer Strick baumelte. Die schwarz gekleideten Männer, die ihn auch zur Tribüne geführt hatten, halfen ihm hinauf. Schließlich stand er aufrecht. Die unbändige Angst spiegelte sich in seinem Gesicht wider.

Der Henker befand sich hinter ihm. Er marschierte auf einer Plattform entlang, die etwas höher als der hölzerne Schemel lag. Bequem konnte die vermummte Gestalt von dort den Strick um den Hals des Mannes legen. Doch der Henker ließ sich Zeit, ließ die Schlaufe vor den Augen des Verurteilten tanzen.

»Sieh deinem Tod in die Augen«, schien er damit sagen zu wollen. Und das Entsetzen im Antlitz des Verurteilten kippte in unglaubliche Angst um. Er riss seine Augen weit auf. Der Henker nickte zufrieden. Sein Gesicht war unter der schwarzen Kapuze nicht zu sehen, doch Lennox konnte sich gut vorstellen, dass er in diesem Moment böse grinste.

Die Schlaufe legte sich um den Hals des Verurteilten. Mit einem Ruck zog der Henker den Strick fest, sodass es kein Entkommen mehr gab. Dann trat er zurück und betrachtete sein Werk zufrieden. Pfiffe erklangen aus der Menschenmenge. Es wurde ein Stein geworfen, der gegen den Brustkorb des Verurteilten prallte. Keuchend blieb er standhaft, doch in seinen Augen konnte Lennox wütenden Glanz erkennen. Jener Glanz, welcher in höchster Verzweiflung aufblitzte, wenn ein Mann keinen Ausweg mehr sah.

Der Henker brachte die wenigen Stufen hinter sich und schlenderte bedächtigen Schrittes bis zu dem Schemel, auf dem der Mann stand. Die Lippen des Mannes bewegten sich. Anscheinend sagte er etwas, flehte um Gnade. Doch der Henker lachte lauthals. Er rieb sich seine behandschuhten Hände. Dann trat er noch einen Schritt näher, holte aus. Sein Fuß trat dem Verurteilten den Hocker unter den Beinen weg. Ruckartig zog sich der Strick fest. Augenblicklich hing der Mann mit zappelnden Beinen in der Luft. Seine Augen weiteten sich panisch, und seinen Mund riss er zu einem lautlosen Schrei auf.

Die Menge tobte. Sie bekam, was sie verlangt hatte. Der Mann starb nicht sofort. Er strampelte vergeblich mit den Beinen. Sein Körper zuckte von links nach rechts, wie ein sich windender Fisch, der am Haken einer Angel hängt. Sein Todeskampf dauerte an. Langsam verfärbte sich die Haut am Hals, um den die Schlaufe lag, dunkelblau. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde er qualvoll ersticken.

Lennox schloss die Augen. Er konnte das Bild nicht mehr ertragen. Der Anblick des leidenden Menschen erschütterte ihn zutiefst. Doch in seinem Kopf blieb die Szene bestehen. Flehend starrten ihn die Augen des Fremden an.

»Hilf mir!« Tonlos formten seine Lippen diese Worte. Doch Lennox konnte ihm nicht helfen. Er war nur eine reglose Schachfigur in diesem Spiel.

Als er die Augen wieder öffnete, hing der Verurteilte reglos neben den anderen Männern. Eine gerade Reihe bildeten sie, und ihre toten Augen starrten ins Leere. Synchron zueinander schwangen sie sanft in einer aufkommenden Brise. Der Anblick war beinahe ästhetisch.

Schaudernd musterte Lennox den letzten Strick, der nun noch unbesetzt am Galgen hing. Ein Menschenopfer würde dieser Abend noch fordern. Die Menschenmenge sollte in ihrem Verlangen nach Grausamkeit befriedigt werden.

Zwei kräftige Männer näherten sich Lennox. Von hinten versetzte man ihm einen unsanften Stoß in den Rücken. Ungeschickt stolperte er vorwärts. Glücklicherweise verlor er nicht das Gleichgewicht, denn einen Fall hätte er nicht abfangen können. Noch waren die Hände hinter seinem Rücken gefesselt. Doch schon seit einer geraumen Weile schob und zerrte er an den Fesseln. Die Handgelenke waren bereits wund gerieben. Heiß spürte er das Blut auf seiner Haut. Doch er wusste, dass es Hoffnung gab. Wenn er nur noch einige Herzschläge Zeit bekam, in denen er zerren und reißen konnte. In diesem Augenblick allerdings waren alle Augen auf ihn gerichtet. Er durfte es nicht riskieren, sich zu auffällig zu verhalten.

Widerstrebend ließ er sich von den kräftigen Männern in Empfang nehmen. Mit starken Händen umklammerten sie plötzlich seine Arme und stießen ihn vor sich her. Während er langsam die Treppe erklomm, die zur Tribüne hinaufführte, rüttelte er wieder an seinen Fesseln.

»Des Diebstahls bezichtigt man ihn«, hallte die laute Stimme über den Platz. »Und auch dafür kennt unser Rechtssystem keine Gnade!«

Lennox wollte lauthals lachen, doch er brachte nur ein ersticktes Keuchen zustande. Der Galgen als Bestrafung für einen einfachen Diebstahl war absurd. Vergewaltiger konnten gehängt werden, Mörder und Verräter. Aber ein Dieb?

Doch er konnte sich nicht mehr gegen sein Schicksal auflehnen. Lange genug war er der Oberschicht ein Dorn im Auge gewesen, als dass man ihn nun verschonte. Die Straftat, die man ihm vorwarf, hatte er tatsächlich begangen. Es war ihm keine andere Möglichkeit geblieben. Sein blinder Bruder litt zu Hause Hunger. Das Geld, das Lennox für seine Tätigkeit in der städtischen Armee ausgezahlt bekam, reichte nicht für zwei Personen. Und es gab sonst niemanden, der sich um seinen Bruder kümmern konnte.

»Gerade mal zweiundzwanzig Winter hat er erlebt, doch schon hat er den Zorn der Bevölkerung auf sich gezogen«, fuhr der rundliche Mann mit ausgebreiteten Armen fort. Wild gestikulierte er über den Köpfen der zahlreichen Menschen, die gebannt zu ihm hinaufstarrten. »Soll er in der Hölle schmoren, bevor sich ihm die Gelegenheit zu schlimmeren Taten bietet!«

Der Richter verstand sich darin, das Volk aufzuhetzen. Wüste Beschimpfungen wurden über den Platz gerufen. Sie wünschten ihm Leid und einen qualvollen Tod. Für die Gerechtigkeit. Verbittert ließ Lennox seinen Kopf sinken. Sein Weg führte ihn vorbei an den Verbrechern, die bereits gestorben waren. Mit hängenden Köpfen und aus leeren Augen starrten sie zu ihm hinab, als wären sie Furcht einflößende Vogelscheuchen. Dann erreichte Lennox den hölzernen Schemel. Mit harschen Worten befahl man ihm, hinaufzuklettern. Er folgte dem Befehl, ohne Widerstand zu leisten. Zögernd ließ er seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, während er sich aufrichtete. Zornige Männer starrten hinauf zu ihm, ebenso wie Frauen mit eisernen Mienen und Kinder, die nichts anderes als gute Unterhaltung von ihm erwarteten. Je länger er zappelte und schrie, desto fröhlicher konnten sie sich zur Ruhe betten.

Sein halblanges schwarzes Haar wurde ihm von einer plötzlichen Windböe ins Gesicht gepeitscht. Für einen Moment gab er vor zu straucheln. Er musste Zeit schinden. Nur wenige Atemzüge. Während der Wind an seinen Haaren zerrte, rieb er seine Handgelenke aneinander. Immer hektischer wurden seine Bewegungen. Er spürte, dass sich einzelne Fäden lösten. Wenn man ihn jetzt nicht bemerkte, hatte er eine Chance.

Der Sturm ebbte ab. Ein Sprechchor hallte über den Platz. »Hängt den Bastard!«, riefen sie.

Hinter sich hörte Lennox den rasselnden Atem des Henkers. Plötzlich baumelte die Schlaufe des Stricks direkt vor seinen Augen.

»Irgendwelche letzten Worte, du elender Hurensohn?«, erklang die düstere Stimme unter der Kapuze des vermummten, muskulösen Mannes.

In diesem Moment löste sich die Fessel von Lennox’ linkem Handgelenk. Sein Arm war frei. Im letzten Moment konnte er einen Freudenschrei unterdrücken. Doch noch hatte er nichts gewonnen. Er durfte nun nicht mehr zögern.

»Bring es zu Ende!« Schwach und dünn drang die Stimme an sein Ohr, sodass er im ersten Moment glaubte, sich verhört zu haben. Doch dann regte sich der Henker. Verwundert sah er sich um. Auch Lennox drehte den Kopf zur Seite.

Der Mann, der neben ihm hing, lächelte. Ein Tropfen roten Blutes sickerte aus seinem geöffneten Mund, rann über das Kinn und fiel dann zu Boden. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass er noch ein Wort sagte.

Während der Henker noch mit seiner Verwunderung kämpfte, tastete Lennox nach dem rostigen Nagel, den er in seinem Hosenbund versteckt hatte. Hektisch fuhren seine Finger über den Stoff. Dann spürte er das kalte Metall an seiner Haut. Als er im dunklen Verlies auf sein Urteil gewartet hatte, war ihm der Nagel eher zufällig in die Hände gefallen. Er hatte ihn an sich genommen, obwohl er nicht daran zu glauben gewagt hatte, dass er ihn wirklich benötigen würde.

Doch nun war es so weit. In einer blitzschnellen Bewegung riss er den rostigen Nagel hervor. Der Henker, der seinen Blick in diesem Moment von dem anderen Mann löste, erstarrte. Lennox wartete nicht mehr länger, denn wenn er überleben wollte, durfte er keine Gnade kennen. In einer einzigen, geschmeidigen Bewegung rammte er das Metall in das unter der Kapuze verborgene Gesicht des Henkers. Ein schmatzendes Geräusch erklang. Im selben Moment ergoss sich heißes Blut über seine Finger und sprühte ihm feucht entgegen. Kraftvoll riss er den Nagel wieder aus dem Kopf des Vermummten und taumelte einen Schritt nach hinten. Sofort geriet er ins Straucheln, denn der hölzerne Schemel war zu klein für allzu viele Bewegungen.

Durch die Menschenmenge ging ein Raunen. Noch konnte keiner wirklich begreifen, was geschehen war. Sie würden einen Augenblick benötigen, um zu realisieren, was sich vor ihren Augen ereignet hatte. Diese wenigen Herzschläge wollte Lennox nutzen. Er riss seinen Blick von dem Henker los, der sich die blutüberströmten Hände ins Gesicht presste und langsam zu Boden sank.

Mit ausgebreiteten Armen sprang er vom Schemel. Mit großen Schritten lief er über die Tribüne und versetzte dem Richter, der ihn mit geweiteten Augen anstarrte, einen Stoß. Fluchend fiel der dicke Mann zu Boden und begrub die Pergamentrolle, auf der Lennox’ Todesurteil geschrieben stand, unter seinem voluminösen Leib.

Lennox sprang von der Tribüne. Erste Männer lösten sich aus der Menge, brüllten wütende Worte. Man hatte sie um ihre Abendunterhaltung gebracht. Nie zuvor war es vorgekommen, dass es jemandem gelungen war, vom Galgen zu fliehen.

Vorbei an dem wütenden Mob trieb es Lennox hinein in eine Seitengasse. Schmatzend tauchten seine zerlumpten Schuhe in den Schlamm ein, der seit dem letzten Regenguss allgegenwärtig war. Besonders in den engen Gassen zwischen den Häusern waren die Bedingungen widrig. Gewöhnliche Menschen vermieden es, von den gepflasterten Wegen abzukommen, wenn es die Situation nicht unbedingt erforderte.

Mit einem Sprung setzte er über eine Gestalt hinweg, die anscheinend mal ein Mensch gewesen war. Aus dem Augenwinkel sah er das verfallene Gesicht, die ausgetrockneten Augen. Nicht selten kam es vor, dass in diesen Seitengassen Menschen zu Tode geprügelt und achtlos liegen gelassen wurden. Ein entsprechender Geruch stieg Lennox in die Nase, als er weiterlief. Es kostete ihn Mühe, auf dem unebenen Untergrund nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Hinter ihm brüllten Männer und kreischten Frauen. Man würde die Verfolgung aufnehmen, dessen war er sich bewusst. Doch sein Vorsprung war beachtlich. Mit seiner Aktion war es ihm gelungen, die Menschen zu überraschen und für einen Moment handlungsunfähig zu machen.

Trotzdem wusste er noch nicht, was als Nächstes geschehen würde. Die Stadt war groß. Für einige Zeit konnte er sich verstecken. Doch er konnte nicht bis in alle Ewigkeit im Verborgenen bleiben. Sie würden nach ihm suchen, und sie würden ihn finden. Doch genauso schwierig war es, die Stadt einfach zu verlassen. Die Wachen waren in Alarmbereitschaft. So einfach würde er nicht an ihnen vorbeikommen. Außerdem wusste jedes Kind, dass es an Selbstmord grenzte, die schützenden Mauern der Stadt hinter sich zu lassen. Märchen und Sagen erzählten von dem Grauen, das in der unscheinbaren Landschaft lauern sollte.

Er tauchte in eine weitere Gasse ein. Ein Blick in den Himmel verriet ihm, dass die Abendsonne ihr Licht nur noch für wenige Minuten auf die Stadt werfen würde. Bald brach die Nacht herein. Mit ihr kam die Finsternis. Beste Bedingungen, um sich zu verstecken. Doch Lennox wusste auch, dass man in dieser Nacht mit Vehemenz nach ihm suchen würde. Das Volk wollte, dass er am Galgen hing. Sie würden nicht ruhen, bis ein Henker den Schemel unter seinen Füßen zur Seite trat.

Vorerst allerdings kehrte Ruhe ein. Lennox ließ die wütenden Stimmen hinter sich zurück. Nur noch vereinzelte Rufe drangen an sein Ohr, während er durch den Schlamm eilte. Als er an sich herabblickte, stellte er fest, dass seine Schuhe über und über mit Schlamm besudelt waren. Sie würden ihm bald den Dienst versagen. Auch seine Hosenbeine glänzten braun vom Schlick, der mit jedem Schritt in die Höhe spritzte.

Lennox blieb stehen und lehnte sich an die nächste Hauswand, um zu Atem zu kommen. Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Er spürte ein unangenehmes Stechen in seinem Inneren. Die Flucht war kräftezehrend gewesen. Außerdem war er entkräftet, denn es lag bereits lange zurück, dass er etwas zu essen bekommen hatte. Sein Magen war leer. Einem zum Tode Verurteilten gönnte man nicht viel. Die obligatorische Henkersmahlzeit war in den letzten Wintern aus der Mode gekommen. Verständlicherweise, denn es lohnte sich nicht, Steuergelder in einen Todgeweihten zu investieren.

Nachdenklich betrachtete Lennox den Nagel in seiner Hand und drehte ihn zwischen den Fingern. Das Blut des Henkers haftete daran. Er fragte sich, ob er ihn tatsächlich getötet hatte. Eigentlich war er kein Mensch, der mordete. Doch das Schicksal hatte ihm keinen anderen Ausweg gelassen. Er konnte nicht einfach sterben. Er hatte einen Bruder, den er ernähren musste. Doch nun stellte sich ihm die Frage, wie das noch gelingen sollte. Sein altes Leben konnte er vergessen. Es war nun nicht mehr möglich, einfach über den Marktplatz zu schlendern und einzukaufen, als wäre nie etwas geschehen. Er war jetzt ein Vogelfreier, ein Geächteter. Frieden konnte er nur finden, wenn er die Stadt verließ. Doch er haderte noch mit diesem Gedanken. Was würde ihn erwarten? Wohin sollte er fliehen?

Wütend wischte er sich das vom Schweiß feuchte Haar aus dem Gesicht. Sein Atem war wieder zur Ruhe gekommen, und als er lauschte, waren keine Stimmen zu hören. An diesem Ort suchte man nicht nach ihm. Als er sich umsah, stellte er fest, dass er in ein sehr heruntergekommenes Viertel der Stadt geflohen war. Dicht an dicht reihten sich ärmliche kleine Häuser. In einigen Wänden waren Löcher zu erkennen. Die Dächer bestanden aus verfaulenden Materialien, die längst einer Erneuerung bedurften. Es stank unangenehm nach Exkrementen und ein wenig nach Verwesung. Lennox musste ein Würgen unterdrücken. Dann setzte er sich langsam wieder in Bewegung. Den rostigen Nagel umklammerte er dabei mit eisernem Griff. Er beschloss, in diesem Stadtviertel zu bleiben. Hier fiel er nicht auf. Nicht selten waren hier schmutzige Menschen wie er unterwegs, die mit freiem Oberkörper ihrem Tagewerk nachgingen. Und auch bei Nacht konnte er damit rechnen, auf den einen oder anderen düsteren Gesellen zu treffen.

In diesem Moment verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Ein letztes Mal glänzten golden die Wolken am Himmel, dann verschlang die Dunkelheit das Land. Zwischen den aneinandergereihten Häusern war es besonders dunkel. Licht gab es in diesen Seitengassen nicht. Lediglich an den Hauptstraßen befanden sich vereinzelte Feuerkörbe, die auch in der Nacht die Wege erhellten. Lennox erinnerte sich. In seiner Tätigkeit in der Armee hatte es auch dazugehört, nachts durch die Stadt zu streifen und erloschene Lichter neu zu entzünden. Ein Vorteil, denn dadurch hatte er einen groben Überblick über die gesamte Stadt und wusste ungefähr, wo er sich gerade befand. Dennoch konnte er sich schnell verirren, denn die zahlreichen Seitengassen, Pfade und Wege bildeten ein regelrechtes Labyrinth.

In diesem Augenblick hörte er wieder Stimmen hinter sich. In den Schatten der Häuser konnte er den Umriss eines Menschen erkennen. Erschrocken hielt er die Luft an und presste sich an die nächste Wand. Doch die Gestalt hatte ihn anscheinend bereits bemerkt und bewegte sich auf ihn zu. Lennox ließ seinen Daumen über die Spitze des Nagels streifen. Würde der Abend einen weiteren Mord von ihm erfordern? Es hatte den Anschein.

Hell und heiß war es auf der Bühne. Zahlreiche Fackeln sorgten dafür, dass sie in ein flackerndes Licht gehüllt war. Die Schatten hingegen tanzten bedrohlich an den Wänden und an der Decke.

Der geräumige Saal war gefüllt mit Menschen, vorwiegend mit Männern. Sie saßen an den schmalen Tischen, grölten und lachten. Die Stimmung war ausgelassen, und je später der Abend wurde, desto lauter wurden die Menschen. Alkohol wurde in großen Mengen getrunken. Nicht selten fielen die schweren Krüge zu Boden und zersplitterten in tausend Scherben.

Nea kannte diesen Tumult bereits. Fast jeden Abend war das Wirtshaus bis zum Rande gefüllt. Es gab nicht viele Tavernen in der Stadt, und in den meisten von ihnen traf sich die Oberschicht.

In Balthasar’s Taverne hingegen konnte jeder einkehren, der einen Schluck über den Durst trinken wollte oder einfach nur ein wenig Geselligkeit suchte. Es fand sich immer eine Gruppe lustiger Kameraden, an deren Tisch noch ein Platz frei war. Natürlich war die Schenke dementsprechend schmutzig. Nea ließ ihren Blick über die Köpfe der Gäste schweifen. Viele von ihnen kannte sie. Es waren Stammgäste, die fast täglich vorbeikamen. An einem Tisch brüllte ein Mann besonders laut. Ihm war anzusehen, dass er bereits einige Gläser zu viel getrunken hatte. Seine Nase war rot und seine Worte nur noch ein unverständliches Lallen. Seine Kameraden feuerten ihn jedoch lauthals an, als er mit rudernden Armen eine Bedienung an seinen Tisch winkte.

Es war eine junge Frau, die ihre prallen Brüste gekonnt durch einen tiefen Ausschnitt betonte. Doch das war nichts Ungewöhnliches. In Balthasar’s Taverne trugen die Bedienungen wenig Stoff, um Kundschaft anzulocken. Und dieses Geschäftsprinzip rentierte sich. Nicht selten, so hieß es, zogen sich die vollbusigen jungen Frauen mit einem Kunden in einen der Räume in den hinteren Ecken der Taverne zurück. Dort verkauften sie ihren Körper, um sich einige Taler zusätzlich zu verdienen. Ein schmutziges Geschäft, doch wer ein erträgliches Leben führen wollte, musste dafür Opfer bringen.

In der Oberschicht hatte Balthasar’s Taverne einen schlechten Ruf. Man wollte sich von den schmutzigen Geschäften, die darin liefen, distanzieren. Angeblich gab es hier Männer, die gegen Geld Morde begingen. Nea selbst war einem solchen noch nicht begegnet, doch sie zweifelte nicht daran, dass diese Gerüchte einen wahren Kern besaßen. So oft gab es Tote in der Stadt, ohne dass ein Verantwortlicher gefunden wurde.

Es waren bereits Proteste aus der Bevölkerung erklungen. Man hatte gedroht, die Schenke zu schließen. Doch als bekannt wurde, dass die Stammkundschaft dann in anderen Wirtshäusern randalieren würde, war dieses Vorhaben schnell wieder gekippt worden. Seitdem konnte in Balthasar’s Taverne wüten, wer Lust darauf hatte – solange er sich von den restlichen Schenken der Stadt fernhielt.

Balthasar selbst war nichts als ein Schatten, für die meisten Menschen nur eine Legende. Er hatte den Schuppen aufgezogen, doch von ihm sah man nur selten etwas. Zu besonderen Anlässen ließ er sich blicken, meist jedoch versteckte er sich in den Katakomben seiner Schenke. Nea hatte ihn erst zweimal in ihrem Leben gesehen. Sein Äußeres passte nicht zu dem Ruf, der ihm vorauseilte. Man erzählte, er habe die Kontrolle über die gesamte Prostitution in der Stadt. Natürlich konnten das auch Geschichten sein, doch Gewissheit gab es nicht. Sicher war Nea sich nur darin, dass Balthasar auf den ersten Blick nicht so wirkte, als würde er mit kriminellen Machenschaften sein Geld verdienen. Er war klein und gedrungen, ein wenig dicklich. Für gewöhnlich trug er einen schwarzen Anzug und teure Schuhe. Es hieß außerdem, dass er stotterte. Ob das stimmte, wusste Nea nicht. Sie hatte ihn noch nie sprechen gehört.

Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen und ließ den Vorhang los, welchen sie zur Seite geschoben hatte, um in den Saal zu blicken.

»Zeig dich doch nicht schon vorher, du nimmst ihnen die Spannung.« Es war Theodora, die hinter ihr stand. Eine zarte Frau, gerade ein oder zwei Winter älter als Nea. Sie grinste breit und zeigte dabei ihre gelben Zähne. Ansonsten war ihr Gesicht bildhübsch. Das rote Haar trug sie offen. Noch tiefer als das Blau in ihren Augen war der Ausschnitt ihres Kleides. Wenn man genau hinsah, konnte man die Ränder der Brustwarzen erkennen. Theodora hatte den Ruf, dass sie die Männer reihenweise verführte. Es verstrich selten eine Nacht, in der sie sich nicht in einer der berühmten Kammern der Taverne befand und sich dort mit einem Kunden vergnügte. Anscheinend lief ihr Geschäft gut. »Du hast schon wieder ein neues Kleid«, stellte Nea sachlich fest.

»Wer Geld hat, sollte es auch ausgeben«, antwortete Theodora grinsend.

»Es steht dir gut, wirklich.«

»Und vor allem setzt es meine Titten hervorragend in Szene.«

Nea musste lachen. Die Frau hatte es auf den Punkt gebracht. Sie kannte Theodora bereits seit einer geraumen Weile, und sie waren zu guten Freundinnen geworden. Ihre Tätigkeit in Balthasars Taverne hatte zur selben Zeit begonnen, vier Winter waren seitdem verstrichen. Damals hatte Nea gerade ihren sechzehnten Winter erlebt, sie war noch unschuldig und hilflos gewesen. Doch in diesem Geschäft hatte sie schnell gelernt, sich zu behaupten. Theodora war dabei stets wie eine große Schwester gewesen. Zusammen hatten sie viel gelacht und viel geweint.

»Wirf noch einmal einen Blick in den Spiegel«, zischte Theodora schließlich. Mit dem Zeigefinger machte sie eine zwirbelnde Geste an ihrem Kopf. Dann rückte sie die Brüste in ihrem Kleid zurecht. »Ich muss mich noch um einen Kunden kümmern«, grinste sie dann, wirbelte herum und verschwand mit schnellen Schritten. Kopfschüttelnd blickte Nea ihr hinterher. Dann befolgte sie Theodoras Rat und schlenderte zu dem großen Spiegel, der an einer Wand des Raumes hing. Es gehörte zu ihrem Beruf, gut auszusehen. Die Leute verlangten es von ihr.

Strahlend grinste sie ihrem Spiegelbild entgegen. Tatsächlich stellte sie fest, dass sich in ihrem dunkelbraunen Haar ein Wirbel befand, der ihr attraktives Äußeres ein wenig trübte. Mit der Hand strich sie diesen Wirbel heraus und musterte sich dann erneut. Die braunen Augen passten farblich hervorragend zu ihren Haaren. Ihre Lippen waren voll, ohne besonders auffällig zu sein, und ihre Nase war klein und zierlich. Sie sah so aus, wie eine junge Frau auszusehen hatte.

Zufrieden ließ sie den Blick an sich selbst heruntergleiten. Sie trug wie Theodora ein Kleid mit tiefem Ausschnitt. Doch es zeigte nicht ihre Brustwarzen, sondern schloss darüber ab. Eng umschmiegte es ihren schlanken, sportlichen Körper. Es war so lang, dass es auch die Oberschenkel bedeckte. Die Knie und Waden hingegen waren nackt. Nea wusste, dass sie mit ihren langen Beinen die Männer verzaubern konnte.

Sie war sehr zufrieden mit sich selbst. Gerade als sie ihre Brüste noch einmal zurechtrückte, erklang hinter dem Vorhang eine tiefe, männliche Stimme. Sie kannte diese Stimme, denn sie hörte sie beinahe täglich.

Nicht ohne Stolz vernahm Nea, dass man sie als die großartigste Tänzerin der letzten drei Ewigkeiten ankündigte. Ein breites Grinsen huschte über ihr Gesicht. Der Auftritt konnte beginnen.

Mit großen Schritten durchquerte sie den Raum und ließ den Spiegel hinter sich. Schwungvoll schob sie den roten Vorhang zur Seite und betrat die Bühne. Applaus brandete auf, so laut, dass sie sich am liebsten die Ohren zuhalten wollte. Doch Nea kannte dieses Prozedere bereits, und in einem Anflug von Euphorie ließ sie den Lärm über sich ergehen.

Gläser klirrten aneinander, und Komplimente hallten durch den Saal. Sämtliche Augenpaare waren auf Nea gerichtet. Sogar die Bediensteten verharrten für einen Moment, um Beifall zu spenden.

Dann begann die Musik. Eine Gruppe Männer am Rande der Tribüne bediente die unterschiedlichsten Instrumente und erschuf auf diese Weise eine rhythmische Melodie, der es immer wieder gelang, Nea in ihren Bann zu ziehen. Und auch an diesem Abend wurde sie übermannt von der Musik. Während die Kundschaft noch jubelte und klatschte, begann sie zu tanzen. Alles um sie herum verschwamm zu einer trüben Masse, die sie kaum noch wahrnahm. Der Lärm der tobenden Menge rückte in den Hintergrund. Es gab nur noch Nea und die betörende Melodie.

Es begann mit einfachen Hüftschwüngen, doch schon bald drehte sie sich um die eigene Achse, wirbelte herum. Irgendwann zog sie den Stuhl zu sich heran, der mitten auf der Bühne stand. Grazil band sie diesen in ihren Tanz ein. Ihre Bewegungen waren flüssig, und sie spürte, dass es ein guter Abend war. Am lauten Grölen und dem Klatschen im Takt der Musik erkannte sie, dass das Publikum mitgerissen wurde.

Einige Männer, die anscheinend bereits zu viel getrunken hatten, stimmten lustige Lieder an, die sie lauthals grölten. Lachen und Jubeln erfüllte den Raum. Und Nea spürte, dass sich ihre Beine wie von allein bewegten.

Immer intensiver wurde die Musik, immer lauter und immer hektischer. Es wurde Zeit für den Höhepunkt ihrer Darbietung.

Den Griff hinter den Rücken brachte sie geschickt in den Tanz ein, sodass es aussah, als würde sie eine grazile Verrenkung machen. Lasziv streckte sie ihre Brüste dem Publikum entgegen. Scheppernd fiel ein schwerer Krug zu Boden.

Während sie um den Stuhl tänzelte, griff sie nach dem Reißverschluss am Rücken ihres roten Kleides. Die Musik hatte ihren absoluten Höhepunkt erreicht. Lauter und schneller war nicht mehr möglich. In diesem Moment riss Nea den Reißverschluss nach unten. Sie spürte, dass das Kleid augenblicklich von ihren Schultern glitt. Es rutschte über ihre Haut und fiel dann in Wellen zu Boden.

Nea stand nur noch in ihrer glitzernden Unterwäsche auf der Bühne. Die Hitze, die in dem Saal herrschte, drückte gegen ihre nackten Beine, gegen ihren Bauch und gegen ihren Oberkörper. Und die Menge war wie im Rausch. Sie streckten ihre Hände nach oben und feuerten Nea an. Sie schlüpfte aus ihrem Kleid hinaus und ließ es achtlos am Boden liegen. Gekonnt schwang sie ihre Hüfte, streckte der Kundschaft ihre von dem dünnen Stoff bedeckten Brüste entgegen. Dabei ließ sie ihren Blick über das Publikum schweifen. Die meisten Männer waren aufgestanden. Mit glühenden Wangen standen sie an ihren Tischen, stürzten den Alkohol hinunter und redeten miteinander, ohne die Augen von dem Mädchen auf der Bühne zu lassen.

Nea sank tänzerisch auf den Stuhl und räkelte sich darauf. Sie streckte die Arme in die Höhe, sodass ihre Brüste besonders hervorstachen. Auch ihren schlanken Körper konnten die Männer bewundern.

In diesem Moment flog die Tür des Wirtshauses auf. Ein breiter Schatten stand plötzlich im Türrahmen.

Augenblicklich verstummte die Musik. Nea verharrte in ihrer Haltung. Alle Köpfe richteten sich auf die Gestalt, die so lautstark erschienen war. Von einem Moment auf den nächsten herrschte Totenstille und eine schier greifbare Anspannung. Das letzte Klirren von Gläsern verstummte. Sogar die Betrunkenen verhielten sich plötzlich ruhig.

Die Gestalt betrat Balthasar’s Taverne und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Im flackernden Licht war das Gesicht nur undeutlich zu erkennen. Dennoch wusste jeder, wer die Schenke betreten hatte. Auch Nea kannte diesen Mann.

Es war der Sohn des Statthalters. Seine Statur war unverkennbar. Er war dick und unförmig. Wie immer trug er seinen schwarzen Anzug, der sich um seinen Bauch spannte. Die Füße steckten in ledernen Schuhen.

»Weiter«, schrie er mit seiner hellen, beinahe kreischenden Stimme. »Zeig uns deine Möpse, Tittenfee!« Mit der Hand wirbelte er in der Luft herum. Hektische Gesten befahlen den Musikern, ihre Instrumente wieder zu betätigen. Langsam setzte die Musik ein. Noch klang sie etwas stockend, ein wenig unkoordiniert. Es war ungewöhnlich, dass ein Mann solch hohen Ranges plötzlich einfach in Balthasar’s Taverne erschien. Die Oberschicht wollte mit der Unterschicht nichts zu tun haben.

Wie es der fette Mann wünschte, begann Nea wieder zu tanzen. Auch sie war noch etwas zögerlich, doch es stand nicht in ihrer Absicht, den Sohn des Statthalters zu verärgern. Wenn er eine Show wollte, sollte er seine Show bekommen.

Mit zufriedenem Gesichtsausdruck und in die Hüfte gestemmten Fäusten schlenderte er zwischen den Tischen hindurch. Nea ließ ihn nicht aus den Augen, obwohl sie sich eigentlich auf ihren Tanz konzentrieren musste. Sie mochte diesen Mann nicht. Als Sohn des Statthalters hatte er von Anfang an in der Oberschicht gelebt, ohne jemals etwas dafür getan zu haben. Arbeit war für ihn ein Fremdwort. Er hatte Geld, und sein Vater hatte Einfluss. Dementsprechend eilte ihm sein Ruf, überheblich und schmierig zu sein, meilenweit voraus.

Anscheinend hatte er auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Einer unvorsichtigen Bedienung schlug er ungeniert mit der flachen Hand auf den Hintern. Erschrocken wirbelte sie herum. Er schenkte ihr sein für sein junges Alter bereits sehr zahnloses Grinsen. Seine Lippen formten Worte, die Nea auf der Bühne nicht verstand. Es war zu laut. Die Bedienung jedoch nickte hektisch und eilte davon. Er hingegen ließ sich auf einen Stuhl sinken. Vor ihrem inneren Auge sah Nea den Stuhl unter dem Gewicht bereits zusammenbrechen. Ein breites Grinsen huschte über ihr Gesicht. Doch der Stuhl hielt. Der fette Mann starrte hinauf zu Nea und verfolgte ihre anmutigen Bewegungen.

Sie löste ihren Blick von dem Sohn des Statthalters. Ungern wollte sie seine Aufmerksamkeit erregen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf ihren Tanz. Langsam vergaß sie, wer sich im Raum befand, und wurde wieder ein Teil der Musik. Ihr Körper bewegte sich von allein, bis sie spürte, dass ihr Atem schwerer wurde. Wieder einmal hatte sie sich völlig verausgabt.

Die Musik wurde leiser, ihre Bewegungen langsamer. Dann verklang der letzte Ton. Der Rausch, in dem sie sich bis zu diesem Zeitpunkt befunden hatte, nahm ein Ende. Sie kehrte zurück in die Realität. Im Saal erklangen zögerliche Gespräche. Doch viele Augenpaare waren noch auf Nea gerichtet. Gebannt hatte man ihren Tanz verfolgt.

Sie suchte nach dem Sohn des Statthalters, doch er war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er irgendeinen Grund gefunden, sich über das Wirtshaus zu beklagen, und war gegangen, ohne zu zahlen. Das war so üblich unter den Wohlhabenden. Sie waren geizig und egoistisch. Und dann wunderten sie sich, dass sie von der Unterschicht verabscheut wurden.

Nea zupfte ihr Kleid vom Boden und schwang es sich über die Schulter. Dann verließ sie die Bühne, ohne sich weitere Gedanken über den fetten Mann zu machen. Ein letzter Applaus brandete auf, als sie hinter dem Vorhang verschwand. Die angeregten Gespräche wurden wieder so laut, dass kaum etwas anderes als ein undurchdringliches Stimmengewirr zu hören war. Doch der Vorhang dämpfte den Lärm ein wenig.

»Ein toller Auftritt.« Lächelnd empfing Theodora sie. Ihr Kleid war verschoben, und auch dem geröteten Gesicht der Frau war anzumerken, dass sie sich tatsächlich ihrem Kunden gewidmet hatte.

»Danke. Ich habe mich heute wieder besonders gut gefühlt.«

»Das hat man dir angesehen. Du hast das Publikum mitgerissen. Sogar Eugen war begeistert von dir.«

Nea warf ihr einen schrägen Blick zu. »Eugen? Wer zur Hölle ist Eugen?«

»Der Sohn des Statthalters«, antwortete Theodora lachend. »Er hat die ganze Zeit reglos auf seinem Stuhl gesessen und dich angestarrt. Anscheinend hast du Eindruck auf ihn gemacht.«

»Das ist mein Beruf. Ich hoffe, dafür hat die Kasse geklingelt.«

Theodora schnaubte verächtlich. »Das glaubst du doch selbst nicht. Als er merkte, dass dein Tanz bald zu Ende ist, ging er ohne ein weiteres Wort. Ich habe ihn genau beobachtet. Eigentlich wollte ich ihn heute Nacht näher kennenlernen.«

»Der Mann ist widerwärtig«, hielt Nea dagegen. »Du kannst dich mit jedem Menschen in dieser Stadt vergnügen, aber nicht mit diesem Fettsack.«

»Nicht nur sein Bauch ist prall gefüllt.« Theodora rieb die Finger aneinander. »Auch sein Geldbeutel droht zu platzen.«

Nea schüttelte sich lachend die Haare aus dem Gesicht. Sie verstand Theodora. Es ging ums Geschäft, um nichts anderes. Würde spielte längst keine Rolle mehr, denn diese hatte Theodora verloren, als sie als junges Mädchen begonnen hatte, in Balthasar’s Taverne zu arbeiten.

»Es ist schon spät«, sagte Nea schließlich und näherte sich wieder dem Spiegel an der Wand. Für einen Moment musterte sie sich selbst und auch Theodora, die hinter ihr stand und sie kritisch beäugte.

»Du bist ein gutes Mädchen«, sagte Theodora schließlich. Nea blickte ihrem Spiegelbild in die Augen.

»Wie kommst du darauf?«

»Du musst deinen Körper nicht verkaufen. Du …«

»Hör auf, bitte. Letztlich verkaufe auch ich meinen Körper. Hast du gesehen, wie sie mich anstarren?«

»Bitte versprich mir, dass du niemals mit solchen Männern in ein Bett steigen wirst.« Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Wenigstens nicht für Geld. Du solltest das liebenswerte Mädchen bleiben, als das ich dich kennengelernt habe.«

»Entweder du wirst gerade verdammt emotional«, antwortete Nea, »oder du hast Angst, dass ich dein Geschäft gefährde.«

Theodora versetzte ihr einen leichten Klaps auf den Hintern. »Du weißt, wie ich es gemeint habe.« Dann zwinkerte sie ihr noch einmal zu, wirbelte herum und verschwand aus dem Raum. Nea blieb allein mit sich selbst und ihrem Spiegelbild zurück.

»Ich weiß, wie du das gemeint hast«, wiederholte sie flüsternd. Dann schlüpfte sie wieder in ihr Kleid, das sie bis zu diesem Zeitpunkt über der Schulter getragen hatte wie ein nasses Handtuch. Sie fühlte sich sofort ein wenig besser. Nicht mehr so nackt und den Blicken fremder Männer ausgesetzt. Doch ihr Spiegelbild empfand sie noch immer als attraktiv.

Dann schlenderte sie langsam zum Hinterausgang. Manchmal ging sie auch direkt durch den gefüllten Saal, um ein letztes Mal anerkennende Pfiffe zu ernten. Doch heute hatte sie darauf keine Lust. Obwohl ihr Tanz so euphorisch gewesen war, erfüllte sie nun eine innere Leere.

In Gedanken vertieft schob sie den Riegel zur Seite, trat hinaus in die kühle Nacht und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Eine sanfte Brise trug ihre trübseligen Gedanken augenblicklich hinfort. Sanft kitzelte der Wind ihr Gesicht. Für einen Moment legte sie den Kopf in den Nacken und starrte einfach nur hinauf in den Nachthimmel. Beschützend und majestätisch leuchtete dort der Mond. Es war still, sehr still. Nur vereinzelt drang das Geräusch von klirrenden Gläsern aus einem geöffneten Fenster der Taverne.

Nea ärgerte sich ein wenig, dass sie keinen Mantel mitgenommen hatte. Es war ungewöhnlich kühl, und ihr Kleid war sehr knapp. Schnell breitete sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper aus. Sie beschloss, nicht länger herumzustehen. Mit einem letzten Blick über die Schulter ließ sie Balthasar’s Taverne hinter sich und tauchte ein in die finsteren Gassen der Stadt. Sie konnte den Weg sogar in völliger Dunkelheit finden, doch an diesem Abend sorgte der Mond dafür, dass sie ihre Umgebung erkennen konnte. Die Gegend war verkommen. Es gab nur die alten, heruntergekommenen Hütten, in denen die Unterschicht hauste. Die Gebäude drängten sich eng aneinander. Schon lange bestand eine große Kluft zwischen Arm und Reich. Der Anteil der Armen wurde immer größer, und gleichzeitig wuchs der Wohlstand der wenigen Reichen.

Es hatte längst nichts mehr mit Können oder mit Durchhaltewillen zu tun, wenn man es in dieser Stadt zu etwas brachte. Entweder man wurde in eine wohlhabende Familie hineingeboren – oder man lebte in der Unterschicht. Eine andere Option gab es nicht.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb Nea die Gedanken daran. Sie verdiente ausreichend Geld, um davon leben zu können. Zwar konnte sie sich nicht den größten Luxus leisten, doch sie trug stets angemessene Kleidung und litt keinen Hunger. Ihr Leben hätte auch in eine andere Richtung verlaufen können, wenn sie damals nicht in Balthasar’s Taverne untergekommen wäre.

»Meine Lieblingstänzerin!«

Wie zu einer Salzsäule erstarrt blieb Nea stehen und lauschte. Direkt hinter ihr war diese Stimme erklungen. Eine Stimme, die sie kannte. Als sie sich umdrehte, bestätigte sich ihre Vermutung. Eugen, der Sohn des Statthalters, stand dort wie ein düsterer Schatten, die Fäuste in seine fülligen Hüften gestemmt. Es war nicht zu erkennen, ob er lächelte.

»Es freut mich, dass es mir gelungen ist, Euch zu begeistern«, stammelte Nea. Am liebsten wollte sie davonlaufen, denn der fette Mann war ihr unheimlich. War er ihr gefolgt, oder trieb er sich rein zufällig in diesem Teil der Stadt herum?

»Begeisterung ist gar kein Ausdruck. Ich war entzückt.«

Verlegen lachte Nea.

Eugen schlenderte langsam auf sie zu. Die Hände steckte er lässig in seine Hosentaschen. Seine Bewegungen waren nicht geschmeidig. Im Gegenteil. Ihm war anzusehen, dass er Mühe hatte, seinen massigen Körper vorwärtszuschleppen. Für einen Augenblick überlegte Nea, ob sie davonlaufen sollte. Folgen würde Eugen ihr sicherlich nicht. Nach wenigen Schritten würde er hoffnungslos zusammenbrechen. Doch andererseits wollte sie einen Mann solch hohen Standes nicht verärgern. Wenn sie die Oberschicht gegen sich aufhetzte, hatte sie schlechte Karten.

»Wohin führt es ein schönes Mädchen wie dich denn in dieser finsteren Nacht? Du solltest vorsichtig sein.«

»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, stammelte Nea, »und bisher ist mir noch nichts passiert.«

»Dann gestattest du mir sicherlich, dass ich dich begleite, damit dir auch weiterhin kein Leid zugefügt wird.«

»Zu gütig, aber ich komme schon zurecht.«

»Ich dulde keinen Widerspruch.« Eugens Stimme wurde von einem Augenblick auf den anderen drohender. »Ich werde dich begleiten.«

Mit einem Schulterzucken willigte Nea ein. Es hatte keinen Zweck, sich zu widersetzen. Sie konnte den Sohn des Statthalters nicht einfach vor den Kopf stoßen.

Schlendernd setzte sie sich wieder in Bewegung. Eugen ging neben ihr. Wenigstens schwieg er für einen Moment. Doch anscheinend wurde es ihm bald zu langweilig. »Wie lange tanzt du schon in diesem Laden?«, fragte er nun wieder mit zuckersüßer Stimme.

»Seit vier Wintern.«

»Und bist du dort glücklich? Ich stelle mir das nicht sehr erfüllend vor.«

»Doch, ich bin glücklich. Immerhin verdiene ich dort gutes Geld.«

»Und trittst du jede Nacht auf? Du hast so schön getanzt, als würdest du seit deiner Geburt nichts anderes machen.«

»Ich tanze fast täglich.«

»Warum antwortest du so ausweichend? Hast du etwas gegen mich?«

Nea schüttelte hastig den Kopf. »Nein, keinesfalls! Ich bin nur müde.«

Eugen lachte kehlig. »Dagegen lässt sich bestimmt etwas machen. Darf ich dich einladen in eine bessere Schenke? Dort gibt es nicht so dünnen Alkohol wie in deinem Laden. Und die Kundschaft ist auch …«

»Nein, wirklich nicht. Ich weiß Euer Angebot zu schätzen, doch lieber möchte ich bald schlafen gehen.«

Eine schwere, fettige Hand legte sich auf ihre Schulter. Nea unterdrückte ein Schaudern und kämpfte gegen den Drang an, Eugens Hand angewidert beiseitezustoßen. In einem Anflug von Erleichterung stellte sie fest, dass sie bald zu Hause angekommen war. Eine einzige Straße musste sie noch hinter sich bringen. Insgeheim hoffte sie, dass sie Eugen an der Haustür abschütteln konnte.

»Du bist so ein schönes Mädchen. Ich möchte dir doch nur helfen. Glaub mir, ich besorge dir eine anständige Arbeit. Du wirst mehr Geld verdienen, und du wirst glücklicher sein.«

»Ich bin glücklich, wirklich.« Sie ging mittlerweile so schnell, dass Eugen Mühe hatte, nicht zurückzufallen. Sein Atem ging schwer. Er schien einen Moment zu überlegen.

Nea erreichte die Tür ihres Hauses. Demonstrativ legte sie ihre Hand an das kühle Holz. »Wir sind angekommen. Ich danke Euch, dass Ihr mich bis hierher begleitet habt.«

»Es war mir ein Vergnügen. Dennoch …«

Nea drückte die Tür auf und schüttelte gleichzeitig energisch den Kopf. Sie hatte genug von dem fetten Mann und wollte endlich ihre Ruhe haben. Als ihr der Geruch ihres Heims entgegenschlug, fühlte sie sich besser. In wenigen Augenblicken würde sich die Tür zwischen ihr und Eugen befinden. Dann endlich würde wieder Ruhe einkehren. Doch es kam anders, als sie es sich erhofft hatte. Während sie noch damit beschäftigt war, in der Dunkelheit nach der Tür zu fassen, um sie hinter sich zu schließen, legte Eugen ihr die Hände auf die Schultern. Er drückte seinen dicken Bauch gegen ihren Rücken und schob sie ins Innere des Hauses. Polternd fiel die Tür ins Schloss. Nea spürte den heißen, hektischen Atem im Rücken.

»Ich will deinen Körper«, zischte Eugen, »und ich werde bekommen, was ich verlange.«

Panik stieg in Nea auf. Der fette Mann wollte sie tatsächlich vergewaltigen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was konnte sie tun? Nach Hilfe rufen? Niemand würde herbeieilen. Und selbst wenn – es gab keinen Menschen, der es wagen würde, die Hand gegen den Sohn des Statthalters zu erheben. Nicht einmal in dieser Situation.

Brutal stieß er sie in den Raum hinein. Nea unterdrückte ein leises Wimmern, und sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, Widerstand zu leisten. Sie spürte eine heiße Träne, die an ihrer Wange herabrann. Dann ließ Eugen von ihr ab.

»Hast du Licht?«, fragte er mit drohender Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Hektisch nickte Nea. Mit pochendem Herzen suchte sie nach der Öllampe, die auf ihrem Tisch stand. Mit zittrigen Fingern gelang es ihr, diese zu entzünden. Sofort erhellte flackerndes Licht den Raum.

»Hervorragend«, grinste Eugen. »Und nun zieh dich aus.«

»Nein!« Nea schüttelte den Kopf. Sie konnte den Gedanken plötzlich nicht mehr ertragen, ihren Körper zu zeigen. Vor allem nicht diesem abstoßenden Mann. Alles in ihr sträubte sich dagegen.

»Du hast in der Taverne doch auch so schön mit deinen Titten gewackelt. Ich habe gesehen, dass du mich willst.«

»Das muss ein Missverständnis sein, es tut mir …«

»Schweig!« Urplötzlich hielt Eugen einen kleinen Beutel in der Hand. Darin klimperte es.

Undeutlich erinnerte Nea sich an Theodoras Worte. Versprich mir, dass du niemals mit einem dieser Männer in ein Bett steigen wirst. Wenigstens nicht für Geld.

»Ich prostituiere mich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass Ihr in der Taverne jemanden finden werdet …«

Eugen ließ sie nicht ausreden. Mit wütenden Schritten kam er auf sie zu. Dunkle Ringe lagen um seine Augen, und sein Gesicht hatte er zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Er ließ den Geldbeutel fallen, ohne ihn weiter zu beachten. Dann riss er sein Hemd auf, sodass die Knöpfe heraussprangen und klimpernd zu Boden fielen. Sein schmieriger, gewaltiger Bauch kam zum Vorschein. Nea schauderte. Der Anblick war ekelerregend. Niemals zuvor hatte sie so viel Fett an einem einzigen Menschen gesehen. Wie ein schlaffer Sack quollen Fleisch und Haut über den Hosenbund des Mannes. Auch seine verfetteten Brüste hingen schlaff herab. Schweißperlen hatten sich an seinen Armen gebildet und rannen in verwackelten Linien an seiner Haut hinab. Achtlos warf er sein Hemd zu Boden. Dann rieb er sich freudig die Hände.

»Nun bist du an der Reihe.«

Erneut schüttelte Nea den Kopf. Sie wich zurück und spürte plötzlich die Wand des Hauses in ihrem Rücken. Eugen grinste breit. Er überwand die letzten Schritte, bis er direkt vor ihr stand. Der Gestank von Schweiß stieg ihr beißend in die Nase. Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Tränen rannen über ihre Wangen.

Eine feuchte Hand legte sich um ihr Kinn. Eugen drückte dagegen, sodass sie ihren Kopf gerade drehen musste.

»Öffne deine Augen!«, bellte er. Er spuckte beim Sprechen, und Nea spürte den Speichel auf ihren Wangen. Dann öffnete sie die Augen. Sie blickte Eugen direkt ins Gesicht.

»Gutes Mädchen.« Er löste den Griff um ihr Kinn. Doch im nächsten Moment legte er die Hände auf ihre Schultern und ließ die dicken Finger unter den Ausschnitt ihres Kleides gleiten. Nea biss sich auf die Lippe, als sie seine Hände auf ihrer Haut spürte. Sie wollte weinen und kreischen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Panisch sah sie Eugen in die Augen.

»Richtig so«, grinste er, »sieh mich an!«

Ruckartig zerrte er ihr Kleid nach unten, sodass es über ihre Schultern glitt. In seinen Augen glänzte die Lust. Er würde sich an Nea vergehen, wenn sie sich nicht wehrte. Panisch ließ sie ihren Blick durch den Raum huschen.

Ein letzter Ruck, dann lagen ihre Brüste frei. Laut atmend starrte Eugen auf ihre Brustwarzen. Er ließ das Kleid los und wollte wieder ihre Haut berühren.

»Bitte, lasst mich in Ruhe«, winselte Nea. Der fette Mann lachte nur. Er war wie im Rausch. Seine Augen glänzten, und Schweiß klebte ihm plötzlich auf dem ganzen Gesicht.

In diesem Moment ging Nea ruckartig in die Knie, schlüpfte unter den Armen des Mannes hindurch und sprang in den Raum hinein. Den verdutzten Eugen ließ sie hinter sich zurück. Doch er wirbelte augenblicklich herum. Wütend starrte er sie an. Nea schob ihr Kleid nach oben und verdeckte ihre Brüste auf diese Weise wieder.

Eugen taumelte auf sie zu. Doch Nea war nicht bereit, sich von ihm ihren Stolz nehmen zu lassen. Entschlossen griff sie nach dem Hals einer gläsernen Flasche, die auf dem Küchentisch stand.

Eugen lachte lauthals. Er stemmte die Fäuste in seine Hüften und schüttelte den Kopf. Dann war er schon wieder herangekommen. Grinsend streckte er die Arme aus, wollte das Kleid erneut herunterreißen.

Nea holte aus und schlug ihm die Flasche gegen den Schädel. Das Glas zersplitterte, und Scherben regneten zu Boden. An Eugens Kopf prangte plötzlich eine Wunde, aus der rotes Blut quoll. Einige Scherben hatten sich in seine Haut gegraben und steckten nun in seinem Gesicht. Erschrocken taumelte er einen Schritt zurück. Nea starrte ungläubig auf die Wunde, die sie in den Schädel des Mannes geschlagen hatte, und dann auf den Flaschenhals, den sie noch immer in der Hand hielt. Die Kanten waren nun scharf wie Rasierklingen. Einige Bluttropfen hafteten daran.

Mit einer wütenden Handbewegung wischte Eugen sich das Blut von der Stirn. Er spie vor Nea auf den Boden. Sein Speichel war durchzogen von roten Schlieren.

»Du widerwärtige Hure!«, schrie er. »Erhebe niemals deine Hand gegen den Sohn des Statthalters!« Dann taumelte er wieder auf sie zu. Seine Schritte waren schwer, und sein Gesicht schimmerte rot vor Blut. Ein Auge kniff er zusammen. Wahrscheinlich war es von einer Scherbe verletzt worden. Wieder streckte er die Arme aus, um nach Nea zu greifen. Sie wollte zurückweichen, doch dann spürte sie die Tischkante in ihrer Hüfte. Sie sah keinen Ausweg mehr. Heftig stieß sie die aufklaffende Flasche in Eugens Bauch. Schmatzend drang das gezackte Glas in seinen Leib ein. Sie drückte die messerscharfen Scherben mit aller Kraft tiefer und spürte, dass die scharfen Kanten Fleisch und Sehnen durchschnitten. Blut sprühte hervor und verfärbte das Glas dunkelrot. Doch Nea hielt nicht inne. Wie im Rausch drehte und schob sie den Hals der Flasche, bis sie regelrecht ein Loch in Eugens Bauch gerissen hatte.

Entsetzen stand in seinen Augen. Er öffnete seinen Mund und wollte anscheinend irgendetwas sagen, brachte jedoch nur ein ersticktes Keuchen hervor. Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch.

»Stirb, du erbärmlicher Widerling«, flüsterte Nea. Das Blut, das aus Eugens Bauch spritzte, war mittlerweile schwarz. Es besudelte Neas Hand und ihren Arm. Es war heiß.

Zitternd löste Nea ihre Finger vom Flaschenhals. Das Glas blieb weiterhin in Eugens Fleisch stecken. Entsetzt versetzte sie dem panisch blickenden Mann einen Stoß gegen das Brustbein. Mit geöffnetem Mund kippte er nach hinten und prallte schwer auf den hölzernen Boden. Pechschwarzes Blut quoll aus der Wunde, besudelte seinen Bauch und bildete eine Pfütze auf dem Boden. Eugen krächzte ein letztes Mal, wand sich wie ein erstickender Fisch, den die Fluten an Land gespült hatten. Und dann starb er.

Nea starrte ungläubig auf das Blutbad, das sie angerichtet hatte.

Es stirbt, wer Böses tut und Regeln bricht,mit düst’ren Perlen im eigenen Gesicht.Doch wenn plötzlich gute Menschen fehlen,erfüllen fremde Augen golden schimmernde Juwelen.

Am Horizont Unendlichkeit

Mit wild pochendem Herzen kauerte Lennox in einer finsteren Ecke. Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit verstrichen war, seitdem er seinem Tod knapp entronnen war. Die Nacht war mittlerweile so dunkel, dass er kaum noch die eigene Hand vor Augen erkennen konnte.

Der rostige Nagel lag in seiner Hand, und er klammerte seine Finger darum. Zu viel war in dieser kurzen Zeit geschehen. In seinem Hirn tobten die Bilder und Erinnerungsfetzen an die letzten Ereignisse und benebelten seine Sinne. Wieder und wieder sah er den Strick vor sich, er sah den Henker sterben. Es folgte die Flucht durch die engen Seitengassen und schließlich die Gestalt, die sich bedrohlich aus den Schatten geschält hatte. Lennox hatte es nicht zu bezweifeln gewagt, dass es sich um einen Verfolger handelte, der ihn sterben sehen wollte. Die Meute am Galgen war blutgierig gewesen. Also hatte Lennox nicht gezögert. Er war aus der Dunkelheit gesprungen und hatte einem zweiten Menschen den Tod gebracht.

Noch immer hallte der erstickte Schrei in seinen Ohren nach.

Es hatte sich um einen Obdachlosen gehandelt, der winselnd vor ihm in die Knie gesunken war und den Nagel umklammert hatte, der in seinem Schädel steckte. Kein Wort war über Lennox’ Lippen gekommen. Zu tief saß der Schock, versehentlich einen unschuldigen Menschen getötet zu haben. In blinder Panik war er davongelaufen, nur weg von diesem Ort.

Und nun kauerte er in dieser Ecke und wusste nicht, was er tun sollte. Alles Leben um ihn herum war längst erstorben. Die Stadt hielt den Atem an, und Stille würde herrschen, bis der nächste Morgen hereinbrach.

Seine Gedankengänge waren ein einziges trübes Meer, in dem die Selbstzweifel trieben, als er langsam aufstand. Doch er begriff, dass er nicht in der Stadt bleiben konnte. Er war zu einem zweifachen Mörder geworden. Zu dem Abschaum, der er niemals hatte sein wollen. Das Gesetz kannte keine Gnade. Wenn man ihn fasste, war sein Ende besiegelt. Ein zweites Mal würde er nicht entkommen.

Wie in Trance taumelte er durch die Gassen. Das Blut, das an seinen Händen haftete, war bereits zu einer harten Kruste erstarrt. Es widerte ihn an, so dreckig zu sein. Doch diese Sorgen waren nichts in Anbetracht dessen, was er getan hatte. Er hatte eine unentschuldbare Straftat begangen. Nun war er ehrenlos, schmutzig und verachtenswert.

Urplötzlich wurde er aus seinen tiefen Gedanken gerissen. Neben ihm flog eine hölzerne Tür auf, und eine Gestalt stürmte heraus, die er in dem kurzen Augenblick nicht erkennen konnte. Er wollte ausweichen, doch es war zu spät. Der Schatten prallte gegen ihn und schleuderte ihn zu Boden. Unsanft landete er im Schlamm. Die Gestalt, die gegen ihn gelaufen war, stieß einen spitzen Schrei aus. An dem schrillen Ton erkannte Lennox, dass es sich um eine Frau handeln musste.

Ächzend stemmte er sich in die Höhe. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schmutz aus dem Gesicht.

»Entschuldigung«, murmelte die Gestalt gedankenverloren. Sie war in den Türrahmen zurückgewichen, aus dem sie wenige Augenblicke zuvor gestürmt war. Im Inneren des Hauses brannte Licht. So hob sich die Frau nur als schlanker Schatten ab, der reglos auf Lennox starrte.

»Es ist nichts geschehen«, sagte Lennox, während er sich wieder aufrichtete. »So etwas kann passieren.«

Die Frau schwieg. Ihre Arme presste sie links und rechts gegen den Türrahmen. In der Ferne war ein animalisches Kreischen zu hören, das gedämpft über die Stadt hallte. Dann kehrte wieder Stille ein.

»Warum hast du es so eilig?«, fragte Lennox schließlich und rang sich ein gekünsteltes Lachen ab. Die Frau schüttelte zur Antwort den Kopf. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Sie wirkte steif, als würde sie etwas zu verbergen versuchen.

Lennox trat einen Schritt zur Seite, um an ihrem Körper vorbeizuspähen. Er erhaschte einen Blick ins Innere des Hauses. Eine Lampe, die auf einem Tisch stand, spendete Licht. Am Boden lag ein massiger Schatten. Bevor Lennox diesen Schatten genauer mustern konnte, versperrte die Frau ihm mit ihrem Körper wieder die Sicht.

»Liegt da ein Mensch?«, fragte er ungläubig. Erneut schüttelte die Frau hektisch den Kopf. Doch ihre Bewegung wirkte müde.

»Du hast jemanden getötet«, kombinierte Lennox. Das obligatorische Kopfschütteln war die Antwort.

»Dann sind wir schon zu zweit.« Diesmal lachte er nicht, sondern stöhnte resignierend. Die Frau verkrampfte sich in ihrer Haltung.

»Was soll das heißen?«, fragte sie schließlich mit dünner Stimme.

»Du hast einen Mord begangen, und du siehst nicht aus, als wärst du besonders glücklich darüber. Mir ist dasselbe …«

»Das kannst du nicht verstehen!« Die Stimme der Frau war plötzlich schrill und wütend – verzweifelt. Lennox hob abwehrend die Hände.

»Nein, ich kann es nicht verstehen.«

Die Frau schwieg einen Moment. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie dann nach einer Weile, während sie unruhig von einem Fuß auf den anderen wippte. Innerlich musste Lennox grinsen. Die gesamte Situation erschien ihm abstrus. Auf der Flucht vor seinen eigenen Taten traf er plötzlich mitten in der Nacht auf eine Frau, die sein Schicksal teilte. Er war kein Mensch, der daran glaubte, dass eine höhere Macht die Ereignisse auf der Erde lenkte, doch für einen kurzen Augenblick zweifelte er an seinen eigenen Idealen.

»Ich werde die Stadt verlassen«, antwortete er schließlich.

»Ragtoras verlassen? Das ist absurd.«

»Ich habe nie von dir verlangt, dass du meine Beweggründe verstehst.«

»Ich verstehe überhaupt gar nichts mehr.« Die Frau schüttelte verzweifelt den Kopf, sodass ihr Haar durch die Luft wirbelte. »Ich verstehe nicht einmal, warum ich jetzt hier im Türrahmen lehne und mich mit dir unterhalte.«

»Schicksal? Zufall?«

»Wohin wirst du fliehen?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht in der Stadt bleiben kann.« Er wischte sich in einer fließenden Bewegung die Haare aus dem Gesicht. »Und was wirst du tun?«

Die Frau schnaubte verächtlich. »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Vielleicht …«

»Warte«, unterbrach Lennox sie und legte beschwörend den Zeigefinger auf seine Lippen. Schweigend lauschte er in die Stille hinein. Dann hörte er Stimmen. Männer, die sich unterhielten und anscheinend näher kamen.

»Ich muss weg«, gab er schließlich entschuldigend bekannt. »Sonst werden sie mich finden. Es war mir eine Freude, dich kennengelernt zu haben.«

Die Frau kicherte, doch es war ein trauriges Kichern. Lennox wirbelte herum und wollte davonlaufen, als ihn die Stimme der Frau aufhielt.

»Ich werde mit dir kommen«, flüsterte sie. In einer Mischung aus Nicken und Kopfschütteln wandte Lennox sich wieder zu ihr herum.

»So?«, brachte er nur erstickt hervor.

»Was bleibt mir anderes übrig?« Mit diesen Worten verschwand die Frau aus dem Türrahmen in das Innere des Hauses. Lennox betrachtete schweigend den reglosen Schatten, der auf ihrem Fußboden lag. Er hatte nicht das Bedürfnis, die Leiche genauer zu betrachten.

Einen Wimpernschlag später erlosch das Licht im Inneren des Hauses. Die Frau schälte sich als undeutliche Silhouette aus der Dunkelheit. Nahezu lautlos zog sie die Tür hinter sich ins Schloss. Dann ging sie auf Lennox zu und streckte ihm die Hand entgegen. Er griff danach, spürte die grazilen Finger und den festen Händedruck.

»Ich heiße Nea«, flüsterte sie.

»Sehr erfreut. Mein Name ist Lennox.«

Die Stimmen der Männer erklangen wieder, diesmal in unmittelbarer Nähe. Sie konnten jederzeit in der Gasse erscheinen.

Lennox setzte sich in Bewegung. Nea folgte ihm mit raschelndem Mantel. Gemeinsam eilten sie der Dunkelheit entgegen und verschmolzen mit den Schatten. Mit hektischen Schritten bahnten sie sich ihren Weg durch die nächtlichen Gassen, bis sich irgendwann eine schwach beleuchtete Hauptstraße aus der Finsternis schälte. Schaurig glänzte das Kopfsteinpflaster, und die Lichter der Lampen an den Straßenrändern tanzten ihren unheimlichen Tanz.

»Die Hauptstraße?«, flüsterte Nea. »Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?«

»Nein. Aber wenn wir Ragtoras verlassen wollen, müssen wir eines der Stadttore nutzen. Einen anderen Ausgang gibt es nicht.«

»Sie werden uns entdecken.«

»Wovor fürchtest du dich?« Lennox kicherte leise. »Es hat doch noch niemand bemerkt, dass du einen Mord begangen hast. Oder?«

Nea schwieg zur Antwort. Dann zuckte sie resignierend mit den Schultern und folgte Lennox bereitwillig auf die Hauptstraße.

Sofort wurden sie in ein beängstigendes, flackerndes Licht gehüllt. Die Häuser an den Straßenrändern hingegen verschmolzen zu einer einzigen pechschwarzen Wand, die nur vereinzelt von noch schwärzeren Lücken unterbrochen wurde. Ein kühler Wind flüsterte bedrohliche Worte.

Zögernd musterte Lennox die Hauptstraße. Auch er war beunruhigt und befürchtete, dass schon bald seine Verfolger auftauchen würden. Doch vorerst blieb es still. Die einzigen Geräusche verursachte der Wind.

»Wir gehen in diese Richtung«, sagte Lennox und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger die Straße hinab. Diesen Teil der Stadt kannte er nicht besonders gut, doch er ahnte, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden.

Gemeinsam liefen sie die Straße hinab und bemühten sich dabei, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Zwar begegneten sie nicht einer Menschenseele, dennoch wurde das Gefühl schier übermächtig, dass sie von tausend Augenpaaren aus der Dunkelheit kritisch beäugt wurden.

»Sieh nur, dort«, flüsterte Nea schließlich mit besorgter Stimme und blieb stehen. Lennox kniff die Augen zusammen und starrte in die Richtung, in die sie deutete. Tatsächlich erkannte er Menschen. In einer kleinen Gruppe standen sie um ein Objekt versammelt, das sich aus der Ferne kaum erkennen ließ.

Lennox und Nea verließen die beleuchtete Straße mit raschen Schritten, als hätten sie sich abgesprochen, und verschmolzen mit den Schatten an den Wänden der Häuser. Lautlos näherten sie sich den Menschen. Schließlich hielten sie mit pochenden Herzen inne und lauschten. Die Männer redeten miteinander und gestikulierten wild. Bei dem Objekt, um das sie sich versammelt hatten, handelte es sich um eine Kutsche. Vereinzelt war das Schnauben der Pferde zu hören, die davorgespannt waren. Die Männer schienen sich unterdessen über irgendetwas zu streiten. Der Wind stand allerdings so ungünstig, dass nur Wortfetzen an Lennox’ Ohr drangen.