Die Nacht der Zugvögel - Christy Lefteri - E-Book

Die Nacht der Zugvögel E-Book

Christy Lefteri

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Beschreibung

Manchmal merkt man erst, wie wichtig eine Person ist, wenn sie nicht mehr da ist …

Nisha träumt davon, ihrer geliebten Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Allein deshalb verlässt sie ihre geliebte Heimat und beginnt weit weg ein Leben als Kindermädchen. Der Preis ist hoch, denn die Sehnsucht nach ihrem Kind droht Nisha fast zu zerreißen. Für ihre Arbeitgeberin Petra wird sie als Kindermädchen schnell unverzichtbar, doch trotz der vermeintlichen Nähe macht Petra sich kaum die Mühe, auch den Menschen Nisha mit seinen Ängsten, Sorgen und Hoffnungen kennenzulernen.
Erst als Nisha plötzlich verschwindet und Petra schockiert feststellen muss, wie gleichgültig die Polizei darauf reagiert, folgt sie Nishas Spuren. Was sie entdeckt, wird sie selbst und ihr Leben für immer verändern ...

Ein schmerzlich-schöner Roman von einer Autorin, die sich traut, auch unbequeme Fragen zu stellen und den Vergessenen eine Stimme zu geben.
»Christy Lefteri ist eine mutige, provokante Autorin, deren Geschichten uns noch lange verfolgen.« Heather Morris, Autorin des SPIEGEL-Bestsellers »Der Tätowierer von Auschwitz«

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Buch

Nisha träumt davon, ihrer geliebten Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Allein deshalb verlässt sie ihre geliebte Heimat und beginnt weit weg ein Leben als Kindermädchen. Der Preis ist hoch, denn die Sehnsucht nach ihrem Kind droht Nisha fast zu zerreißen. Für ihre Arbeitgeberin Petra wird sie als Kindermädchen schnell unverzichtbar, doch trotz der vermeintlichen Nähe macht Petra sich kaum die Mühe, auch den Menschen Nisha mit seinen Ängsten, Sorgen und Hoffnungen kennenzulernen.

Erst als Nisha plötzlich verschwindet und Petra schockiert feststellen muss, wie gleichgültig die Polizei darauf reagiert, folgt sie Nishas Spuren. Was sie entdeckt, wird sie selbst und ihr Leben für immer verändern …

Autorin

Christy Lefteri wuchs als Tochter zyprischer Geflüchteter in London auf. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an der Brunel University. 2016 und 2017 verbrachte sie die Sommermonate als Freiwillige in einem von der Unicef unterstützten Geflüchtetenlager in Athen. Die Geschichten, die die Menschen ihr dort erzählten, inspirierten sie dazu, den Bestseller »Das Versprechen des Bienenhüters« zu schreiben. »Die Nacht der Zugvögel« ist bereits ihr zweiter Roman bei Limes.

Von Christy Lefteri bei Blanvalet erschienen Das Versprechen des Bienenhüters

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

CHRISTY LEFTERI

Die Nacht der Zugvögel

ROMAN

Aus dem Englischen von Bettina Spangler

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Songbirds« bei Zaffre, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Christy Lefteri

German translation rights arranged through Vicki Satlow of The Agency srlCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Limes Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Kerstin von DobschützUmschlaggestaltung: © Patrizia Di Stefano, Berlin Umschlagmotiv: © Sönke Poppe

JS · Herstellung: DiMoSatz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28685-9V001

www.limes-verlag.de

Für Marianne

1 Yiannis

Eines Tages verschwand Nisha und wurde zu Gold. Sie wurde zu Gold in den Augen des Geschöpfes vor mir. Sie wurde zu Gold am Himmel der Morgendämmerung und im Gesang der Vögel. Später dann in der schimmernden Melodie des Mädchens aus Vietnam, das in Theos Restaurant seine Lieder sang. Und noch später in den Gesichtern und Stimmen all der jungen Frauen, die durch die Straßen wogten wie ein reißender Fluss und wütend einforderten, endlich gesehen und gehört zu werden. Das sind die Orte, an denen Nisha jetzt noch existiert. Aber gehen wir zurück. Wir müssen erst zurück in die Vergangenheit.

2 Petra

Am Tag, an dem Nisha verschwand, gingen wir drei in die Berge. Wir schnürten unsere Wanderstiefel und warteten auf den Bus, der zweimal täglich nach Troodos hinauffährt. Normalerweise zog Nisha sonntags allein los, doch diesmal, das erste Mal überhaupt, hatte sie Aliki und mich begleitet.

Oh, wie herrlich es dort oben war! Die herbstlichen Dunstschleier wurden eins mit dem Farn und den Kiefern und den knorrigen alten Eichen. Diese Berge haben sich vor Urzeiten aus dem Ozean erhoben, als die Kontinentalplatten Afrikas und Europas kollidierten und sich übereinanderschoben. Man kann die Bruchstelle in der ozeanischen Erdkruste recht gut erkennen. Die Felsformationen mit den darin verlaufenden Gesteinsgängen und den Basaltkissen sehen aus wie von einer Schlangenhaut überzogen.

Ich mag Anfänge. Wie diese Geschichte, die meine Tante oft erzählte, bei uns im Garten hinterm Haus: Als unser Schöpfer sein Werk am siebten Tag beendet und die Erde erschaffen hatte – Petra, hörst du auch zu? –, da schüttelte er sich die restlichen Lehmklumpen von den Händen, und sie fielen ins Meer. So ist unsere Insel entstanden.

Ja, wirklich, ich mag Anfänge. Nicht so gern mag ich es, wenn etwas endet, wobei es damit wohl den meisten Menschen geht wie mir. So ein Ende hat die unschöne Eigenschaft, dass es sich meist ohne Vorwarnung, wie aus dem Nichts vor einem aufbaut. Wie zum Beispiel die letzte Tasse Kaffee, die man mit jemandem trinkt, obwohl man in dem Moment überzeugt ist, es würde noch viele weitere Gelegenheiten dazu geben.

Während Nisha und ich uns in einer der Tavernen entlang unserer Wegstrecke zum Aufwärmen an die Heizung setzten und zusammen Kaffee tranken, spielte Aliki mit dem herumliegenden Laub. Ich erinnere mich noch genau an unser Gespräch.

Nisha war ungewöhnlich schweigsam gewesen und hatte eine Weile abwesend in ihrer Tasse gerührt, ohne zu trinken. »Madam«, sagte sie dann unvermittelt, »ich muss Sie etwas fragen.«

Ich nickte und sah sie abwartend an, während sie verlegen herumdruckste.

»Ich möchte mir heute Abend freinehmen, weil …«

»Aber, Nisha, du hattest doch den ganzen Tag frei!«

Das brachte sie zum Verstummen. Aliki sammelte währenddessen ganze Armladungen trockene Blätter auf und breitete sie auf einer Sitzbank aus. Wir sahen ihr schweigend dabei zu.

Nisha hatte von sich aus entschieden, ihren freien Tag mit uns zu verbringen und sich Aliki und mir auf unserer Wanderung anzuschließen. Wie konnte sie da erwarten, dass ich sie auch noch in den Abendstunden von ihren Aufgaben entband?

»Nisha«, sagte ich, »du hast den kompletten Sonntag zur freien Verfügung. Am Abend hast du ein paar Dinge zu erledigen, zum Beispiel Aliki dabei zu helfen, ihre Schulsachen zu packen und sie zu Bett zu bringen.«

»Madam, viele von den anderen Mädchen haben auch den Sonntagabend frei.« Dies sagte sie betont langsam.

»Nun, andere Mädchen dürfen sich aber genauso wenig nachts herumtreiben und amüsieren.«

Diese Bemerkung überging sie geflissentlich und sagte: »Sicher hat Madam heute Abend nichts vor.« Dabei warf sie mir einen verschmitzten Blick zu, ehe sie sich wieder ihrem Kaffeebecher zuwandte. »Also könnte Madam Aliki heute Abend ausnahmsweise einmal selbst zu Bett bringen. Ich übernehme dafür nächsten Sonntag zusätzliche Aufgaben als Wiedergutmachung.«

Gerade wollte ich sie fragen, was sie denn vorhätte; was konnte so wichtig sein, dass sie bereit war, dafür unsere Routine zu durchkreuzen? Vermutlich war ihr meine Missbilligung nicht entgangen, doch fand unser Disput ein jähes Ende, weil im selben Moment eine Lawine trockenes Laub auf unsere Köpfe niederging. Nisha schrie auf, wenn auch nur pantomimisch: Den Mund weit aufgerissen, wedelte sie aufgebracht mit den Händen und setzte Aliki nach, als diese die Flucht ergriff und über einen Trampelpfad in den Wald davonjagte. Nach einer Weile hörte ich die beiden lachen, wie herumtollende Kinder, während ich in Ruhe meinen Kaffee trank.

Bis zu unserer Heimkehr am Abend verlor Nisha kein Wort mehr über die Angelegenheit. Sie bereitete ein Dhal-Curry zu, sodass die ganze Wohnung schlagartig vom Duft nach Zwiebeln und grünen Chilis, Kreuzkümmel, Kurkuma, Bockshornklee und Curryblättern erfüllt war. Ich sah zu, wie sie Zwiebeln in der Pfanne anbriet und Gewürze und rote Linsen dazugab, um das Ganze zum Schluss mit einem Schuss Kokosmilch abzulöschen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Nisha wusste genau, wie sehr ich dieses Gericht liebte, es war mein absolutes Leibgericht. Während das Essen vor sich hin köchelte, machte ich Feuer im Kamin im Wohnzimmer. Am früheren Nachmittag hatte es geregnet, vom Fenster aus konnte ich sehen, dass Yiakoumi auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Markise ausgefahren hatte, und das Kopfsteinpflaster glänzte im warmen Schein aus seinem Antiquitätenladen.

Wir haben keine Zentralheizung, deshalb setzten wir uns, jede mit einer Schale Dhal-Curry auf dem Schoß, möglichst nah ans offene Feuer. Nisha brachte mir ein Glas süßen Zivania – von der besonders aromatischen Sorte, die nach Karamell und Muskat schmeckt, ideal, um sich an einem kühlen Abend wie diesem aufzuwärmen. Dabei fragte sie Aliki die Neunerreihe des kleinen Einmaleins ab.

»Sieben mal neun?«, fragte Nisha.

»Dreiundsechzig!«

»Gut. Neun mal neun?«

»Einundachtzig! Aber du brauchst das nicht zu tun.«

»Warum nicht?«

»Ich kann es schon.«

»Aber du hast doch gar nicht geübt.«

»Das brauche ich nicht. Man muss sich doch nur das Muster ansehen. Wenn du mich fragst, was sieben mal neun ist, weiß ich sofort, dass die Antwort mit einer sechs beginnt. Ich weiß auch, dass die zweite Zahl immer eins niedriger als die vorherige ist. Also ergibt acht mal neun zweiundsiebzig.«

»Du bist viel zu vorlaut für dein Alter, weißt du das? Ich frage dich trotzdem lieber ab.«

»Meinetwegen. Wenn es dich glücklich macht.« Aliki seufzte theatralisch und zuckte mit der Schulter, als würde sie sich der Sinnlosigkeit ihres Schicksals, etwas lernen zu müssen, das sie längst beherrschte, ergeben. Sie verfügte über das typische freche Mundwerk einer Neunjährigen.

Ja, ich erinnere mich sehr gut an alles: Wie Aliki kaute und gelangweilt gähnte und die Antworten nur so rausfeuerte, wie Nisha sich ganz auf meine Tochter konzentrierte und kaum ein Wort mit mir wechselte. Im Hintergrund flimmerte der Fernseher. Gerade liefen die Nachrichten, der Ton ganz leise gestellt: Es waren Aufnahmen von Flüchtlingen zu sehen, die von der Küstenwache vor einer griechischen Insel aus dem Wasser gefischt wurden. Ein lebloses Kind wurde ans Ufer getragen.

Ich hätte das alles längst vergessen, wäre ich die Ereignisse des Abends nicht wieder und wieder gedanklich durchgegangen, als würde ich Fußspuren im Sand folgen, auf der Suche nach einem kostbaren verlorenen Gegenstand.

Aliki lag auf dem Rücken und stieß die Beine in die Luft.

»Setz dich anständig hin«, schalt Nisha sie, »sonst kommt dir das Essen wieder hoch.«

Aliki zog eine Grimasse, gehorchte aber: Sie hockte sich aufs Sofa und schaute zum Fernseher, musterte die Gesichter der Menschen, die sich mit letzter Kraft aus dem Wasser schleppten.

Nisha füllte mein Glas bereits zum dritten Mal, allmählich wurde ich schläfrig. Ich betrachtete meine Tochter; ein monströses Kind, sie war schon immer zu groß für mich, selbst ihre Haare sind zu viele, als dass ich sie komplett umfassen könnte. Locken so dick wie die Tentakel von einem Oktopus; sie scheinen sich gegen die Schwerkraft aufzulehnen, als lebte sie in einer Unterwasserwelt.

Im Schein des Kaminfeuers fiel mir auf, wie außerordentlich blass Nisha war. Unwillkürlich musste ich an eine von diesen in Sirup eingelegten Feigen denken, die mit der Zeit ihre natürliche Farbe verlieren. Sie fing meinen Blick auf und lächelte, ein kleines zuckersüßes Lächeln. Mein Blick wanderte weiter zu Aliki.

»Hast du deine Schulsachen für morgen gepackt?«, fragte ich.

Aliki starrte konzentriert auf den Fernsehbildschirm.

»Das machen wir jetzt, Madam.« Nisha stand auf und sammelte die Schälchen auf dem Couchtisch ein.

Meine Tochter und ich redeten nur noch selten miteinander. Sie nannte mich nie Mum, sprach mich nie direkt an. Irgendwann war der Same der Schweigsamkeit auf fruchtbaren Boden gefallen, und seither war das Pflänzchen gewachsen und gewachsen und hatte zwischen uns gewuchert, bis jeder Austausch unmöglich geworden war. Die meiste Zeit richtete Aliki ihre Anliegen über Nisha an mich. Die wenigen Worte, die wir wechselten, waren eher zweckmäßiger Natur.

Ich sah zu, wie Nisha über ein Taschentuch leckte und einen Fleck auf Alikis Jeans wegrubbelte, dann brachte sie Geschirr und Besteck in die Küche. Vielleicht lag es am vielen Alkohol, oder es war unser Ausflug nach Troodos, jedenfalls war ich extrem müde, eine bleierne Schwere steckte mir in den Knochen. Also verkündete ich, dass ich mich lieber gleich hinlegen werde. Ich muss augenblicklich eingeschlafen sein, denn ich bekam nichts mehr davon mit, wie Nisha Aliki zu Bett brachte.

3 Yiannis

Am Tag, an dem Nisha verschwand, noch bevor ich realisierte, dass sie fort war, begegnete ich im Wald einem Mufflon. Was absolut verblüffend war. Diese uralte Wildschafart, die bei uns heimisch ist, sieht man nämlich nur äußerst selten. Bekannt als extrem scheu, ziehen sich diese Tiere normalerweise in die entlegeneren Gebirgsregionen zurück. Noch nie war ich einem von ihnen im Flachland begegnet, schon gar nicht so weit im Osten. Wenn ich erzählte, dass ich einen Mufflon gesehen hatte, noch dazu unten an der Küste, würde man mich für verrückt erklären; diese Meldung würde es garantiert in die Nachrichten schaffen. Schon da hätte ich merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Vor langer Zeit hatte ich gelernt, dass die Erde gelegentlich einen Weg findet, zu uns zu sprechen. Man braucht nur mit den Augen und den Ohren eines Kindes hinzusehen und zu lauschen. Das war etwas, das mein Großvater mir beigebracht hatte. Aber an jenem Tag im Wald, als ich plötzlich dieses Schaf vor mir hatte, dachte ich nicht daran.

Es kündigte sich durch Blätterrascheln und knirschenden Waldboden an. Ich war an diesem späten Oktobermorgen hergekommen, um die Singvögel einzusammeln. Dazu war ich an die Küste rausgefahren, in einen Landstrich westlich von Larnaka, unweit der Dörfer Alethriko und Agios Theodoros, wo es noch wilde Olivenhaine und Johannisbrotbäume sowie Orangen- und Zitronenplantagen gibt. Außerdem wachsen hier Akazien und Eukalyptusbäume, dicht an dicht – ein exzellenter Flecken zum Wildern. In den frühen Morgenstunden hatte ich meine Leimruten ausgebracht – Hunderte davon, strategisch in Bäumen platziert, die die Vögel auf ihrer Suche nach essbaren Beeren ansteuern. Zusätzlich hatte ich in den Baumkronen Geräte aufgehängt, die Aufnahmen von Vogelrufen abspielten. Damit lockte ich meine Beute an. Dann suchte ich mir ein gutes, geschütztes Versteck und machte Feuer.

Ich benutzte Olivenzweige als Spieße und röstete über den Flammen Halloumi und Brot. Im Rucksack hatte ich eine Thermoskanne Kaffee und ein Buch gegen die Langeweile. Auf keinen Fall wollte ich an Nisha und die Dinge denken, die sie gestern Nacht gesagt hatte, an ihren ernsten Gesichtsausdruck beim Verlassen meiner Wohnung, an ihre angespannten Kiefermuskeln.

Diese Gedanken umschwirrten mich zusammen mit den Fledermäusen, und ich versuchte, sie fortzuscheuchen, einen nach dem anderen. Ich wärmte mich am Feuer, aß und lauschte im Halbdunkel dem Gezwitscher der Vögel.

Bisher war die Jagd ereignislos wie immer verlaufen.

Irgendwann schlief ich am Lagerfeuer ein und träumte, Nisha bestünde aus purem Sand. Vor meinen Augen löste sie sich auf, wie eine Sandburg, die von den Wellen fortgespült wird.

Die aufgehende Sonne war mein Wecksignal. Zum Wachwerden trank ich einen letzten Schluck Kaffee aus der Kanne und kippte den Rest ins Feuer. Dann trat ich die übrigen Flammen und Glutnester aus. Die Erinnerung an den Traum begann bereits zu verblassen, während das Dickicht um mich herum allmählich zu neuem Leben erwachte. Im Normalfall verdiene ich mit einem einzigen Jagdgang mehr als zweitausend Euro, und diesmal hatte ich besonderes Glück – schätzungsweise zweihundert Mönchsgrasmücken klebten an den Leimruten. Diese kleinen Singvögel, die im Winter von Europa nach Afrika ziehen, um der Kälte zu entfliehen, sind mehr wert als ihr Gewicht in Gold aufgewogen. Sie kommen von Westen her, über das Gebirge, und machen Zwischenstopp auf unserer Insel, bevor sie ihre Reise übers Meer in Richtung Ägypten fortsetzen. Im Frühjahr treten sie dann die Rückreise an und treffen vom Süden her auf die Küste Zyperns. Diese Vögel sind so klein, dass man sie mit einer Flinte niemals treffen würde. Außerdem gelten sie hierzulande als gefährdete Art und stehen deshalb unter besonderem Schutz.

An diesem Punkt bekam ich es jedes Mal mit der Angst zu tun. Immer wieder sah ich mich fast zwanghaft über die Schulter um, aus Furcht, ich könnte auf frischer Tat ertappt und ins Gefängnis gesteckt werden. Dann wäre ich geliefert. Das war mein größter Schwachpunkt – die Panik, die mich zuverlässig überkam, kurz bevor es ans Töten der Vögel ging. Doch jetzt herrschte absolute Stille im Wald, nicht das leiseste Knacken war zu hören. Lediglich Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Wipfeln.

Vorsichtig entfernte ich den ersten Vogel von der Rute, indem ich das Gefieder sachte vom Kleber löste. Wie es aussah, hatte der kleine Kerl alles versucht, um sich zu befreien. Je heftiger sie sich sträuben, desto stärker kleben sie nämlich fest. Ich hielt das Tier zwischen den Handflächen fest und spürte sein kleines Herz rasen. Dann biss ich ihm blitzschnell ins Genick, um sein Leiden zu beenden, und ließ das leblose Tier in den großen schwarzen Müllsack fallen. Es ist die gnädigste Art, sie zu töten – mit einem schnellen, tiefen Biss ins Genick.

Den ersten Sack hatte ich bereits voll und auch schon begonnen, die Federn und Beeren mit den Lippen von den Leimruten zu zupfen, damit ich sie ein weiteres Mal verwenden konnte, als ich plötzlich Laub rascheln hörte.

Mist. Für einen Moment war ich wie versteinert und hielt vor Schreck die Luft an. Fieberhaft suchte ich die unmittelbare Umgebung ab, und da war er, auf einer von dichtem Gestrüpp gesäumten Lichtung. Der Mufflon starrte mich seelenruhig an. Er stand im langen Schatten der Bäume, und erst als die Sonne weiterwanderte und das Licht sich veränderte, machte ich eine erstaunliche Entdeckung: Statt wie gewöhnlich rot und braun war sein kurzes Fell von goldener Farbe; die beiden gebogenen Hörner waren bronzen. Und er hatte exakt die gleichen bernsteinfarbenen Löwenaugen wie Nisha.

Im ersten Moment dachte ich, ich träume. Sicher lag ich immer noch neben der Feuerstelle und schlief.

Ich machte einen Schritt auf das Tier zu, woraufhin der goldene Mufflon ein Stück zurückwich. Seine Haltung aber blieb aufrecht und kraftvoll, die Augen unbeirrt auf mich gerichtet. Langsam nahm ich den Rucksack herunter und holte ein Stück Obst heraus. Der Mufflon scharrte mit den Hufen und senkte den Kopf, sodass er zu mir aufsah, halb wachsam, halb drohend. Ich legte den Pfirsichschnitz auf meine flache Hand und streckte sie ihm hin. Dann hielt ich still, reglos wie ein Baum. Ich hoffte, der Widder würde näher kommen.

Während ich seine anmutige Schönheit bewunderte, stieg eine Erinnerung in mir auf, klar und deutlich. Im vergangenen März waren Nisha und ich zusammen ins Troodos-Gebirge gefahren. Sie liebte es, am Sonntagvormittag, wenn sie nicht arbeiten musste, ausgedehnte Wanderungen zu machen. Oft ging sie mit mir in den Wald, um Pilze, wilden Spargel, Malven oder gelegentlich auch Schnecken zu sammeln. An diesem Tag hatte ich mir fest vorgenommen, nach einem Mufflon Ausschau zu halten. Ich hoffte, wir würden in den Tiefen des Waldes oder auf einem Felsvorsprung, an der Schwelle zwischen Erde und Himmel, einen entdecken. Wir waren so hoch oben wie nie zuvor, und sie schob aufgeregt ihre Hand in meine.

»Wir suchen also nach einem Schaf?«, fragte sie.

»Streng genommen, ja.«

»Ich habe schon viele Schafe gesehen.« In ihren Augen lag ein amüsierter Ausdruck, als würde sie sich über mich lustig machen.

»Ich sag doch, es sieht nicht aus wie ein Schaf! Es ist ein ganz wunderbares Geschöpf.«

»Okay. Wir suchen also nach einem Schaf, das nicht wie ein Schaf aussieht.« Sie schirmte die Augen ab und ließ den Blick über das Gelände schweifen, als würde sie ernsthaft Ausschau halten.

»Exakt«, sagte ich todernst.

Das brachte sie zum Lachen, und ihr Lachen entwischte in die Weiten des Himmels. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, sie schon ewig zu kennen.

Wir waren stundenlang gelaufen und wollten gerade wieder umkehren, um vor der Abenddämmerung zurück zu sein, als ich an einer steilen Felskante plötzlich eines stehen sah. Ich erkannte auf Anhieb, dass es sich um ein weibliches Tier handelte, da es vergleichsweise kleine, nur leicht gebogene Hörner hatte, und auch das typische Vlies der Männchen aus längerem drahtigem Fellhaar unterhalb des Trägers fehlte. Ich deutete wortlos zu der Stelle, damit Nisha es auch sah.

Das Mufflonschaf bemerkte uns und schaute direkt zu uns.

Nisha starrte das Tier voll ehrfürchtigem Staunen an. »Wie schön«, flüsterte sie. »Sieht aus wie ein Reh.«

»Sag ich doch.«

»Überhaupt nicht wie ein Schaf.«

»Siehst du!«

»Sein Fell ist glatt und braun … und es hat einen so sanften Gesichtsausdruck. Fast, als wollte es uns etwas sagen. Sieht es nicht haargenau so aus, als würde es gleich mit uns reden?«

Ich antwortete nicht und betrachtete stattdessen Nisha, die vor Begeisterung übers ganze Gesicht strahlte.

Da war ein Glanz in ihren Augen, als würden die Farben des Waldes aus ihnen herausleuchten, als wäre eine geheimnisvolle Energie, ein flinkes Tier, das sich bisher im Dickicht der Bäume versteckt hielt, plötzlich zum Leben erwacht. Sie ließ meine Hand los und machte ein paar zaghafte Schritte auf den Mufflon zu. Erstaunlicherweise wich er daraufhin von der Felskante zurück und kam näher. Noch nie hatte ich erlebt, wie sich eins dieser Tiere an einen Menschen heranwagte. Nisha streckte ihm ihre Hand mit unendlicher Sanftheit entgegen, wartete geduldig ab. Gleichzeitig aber stand ihr Körper unter Hochspannung. Es ging allein von ihren Augen aus: In ihnen loderte ein Gefühl, das ich nicht klar bestimmen konnte.

In diesem Moment spürte ich eine tiefe Kluft zwischen uns dreien, als würden sie und das Tier etwas teilen, das ich nicht begriff.

Und im nächsten Augenblick drehte sie sich zu mir um und küsste mich. Ein einziger sanfter Kuss.

Jetzt und hier, im ersten Dämmerlicht, versetzte diese Erinnerung mir einen schmerzhaften Stich. Der Mufflon starrte mich an, wie gebannt, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Dabei produzierte er einen Laut, als würde er mir eine Frage stellen. Eine Frage, bestehend aus einem einzigen Wort.

»Ich tu dir nichts«, sagte ich und stellte erschrocken fest, wie laut meine Stimme zwischen den Bäumen widerhallte und den Frieden störte. Der Widder schüttelte den Kopf und wich einen weiteren Schritt zurück.

»Entschuldige«, sagte ich, diesmal etwas behutsamer.

Jetzt löste er den Blick von mir und richtete ihn auf den Sack voller Vögel auf dem Boden neben mir.

»Verstehe«, sagte ich. »Du hast vollkommen recht. Ich würde es auch nicht wollen, wenn ein Mörder mir ein Stück Pfirsich anbietet.« Angesichts der Ironie des Ganzen stieß ich ein leises Lachen aus, als könnte das Tier sich gemeinsam mit mir über den Witz amüsieren.

Ich warf den Obstschnitz auf den Boden, und diesmal machte ich ein paar Schritte nach hinten und zog mich in den Schutz der Bäume zurück. Von dort aus beobachtete ich den Mufflon noch eine Weile, dieses unglaubliche Tier, so schön und kraftvoll. Es stand ganz still, bis es den Blick auf etwas zu meiner Linken richtete, mir den Rücken zukehrte und im Dickicht verschwand.

Ich beeilte mich, die restlichen Vögel von den Leimruten zu befreien, damit ich nach Hause zu Nisha konnte. Ich konnte es kaum erwarten, ihr von meiner Entdeckung zu erzählen. Denn insgeheim hegte ich die Hoffnung, dass diese Geschichte von dem Mufflon sie wieder zum Leuchten bringen könnte.

4 Petra

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Etwas war zu Bruch gegangen. Ich hatte ein Krachen gehört, laut und deutlich, als hätte jemand ein Fenster eingeschlagen oder ein Glas mit voller Wucht auf den Boden geschmettert. Das Geräusch war von draußen gekommen, da war ich mir sicher. Der Wecker auf meinem Nachttischchen stand genau auf Mitternacht. Konnte es der Wind gewesen sein? Aber eigentlich war die Nacht recht ruhig, und abgesehen von dem Lärm gerade eben herrschte absolute Stille. Vielleicht eine Katze?

Ich schlüpfte in meine Pantoffeln und öffnete erst die Rollläden und dann die Terrassentür zum Garten. Es war eine sternenklare Vollmondnacht. Ich lebe in einem dreistöckigen Haus im venezianischen Stil im ältesten Teil der Stadt, östlich von Ledra und Onasagorou, unweit der grünen Grenze, die die Insel seit 1974 in zwei Teile spaltet. Mitten im kristallklaren blauen Wasser des östlichen Mittelmeers gelegen, ist unsere kleine Insel schon von jeher sowohl europäischen als auch fernöstlichen Einflüssen ausgesetzt. Wir standen unter der Herrschaft der Ottomanen. Wir waren eine britische Kolonie. Und zuletzt wurden wir zum umkämpften Schlachtfeld zwischen Griechen und Türken, unser Volk tief gespalten, bis sich Friedenskräfte einmischten und buchstäblich die Grenze zogen. Diese Trennlinie wahrt bis heute den zerbrechlichen Frieden auf unserer Insel, auch wenn immer wieder Meldungen über Wiedervereinigungsbestrebungen die Schlagzeilen machen. Ich wohne in Nikosia, auf der griechischen Seite der Stadt, unmittelbar an der sogenannten »Grünen Linie«. Als ich ein kleines Mädchen war, dachte ich, unsere kleine Straße führe ans Ende der Welt. Heutzutage kommt es glücklicherweise nicht mehr zu Gewaltausschreitungen zwischen uns und unseren türkisch-zyprischen Nachbarn im Norden, aber der Frieden ist auf sehr unsicherem Boden gebaut, keine Frage.

Wir bewohnen lediglich das Erdgeschoss des Hauses, deshalb gelangt man von jedem der Schlafzimmer hinaus in den Garten. Vor zwei Jahren habe ich das Stockwerk über uns an einen Mann namens Yiannis untervermietet. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt damit, dass er im Wald Pilze und Wildkräuter sammelte. Er lebte recht zurückgezogen, aber er war zuverlässig und bezahlte seine Miete immer pünktlich. Das oberste Stockwerk dagegen steht leer oder wird von Gespenstern bewohnt, wie meine Mutter gern behauptete, woraufhin mein Vater jedes Mal abfällig schnaubte und mit den immer gleichen Worten antwortete: Gespenster sind Erinnerungen. Nicht mehr, nicht weniger.

Im Garten steht ein Boot. Es gab Zeiten in der Vergangenheit, lange Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte, da sah ich Nisha oft draußen im alten Fischerboot meines Vaters sitzen, The Sea Above the Sky war in himmelblauer Farbe quer über den Bootsrumpf gepinselt. Die Farbe ist inzwischen abgeblättert, und auch das Holz ist morsch geworden. Dieses Boot hat schon so manche Reise hinter sich. Nisha saß regelmäßig darin und starrte hinaus in die Dunkelheit. Es ist nur noch ein Ruder da – das andere fehlt schon, solange ich denken kann –, aber irgendwann hat es jemand durch einen Ast von einem Olivenbaum ersetzt. Weil mein Bett direkt am Fenster steht, beobachtete ich sie dann immer eine Weile durch die Schlitze der Jalousien und fragte mich, was ihr wohl durch den Kopf ging, wenn sie mitten in der Nacht mutterseelenallein darin saß.

Doch in dieser Nacht war sie nicht da. Ich sah mich um und versuchte, den Ursprung des Krachs auszumachen. Fast erwartete ich, Glassplitter am Boden zu entdecken. Doch nichts war zerbrochen, alles schien in Ordnung zu sein.

Der Mond tauchte alles in sein helles Licht, die Kürbisse, den Kletterjasmin, die Weinreben, den Kaktus und den Feigenbaum ganz rechts im Garten, gleich neben der Terrassentür zu Alikis Zimmer, und mittendrin, auf einem leicht erhöhten Flecken, der Orangenbaum – wie eine Königin auf ihrem Thron. Früher, in jungen Jahren, dachte ich immer, dieser Baum würde eine stumme Herrschaft über den Garten ausüben.

Alles war so still. Still und friedlich. Kein Blatt rührte sich. Ich ging im Garten umher. Unweit der Stufen, die hinauf zu Yiannis’ Wohnung führten, entdeckte ich schließlich den Ursprung des Geräuschs: eine Spardose aus Keramik, die ich schon seit meiner Kindheit besaß – sie war vom Tisch gefallen und auf den Boden gekracht, in unzählige weiße Scherben zerbrochen, und dazwischen Hunderte alter Lirastücke, wie winzige goldglänzende Pfützen.

Es war eine Spardose von der Sorte, die man zerbrechen muss, um an den wertvollen Inhalt zu gelangen. Ich weiß noch, wie ich die Münzen reingeworfen habe und mir dabei vorstellte, wie ich sie eines Tages wieder rausholen würde. Meine Tante Kalomira, die mit ihrem Ehemann in Lefkara lebte, hatte sie eigenhändig für mich getöpfert. Ich hatte ihr dabei zugesehen, wie sie den Ton auf der Scheibe drehte. Ihr Mann aß gern Ziegenhoden und Hirn und Augen vom Lamm, gewürzt mit Zitrone und Salz. Einmal hat er mir ein Auge zum Probieren angeboten. Ich lehnte ab. Später hat meine Tante die Dose weiß angemalt und noch eine lustige Zeichnung von einem Hund draufgepinselt. Sie wartete auf einem Regalbrett auf mich, als ich die beiden Wochen später zusammen mit meiner Mutter besuchen kam.

Ich hatte die Sparbüchse nie aufgebrochen; der Zeitpunkt war mir einfach nie richtig erschienen. Deshalb bewahrte ich die Münzen weiter darin auf, wo sie sicher waren, wie Wünsche oder geheime Träume, die sich im Laufe meiner Kindheit angesammelt hatten.

Aber wer hatte sie jetzt zerbrochen? Wie hatte sie vom Gartentisch herunterfallen können?

Ich beschloss, wieder ins Bett zu gehen und Nisha am nächsten Morgen zu bitten, sich um die Scherben zu kümmern.

Ich zog mir die Decke über den Kopf und dachte in der Dunkelheit und Stille meines Zimmers daran, wie meine Mutter mich damals gefragt hatte: »Was hast du mit dem vielen Geld vor?«

»Ich kaufe mir Flügel!«

»Du meinst wie von einem Vogel.«

»Nein, eher Libellenflügel. Die sind durchsichtig, und nachts fliege ich durch den Garten und leuchte im Dunkeln.«

Daraufhin hatte sie nur amüsiert gelacht und mir einen Kuss auf die Wange gedrückt. »Du wirst wunderschön aussehen, wie immer.«

Die Erinnerung verblasste, und plötzlich versetzten die Schuldgefühle mir einen Stich, weil meine Tochter und ich nicht auch Worte und Träume teilten und zusammen lachten. Wie hatte ich sie nur verlieren können?

Oder hatte sie mich verloren?

5 Yiannis

Es war erst früher Nachmittag, als ich von der Jagd heimkehrte. Ich konnte es kaum erwarten, Nisha von meiner Begegnung mit dem Mufflon zu erzählen. Ich wollte ihr seine unbegreifliche Schönheit schildern, wie außergewöhnlich sein goldenes Fell gewesen war und dass er Augen wie ein Löwe hatte.

Je öfter ich mir all das im Kopf vorsagte, desto verrückter klang es. Aber ich wusste, dass Nisha mir aufmerksam zuhören würde. Sie würde mich ansehen, als wäre ich völlig bekloppt, und sich mit diesem für sie typischen trägen Nicken über mich lustig machen, und trotzdem würde sie vorschlagen, am späteren Nachmittag noch einmal gemeinsam mit mir zu der Stelle zu gehen, damit sie das Tier mit eigenen Augen ansehen könnte.

Ich klopfte an die doppelte Terrassentür zu ihrem Schlafzimmer und wartete. Normalerweise hörte ich ihre Flip-Flops wenig später über den Marmorboden schlappen, aber heute blieb es still. Ich klopfte noch einmal an die Scheibe und wartete einige Minuten, dann versuchte ich es erneut und wartete weitere fünf. Vielleicht war sie runter zum Laden gegangen, um Besorgungen zu machen, oder sie war in der Kirche. Obwohl sie keine Christin war, zündete sie dort gern Kerzen an und genoss die friedliche Stille im Gotteshaus. Dort wurde nichts von ihr erwartet, es gab keinen Tadel, kein Kopfschütteln. Niemand störte sie. Die Leute sahen lediglich eine gute Christin, die inmitten anderer guten Christen ins Gebet vertieft dasaß. Dort drinnen, hatte sie mir erzählt, waren alle gleich, solange man eine von ihnen war.

Ich beschloss, nach oben zu gehen und mit dem Säubern der Vögel zu beginnen. Dazu setzte ich mich auf einen Hocker im Arbeitszimmer, rupfte einen Vogel nach dem anderen und warf sie in eine große Plastikwanne. Es war eine mühselige Arbeit, die unheimlich viel Zeit in Anspruch nahm und mir persönlich lästig war. Gelangweilt führte ich die immer gleichen Bewegungen aus, und hinterher waren meine Hände mit Blut und Federn verklebt. Sobald ich mit dem Rupfen fertig war, legte ich die Tiere in Wasser oder Essig ein, packte sie je nach Umfang der Bestellung in verschieden große Behälter und lieferte sie anschließend an Restaurants, Hotels und andere Lokalitäten auf der ganzen Insel aus.

Während ich jetzt einen der Vögel in der linken Hand hielt, um ihm mit der rechten die Federn auszurupfen, spürte ich ganz unerwartet ein Pulsieren an der Handfläche. Ich hielt inne, betrachtete das Tier und bemerkte, dass die weichen braunen Federn an der zarten Brust sich hoben, und auch der rechte Flügel zuckte. Mit einem Mal fühlte der Vogel sich bleischwer an, als würde ich einen Briefbeschwerer in der Hand halten, und das Pulsieren schien durch mich hindurchzuwandern – entlang meiner Adern, den Arm hinauf, bis ich eine heftige Erschütterung verspürte, ein tiefes Beben in der Brust.

Mir wurde speiübel. Ich ließ den Vogel auf den Tisch fallen und rutschte auf dem Hocker hin und her, während ich lange, tiefe Atemzüge nahm. Der Vogel lag vor mir und atmete, seine Brust hob und senkte sich jetzt ganz deutlich.

Ich war vier oder fünf Jahre alt und wanderte mit meinem Vater über wilde Bergwiesen. Er blieb stehen, um einige Weißdornbeeren zu pflücken. Mein Blick fiel auf etwas zu meinen Füßen, das gelb leuchtete: eine Schafstelze. In meinem zarten Alter kannte ich bereits die Namen von einigen Vogelarten, einheimischen wie Zugvögeln. Mein Großvater hatte sie mir beigebracht. Ich liebte Vögel. Begeistert sah ich ihnen dabei zu, wie sie hoch am Himmel und in den Baumwipfeln ihr Leben lebten. Ich wollte sie so gern einfangen, sie in der Hand halten, mir ihr Gefieder genauer ansehen und die prächtigen Farben studieren.

Das war meine Gelegenheit! Diese gelbe Schafstelze lag reglos unter dem Dornengestrüpp. Selbst als ich mich dem Tier näherte, blieb es unbewegt liegen. Ich hob den Vogel auf und hielt ihn in der hohlen Hand – er war tot, schon völlig vertrocknet. Ich inspizierte ihn: den kleinen silbergrauen Schnabel, die braune Schwanzfeder und die farbgleichen Handschwingen; Kehle und Brust, Bauch und unteres Gefieder leuchteten dagegen in einem Gelb, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Scheitel, Schulter und Rücken waren von einem etwas dunkleren Gelbton mit einem Stich ins Graue. Ich betrachtete Augenring und Augenstreif, die ausdruckslosen geöffneten Augen selbst, seine Flügelbinden und Zügel, die Beinchen so dürr wie Zweige.

Ich stellte mir vor, reines Gold in der Hand zu halten.

Ich führte ein einfaches Leben und sparte Geld, damit ich mit der Wilderei irgendwann aufhören konnte. Meine Nachbarn dachten alle, ich würde mir meinen Lebensunterhalt mit dem Sammeln und Verkauf von wildem Spargel und Pilzen, Wildkräutern, Artischocken und Schnecken verdienen – je nach Jahreszeit. Ich meine, klar, diese Art Nahrungssuche war meine Tagesbeschäftigung und brachte mir ein ganz ansehnliches Taschengeld ein. Aber wenn ich mich allein auf die mageren Einkünfte aus dem Verkauf von Gemüse und Schnecken verlassen hätte, hätte ich mir niemals eine Zukunft aufbauen können. Nicht nach allem, was passiert war. Das war ein Risiko, das ich unmöglich eingehen konnte.

Ich hasste es, Nisha zu belügen. Lange Zeit war es mir gelungen, das mit dem Wildern geheim zu halten: Es war nicht allzu schwer – denn wenn ich mit zum Bersten vollen Mülltüten nach Hause kam, gingen die Leute automatisch davon aus, dass ich wieder irgendwas gesammelt hatte. Hier bei uns stellte man nicht viele Fragen, und viele der Häuser standen ohnehin leer, weil die wenigsten so dicht an der grünen Grenze leben wollten. Es erinnerte sie zu sehr an den Krieg, an die Teilung, an die verlassene Heimat und die vielen verlorenen Leben. An so etwas will man nicht Tag für Tag erinnert werden.

Ich hatte meine Gründe, weshalb ich ausgerechnet hier im Viertel eine Wohnung mietete. Es war vergleichsweise ruhig, die meisten Anwohner waren alt, und ich wusste genau, dass ich mir hier viel mehr Freiheiten erlauben konnte. Außerdem gefiel es mir, abends auf dem Balkon zu sitzen, den Klängen der Bouzouki aus Theos Restaurant zu lauschen und den alten Männern beim Essen, Trinken und Kartenspielen zuzusehen. Manchmal gesellte ich mich zu ihnen, aber ansonsten blieb ich lieber für mich. In diesem Teil des alten Nikosia gab es einige bordellähnliche Bars, und wenn die Männer in den Restaurants mit Essen und Trinken fertig waren, landeten viele von ihnen früher oder später in einem dieser Etablissements.

Eine solche Bar gab es auch am Ende unserer Straße, das Maria’s. Die Fenster waren mit Milchglas verglast, und aus den alten Holztüren waberte der schwere Dunst von Schweiß und schalem Bier, vermischt mit Zigarettenqualm. Die Bardame in den hautengen schwarzen Klamotten servierte Apfelschnitze und Erdnüsse, Oliven und Hummus. Ich war selbst zweimal dort, beide Male, um mich mit Seraphim zu treffen.

Jetzt beobachtete ich, wie der Vogel auf dem Tisch seinen Schnabel öffnete und wieder schloss, wie die matten Federn zuckten. Ich sah mir sein Genick an und stellte fest, dass die Wunde, die ich ihm zugefügt hatte, nicht tief war. Er sah zu mir auf, direkt in die Augen, und schien zu sagen: »Du krankes Arschloch, ich weiß genau, was du getan hast.«

Ich benetzte meinen Finger mit Wasser und hielt ihn ihm an den Schnabel. Im ersten Moment weigerte er sich zu trinken, doch dann tauchte er seinen Schnabel in den Tropfen und neigte das Köpfchen, um zu schlucken. Ich beschloss, einen kleinen Behälter mit einem sauberen Küchentuch auszukleiden und den Vogel da reinzusetzen. Eine Weile saß ich da und beobachtete ihn. Er schien mir zu misstrauen und sah mich immer wieder mit diesem Blick an, als wüsste er genau, was ich tat.

Irgendwann hatte ich einen ganzen Müllsack voll Federn beisammen. Das kleine Kerlchen saß regungslos in dem Behältnis und atmete gleichmäßig. In der Plastikwanne neben mir türmten sich die nackten Vögel.

Ich dachte, du wärst ein anderer Mensch, hatte Nisha gesagt.

Mithilfe eines Schlauchs füllte ich die Wanne mit Wasser und ließ die gerupften Tiere einige Zeit darin einweichen. Dann tauchte ich den Finger in ein Glas Wasser und hielt ihn dem Vogel wieder an den Schnabel. Dieses Mal trank er sofort und legte den Kopf schief, um besser schlucken zu können. Er schien in mir schon viel weniger den Mörder zu sehen, worüber ich sehr froh war. Ich benetzte den Finger noch ein paarmal, bis er kein Wasser mehr wollte.

Ich dachte, du wärst ein anderer Mensch.

Nachdem ich mit dem Säubern der Vögel fertig war, bereitete ich mir ein Abendessen zu und setzte mich raus auf den Balkon, wo ich ungeduldig auf Nisha wartete. An den meisten Abenden schlich sie sich erst raus in den Garten, wenn Petra zu Bett gegangen war. Die Treppe befand sich ganz links am Haus, hinter einem großen Feigenbaum, deshalb konnte Petra sie von ihrem Fenster aus nicht sehen. Nisha wollte auf keinen Fall, dass Petra etwas mitbekam. Eine Beziehung war für sie nämlich tabu. Gegen elf Uhr huschte Nisha meist unbemerkt nach draußen. Dann blieb sie in der Regel einige Stunden bei mir – wir redeten eine Weile, liebten uns und schliefen dann eng umschlungen ein. Um vier klingelte ihr Wecker. Dann löste sie sich aus meinen Armen, lief hinunter in den Garten und setzte sich in das Boot, wo sie zusah, wie die Sonne aufging. Es war mir ein Rätsel, warum sie nicht direkt zurück in ihr Zimmer ging, aber die Zeit, die sie allein in dem alten Fischerboot verbrachte, schien ihr wichtig zu sein, deshalb stellte ich keine Fragen. Ich knipste einfach das Licht aus und legte mich noch ein paar Stunden schlafen.

Als sie gestern Nacht kam, war irgendetwas anders. Wir saßen an der offenen Doppeltür zum Balkon mit Blick auf die darunterliegende Straße, beim Klang der Bouzouki, über uns ein Himmel voller Sterne. Es war kühl, deshalb hatte sie sich eine Decke um die Schultern gelegt. Sie war ungewöhnlich ruhig, als ginge ihr etwas durch den Kopf, doch dann erzählte sie mir eine Geschichte von ihrem Großvater und wie er zu seinem Glasauge gekommen war.

Nisha war gerade mitten im Satz – »… und dann verfolgte er ihn mit einem Baseballschläger …« –, als ich den Ring vor ihr auf den Tisch legte.

Sie richtete den Blick darauf und betrachtete ihn verdutzt, dann griff sie danach und steckte ihn nicht an den Finger, sondern legte ihn sich auf die flache Hand. Sie starrte ihn mit gesenktem Blick an, sodass ich ihre Augen nicht sehen konnte, nur die dunkle Weichheit ihrer Lider und Wimpern.

»Heiratest du mich, Nisha?«, fragte ich.

Sie schwieg.

»Ich trage den Ring schon eine Weile mit mir herum. Eigentlich wollte ich dich diesen Sommer fragen …« Ich legte eine Pause ein, weil ich den Satz nicht zu Ende sprechen konnte: Ich brachte es nicht über mich, sie an das zu erinnern, was vor gerade mal zwei Monaten geschehen war. »… aber dann warst du so todunglücklich, dass …«

Sie nickte.

»Aber ich meine es ernst, alles, was ich gesagt habe.«

Sie sah zu mir auf. Ihre Lippen eine schnurgerade Linie. Ein harter Ausdruck in den Augen.

Sie glaubte mir nicht.

»Wir können immer noch all das nachholen, was wir uns vorgenommen hatten. Wir können zusammen nach Sri Lanka reisen, deine Heimat besuchen. Du kannst endlich bei Kumari sein. Wir können zusammen eine Familie gründen.«

»Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Krampfhaft versuchte ich, mich an unsere erste Begegnung zu erinnern. Womit war ich beschäftigt, als wir uns das erste Mal trafen? Was hatte sie in diesem Moment in mir zu sehen geglaubt?

»Aber ich habe auch meinen Ehemann geliebt.« Jetzt spannte sich ihre Kiefermuskulatur an, ihre Schultern und ihr Körper versteiften sich. Sie schloss ihre Finger um den Ring, ballte die Hand zur Faust, nahm das Schmuckstück in Besitz.

Ohne ein weiteres Wort, ohne ein Ja oder ein Nein, ging sie auf die Hintertür zu, die zu der steinernen Treppe führte.

»Was habe ich getan, als du mich das erste Mal sahst?«, fragte ich.

Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Du hast die Hühner gefüttert.«

»Die Hühner?«

Sie antwortete nicht. Stattdessen wandte sie nun doch den Kopf und sah mich über die Schulter an. Dann sagte sie: »Weißt du, ich dachte, du wärst ein anderer Mensch.«

In dieser Nacht saß sie nicht im Boot; sie ging geradewegs zu Bett.

Gegen elf Uhr nachts wartete ich wie immer auf das leise Klopfen an der Hintertür, doch Nisha kam nicht. Sonntagabends telefonierte sie oft mit Kumari, deshalb war ich überzeugt, dass sie noch auftauchen würde. Sie sprach immer in den frühen Morgenstunden mit ihrer Tochter, wegen der Zeitverschiebung, und sie tat es am liebsten bei mir, weil ich ein Tablet besaß und sie Kumari gerne sah, wenn sie mit ihr sprach. Bevor sie mich kannte, hatten sie immer nur am Telefon gesprochen. Um ihr eine gewisse Privatsphäre zu lassen, setzte ich mich immer raus auf den Balkon und wartete dort, bis sie fertig war mit Telefonieren.

Einmal gestand sie mir, dass das ihre Art war, die beiden Welten, die ihr Leben bestimmten, voneinander getrennt zu halten, streng abgegrenzt und doch im Einklang miteinander.

»Was meintest du eigentlich damit?«, hatte ich sie eines Nachts gefragt, als sie nach ihrem Telefonat mit Kumari aufgelegt hatte. Ich kam wieder nach drinnen, und wir schlüpften gemeinsam ins Bett.

»Tja«, hatte sie darauf geantwortet, »unten bei Petra bin ich Alikis Nanny. Aber wenn ich zu dir nach oben komme, und unten schlafen alle, und niemand will etwas von mir, dann fällt mir wieder ein, wer ich wirklich bin. Dann kann ich meiner eigenen Tochter eine echte Mutter sein.«

Jetzt machte ich mir einen Kaffee, setzte mich auf den Balkon und folgte den Klängen der Bouzouki. Ich holte den kleinen Vogel aus seinem Behälter und hielt ihn in der Hand. Es kostete mich einige Überzeugungsarbeit, bis er stillhielt, doch dann schlief er ein und atmete langsam und gleichmäßig, sein winziger Körper weitete sich, um die Luft aufzunehmen, und ließ sie wieder entweichen. Als er aufwachte, gab ich ihm Wasser, Tropfen für Tropfen, bis er nichts mehr wollte.

Eine Stunde verging, und immer noch keine Spur von Nisha. Um Mitternacht beschloss ich, nach unten zu gehen und an ihre Schlafzimmertür zu klopfen.

Auf der letzten Stufe stolperte ich über etwas – es war eine der herrenlosen Katzen, die schwarze mit den verschiedenfarbigen Augen. Ich verlor das Gleichgewicht und musste mich an einem kleinen Gartentischchen festhalten, damit ich nicht hinfiel. Der Tisch kippelte, und eine alte Spardose aus Keramik, die Petra gehörte, fiel zu Boden. Sie zersprang in tausend Stücke, die Münzen lagen überall verstreut, und als ich in Petras Zimmer das Licht angehen sah, flitzte ich schnell wieder nach oben und schloss leise die Tür hinter mir.

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Meine Gedanken kreisten ununterbrochen um Nisha.

Wo war sie nur abgeblieben?

Hatte ich sie vergrault?

Weißt du, ich dachte, du wärst ein anderer Mensch.

Den Rest der Nacht saß ich mit dem Vogel auf dem Balkon, bis die Sonne sich hinter den Häusern im Osten zeigte. Ich stellte mir vor, wie ihre Strahlen in weiter Ferne das Meer zum Leuchten brachten. Und der kleine Vogel füllte seine Lunge und begann zu zwitschern.

DERROTESEEBEIMITSEROreflektiert das Abendrot, fängt es ein, hält es fest, selbst dann noch, wenn die Sonne längst untergegangen ist.

Der rote See, Giftsee, Kupfersee. Mütter und Väter erzählen ihren Kindern Geschichten darüber. Wage dich niemals in die Nähe des Mitsero-Sees! Geschichten von tiefen, unterirdischen Gängen, durch die früher Menschen wie Tiere krochen und in der Finsternis umkamen. Halte dich vom roten See bei Mitsero fern! Um Himmels willen, lauf nur fort, über die staubigen Feldwege und Wiesen – solange du gut auf die Schlangen und Hornissen achtest. Aber was auch immer passiert, komm nur dem Wasser nicht zu nah.

An diesem Tag gegen Ende Oktober liegt ein toter Hase auf dem steinigen Untergrund am Ufer des Sees. So frisch, dass der Leichnam noch völlig intakt ist. Der Wind bläst in sein Fell, sodass es sich aufrichtet. Die Abdrücke seiner Pfoten sind neben ihm in die Erde gebrannt. An seinem Körper finden sich keinerlei sichtbaren Wunden; seine Lebenszeit scheint einfach abgelaufen zu sein, aus dem einen oder anderen Grund. Schon bald wird der Hase selbst zu Erde werden, doch vorerst liegt er reglos da, in einer Position, als würde er laufen, als ob er gehofft hätte, es noch ein Stückchen weiter zu schaffen, so wie wir alle.

Was für ein malerischer See. Kupfer blutet vom Rand her ins Wasser, die Nachwehen der Vergangenheit. Er ist das Ergebnis dessen, was der Mensch achtlos zurückgelassen hat: Als man die dortigen Minen aufgab, blieb ein offener Krater zurück. Sobald es auf die Wintermonate zugeht, so wie jetzt, füllt sich dieser Krater mit Wasser. Nach starken Regenfällen ergießen sich gelbe und orange Rinnsale in das rot gefärbte Becken, sodass sich seine Farbe verändert – auf diese Weise entsteht darin der Sonnenuntergang.

Aber warum kein Sonnenaufgang?

Weil ein Sonnenaufgang durchdrungen ist vom Versprechen eines neuen Tages.

Ein Sonnenuntergang birgt die Erwartung von etwas anderem – nämlich der Stille und Dunkelheit der Nacht. Der See existiert am Rand der Finsternis....Ende der Leseprobe