Die Nacht des römischen Adlers - Ursula Flacke - E-Book

Die Nacht des römischen Adlers E-Book

Ursula Flacke

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Beschreibung

Ein Roman über die Zeit der Römer in Germanien, über den Fall des Limes, über Vorurteile, Hass und Vergeltung, aber auch über Liebe und Zuversicht Enya, die junge Germanin schleicht sich als Spionin in das verhasste Römerkastell am Limes, um ihren Falko wiederzufinden. Falko wurde bei einem Überfall, bei dem er neue Münzlieferungen aus dem Fahnenheiligtum erbeuten wollte, von den Römern verschleppt. In der Höhle des Löwen wird Enya Zeugin eines Giftmordes. Wer hat dem Präfekten die mörderische Tinktur in den Wein gemischt? Wer steckt hinter dieser Machtintrige? Ist Falko etwa an dem Komplott beteiligt?

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Zu diesem Buch:

Erstmals erschienen 2009 im Carlsen Verlag (Hamburg), wurde diese Neuausgabe noch einmal durchgesehen und leicht überarbeitet.

Zur Autorin:

Ursula Flacke studierte (zweiter Bildungsweg) Germanistik, Geschichte und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Sie wirkte als Kabarettistin und Schauspielerin in zahlreichen Fernseh- und Theaterproduktionen mit (u.a. Frankfurter- und Berliner Fest-wochen, Alte Oper Frankfurt, Theater des Westens, Berlin), schreibt Musicals und Drehbücher (u.a. für die „Sendung mit der Maus“, „Schloss Einstein“) und hält Schreibwerkstätten ab.

Inzwischen verfasste sie 54 Bücher, die teilweise weltweit übersetzt wurden und erhielt zahlreiche Auszeichnungen (u.a. Österreichischer Jugendbuchpreis, Goldener Spatz, Mommy-Award, Deutscher Kulturförderpreis, Renate-Chotjewitz-Häfner-Förderpreis).

Homepage: www.ursula-flacke.de

Inhalt

Lagekarte „Das Römer Kastell“

Personen /

Zeittafel

Im Schutz der Dunkelheit

Die List der Verschwörer

Der nächtliche Überfall

Abschied von Enyas Dorf

Vor dem Kastelltor der Römer

Ein mörderisches Komplott

Von Würzwein und Wachtelschenkeln

Die nackte Katze

Gefährliche Suche im Lazarett

Eine neue Vertraute

Das Schicksal der Felicitas

Der Schaukampf der Truppen

Ein pompöses Begräbnis

Ein grausames Spiel

Geheimnisvolle Entdeckungen

Die Begegnung am Felsentempel

Der Zwischenfall bei den Thermen

Mithras-Tempel – Stätte des Unheils

Die Nacht in Nida

Der qualvolle Fußmarsch

Rom, Hauptstadt des Imperiums

Enyas Kampf im Kolosseum

Flucht aus den Katakomben

Der heilige Schwur

Erläuterungen

Für meinen Sohn Kristian

„Du brauchst den Mut eines kämpfenden Bären. Den

Willen, unaufhaltsam zu sein wie der reißende Wildbach.

Und den unerschütterlichen Glauben an dich selbst …

Wenn eine dieser Tugenden schwindet, bist du verloren.“

Bertrun, die weise Seherin

Personen

9 n.Chr.

Varus, römischer Senator und Befehlshaber

Arminius, Cheruskerfürst mit römischem Bürgerrecht

Albin, chattischer Vorfahre Enyas

259 n.Chr.

Aus dem Germanendorf der Chatten:

Enya, Falko, Gunnar, Bertrun

Aus dem Römerkastell:

Gaius Alexander, Präfekt, zweite Raeterkohorte (in heutiger Saalburg im Taunus stationiert)

Pontius Magnus, Präfekt der Cohors Flavia Damascenorum (im heutigen Friedberg stationiert)

Sulpius Proculus, kaiserlicher Gesandter aus Rom

Fabius, Koch (freigelassener römischer Sklave)

Felicitas, seine Tochter

Anaxagoras, Medicus (Arzt)

Helpis Fortunata, die ägyptische Ehefrau des Präfekten Gaius Alexander

Romulus, Sohn des Gaius Alexander aus erster Ehe

Claudia und Marcia, Bedienstete im Hause des Gaius Alexander (freigelassene Sklavinnen)

Titus, Sklave des Gaius Alexander

Zeittafel

9 n.Chr.: Varusschlacht – Ein germanisches Heer unter dem Cheruskerfürsten Arminius besiegt drei römische Legionen des Feldherrn Publius Quinctilius Varus. Nach dieser Niederlage ziehen sich die Römer nach Westen, hinter den Rhein zurück, der nun die Grenze des Römischen Reiches bildet.

86–91: Kaiser Domitian rückt in germanisches Gebiet vor, baut den Limes aus und bezeichnet die Gebiete am Nieder- und Oberrhein offiziell als die Provinzen Germania Inferior und Germania Superior (Nieder- und Obergermanien).

259/260: Der Limes fällt und die Römer weichen wieder hinter die Rheingrenze zurück.

Die mit einem Sternchen* gekennzeichneten Begriffe werden im Anhang erklärt.

IM SCHUTZ DER DUNKELHEIT

Die Nacht war kühl. Wolkenschlieren zogen vor den Mond und ließen nur blasses Licht auf den Grenzwall aus Baumstämmen fallen, die tief in die steinige Erde gerammt worden waren. Fledermäuse jagten wie fliehende Schatten lautlos hin und her.

Jetzt wurde ein geflochtenes Hanfseil hochgeworfen, an dessen Ende ein Ast geknotet war. Dumpf schlug er auf der anderen Seite des Limes* auf. Zwei düstere Gestalten in Wolfsfell zogen an dem Seil, bis es sich straff spannte und nicht mehr nachgab. Das Holzstück hatte sich hinter den Pflockspitzen verhakt. Alles lief nach Plan.

Geduckt schlichen die Wolfsgestalten zurück und warfen prüfende Blicke zu dem römischen Wachturm hinter der Grenzpalisade. Das weiß getünchte Bauwerk mit seiner umlaufenden Aussichtsplattform lag in tiefer Stille, nichts regte sich. Nur das Rauschen der Blätter in den knorrigen Eichen wurde mit einem Mal stärker, als würde der störrische Nordwind in sie hineinfahren. Irgendwo in der Ferne meckerten ein paar Ziegen.

»Und wenn sie euch doch erwischen?«, flüsterte Enya einer der beiden Gestalten zu.

»Die Wachsoldaten sind bestimmt vom Met betäubt, den du ihnen zugespielt hast.« Der eine lachte spöttisch. »Von dieser einzigartigen Mischung werden sie bis zum Sonnenaufgang schlafen.«

»Falko, wenn dir etwas geschieht …«, sagte Enya leise.

»Was sollte mir geschehen?« Falko fuhr sich mit den Fingerspitzen durch das wirre Haar. »Wir sind flink, das Fahnenheiligtum* im Kastell ist nicht weit entfernt. Und der Präfekt Gaius Alexander feiert heute mit einem Gesandten des römischen Kaisers in seinem Speisezimmer …«

»Aber die Wachen …«

»Er wird sie zum Schutz des Gesandten mitgenommen haben. Und wennschon, ich weiß, wie ich mich wehren kann.« Falko grinste. Er griff nach seinem scharfen Dolch, der in einer Bronzescheide steckte, und streckte ihn angriffslustig hoch. Gehämmerte Verzierungen aus Runenzeichen* blitzten auf. »Aber warum bist du auf einmal so ängstlich? Das ist doch sonst nicht deine Art.«

»Ich … ich habe Angst um dich. Das ist alles.« Enya lauschte auf Falkos ruhigen Atem. Er hatte wohl keinerlei Bedenken, allein mit Gunnar in das Römerkastell einzudringen. Sicherlich, er war wie sein Gefährte bärenstark und schlau wie ein Fuchs. Und selbst wenn erstes Morgenrot über die Buchenwälder fallen würde, wüssten sie sich unbemerkt an feindliche Wachposten heranzuschleichen. Außerdem konnten sich zwei Eindringlinge ohne Zweifel besser tarnen als eine ganze Truppe ihres germanischen Stammes. Aber trotz allem blieb der Überfall ein tollkühnes Wagnis.

»Denk doch nur an die frisch geprägten Münzen, die in dem Heiligtum aufbewahrt sind.« Falkos Hemd aus Wolfsfell, das er mit einem Ledergurt am Leib festgezurrt hatte, berührte Enyas nackte Unterarme. Ein sanftes Zittern durchfuhr ihren Körper.

»Und wenn unser Spitzel aus der römischen Wachmannschaft sich getäuscht hat?«, fragte Enya und strich sich über die fröstelnden Arme.

Falkos Augen funkelten im Mondlicht. »Er hat die Münzlieferung aus den Prägeanstalten doch selbst begleitet und erst vor ein paar Tagen im Fahnenheiligtum abgeladen. Ein kleines Vermögen! Der Sold für die römischen Soldaten! Stell dir vor, was wir uns alles davon kaufen können: Kleidung, Nahrung – und vor allem Waffen …«

»Aber du bist in Gefahr! Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren.« Enya glaubte zu taumeln, als wieder diese Erinnerungsbilder in ihr aufstiegen. Es waren erst fünf Monde vergangen, dass römische Soldaten ihr Dorf angegriffen hatten. Immer noch glaubte sie die Todesschreie ihrer Eltern zu hören, die bei dem mörderischen Überfall umgekommen waren …

Falko legte die Arme um sie, während sie sich an ihn schmiegte, als könnte sie für ein paar Atemzüge Schutz in einer Höhle des Vergessens finden.

»Denk an den heiligen Schwur, den wir abgelegt haben«, raunte er ihr zu. »Wir wollen doch die heimtückischen Morde rächen. Wie kannst du das vergessen? Je mehr Münzen wir erbeuten, desto mehr Waffen können wir kaufen!«

Enya nickte widerwillig, während Falko sich von ihr löste und geduckt zur Palisade zurückschlich.

Den Eid, erbarmungslos Rache an den Römern zu üben, hatten sie geschworen, als die Ermordeten am heiligen Hain ihres Stammes verbrannt worden waren. Auf Holzplanken hatten die regungslosen Körper gelegen. Ihre wächsernen Gesichter waren vom Blut gesäubert, die toten Leiber in kostbare Stoffe gehüllt. Mit Fackeln waren die Feuer entzündet worden. Es hatte geknackt und geknistert, als sich die Flammen durch das aufgetürmte Laub gefressen hatten, immer weiter auf die aufgebahrten Leichname zu. Dann waren dunkle Rauchschwaden in den Himmel gestiegen. Enya und Falko hatten Hand in Hand beieinandergestanden, während sich ihre Lippen im Rhythmus der Worte bewegt hatten, die der heilige Schwur ihnen auftrug.

Enya verspürte eine düstere Angst, die wie ein Ungeheuer ihren Rücken hochkroch und ihre Gedanken verwirrte. Aber was war, wenn dieser Schwur sie in noch tiefere Qualen stürzte? Wenn sie auch noch Falko verlor, den sie von ganzem Herzen liebte?

Plötzlich glaubte sie, von einer unsichtbaren Hand erbarmungslos niedergedrückt zu werden. Ihr Herz flatterte, es schüttelte sie, als würde sie von einem überirdischen Schauer durchflutet. Von Reue ergriffen fiel sie auf die Knie.

»Odin*, Schöpfer der Welten, verzeih mir, dass ich den heiligen Schwur anzweifeln wollte! Dass mir mein eigenes Glück wichtiger war als die Rache für das unermessliche Leid unseres Volkes«, flüsterte sie unter Tränen. »Von nun an soll der Eid mein Handeln und Tun lenken, auch wenn es mein Leben kosten sollte. Die Rache an den Römern soll Gesetz sein, das Gesetz, dem ich mich unterwerfe! Genauso wie es meine Ahnen getan haben, als sie das Joch, das die Besatzer ihnen einst aufgezwungen hatten, schon einmal von sich warfen. Damals, als sie Varus, den römischen Befehlshaber, in einer ruhmreichen Schlacht besiegten …«

In diesem Moment fuhr ein kühler Windstoß über Enyas Kopf. Erschrocken schaute sie auf. Waren das etwa die Schwingen von Hugin und Munin*, den Raben des göttlichen Odin, die ihm Botschaften aus der irdischen Welt zutrugen? Zufrieden atmete sie auf. Dann würde der Göttliche also auch von ihrem unwiderruflichen Entschluss erfahren!

Der Nordwind fegte inzwischen in immer kräftigeren Böen über das Land. Fröstelnd zog Enya die Schultern hoch und blickte zur Grenzanlage. Die Wachtürme wirkten noch immer wie ausgestorben. Aber was wäre, wenn sie doch entdeckt würden? Wohin könnten sie fliehen?

Enya drehte sich besorgt um und ließ ihren Blick über das hügelige, fast kahle Hinterland schweifen. Nur vereinzeltes Gestrüpp war zu sehen, hinter dem sie sich im Notfall verbergen konnten. Die Römer hatten überall tiefe Schneisen in die Wälder geschlagen, Buschwerk und hohe Gräser niedergebrannt, um von ihren Wachtürmen aus feindliche Krieger so früh wie möglich erspähen zu können.

Enya und ihre Gefährten waren vom fernen Buchenwald auf allen vieren zu der römischen Grenzanlage gekrochen, versteckt unter Laubzweigen, die sie sich am Leib festgebunden hatten. Und das Mondlicht hatte durch die dünnen Wolkenlaken so sanft geschienen, als hätte Heimdall, der weise Wächter des Himmels, das Land mit einer dünnen Silberschicht bedeckt. In stockdunkler Nacht hätten sie nur mühsam den Weg hierher finden können.

Enya lächelte zögerlich, als sie wieder zum Wachturm schaute. Von den römischen Soldaten war immer noch nichts zu sehen. Falko hatte Recht. Sie waren bestimmt von Enyas Honigmet mit den zerstoßenen Mohnsamen in einen so tiefen Schlaf gefallen, dass selbst Gott Thor* sie nicht mit wütendem Krachen hätte aufwecken können.

Enya blickte zu Gunnar hinüber. Er stand gebückt und wirkte mit seinem zerzausten Haar wie ein zotteliger Erdgeist. Dann hörte sie leises Knacken von Ästen. Falko und Gunnar streiften sich die Laubzweige vom Körper.

Jetzt beobachtete sie, wie ihre Gefährten die leeren Leinensäcke, die zum Abtransport der Münzen gedacht waren, schulterten und sorgfältig verschnürten. Die Säcke durften beim Überklettern der Palisaden nicht hinderlich sein. Auch wenn die beiden Männer den tiefen Graben hinter den Holzpflöcken durchquerten und den meterhohen Wall überwanden, der dahinter aufgeschüttet worden war, sollten sie nicht stören.

Enya schnupperte. Süßlicher Blütenduft zog ihr in die Nase. Sie wandte sich um und entdeckte nur ein paar Schritte neben sich die Überreste eines Holunderbeerbusches. Die Triebe waren wohl mit Äxten abgehackt worden, die kahlen Stämme ragten wie zerfetzte Armstümpfe in die Höhe. Doch unten am Boden hatte sich neues Buschwerk gebildet. Sollte das ein Zeichen ihrer Göttin Freya* sein, die in den weißlichen Blüten dieses heiligen Busches wohnte? Wollte sie Enya hier Schutz gewähren?

Enya hockte sich neben die jungen Zweige. Hier wollte sie warten, bis Falko und Gunnar mit ihrer Münzbeute zurück waren.

Nicht weit von ihr schimmerte Falkos bronzene Messerscheide mit den Runenzeichen auf, die langsam an Glanz verlor. Die Wolken hingen jetzt wie silbergraue Segel am Himmel, als wollten sie das Mondlicht einfangen. Enya nickte zufrieden: Der Schattenmond würde Falko und Gunnar schützen. Trotzdem war sein schwacher Glanz hell genug, dass sie die groben Umrisse ringsumher erkennen konnte.

Wieder schaute sie zu dem Wachturm mit seiner Plattform hinüber. Eine seltsame Stille lag über ihm, als wäre er in einen mächtigen Zauber gehüllt. Enya lachte leise. Dieser Zauber war ihr bekannt: Der wohlschmeckende Schlaftrunk hatte seine Wirkung gezeigt. Jetzt war sie davon überzeugt, dass die Soldaten selig eingeschlummert waren. Sie stellte sich die kräftigen Kerle vor, die zwischen Tonbechern, Buschhelmen und Pfützen von Met lang ausgestreckt auf dem Boden lagen und laut vor sich hin schnarchten. Aber trotzdem blieb da ein ungutes Gefühl. Ob der Überfall auf das Kastell wohl gelingen würde?

Enya wischte sich ein paar blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann pustete sie vorsichtig über ihre rechte Handfläche, um die aufgeplatzten Blasen zu kühlen.

Am Nachmittag hatte sie einen wuchtigen Karren mit dem betäubenden Honigmet zur römischen Grenzstation gezerrt, die sich hier ganz in der Nähe am Limes befand. Die Seile hatten tiefe Rillen in ihre Handflächen gegraben, aber Enya hatte noch nicht einmal das Gesicht verzogen. Im Gegenteil, sie hatte die Seile in der Handfläche sogar noch hin und her gescheuert. Blasen und aufgeplatzte Haut gehörten zum Plan. Den Plan, den sie nächtelang ausgeheckt hatten.

Plötzlich rutschte Enya mit ihren Lederschuhen in eine knietiefe Mulde nah dem Holundergebüsch. Erschrocken rappelte sie sich wieder hoch, hockte sich auf einen Felsstein und beobachtete, wie Falko und Gunnar mit den Leinensäcken hantierten.

Blasse Schatten aus jüngster Vergangenheit tauchten vor ihr auf und wieder versank sie in ihre Erinnerungswelt. Die Bilder von der Grenzstation wurden schärfer, die Umrisse deutlicher.

DIE LIST DER VERSCHWÖRER

Es waren erst wenige Stunden vergangen, seit Enya mit ihrem Karren auf die römische Grenze zugesteuert war. Die Sonne hatte noch hoch am Himmel gestanden. Das Tor im Palisadenzaun war weit geöffnet gewesen und eine Menschentraube hatte sich vor diesem Eingang zusammengedrängt. Vor Enya hatte ein buckliger Fremder in wollener Jacke gestanden, dem die langen Beinkleider aus grob gewebtem Leinen um seinen dürren Körper schlotterten. Enya wartete mit ihrem Handkarren geduckt hinter ihm, eingereiht zwischen Händlern und Marktleuten, die ins Römische Reich einreisen wollten, um Handel zu treiben.

Fieberhaft rief sie sich immer wieder einzelne lateinische Sätze und Redewendungen ins Gedächtnis zurück, die sie schon in frühester Kindheit von ihrem Vater gelernt hatte. Latein sei die Sprache Roms, pflegte er zu sagen. Selbst in den fernsten Provinzen werde so gesprochen. Und man wisse nie, wofür diese Kenntnis gut sei. Ja, sie würde ihr bald hilfreich sein, mehr als der Vater jemals hatte erahnen können! Das wusste Enya jetzt schon.

Gleich hinter dem Palisadentor war ein steinernes Zollhaus erbaut worden. Davor standen bewaffnete Soldaten. Einige trugen Schienenpanzer, andere Kettenhemden. Ihre Helme mit den beweglichen Wangenklappen waren blitzsauber poliert. Ihre bunten Schilde, die Schwerter und die spitzen Speere blitzten in der Sommersonne. Enya spürte, wie Anspannung in ihr aufstieg. Ob sie unbehelligt die kostbare Wagenladung an den Grenzwachen vorbeibringen konnte?

Ein hünenhafter Römer in Tunika, der hinter einem breiten Zolltisch unter freiem Himmel seinen Dienst versah, musterte den buckligen Fremden verschlagen. Er wirkte übermüdet, trotzdem war sein Blick derart durchdringend, dass der Ankömmling unwillkürlich seine Wolljacke enger um die knöchrigen Schultern zog.

»Hast du was zu verzollen?«, rief der Grenzsoldat unwirsch. Etwas zögerlich schüttete der Fremde ein schmutziges Säckchen aus, das an seinem Strickgürtel baumelte. Stücke von gelblich glänzendem Bernstein kullerten auf den Zolltisch. Der Römer suchte ein besonders großes Stück heraus und hielt es gegen das Sonnenlicht. Im Inneren des durchschimmernden Harzes war ein Insekt eingeschlossen.

»Ah, eine Biene – das Zeichen der Diana, der Schutzgöttin schwangerer und gebärender Frauen«, murmelte er hocherfreut. Seine Augen waren gebannt auf den Bernstein gerichtet, die dichten Wimpern zuckten.

Enyas Atem ging schneller. War die Biene nicht eher ein Zeichen ihrer Schutzgöttin Freya? Der Honig dieses heiligen Insekts würde nämlich den verräterischen Geschmack des Schlafmohns in Enyas Met mit Süße überdecken.

Enya senkte scheinbar unterwürfig den Kopf, während sie den Grenzsoldaten genau beobachtete. Hoffentlich bemerkte der Römer nicht, welch gefährliches Gut sie über die Grenze schmuggeln wollte. Wieder rieb sie mit dem Zugseil über ihre rechte Handfläche. Dicke Wasserblasen hatten sich gebildet, bald würden sie aufplatzen.

Jetzt nahm der Soldat noch zwei weitere Prachtstücke aus goldglänzendem Harz an sich, während ein anderer Römer, der hinter dem Tisch auf einem Stuhl hockte, die Zolleinnahmen auf einem Wachstäfelchen notierte.

»Du kannst gehen!« Der Soldat ließ den Bernstein in einem Holzkasten verschwinden und biss herzhaft in ein Stück gegrilltes Fleisch, das ihm ein Sklave gebracht hatte. »Weiter, weiter«, schmatzte er. »Oder willst du hier Wurzeln schlagen?«

Der Bucklige stopfte die restlichen Bernsteinklümpchen wieder in den schmuddeligen Beutel und schlurfte davon.

Enya ließ einigen Händlern den Vortritt, denn sie wollte zuerst ihre innere Ruhe wiederfinden, um sich nicht zu verraten.

Einer hatte grobes Linnen zu verzollen, das er wohl im Vicus, dem Kastelldorf, verkaufen wollte. Andere schleppten Körbe mit Kohl und Zwiebeln, Lauch und Rettich herbei.

Dann war Enya an der Reihe. Ihre aufgescheuerte Hand brannte wie Feuer. Trotzdem umklammerte sie die Seile und zog mit aller Kraft den Holzkarren mit den Metkrügen, die geschützt zwischen Strohballen lagen, vor den Zolltisch.

»Das sind sechs Tonkrüge«, sagte der hünenhafte Römer einsilbig, pulte schnell mit einem dünnen Hölzchen einen Essensrest aus dem Backenzahn und fragte dann streng: »Was willst du hier einführen?«

»Met«, antwortete Enya leise. »Selbstgebrauten Honigmet.«

Mit unschuldigem Augenaufschlag sah sie die Zöllner an. Ihr langes blondes Haar hatte sie zu dicken Zöpfen gebunden, das Leinenhemd hing weit über den zerschlissenen Rock. Unterwürfig senkte sie den Kopf und fingerte scheinbar teilnahmslos an einem Faden, der sich aus ihrem Hemd gelöst hatte. Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel in einem zu engen Käfig. Enya atmete tief durch. Sie durfte nicht den leisesten Verdacht aufkommen lassen, dass sie etwas anderes sein könnte als eine harmlose Handeltreibende.

Der Zöllner mit der Wachstafel hielt regungslos den Schreibgriffel zwischen den Fingern und schaute gelangweilt zu seinem Kollegen hoch.

»Honigmet?«, fragte der Römer mit dem verschlagenen Blick. Er hatte seinen Kopf vorgestreckt wie ein Raubvogel, der Beute erspäht.

Der Soldat am Tisch ritzte ein Wort in die Wachstafel und malte einen Strich daneben. »Das macht einen Krug …«

»Zwei Krüge Zoll«, unterbrach ihn der hünenhafte Römer in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Der andere nickte behäbig und drückte einen weiteren Strich in das gehärtete Wachs.

»Ja, selbstverständlich sollt ihr euren gerechten Anteil haben«, sagte Enya zuvorkommend. Schnell hievte sie die gewünschte Ware aus dem Karren, bevor sich die Grenzsoldaten selbst Krüge aussuchen konnten. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie die mit dem Schlafmohn erwischt hätten! Die Tongefäße mit den feinen Kreuzen aus Holzkohle brauchte sie ja noch anderweitig …

»Hast du Waffen dabei? Verbirgst du etwas unter den Strohballen?«, fragte der Zöllner misstrauisch.

Enya schüttelte entrüstet den Kopf, während sein Gefährte das Stroh durchwühlte und den Handwagen sorgfältig nach unerlaubter Einfuhrware wie Schwertern, Dolchen und anderem Kriegsgerät durchsuchte.

Gut, dass die Tongefäße mit Bienenwachs versiegelt waren, dachte Enya. Sonst hätten sie vielleicht den Geschmack des Honigmets prüfen wollen …

»Weg da, lasst uns vorbei!« Drei stämmige Männer in Tunika und Soldatenmantel, die kupferne Täfelchen vorzeigten, um sich als römische Bürger auszuweisen, drängten sie unwirsch beiseite. Sie zwängten sich an der Zollstation vorbei und stiefelten mit kräftigen Schritten den ansteigenden Weg hoch in Richtung Kastell, wo eine Kohorte, die zweite Raeterkohorte* der Römer, stationiert war. Ihre Umhänge flatterten wie aufgeschreckt hinter ihnen her.

»Wahrscheinlich sind das hochgestellte Legionäre in Zivilkleidung«, flüsterte einer der Umstehenden ehrfurchtsvoll. »Sie sorgen für die persönliche Sicherheit des kaiserlichen Gesandten, wenn er zum Gastmahl kommt.«

»Das ist auch mehr als nötig …«, kicherte ein anderer kaum hörbar. »Keiner der letzten Kaiser hat länger als drei Jahre regiert. Und keiner ist eines natürlichen Todes gestorben. Von Gesandten gar nicht erst zu reden …«

So ist es also wahr, dachte Enya. Überall wurde über Zwistigkeiten, Machtspiele und Intrigen zwischen römischen Befehlshabern gemunkelt. Vor Mordattacken war niemand sicher. Auch überraschende Angriffe germanischer Stämme auf den Limes nahmen immer mehr zu. Sie lächelte spöttisch. Sollten die Tage des römischen Adlers* jetzt schon gezählt sein?

Hinter Enya war ein Schafhirte mit seiner blökenden Herde angekommen, ein Hirtenhund sprang kläffend um sie herum. Drei der zotteligen Tiere wurden sofort als Zoll beschlagnahmt und zu einer angrenzenden Weidefläche gebracht. Einer der Soldaten beugte sich gefährlich nah zu Enya herunter.

»Nun geh schon endlich!«, blaffte der Zöllner Enya an. Sein abfälliger Blick wanderte von ihr zu einem Wagen mit gewebten Stoffen, der weiter hinten in der Schlange stand. »Oder willst du hier ein Lager aufschlagen?«

Enya häufte hastig das Stroh zwischen den restlichen Krügen so auf, dass sie nicht umfallen und zerbrechen konnten. Dann wickelte sie das geflochtene Seil um ihre Hand mit den Blasen und zog verbissen den Karren weiter. Die Räder quietschten und die Holzspeichen knirschten in ihren Verankerungen. Trotz der brennenden Schmerzen lächelte sie zufrieden. Das erste Hindernis war also genommen: Sie überquerte die römische Reichsgrenze.

Falko war schon öfter mit Handelswaren zum Kastelldorf gereist, um über ihren Spitzel römisches Kriegsgerät herauszuschmuggeln. Die römischen Kettenhemden schützten bei Überfällen besser als die Lederhemden oder Pelzjacken aus ihrem Dorf, obwohl das Eisen viel schwerer wog und deshalb bei der Flucht hinderlich sein konnte. Zwar war das Kettenhemd eine Erfindung von Enyas Vorfahren, aber ihre Schmiede hatten nicht die Zeit, genügend davon herzustellen. Auch römische Brustpanzer und Schwerter taugten hervorragend zum Kampf. Nur mussten die feindlichen Götterinsignien auf den Schwertgriffen durch Runenzeichen ersetzt werden.

Römische Waffen! Enya warf den Soldaten an der Zollstation hasserfüllte Blicke zu. Wartet nur, bis ihr eure eigenen Schwerter zu spüren bekommt! Bis wir mit euren Armbrüsten die Pfeile mit der tödlichen Metallspitze in eure Leiber sausen lassen, um unser gestohlenes Land zurückzuerobern und den Mord an den Ahnen zu rächen! Genauso wie damals, als unsere Vorväter den römischen Befehlshaber Varus mit seinen Truppen schlugen. Auch damals sind ihnen römische Waffen in die Hände gefallen …

Von Rachsucht angestachelt, zerrte Enya den Handkarren weiter den Weg auf die Anhöhe zu, wo das Soldatenkastell und das Dorf liegen mussten.

Der Karren rumpelte über die steinige Straße, die in der Mitte leicht erhöht war, damit der Regen abfließen konnte. Ständig musste sie Quarzitsteinchen zur Seite treten, bevor sie die holpernden Räder blockierten, oder Mannsbilder wegdrängen, die sie mit stierem Blick anglotzten, als wäre sie ein Stück Vieh, das auf dem Handelsmarkt zum Verkauf angepriesen wurde.

Nach ein paar hundert Schritten blieb sie stehen und öffnete mit schmerzverzerrtem Gesicht die rechte Hand. Feine Fasern klebten in den tiefen Abdrücken, die das Hanfseil in die Haut geschnitten hatte. Langsam pulsierte das Blut zurück in die weißlichen Rillen. Einige der Blasen waren aufgeplatzt, rötliche Flüssigkeit sickerte heraus und vermischte sich mit dem Schweiß ihrer Hände. Es brannte höllisch. Trotzdem nickte Enya zufrieden: Jetzt hatte sie einen guten Grund, nicht weiterzugehen. Sie musste nur noch auf die Wachablösung für den Limesturm warten, der ganz in der Nähe stand. Sobald die Sonne die Baumwipfel erreichte, würde die hier vorbeikommen. Das hatte ihr Spitzel aus der Wachmannschaft ihnen heimlich verraten.

Erschöpft lehnte Enya sich an den Holzwagen und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Langsam ließ sie ihren Blick über die Hochebene der Taunusberge gleiten. Erst jetzt bemerkte sie vor sich auf der Anhöhe eine langgezogene, weiß getünchte Zinnenmauer, die ein weitläufiges Gebiet umschloss. Das musste der hintere Teil des Kastells mit dem Tor sein, das allein den Truppen vorbehalten war, wie Falko ihr einmal erklärt hatte. Handelsreisende mussten die Wehranlage umrunden. Denn der Haupteingang des Soldatenkastells und das Dorf, in dem Händlerfamilien, Tavernenwirte und Kleinbauern lebten, lagen auf der anderen Seite.

Enya kniff die Augenlider zusammen, um noch besser sehen zu können. Zwischen einigen Zinnen oben auf dem meterhohen Bollwerk standen römische Soldaten in blank polierten Rüstungen. Ihre glänzenden Schilde hielten sie vor den metallenen Leib, einige hatten die Schwerter hochgestreckt. Ihre roten Helmbüsche leuchteten wie loderndes Feuer in der Nachmittagssonne. Die Männer wirkten wie muskelbepackte Riesen in Panzerleibern, die nicht einen Wimpernschlag davor zurückschrecken würden, einen Gegner mit gezieltem Hieb niederzustrecken.

Enya spürte, wie ihr Körper vor Anspannung anfing zu zittern. Hinter diesen Mauern waren also die römischen Truppen untergebracht, man sprach von einer Kohorte mit über fünfhundert Mann. Und gegen eine solche, gut ausgebildete Armee wollte ihr Volk eines Tages ankämpfen? Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken. Auch die Römer waren verwundbar, selbst wenn sie übermächtig wirkten und sich ihr gewaltiges Reich inzwischen von Britannien bis weit in den Orient hinein erstreckte. Sie lachte spöttisch auf. Hatten ihre eigenen Vorfahren aus dem Stamm der Chatten* dies nicht immer wieder bewiesen? Vor vielen, vielen Wintern hatten sie sogar gemeinsam mit den Cheruskern und anderen Volksstämmen drei römische Legionen des Feldherrn Varus geschlagen, so dass die Feinde ihre Grenze zurück an den Rhenus* verlegen mussten. Enya verspürte wilde Genugtuung. Und brodelte es heute nicht wieder? Wurde der Widerstand gegen die römischen Besatzer nicht immer stärker? Sogar einzelne verfeindete Stämme hatten sich zu einem Volk der Alamannen zusammengeschlossen, um die römischen Feldherren mitsamt ihren Legionen endgültig aus dem Land zu vertreiben.

»Ihr Götter«, raunte sie mit Inbrunst, ohne die Lippen zu bewegen. »Zeigt euch wohlgesinnt und verleiht mir die Kraft, die Mörder meiner Eltern ein für alle Mal in die Düsterkeit des Todes zu verbannen!«

Während Enya ungeduldig auf die Ablösung für die Wache auf dem Limesturm wartete, beobachtete sie die Handeltreibenden, die mit beladenen Eselskarren die Straße von der Zollstation her entlangzogen. Zwischen Viehbauern und Bäuerinnen, die frisches Gemüse in ihren Kiepen herbeischleppten, drängten Fellhändler und Tuchverkäufer in einem bunten Zug auf den Weg zum Kastell an ihr vorbei. Sicherlich wollten sie mit ihren Waren in den Vicus, das Dorf, das vor dem Kastell lag. Ob es dort auch Steinhäuser gab? Und woher bekamen die Menschen eigentlich ihr Wasser? Etwa aus den weitläufigen Taunusbergen? Von einer Quelle war doch nichts bekannt …

Die Schatten wurden länger und länger. Die Sonnenscheibe hing nur noch zwei Fingerbreit über den fernen Wipfeln der Baumkronen. Der Zeitpunkt, den ihr Spitzel für die Wachablösung genannt hatte, war längst überschritten.

Immer wieder schaute Enya unruhig die Kastellstraße hoch, ob dort nicht endlich die Soldaten auftauchten. Falko und Gunnar mussten längst an der verabredeten Stelle jenseits des Limes auf sie warten. Und wenn heute überhaupt kein Wachwechsel stattfand? Aber Falko hatte doch von ihrem Spitzel erfahren, dass die Soldaten mindestens drei Nächte lang Dienst zu leisten hatten und dass sie heute abgelöst werden würden.

Außerdem wollte ihr Verbündeter auch dafür sorgen, dass die neuen Wachleute den betäubenden Met tranken. Erst dann wollte er selbst den Turm verlassen …

Da öffnete sich die hintere Kastellpforte und acht Wachsoldaten trotteten auf den Limesturm zu.

Endlich, dachte Enya erleichtert, während ihr Puls in die Höhe schoss. Jetzt musste sie nur noch in ihre Rolle schlüpfen und überzeugend spielen. Sobald die Soldaten in Rufweite waren, fing sie erbärmlich zu jammern an.

»He, ihr da!«, rief sie ihnen zu. »Geht ihr zum Wachturm?«

»Ja, warum fragst du?«, sagte einer mit misstrauischem Unterton.

»Ach, dann müsst ihr ja den Weg runterlaufen und könnt mir gar nicht helfen, den Karren hoch ins Dorf zu ziehen!« Enya seufzte tief und fing an zu schluchzen.

»Kommt weiter«, brummte einer der Männer und winkte die anderen mit seinem Kurzschwert hinter sich her. »Heulende Weiber sind mir ein Gräuel.«

Sofort änderte Enya ihre Taktik. »Ich bin verletzt … Seht selbst. Ich kann den Wagen nicht weiterziehen.« Sie streckte ihnen die blutig nässende Handfläche entgegen.

»Mit Wunden können wir selber dienen.« Ein Bulle von einem Soldat zeigte ihr seine Unterarme, die mit Narben übersät waren, und lachte aus vollem Hals. »Glaubst du, unsere Schlachtübungen sind als Tempeltanz für die Götter gedacht?«

»Los, kommt!«, rief einer mit einer verkrusteten Schramme am Kinn. »Wir müssen weiter. Die anderen warten.«

Die Soldaten wollten gerade davonstapfen, als Enya ihnen mit entschlossener Stimme entgegenrief: »Nun denn, so soll es sein!« Verdutzt blickten sie das germanische Mädchen mit der wunden Handfläche an, das auf die Tonkrüge in seinem Karren zeigte. »Wollt ihr vielleicht zwei Krüge mit selbstgebrautem Met?«

»Selbstgebrauter Met?« Die Soldaten kamen ein paar Schritte näher und starrten sie ungläubig an.

»Der Handkarren ist mir einfach zu schwer.« Ihre Stimme klang sehnsüchtig, als wollte sie selbst von dem köstlichen Met trinken.

»Zwei von den Tonkrügen könnt ihr haben, dann fällt es mir leichter, den Karren zu ziehen. Seht doch selbst, der Met ist unberührt, die Krüge sind noch versiegelt.«

»Und was sollen sie kosten?« Einem der Soldaten fiel der massive Unterkiefer herunter. Er schob die Wangenklappen seines Helms zur Seite, kratzte sich über den Stoppelbart und leckte sich die Unterlippe.

»Ach, nehmt sie nur mit«, sagte Enya jetzt wieder mit kläglichem Unterton. »Ich verlange nichts dafür. Dann kann ich wenigstens die restlichen Krüge noch ins Dorf bringen. Der Vater wird es verstehen.«

»Was meint ihr …?«, fragte einer der Soldaten seine Kumpane.

Enya schaute inbrünstig hoch zum Himmel, als erwartete sie dort eine Antwort, und sagte weinerlich: »Oder soll ich sie doch lieber hier an dem Felsstein zerschlagen?«

»Nein, nein! Wir nehmen sie.« Die Wachposten rannten hastig auf sie zu und streckten ihre Arme aus. Enya bückte sich über die Krüge. Kaum hatte sie ihren Kopf gesenkt, verzog sich ihre Leidensmiene zu einem spöttischen Grinsen. Sollen sie doch an diesem Trunk ersticken! Dann reichte sie ihnen die beiden Tonkrüge, die mit dünnen Holzkohlezeichen markiert waren.

»Meinen besten Dank auch«, sagte sie mit gequältem Lächeln.

»Falls du mal wieder in solchen Schwierigkeiten steckst, melde dich«, feixte ein dunkelhäutiger Wachposten. »Wir sind berühmt für unsere Hilfsbereitschaft.«

Die Soldaten grinsten breit und zogen aufgekratzt weiter. Während zwei von ihnen triumphierend die Metkrüge in die Höhe streckten, als hätten sie eine außerordentliche Schlacht geschlagen, schleppten die anderen die bunt bemalten Schilde und die Wurflanzen ihrer Gefährten mit sich.

Enya verzog leidend das Gesicht. Aber je weiter sich die Soldaten in ihren Kettenhemden entfernten, desto vergnügter wurde sie.

»Acht Soldaten, dafür langt der Met tausendmal.« Sie lachte leise und raunte geheimnisvoll, als wollte sie einen heiligen Zauber aussprechen: »Setzt die Krüge nur an und lasst das köstliche Nass durch eure widerwärtigen Kehlen rinnen! Die Geister der Nacht werden sich eurer erbarmen und euch in einen tiefen Schlaf gleiten lassen. Prosit – es möge nützen!«

Schadenfroh grinste sie, als die Soldaten einer nach dem anderen die Leiter hoch in den ersten Stock des Wachturms kletterten, unten gab es aus Sicherheitsgründen keinen Eingang. Die Tonkrüge, auch andere Vorräte und die Waffen wurden vorsichtig nachgereicht. Falkos Spitzel wollte dafür sorgen, dass der Met gar nicht erst in dem Vorratsraum im Erdgeschoss verstaut wurde, sondern gleich oben in der Wachstube blieb.

Enya verspürte unbändige Freude. Auch dieser Schritt war geglückt! Die Krüge waren dort, wo sie hinsollten.

Wenig später kamen sieben der acht Wachposten, die nun abgelöst wurden, die Leiter heruntergeklettert. In ihren glänzenden Rüstungen wirkten sie aus der Ferne wie schillernde Käfer, die ihre Bruthöhle verließen.

Jetzt! Enyas Herz klopfte zum Zerspringen. Das war der Augenblick! Jetzt wollte ihr Verbindungsmann dafür sorgen, dass der betäubende Met getrunken wurde.

»Trinkt«, flüsterte sie beschwörend. »Trinkt von dem köstlichen Saft, der euch sämtliche Sorgen vergessen lässt!«

Endlich verließ auch der achte Soldat den Turm. Enya hielt gebannt den Atem an. Dann juchzte sie leise auf. Falkos Spitzel streckte den rechten Arm hoch. Das war das Zeichen, alles war nach Plan gelaufen!

Kaum war der Soldat zu Boden gesprungen, wurde vom ersten Stock aus die Holzleiter hochgezogen, so dass der Wachturm vor nächtlichen Überfällen geschützt war.

Enya hätte vor Erleichterung laut aufschreien mögen. Aber noch durfte sie nicht auffallen, noch war sie in Feindesland.

Erst jetzt spürte sie wieder die aufgeplatzten Blasen, die in ihrer Handfläche brannten, als hätte sie in glühendes Eisen gegriffen. Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. Das war eben der Preis, den sie zahlen musste. Den Wundschmerz wollte sie gerne ertragen. Nur wenige Tage, dann war die Haut wieder verheilt. Aber den Verlust ihrer neuen Münzen würden die Römer noch lange nicht verschmerzen, er würde sie tief ins Mark treffen. Und Enyas Stämme konnten davon Waffen kaufen und neue Übergriffe auf die Römer vorbereiten.

Enya blickte den Weg zur Zollstation hinunter. Noch standen die bewaffneten Grenzsoldaten stramm, während die Zöllner nach dem Stand der Sonne schauten. Sicherlich würde das Grenztor bald geschlossen werden. Enya wollte schon loslaufen. Aber der Handkarren mit den restlichen Metkrügen, überlegte sie. Was sollte mit ihm geschehen? Er würde sie später nur behindern. Sollte sie ihn einfach hier stehenlassen? Aber das wäre verdächtig …

In diesem Moment tanzte ein junges Mädchen auf nackten Füßen den Weg hinauf. Es mochte wohl fünfzehn Sommer erlebt haben, genauso wie Enya selbst, und hielt einen frischen Zweig mit Blättern in der Hand. Damit schlug es immer wieder auf den steinigen Boden oder stieß plötzlich in die Luft. Sein ärmliches Kleidchen war geflickt, das wirre, aschgraue Haar hing ihm über die schmalen Schultern. Das Gesicht war mit Lehm verschmiert, als hätte es Tonerde gewässert.

»Möchtest du den Karren mit den Metkrügen haben? Willst du ihn mitnehmen?«, fragte Enya das Mädchen, das ihr erstaunt entgegensah und zögerlich lächelte. Es wiegte den Kopf, so dass feiner weißer Staub aus seinem Haar rieselte. Dann schaute es verzückt zu den Krügen und nickte so heftig, dass man glaubte, ihm könnte der Kopf herunterfallen. Beherzt griff das Mädchen nach den Stricken und zog den Karren mit ungeahnter Kraft davon, während es mit dünnem Stimmchen ein seltsames Lied sang. Es klang wie ein unheimliches Sirren, das sich in der Luft verfing, um mit der nächsten Windböe davongetragen zu werden.

DER NÄCHTLICHE ÜBERFALL

Enya zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Aber es war nur Falko, der sie aus ihrem Wachtraum zurückholte. Sie schüttelte verwirrt den Kopf und schaute in die Nacht. Es dauerte ein paar Atemzüge, bis sie wieder wusste, wo sie sich befand. Dann nickte sie. Erst vor wenigen Stunden hatte sie ihre beiden Gefährten Falko und Gunnar an der vereinbarten Stelle vor dem Limes getroffen. Die Wachposten waren betäubt. Und jetzt ging es um ihren lebensgefährlichen Plan, heimlich über die Palisaden zu klettern und das Kastell zu überfallen.

Benommen rappelte sie sich von dem Felsstein hoch und blinzelte in den düsteren Himmel, als müssten sich ihre Augen erst wieder an die Dunkelheit gewöhnen. In der Ferne hatte sich das Firmament noch mehr eingetrübt. Im letzten Licht des Mondes wirkten die Wolken wie dickleibige Ungeheuer, die drohend immer näher krochen.

Falko zog Enya zu sich heran. Sie schmiegte sich an seine Schulter und schnupperte. Der herbe Geruch seiner Wolfsjacke zog ihr in die Nase, während er sie in den Armen hielt. Dann wischte er seine verschmutzten Hände an den Hosen ab und nahm ein rundes Kupferstück aus einem Fellbeutel, der an seinem Gürtel baumelte.

Enya stutzte. Sollte das etwa ein Amulett sein? Ein Amulett mit zwei Lederbändchen? Verwundert schüttelte sie den Kopf, als sie dann auch noch eine gestanzte Zackenlinie entdeckte, die den kupfernen Anhänger in zwei Hälften teilte.

»Was ist das?« Enya schaute Falko fragend an.

Es knackte leise, als er das Amulett an der gezackten Linie auseinanderbrach. Die eine Hälfte hängte er Enya, die andere sich selbst um den Hals.

»Es soll uns verbinden«, flüsterte er ihr kaum hörbar ins Ohr. »Für immer und ewig. Es ist unser Zeichen. Sei stark. Göttin Freya ist unsere Zeugin! Höre mir genau zu: Falls etwas Unerwartetes geschehen sollte, glaube an unser Zeichen! Ein Kupferstück lässt sich zerteilen. Aber wir bleiben eins.«

Enya sah ihn verunsichert an. In seinen Augen spiegelten sich vorbeiziehende Wolkenfetzen. Sie wirkten wie Höllenhunde, die unerbittlich ihrem Opfer hinterherjagten. Was sollte denn geschehen? Waren seine Befürchtungen, erwischt zu werden, doch größer, als er zugeben wollte?

»Wo steckst du denn?«, raunte Gunnar ihm ungeduldig zu. Er hatte noch einmal überprüft, ob das Seil mit dem quer liegenden Ast auch wirklich Halt zwischen den Palisadenspitzen gefunden hatte. Angespannt winkte er seinem Gefährten und kletterte langsam an dem Strick hoch.

Falko nahm Enyas Kopf zwischen seine Hände und küsste sie ein letztes Mal. Dann huschte er lautlos davon.

Enya griff nach dem Amulett, das wie ein gezackter Halbmond auf ihrer Brust lag. Sie mussten es schaffen! Sie brauchten die frisch geprägten Silbermünzen der Römer, um ihre Krieger auszurüsten. Und eines Tages würden sie die Grenze stürmen und die Feinde dorthin zurücktreiben, wo sie hingehörten! Genau, wie ihre Truppen es damals unter Arminius getan hatten, so dass die römischen Besatzer sich hinter den Rhenus zurückziehen mussten.

Falko würde es schaffen! Er würde den Münzschatz aus dem Fahnenheiligtum holen.

Enya zögerte. Aber ob die Wachsoldaten wirklich zum Schutz des römischen Gesandten von dieser erhabenen Stätte abgezogen worden waren? Von dort, wo die Standarten*, Militärauszeichnungen und Fahnen der Kohorte zusammen mit dem Standbild des Kaisers aufbewahrt wurden? Und wo in einer unterirdischen Kammer der Münzschatz verborgen lag?

Enya spürte erste Regentropfen auf der Haut. Sie blickte hoch zum Himmel. Nicht mehr lange, dann hatten die düsteren Wolkentürme den Mond vollständig verdeckt.

Jetzt war auch Falko an dem Seil die hohe Holzwand hochgeklettert. Er hielt sich mit einer Hand an einem der Pflöcke fest und griff mit der anderen nach einem zweiten Seil, das locker auf der anderen Palisadenseite hinunterfiel. Beim Rückzug konnten sie die Münzsäcke daran festknoten und leichter über den Grenzwall hieven. Enya lauschte. Ein leiser, dumpfer Aufprall war zu hören. Falko war wohl auf römischem Gebiet zu Boden gesprungen.

Plötzlich zerschnitten Signale von Hörnern die nächtliche Stille. Vor Enya auf dem Wachturm flammte Feuer empor. Fackeln wurden hin und her geschwenkt.

Enya schrie entsetzt auf. Was war geschehen? Warum waren die Wachleute nicht vom Honigmet betäubt? Wer hatte sie entdeckt? Hatte ihr eigener Spitzel sie etwa verraten?

Und wieder hallte das wütende Heulen der Hörner durch die Finsternis. Jetzt nahmen die Posten der nächsten Wachtürme, die in Sichtweite standen, die Signale auf und gaben sie wie ein Echo weiter und weiter. Es klang, als würden die Fanfaren aus der Unendlichkeit des dunklen Firmaments zu Enya herübergetragen. Das Warnsystem der Römer hatte seinen Zweck erfüllt. Das Kastell würde sofort seine Truppen zur Grenze entsenden, um den feindlichen Angriff abzuwehren, und das gesamte Umfeld war gewarnt.

Enya zitterte am ganzen Leib. Der durchdringende Hörnerklang schien die Nacht mit Schrecken zu durchweben.

»Los, kommt zurück!«, rief sie verzweifelt ihren Freunden zu. »Sonst schnappen sie euch!«

Wie gelähmt starrte sie auf die Palisadenwand und suchte nach den Umrissen von Falko und Gunnar. Warum kehrten sie nicht zurück? Nichts regte sich. Nur die Soldaten drängten sich oben auf der Plattform des Wachturms und spähten in alle Richtungen. Das Licht ihrer lodernden Fackeln spiegelte sich in den Kettenhemden und silbrigen Helmen. Und waren da nicht auch Bogenschützen, die mit blitzenden Pfeilen hantierten?

Da! Jetzt waren ferne Schritte zu hören. Hatten sie Falko und Gunnar etwa gefasst? Enya bückte sich, legte ihren Kopf seitlich auf den Boden und lauschte wie gebannt. Sie nahm ein feines Vibrieren wahr, das unerwartet schnell in das Trappeln von Pferdehufen überging.

»Die Truppen aus dem Kastell! Die Reitertruppen kommen!« Enya sprang hoch und rannte auf den Grenzwall zu. »Wir müssen fliehen! Kommt zurück! Sonst erwischen sie euch!«, schrie sie außer sich.

Plötzlich flogen vom Wachturm surrende Pfeile zu ihr herüber, von irgendwoher hallten barsche Kommandos durch die Nacht. Fußsoldaten aus dem Kastell hatten sich wohl in Marsch gesetzt. Gleichzeitig wurde das Trampeln der Pferdehufe lauter und lauter. Immer mehr Fackeln leuchteten auf den Plattformen der Wachtürme auf, die entlang des Limes standen. Sogar ganz weit in der Ferne war blasser Feuerschein zu erkennen. Im Licht der Fackeln beobachtete Enya, wie auf dem nahen Wachturm mehrere Bogenschützen neue Pfeile einlegten. In diesem Moment tauchte über der Palisadenwand das wirre Haar von Falko auf.

»Schneller, beeilt euch!«, schrie Enya wie von Sinnen.

Jetzt kletterte auch Gunnar über die Pflockspitzen, Falko sprang mit einem Satz zu Boden. Nicht weit entfernt quietschte ein Holztor, das derb aufgestoßen wurde. Es musste das Tor der Grenzstation sein.

»Enya, versteck dich!«, rief Falko ihr entgegen. »Wir werden uns hier mit Zweigen zudecken und …«

Mehr verstand Enya nicht. Ein Reitertrupp sprengte in wildem Galopp heran.

Verstecken? Aber wo? Enya blickte sich hektisch um. Die Mulde! Die knietiefe Mulde beim Holunderbusch!, blitzte es in ihr auf. Dort, wo sie abgerutscht war. Da konnte sie Deckung finden!

Sie rannte los, stolperte und fiel. Wie entfesselt schnellte sie wieder hoch, hetzte weiter, erreichte endlich den niedrigen Strauch mit den abgehackten Ästen und kauerte sich atemlos in die Mulde unter dem Blattwerk.

Der Nieselregen war inzwischen stärker geworden. Wasser tropfte von den Blättern und weichte den Boden auf. Vorsichtig hob Enya den Blick. Der bewaffnete Reitertrupp schwärmte aus und jagte mit den Pferden übers Gelände, auf der Suche nach germanischen Angreifern. Die Fußsoldaten aus dem Kastell stürmten mit Schilden und Langschwertern die Holzpalisaden entlang, während Sklaven Fackeln schwenkten.

In diesem Moment wurde Falko von einem der Römer am Arm hochgerissen. Ein Peitschenhieb sauste auf ihn nieder. Enya verzog schmerzhaft das Gesicht, als hätte der Hieb sie selbst mit aller Wucht getroffen.

»Gebt mir eine Fackel. Ich will mich hier noch einmal genauer umsehen«, hörte Enya eine durchdringende Stimme. »Vielleicht treibt sich noch mehr von diesem Gesindel herum.«

Jemand spuckte Falko ins Gesicht. »Diese verfluchten Germanen! Rotten sich überall zusammen, um gegen uns Front zu machen.«

Erneut sirrte die Peitsche nieder und traf Falko. Und wieder glaubte Enya den Lederriemen zu spüren, der seine Haut sicher blutig aufgerissen hatte. Jetzt wurde das Trappeln der Pferdehufe lauter, die römischen Reiter kamen zurück.

Der Regen wurde immer heftiger. Dicke Tropfen klatschten Enya in den Nacken und aufs Haar. Sie drückte sich unter den Blättern des Busches noch tiefer in das schmierige Erdloch, das von außen nicht einzusehen war. Es roch nach verfaulten Blättern und Verwesung. Feuchte Kühle kroch durch Enyas Gewand ihren Körper hoch.

Vorsichtig lugte sie durch das Geäst. Im Schein der Fackeln sah sie Dolche aufblitzen. Kettenhemden schimmerten wie undurchdringliche Panzer, rote Helmbüsche wiegten sich gespenstisch im Wind. Zwei Soldaten schlugen warnend mit den Schwertern auf ihre Schutzschilde, andere hoben mit einer drohenden Geste ihre Wurflanzen in die Luft. Im nebligen Regen wirkten sie wie Geisterwesen, die sich in die Jetztzeit verirrt hatten.